Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Stille Nacht? ------------- Landis nickte zustimmend, als er das verwirrte Gesicht seines Freundes betrachtete. Nolan starrte mit großen Augen in den Wohnraum und fand schließlich die Worte, um die Frage zu stellen, die ihn in diesem Augenblick brennend interessierte: „Warum steht ein Baum mitten in eurem Haus?“ Landis seufzte. „Das war die Idee meiner Mutter.“ Er deutete auf Asterea, die gut gelaunt damit beschäftigt zu sein schien, den Baum mit allerlei bunten Glasgegenständen zu schmücken. „Und warum macht sie das?“, fragte Nolan entgeistert. „Ich habe keine Ahnung...“ Landis versuchte ebenfalls, dahinter zu kommen, während Richard, wie so üblich, von alldem gar nichts wissen wollte und seine Zeit lieber auf der Arbeit verbrachte – obwohl es sein freier Tag war. „Deine Eltern sind so... schräg manchmal“, murmelte Nolan, worauf Landis nur wiederholt zustimmend nicken konnte. Sein Vater beteuerte immer, seine Familie zu lieben, war aber auch gern weit entfernt von ihnen und seine Mutter besaß äußerst seltsame Anwandlungen als wäre sie gar kein Wesen aus dieser Welt. Wer stellte denn schon einen Baum – eine Tanne auch noch, deren Nadeln den ganzen Boden ruinierten – in sein Wohnzimmer? „Sie hat so lange gebettelt, bis Papa ihr diesen Baum geholt und aufgestellt hat“, erklärte Landis. Das hatte sie eigentlich schon immer gemacht, aber bislang war es immer an Richard abgeprallt. Warum er ausgerechnet dieses Jahr ihrem Wunsch gefolgt war, blieb seinem Sohn unerklärlich. Als Asterea nicht mehr mit Glaskugeln, sondern mit Kerzen zu hantieren begann, gingen Landis und Nolan näher. „Du willst ihn anzünden?“, fragte der Schwarzhaarige verwirrt. Irritiert wandte Asterea, die sich bislang allein geglaubt hatte, ihnen zu. Als sie die Kinder endlich erkannte, nickte sie lachend. „Mehr oder weniger. Ich will nur die Kerzen anzünden und nicht den Baum selbst~ Was ist schon ein Weihnachtsbaum, der nicht erleuchtet ist?“ Nolan blinzelte verwirrt. „Ich dachte, das ist eine Tanne.“ Asterea lachte amüsiert. „Jetzt ist es ein Weihnachtsbaum – immerhin feiern wir damit Weihnachten.“ Die beiden Freunde warfen sich einen verwirrten Blick zu. Erfand Asterea etwa schon Feiertage? Und wenn ja: Warum? Und was sollte das überhaupt sein? Sie seufzte schwer, als sie das bemerkte. „Ich vergesse immer, dass ihr alle ja gar keinen Ahnung habt, was Weihnachten ist.“ Bevor einer der beiden fragen konnte, wie es ihr möglich war, das nach zehn Jahren immer noch zu vergessen, bedeutete sie ihnen, sich hinzusetzen und ihr zuzuhören. Das taten die beiden Jungen auch sofort und lauschten der Erzählung von zwei Menschen mit Namen Maria und Josef, die aus Gründen, die keiner der beiden Zuhörer verstand, in eine Stadt namens Jerusalem aufbrechen mussten – wo auch immer die liegen sollte – und dort dann in einem Stall einen Sohn namens Jesus bekamen. Landis und Nolan nickten verstehend, ohne die Fragen zu stellen, die ihnen bereits durch die Köpfe schossen und lauschten weiter. Asterea setzte die Geschichte mit drei Weisen fort, die – viel zu spät – mit Geschenken für Jesus ankamen, der sich alsbald zu einem Prophet und Messias mauserte – nur um schließlich hingerichtet zu werden. „Kein gutes Ende für einen Helden“, kommentierte Nolan. So wenig die beiden auch von dieser Geschichte verstanden hatten, so war ihm doch klar, dass dieser Jesus eine Art Held war. Immerhin konnte er anscheinend über Wasser laufen und Kranke heilen – wer, außer einem Helden, sollte so etwas schon können? „Eigentlich war das auch gar nicht das Ende, immerhin ist er einige Tage danach wieder auferstanden.“ Die Augen der beiden Jungen weiteten sich – es bestand kein Zweifel mehr, dieser Jesus musste ein Held gewesen sein, wenn er sogar dem Tod trotzen konnte! „Aber das ist die Sache eines anderen Festes“, fügte Asterea hinzu. „An Weihnachten feiern wir seine Geburt.