Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Dinge, die waren; Dinge, die sind und Dinge, die immer bleiben -------------------------------------------------------------- Landis nagte nervös auf seiner Unterlippe. Normalerweise tat er das seit Jahren nicht mehr. Als Kind hatte er sich dabei einmal so stark auf die Lippe gebissen, dass sie heftig zu bluten begonnen hatte. Noch heute konnte man bei ganz genauem Hinsehen eine feine Narbe erkennen. Und das war alles Nolans Schuld gewesen. Nicht nur das nervöse Nagen, sondern auch der Schreck, der zu dem Biss geführt hatte. Seitdem tat er das nicht mehr, stattdessen beschränkte er sich normalerweise auf eine innere Panikmache, auch wenn Yarah das nicht gern sah und es seinen Blutdruck stets in ungeahnte Höhen trieb. Würde er so weitermachen, wäre sein Tod nicht fern – aber das war er auch so nicht, dessen war er sich absolut sicher. Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Vorliegende, was sein Nagen erneut verstärkte. Aurora war im Kerker, er hatte Urlaub – und doch war er noch in New Kinging, statt sich in die alte Hauptstadt zu Yarah und Kureha zu begeben. Etwas hielt ihn hier und er wusste ganz genau, was es war. Oder besser wer. Die Tür des Restaurants schwang auf, ein schwarzhaariger Kavallerist kam herein, wie üblich ein breites Lächeln zur Schau tragend. Ja, das war der Nolan wie Landis ihn kannte und liebte – wie man seinen besten Freund eben liebte. Er musste ein tiefes, zufriedenes Seufzen unterdrücken, als ihm auffiel, dass zumindest dieser Mann eine angenehme Konstante in Landis' Leben bildete. Egal wieviel Zeit verging, Nolan schien sich kein Stück zu verändern. Es war schön zu wissen, aber auch fragwürdig. Bedeutete das vielleicht, dass er nie wirklich erwachsen werden würde? Landis wollte ihn zu sich winken, aber ihn verließ der Mut, den er brauchte, um seinen Arm zu heben. Egal wie sehr er sich mit Nolan unterhalten wollte, vielleicht wollte dieser genau das nicht. Es war ihm allerdings nicht zu verdenken, immerhin hatte Landis sieben Jahre lang absolut nichts von sich hören lassen. Sowas nannte sich bester Freund... Seufzend sank er ein wenig tiefer in seinen Stuhl, doch bevor er sich ganz seinen Depressionen hingeben konnte, hörte er bereits eine vertraute Stimme: „So wie du seufzst, muss deine Arbeit ganz schön hart sein.“ Erschrocken hob Landis den Kopf. „Ah, Nolan...“ Ungefragt setzte der Kavallerist sich zu ihm. „Musst du morgen etwa nicht arbeiten? Du weißt doch, wie du auf Alkohol reagierst.“ Natürlich wusste er das. Er erinnerte sich noch allzugut an die Nächte, in denen er auf dem Boden neben seinem Bett eingeschlafen war, weil er es nicht mehr hineingeschafft hatte. Nicht nur einmal war er dabei nicht allein gewesen, Nolan vertrug immerhin genausowenig. „Ich habe seit knapp einer Stunde Urlaub“, antwortete Landis. „Schon?“, fragte Nolan überrascht. „Wie lange arbeitest du erst? Du hältst wohl nicht sonderlich viel aus, was?“ Sein Schmunzeln nahm dem Gesagten die Ernsthaftigkeit, allerdings konnte Landis sie auch nicht wirklich ernstnehmen, dafür kannte er Nolan schon lange genug. „Du bist doch nur neidisch, weil du keinen Urlaub hast“, erwiderte der Page grinsend. Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht: Der Kavallerist lachte. „Ich sag dir, bei Fredi Urlaub zu bekommen, ist schwerer, als 'nem Tiger einen Zahn zu ziehen.“ „Hast du das mal ausprobiert?