“ „Also hat Jesus an Weihnachten Geburtstag?“, hakte Nolan noch einmal nach, was von Asterea mit einem Nicken bestätigt wurde. „Ganz genau.“ Landis warf einen Blick zu seinem Freund, dessen Lächeln bereits sagte, dass er gerade einen Plan fasste – er selbst war sich aber nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte. Plötzlich runzelte Asterea ihre Stirn, unterbrach ihre Tätigkeit mit den Kerzen und wandte sich wieder ihnen zu. „Wollt ihr nicht draußen spielen gehen? Ich komme bald zur nächsten Vorbereitungsphase und da wäre es ungeschickt, wenn ihr dabei wärt.“ Zwar war Landis durchaus neugierig, was das zu bedeuten hatte, aber so energisch wie Nolan bereits aufstand, wusste er genau, dass es nun wichtiger war, seinem Freund bei dessen Plan beizustehen. Als er Nolan hinausfolgte, hörte er noch, wie seine Mutter ihm hinterherrief, dass sie nichts anstellen und friedlich sein sollten. Aber waren sie das nicht immer? Vor der Tür stemmte Nolan bereits die Hände in die Hüften und drückte den Rücken durch. „Ich weiß genau, was wir heute tun werden!“ „Und was?“, fragte Landis neugierig. „Wir besuchen Jesus und schenken ihm was zum Geburtstag!“ Der Satz war so entschlossen gekommen, dass Landis im ersten Moment genauso begeistert war wie Nolan – nur um im nächsten direkt fragend den Kopf zu neigen. „Was?“ Sein Freund wiederholte den Entschluss, worauf Landis eine Augenbraue hob. „Aber woher willst du wissen, wo wir ihn finden?“ Belehrend hob Nolan den Zeigefinger. „Ist doch ganz klar. Tante Asti hat doch gesagt, dass Jesus an Weihnachten Geburtstag hat, oder? Und das ist heute, oder?“ Landis nickte langsam. „Und?“ „Ich kenne nur eine einzige Person, die heute Geburtstag hat~“ Er überlegte ein wenig, doch Landis fiel auf Anhieb niemand ein, der Geburtstag hatte, weswegen er mit gerunzelter Stirn fragte, wen Nolan meinte. Er grinste breit. „Na, ist doch klar. Kennst du nicht den Einsiedler am Waldrand? Ich hab vorhin gehört, dass er heute Geburtstag hat – also muss er Jesus sein.“ Landis wollte widersprechen, doch Nolan kam ihm bereits zuvor: „Komm schon, er ist mindestens uralt, er muss es sein.“ Seufzend gab Landis seinen Widerstand auf. „Gut. Aber was sollen wir ihm schenken?“ Nolan legte die Stirn in Falten und neigte den Kopf. „Also in der Geschichte haben sie ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe gebracht.“ „Und kamen zu spät“, ergänzte Landis. „Hauptsache, wir kommen pünktlich. Aber wir haben kein Gold.“ „Und von Weihrauch und Myrrhe habe ich noch nie gehört.“ Nolan verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Wir sind nur zu zweit, also bringen wir ihm nur zwei Sachen mit. Und am besten wäre was Praktisches... Brot und Milch, das ist immer praktisch, oder?“ „Ich denke schon“, sagte Landis zögernd, da er immer noch an dem Erfolg dieser Sache zweifelte. Doch wie so oft ließ Nolan keinen Widerspruch zu und schaffte es alsbald, seinen besten Freund mit seinem Enthusiasmus anzustecken und die Mission „Begegnung mit Jesus“ zu beginnen. So begannen die zwei Nicht-Weisen-sondern-Helden-in-Ausbildung Landis und Nolan ihre Reise zu der Hütte des alten Mannes, den sie besuchen wollten. Brot und Milch, die sie anstatt Myrrhe, Weihrauch und Gold verschenken wollten, waren sicher in einem Korb in Landis' Händen verstaut. Auch wenn der Junge nicht genau wusste, warum er die Sachen eigentlich tragen sollte, wenn es doch Nolans Idee gewesen war. Dieser war allerdings zu sehr damit beschäftigt, ihn den Weg zur Hütte hin zu führen. Spontan fragte Landis sich, woher er den Weg eigentlich so genau kannte. Der Waldrand war lang, immerhin war es ein ziemlich großer Hain und obwohl Landis oft schon dort gewesen und daran entlanggelaufen war, hatte er nie eine Hütte gesehen. Vielleicht gab es diesen Einsiedler ja auch gar nicht? Aber Nolan lief unbeirrt immer weiter, ein leichtes, vergnügtes Lächeln auf dem Gesicht als wäre das hier ein aufregendes Abenteuer. Landis brachte es daher nicht über sich, Nolan darauf hinzuweisen, dass diese Unternehmung möglicherweise doch zum Scheitern verurteilt war und folgte ihm weiterhin. Doch offenbar entpuppte sich Nolan als richtig guter Navigator, denn tatsächlich konnte Landis schließlich eine kleine Hütte am Waldrand ausmachen, in einer Gegend, in der er bislang nie gewesen war. Zwar wirkte das Gebäude im Moment noch verlassen, doch zumindest bewohnt, wie das frisch aufgeschichtete Holz in einem Unterstand davor demonstrierte. Allerdings konnte Landis sich nicht vorstellen, dass jemand wie Jesus an so einem entlegenen Ort wohnen würde – doch als er seinen Zweifel mit Nolan teilte, wurde er sofort von diesem belehrt: „Was denkst du, wie viele Leute dauernd vor seiner Tür stehen würden, um sich heilen zu lassen, wenn er in einer Stadt wohnen würde?“ Dieses Argument konnte Landis nicht von der Hand weisen, weswegen er nicht weiter widersprach. An der Hütte angekommen, klopfte Nolan mehrmals laut vernehmlich gegen die Tür, ohne dass jemand öffnete oder die Kinder hereinbat. Nolan, der ohnehin nicht als geduldig bekannt war, versuchte bereits, die Tür einfach zu öffnen, um unaufgefordert hineinzugehen. „Vielleicht sollten wir warten, bis er wiederkommt“, meinte Landis zaghaft. „Vielleicht ist ihm aber was passiert“, erwiderte Nolan. „Er ist immerhin uralt. Wir sollten mal nachsehen.“ Widerwillig folgte Landis seinem Freund hinein, als dieser schließlich die Tür geöffnet hatte. Ein halbdunkler Raum empfing sie, mit Schatten in den Ecken, in denen sich laut Nolans stetig plapperndem Mundwerk finstere Dämonen verborgen hielten, die nur darauf warteten, die beiden jungen Helden zu zerfetzen. Landis betrachtete ihn missmutig, während sich sein Hals immer weiter zuzuschnüren schien. Woher hat er nur diese Fantasie? Glücklicherweise stellte Landis bald fest, dass sich in den Schatten lediglich Mäuse verbargen, die angsterfüllt davonhuschten, sobald man ihnen zu nahe kam. Es gab also keinen Grund, sich zu fürchten – zumindest nicht, bevor sie ins Bad kamen. Das Badezimmer war ein kleiner finsterer Raum, aber das wenig einfallende Licht genügte, um die dunkle Flüssigkeit in der Wanne erkennen zu lassen. „D-das ist Blut, oder?“, fragte Nolan mit leicht zitternder Stimme. Landis deutete ein Nicken an. „Entweder das oder große Mengen an Himbeersirup.“ Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass sie die Rollen getauscht hatten – normalerweise hätte Nolan die Anspielung auf den Sirup machen müssen. Doch der Schwarzhaarige schien zu beschäftigt damit, schockiert zu sein. „Was ist das für ein Held, der Blut in seiner Badewanne sammelt?“ „Können wir die Frage... woanders klären?“, fragte Landis leise. Er wollte nicht unbedingt, dass sein Blut ebenfalls in dieser Wanne enden würde – aber mit Sicherheit würde das geschehen, wenn sie die Hütte nicht verließen, ehe der Besitzer wieder heimkam. Vergessen war der Gedanke, dass hier ein Held lebte. Vielleicht hatten sie sich ja in der Hütte geirrt? Nolan nickte hastig, ging einige Schritte rückwärts und fuhr dann herum, um wieder zu gehen – doch er zuckte sofort wieder zurück. „Was ist los?“, fragte Landis. Sein Freund war inzwischen kreidebleich geworden. „Er... er ist gerade am Fenster vorbeigelaufen, er kommt gleich wieder rein!“ Die sonst so energische Stimme war zu einem erbärmlichen Krächzen verkommen. Landis' Blick huschte zu einem anderen Fenster – und sein Herz setzte für einen Schlag aus, als ein Schatten daran vorbeizog. „Was sollen wir tun?