“, fragte Landis amüsiert. Dass die Frage kommen musste war klar. Schon früher war nach einem solchen Vergleich diese Frage gestellt worden, egal von wem. Lediglich Kenton und Oriana war es irgendwann langweilig geworden, aber Nolan und Landis machten es immer wieder gerne. „Würde man mich vor die Wahl stellen, würde ich lieber das mit dem Tiger ausprobieren. Wenigstens kürzt der mir dann nicht mein Gehalt.“ „Du würdest lieber mit einer fehlenden Hand weiterleben, als mit weniger Geld?“ Der Kavallerist zwinkerte ihm zu. „Was denkst du, wieviel Mitleid man dafür bekommen würde?“ Aufmerksamkeit war wohl eben immer noch eines der wichtigsten Dinge in Nolans Leben. Dabei war es egal, wodurch er diese erreichen konnte, solange er sie bekam. Prinzipiell hatte Landis auch nichts gegen Aufmerksamkeit einzuwenden – aber sie war ihm nicht wichtig genug, um ein Körperteil dafür zu opfern, nicht einmal einen Finger. „Wahrscheinlich würdest du eher Spott ernten“, erwiderte er daher. „Nicht jeder ist dumm genug, einem Tiger einen Zahn ziehen zu wollen.“ Mahnend hob Nolan den Zeigefinger. Sein Lächeln verriet, dass er eine besonders clevere Antwort darauf in petto hatte: „Du musst das anders sehen: Welcher gutaussehende und liebenswerte Held besitzt schon ein derart großes Herz, dass er seinen eigenes Wohlbefinden riskiert, um einem von Zahnschmerzen geplagten armen Tiger von dessen Leid zu erlösen?“ Er lachte als Reaktion auf seine eigenen Worte, während Landis nur amüsiert schmunzeln konnte. Auf derlei Aufmerksamkeit hatte er es also abgesehen. Also war seine Annahme vorhin falsch gewesen. Nolan veränderte sich sehr wohl – er tat es nur nicht so offensichtlich wie andere. Sein Charakter wechselte nur feine Nuancen aus, zu wenig, um eine Änderung auf den ersten Blick ersichtlich sein zu lassen, aber genug, um sie doch zu bemerken. Landis wusste nur nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Das alte Gefühl hüllte seinen Verstand mit beruhigend-nostalgischen Wellen ein, vernebelte diesen geradezu und nahm ihm so die Fähigkeit, noch klar zu denken. Wie gern wäre er einfach nur wieder der einfache Landis von früher, der sich keine Sorgen darum machen musste, für mehrere Morde angeklagt zu werden. Der Landis, der nicht ständig wachsam sein musste, sich nicht durch irgend etwas zu verraten. Wie schön war doch die alte Zeit. Er musste sich schwer beherrschen, nicht erneut zu seufzen. Um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, sprach er hastig weiter: „Du siehst dich also als Held?“ Nolan sah ihn ehrlich überrascht an. Mit einem Mal fühlte Landis sich, als ob er so eben etwas völlig Selbstverständliches, wie die Existenz der Naturgeister, in Frage gestellt hätte. „Wer sieht sich nicht gern als Held?“, konterte Nolan. „Weißt du noch, früher? Wir haben uns immer als Helden gesehen, selbst wenn andere uns eher als Rowdys bezeichnet haben.“ „Ich hasse dieses Wort“, meinte Landis gedankenverloren. Ihm war selbst nicht bewusst, ob er damit Held oder Rowdy meinte. Womöglich hasste er einfach beide Wörter. Früher war ihm zumindest das Letztere immer ein Dorn im Auge gewesen, nachdem er endlich die Bedeutung begriffen hatte. Ja, er und Nolan waren oft anderen auf die Nerven gegangen oder hatten Unruhe gestiftet, aber doch nicht, um Krawall zu machen. Sie waren jung gewesen, das Leben lag damals vor ihnen, sie wollten einfach etwas erleben. Darum waren sie auch Kavalleristen geworden. Tief in Gedanken versunken starrte er wieder