“ Panisch blickte Nolan sich um, aber die Hütte verfügte über keinen weiteren Ausgang – und die Fenster verfügte über eine komplizierte Öffnungsvorrichtung, die von den beiden Jungen schon bei Kenton zu Hause nicht verstanden worden war. Doch gerade als Landis ebenfalls in Panik ausbrechen und hysterisch im Kreis laufen wollte, wurde Nolan schlagartig wieder ernst. Entschlossen ballte er eine Hand zur Faust und reckte diese in die Luft. „Wir werden ihn überfallen, sobald er zur Tür hereinkommt! Dann können wir ihn überrumpeln! Niemand soll sagen, dass wir Feiglinge wären, die zusammengekauert in einer Ecke starben!“ Landis zweifelte zwar auch am Erfolg dieser Mission, besonders da der Mann vor der Tür den Plan inzwischen bestimmt mitbekommen hatte, aber es war besser als gar kein Plan, da war er sich sicher. Also stellten sie sich beide in Bereitschaft und blickten konzentriert auf die Tür, von der leise Geräusche erklangen als würde jemand davor seine Schuhe abputzen. Ein komischer Mörder, der sich vorher die Füße saubermacht... Doch die sich öffnende Tür unterbrach Landis' Gedanken. Kaum war sie weit genug offen, dass sie nicht einfach wieder zugeschlagen werden könnte, erklang Nolans Stimme: „Zum Angriff!“ Landis' Körper reagierte fast schon automatisch, als er seinen Freund an sich vorbeistürmen sah und schloss sich ihm mit einem eigenen Kampfschrei an. Gemeinsam stürmten sie auf den in der Tür stehenden Mann zu, der beiden nur verdutzt entgegenstarren konnte. Einige Stunden später hatten Nolan und Landis einiges über den vermeintlichen Mörder gelernt: Sein Name war nicht Jesus, sondern Deror. Obwohl sein Haar grau war, war er nicht uralt. Er lebte nicht wegen eventueller Heilkräfte oder Mordgelüsten so abgeschieden, sondern weil er gern seine Ruhe hatte. Im Winter zerlegte er erlegte Tiere in seinem Bad, was das Blut in der Wanne erklärte. Aber das Wichtigste – zumindest für die beiden Jungs – war eindeutig: „Dieses Hirschgulasch ist so lecker!“, schwärmte Nolan mit glänzenden Augen, als er zwischen den Bissen Zeit zum Reden fand. Landis nickte zustimmend. „Sowas Gutes habe ich noch nie gegessen!“ Deror lachte amüsiert und bedankte sich für das Lob. „Das mache ich jedes Jahr an meinem Geburtstag, inzwischen bin ich also ein Experte darin~“ „Es ist also eine Tradition?“, hakte Nolan nach. Landis warf seinem Freund über den Tisch einen überraschten Blick zu. Der Wortschatz des Jungen schien sich stetig zu vergrößern und – das war das Neue daran – er brachte sie auch in den richtigen Kontext. Langsam bekam Landis das Gefühl, von seinem besten Freund abgehängt zu werden... Deror nickte lächelnd. „Genau. Das war auch schon so, als meine Eltern noch gelebt haben.“ „Ich will auch eine Tradition!“, forderte Nolan sofort. Über diesen Enthusiasmus konnte ihr Gastgeber nur lachen, während Landis leise seufzte. Manchmal verstand er seinen Freund einfach nicht, da war er viel zu... unhöflich. Seine Eltern hätten ihn für diese Forderung im Haus eines Fremden sofort abgestraft. Derors Blick fiel auf den Korb, indem immer noch Brot und Milch lagen, die als Geschenk gedacht waren. „Wie wäre es mit einer neuen Tradition? Ihr bringt mir jedes Jahr an meinem Geburtstag Brot und Milch und ich lade euch dafür auf Hirschgulasch ein?“ Die Augen beider Jungen begannen bei dem Vorschlag sofort zu leuchten, weswegen Deror wieder lachte. „Das nehme ich mal als Ja von eurer Seite aus.“ Beide nickten aufgeregt und vertieften sich dann sofort wieder in das Essen, in Gedanken bereits beim nächsten Jahr, in dem sie dann auch Kenton und Oriana mitbringen wollten – was sie beide gleichzeitig wussten, ohne sich miteinander abgesprochen zu haben. Und während sie weiter so friedlich zusammen aßen und sich dabei lachend Geschichten erzählten als würde man sich schon ewig kennen, fiel langsam die Dunkelheit über die Hütte – und mit ihr der erste Schnee des Jahres. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)