das Glas an, das vor ihm auf dem Tisch stand. Die goldene Flüssigkeit darin schien ihn mit ihrer Köstlichkeit zum Trinken verführen zu wollen; doch der nachlassende Schaum obenauf zerstörte die Illusion und sagte ihm, dass es nur langsam Zeit wurde, bevor das Getränk schal schmecken würde. Er wusste nicht einmal mehr, wie lange dieses eine Glas schon vor ihm stand. Von seinen eigenen Gedanken abgelenkt, bemerkte er nicht, dass Nolan ihn ungewohnt ernst ansah. Erst als die Kellnerin diesem sein Getränk brachte, wurde Landis sich wieder seiner Umgebung bewusst und erwiderte den Blick seines Freundes fragend. Der Kavallerist bemühte sich sofort zu lächeln, doch es wurde mehr eine Grimasse, in der deutlich Sorge und Verwirrung zu erkennen war. „Du hast dich ziemlich verändert, Lan.“ Er konnte nicht anders, als bei diesem Satz leise zu lachen, was Nolans Miene wieder in Ratlosigkeit stürzte. „Habe ich was Witziges gesagt?“ „Das passt einfach so gar nicht zu dir“, erklärte Landis lächelnd. „Im Moment erinnerst du mich eher an Kenton.“ Seufzend hob Nolan die Schultern. „Ach, da werd ich einmal ernst und schon nimmt mich keiner mehr ernst, welch Ironie.“ Landis lachte erneut. „Das ist dein Schicksal, No. Du wirst für immer derjenige sein, der uns alle zum Lachen bringt.“ Das zufriedene Lächeln kehrte auf Nolans Gesicht zurück. „Immerhin etwas, das ich machen kann.“ Er hob sein Glas. „Wie wärs? Wollen wir mal wieder zusammen trinken? So richtig? Ist schon ne Weile her seit dem letzten Mal – und damals hast du dich auch nur betrunken, um die Hochzeit verschmerzen zu können.“ Für einen kurzen Moment zog er seine Stirn kraus, aber es verschwand sofort wieder, ohne das Lächeln verschwinden zu lassen. „Also?“ Eigentlich wollte Landis ablehnen, aus Furcht, mal wieder jegliches Maß zu verlieren, aber die Nostalgie umhüllte immer noch seinen Verstand, so dass er ebenfalls sein Glas hob. „Worauf warten wir dann noch?“ Landis konnte beim besten Willen nicht sagen wie spät es war oder wie viele Gläser sie getrunken hatten, als sie schließlich mitten in der Nacht aus dem Restaurant stolperten. Da keiner von beiden noch aufrecht gehen konnte, stützten sich beide gegenseitig auf ihrem Weg die Straße entlang. „U-un' weissu, desweschen is Fredi der schlechteschte un beschte Komm-dingsda“, erklärte Nolan lallend. „Kommdantat?“, versuchte Landis ihm zu helfen. „Naaah, anderster“, erwiderte Nolan. „Ach, morgen weiß isch es wieda...“ Beide begannen schallend zu lachen, bevor sie sich gleichzeitig daran erinnerten, dass sie leise sein sollten. Sie legten beide einen Finger an die Lippen. „Shhhhh!“ Im Augenblick fürchtete Landis tatsächlich von der Stadtwache erwischt und nach Hause geführt zu werden. Sein Vater wäre mit Sicherheit nicht sehr begeistert. Dass er inzwischen volljährig war und keinen Ärger mehr zu befürchten hatte, kam ihm dabei nicht in den Sinn. „Wo wohnsu nochmal?“, fragte Nolan plötzlich. Landis hob die Hand, um in eine bestimmte Richtung zu weisen, doch es endete damit, dass er in alle möglichen zeigte. „Isch hab keine Ahnung~“ „Dann kommsu middsumir!“, entschied Nolan kurzerhand. Landis wollte fragen, ob er denn wüsste, wo er selbst wohnt, doch seine Zunge spielte da nicht mit, so dass er nur den Daumen heben konnte, um zu zeigen, dass er einverstanden war. Sein Vater erwartete ihn ohnehin nicht. Stolpernd schafften sie es schließlich zu Nolan nach Hause. Wenn sich nicht plötzlich alles um Landis zu drehen begonnen hätte, wäre es sicherlich interessant gewesen, sich umzusehen. So aber war er froh, dass er es zumindest bis zum Bett schaffte, in das er sich sofort fallenließ. Träge streifte er seine Schuhe ab, bevor er sich unter die Decke verkroch. Nolan zog seine Schuhe zuerst aus, bevor er sich ebenfalls ins Bett legte. Zum Ausziehen waren beide bereits zu müde und außerdem war es aus Erfahrung für die beiden ziemlich schwer, in dem Zustand noch großartig etwas zu tun, selbst geradeaus laufen war ein anstrengender Akt. Landis schmunzelte, als er daran dachte, wie sie früher oft zusammen in einem Bett oder auf dem Boden daneben geschlafen hatten. Quasi jede Feier war damit ausgeklungen. In manchen Nächten waren auch Kenton und Oriana dabei gewesen. Ein sehnsuchtsvolles Seufzen entfuhr ihm bei diesem Gedanken. Wie schön war doch die damalige Zeit gewesen. Nolan lachte leise. „Ach, das mit Ria wird scho' irgenwee.“ Warum dachte er nur, dass dieses Seufzen Oriana galt? Wenngleich sie natürlich eine sehr wichtige Rolle in den verantwortlichen Erinnerungen spielte. „Ja, sischer~“, stimmte Landis seinem Freund zu. So negativ wie er sonst eingestimmt war, so positiv fühlte er sich durch den Rausch des Alkohols. Alles würde irgendwie gut werden, da war er sich ganz sicher. Obwohl er unendlich müde war, gab es etwas, was Landis seinem besten Freund unbedingt sagen musste. Er hasste es Geheimnisse vor ihm zu haben, das war schon früher nie gutgegangen, besonders wenn er betrunken war. Wäre er das nicht, würde er all seine Willenskraft zum Schweigen aufbringen, aber der nebelhafte Vorhang, der seine Gedanken umgab, ließ ihn alle Vorsätze und Bedenken vergessen. Egal, was er tat, sein bester Freund würde ihn schon verstehen und ihm vergeben, nicht wahr? „No~ Ich muss dir was gaaaaanz Wichtiges, äh, sagen, ja~“ „Wass'n?“, fragte Nolan bereits im Halbschlaf. „Kennsu Sicarius Vita?“ Die Frage war zwar überflüssig, da er sich selbst sehr gut daran erinnerte, dass sie sich bereits darüber unterhalten hatten, aber in seinem derzeitigen Zustand wusste er nicht, wie er das Thema sonst aufgreifen sollte – außerdem würde Nolan es so auch am besten verstehen. „Mh-hm~“, antwortete der Gefragte. „Ich gehör da auch dassu~“ Mit angehaltenem Atem erwartete er die Reaktion, die ganz anders ausfiel, als er erwartet hätte. Statt schlagartig wieder wach zu werden und ihn danach auszufragen, lachte Nolan amüsiert. „Uh-huh~ Und ich bin Fredis Affäre, schon klar. Schlaf endlich, Lan~“ Wahrscheinlich war es besser, dass er es für einen Scherz hielt, auch wenn es die Wahrheit war. So müsste Landis zumindest kein schlechtes Gewissen mehr haben, dass er es vor ihm verheimlichte. Was könnte er dafür, dass Nolan ihn nicht ernstnahm? „'N Nacht~“, sagte Landis, während er sich tiefer ins Bett kuschelte. Zur Antwort bekam er nur ein leises Brummeln, das ihm sagte, dass Nolan bereits kurz davor war, endgültig einzuschlafen. Der junge Page lächelte selig und schloss die Augen. Es war angenehm, zu wissen, dass in all den Änderungen, die um ihn herum geschahen, es immer Dinge gab, die stets eine angenehme Konstante bildeten. Dinge, die wohl immer gleich bleiben würden, egal wieviel Zeit verging und damit Sicherheit verhießen. Von dieser wohligen Erkenntnis beseelt, dauerte es nicht lange, bis ihn wohltuende Ruhe erfüllte und er schließlich in einen erholsamen tiefen Schlaf fiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)