Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Rosen haben... was bitte? ------------------------- Kenton empfand es als keine gute Idee. Er wusste genau, dass das alles schlecht enden würde. Aber sein Vater hörte ihm nicht zu, als er die beiden Jungen einfach in sein Zimmer schob, ihnen viel Spaß beim Lernen wünschte und dann lachend in Richtung Wohnzimmer verschwand. Nolan und Landis standen unschuldig lächelnd vor Kenton, aber er ließ sich nicht täuschen. Er wusste genau, welch Schabernack sich hinter ihren Engelsmienen verbarg. Alle drei schwiegen und rührten sich kaum, aber dieser Zustand schien für Nolan bald unerträglich zu werden, denn im nächsten Moment platzte es bereits aus ihm heraus: „Woah, du hast so viele Bücher! Wie cool!“ „Cool?“, fragte Kenton verwirrt. Er kannte dieses Wort nicht, weswegen er lediglich anhand des Tonfalls sagen konnte, dass es wohl Bewunderung ausdrücken sollte. Landis ereiferte sich bereits zu einer Erklärung: „Meine Mama hat uns das Wort beigebracht. Sie meint, sie hat es von einem Ausweltler gelernt und er hat gesagt, es bedeutet so viel wie toll oder großartig.“ „Du meinst Ausländer, oder?“ Hinter Kentons linkem Auge setzte ein sanftes Pochen ein, das ihm verriet, dass er bald Kopfschmerzen bekommen würde. „Mama hat Ausweltler gesagt.“ Das macht keinen Sinn. Aber er sparte sich jedes weitere Wort, immerhin schien Landis absolut sicher, dass seine Mutter sich nicht irrte und schon recht hatte. Außerdem musste er seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf Nolan richten, der sich inzwischen dem Bücherregal genähert hatte, um dieses genauer in Augenschein zu nehmen – was in seinem Fall bedeutete, dass er jedes einzelne Buch anfassen musste. „H-he! Lass die Finger davon!“ Kenton hastete hinüber, um sich zwischen den Jungen und das Bücherregal zu stellen. „Das sind teilweise kostbare Erstausgaben! Die kannst du nicht einfach mit deinen schmutzigen Fingern anfassen!“ Schmollend schob er die Unterlippe vor. „Ich habe meine Hände gewaschen, bevor ich hergekommen bin.“ „Ich will trotzdem nicht, dass du mein Eigentum anfasst!“ Nolan verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und blickte beleidigt zur Seite, dafür konnte Kenton als nächstes die Stimme von Landis hören: „He, Ken, was ist das hier?“ Er wandte ihm den Blick zu und stellte erschrocken fest, dass der Junge dabei war, einen an der Wand hängenden Schaukasten in dem mehrere aufgespießte Schmetterlinge ausgestellt waren, immer wieder mit dem Finger anzustoßen. Kenton rauschte hinüber und zog Landis davon weg. „Lass das! Der Kasten fällt sonst runter und alle Präparate gehen kaputt.“ „Warum hast du tote Schmetterlinge in deinem Zimmer?“, fragte der Junge entsetzt. Kenton dachte über die einfachsten Worte nach, mit denen er erklären könnte, dass er von Schmetterlingen fasziniert war und sie deswegen ständig im Blick haben wollte, man aber lebende Exemplare nicht einsperren konnte. Aber während er noch überlegte, kam Nolan ebenfalls herüber und schüttelte nach einem kurzen Blick den Kopf. „Die sind nicht tot. Das sind Vampir-Schmetterlinge, die fliegen wieder, wenn du die Nadeln aus ihren Herzen entfernst.“ „Wirklich?“, fragte Landis hoffnungsvoll. „Nein!“, erwiderte Kenton gereizt. „Das ist doch Unsinn! Es gibt keine Vampire!“ Nolan wandte sich ihm zu und stemmte die Arme in die Hüften. „Oh doch und wie es die gibt! Mein Vater hat neulich Zeitung gelesen und dabei gemurrt, dass die neue Riege der Händlergilde alles Vampire wären.“ Er begleitete jedes seiner Worte mit einem entschlossenen Nicken, was dafür sorgte, dass Landis leicht blass wurde, weil er ihm offensichtlich glaubte. Kenton dagegen schlug sich die Hand vor die Stirn. „Er meinte damit etwas ganz anderes, er-“ Ihm blieb keine Zeit, zu Ende zu sprechen, denn die beiden waren nun bereits in eine Diskussion darüber vertieft, wie es möglich sein könnte, dass es Vampir-Schmetterlinge gab und ob Vampire im Sonnenlicht glitzerten oder doch eher zu Asche zerfielen und wenn sie glitzerten, warum sie das taten, wenn das doch einfach nur lächerlich war. Das Pochen hinter Kentons Auge hatte sich zu seiner Stirn hochgearbeitet und sich dort in Schmerz verwandelt, der sich bohrend in seinen Kopf vorarbeitete. „Könnt ihr das endlich mal lassen?“ Beide unterbrachen ihre Diskussion und sahen ihn wieder an, sie schienen sich keinerlei Schuld bewusst zu sein. „Also, was müsst ihr lernen?“ Wenn er nicht drum herum kam, könnte er auch versuchen, es schnell hinter sich zu bringen. „Alles“, antwortete Nolan, worauf Kenton am Liebsten zu weinen begonnen hätte, sein Hals kratzte bereits unangenehm. „Wir sind in allem ziemlich schlecht“, bestätigte Landis. „Der Unterricht ist viel zu schwer und die Lehrer haben was gegen uns.“ „Ich weiß gar nicht, warum.“ Nolan wirkte nachdenklich. „Wir haben Herrn Barnes von einer aufdringlichen Katze befreit und Frau Layken eine geschenkt.“ „Na ja, vielleicht hätten wir uns denken sollen, dass Herr Barnes die Katze mochte und wir hätten Frau Layken glauben sollen, als sie uns sagte, sie wäre allergisch.“ Kenton versuchte, tief durchzuatmen, um sich wieder zu beruhigen, aber Nolan ließ ihm gar nicht erst die Gelegenheit, denn er fuhr direkt fort: „Oder Frau Celcius, die sich an den Dornen der Rosen gestochen hat, die wir ihr geschenkt haben...“ Er wollte sich selbst aufhalten, sich bremsen, aber die Worte kamen schneller über seine Lippen als ihm lieb war: „Rosen haben keine Dornen, sie haben Stacheln.“ Beide Jungen blickten ihn an als ob sie glaubten, er hätte den Verstand verloren, weswegen er fortfuhr: „Es ist ein typischer Volksirrglauben, dass Rosen Dornen haben, aber botanisch gesehen sind es Stacheln. Sie sind ein stechender Vorsprung an der Sprossachse. Sie sind Emergenzen, aber keine ungebildeten Organe, weswegen sie so unregelmäßig auf den Stielen verteilt sind.“ Die beiden Jungen schwiegen eine ganze Weile, aber ganz offensichtlich glaubten sie ihm nicht, vermutlich hatten sie nicht einmal verstanden, was er da eben gesagt hatte. „Aber... was haben dann Kakteen?“, fragte Landis verwirrt. „Die haben Dornen“, antwortete Kenton sofort. „Dabei handelt es sich um ungebildete Sprossachsen, Blätter, Nebenblätter oder Wurzeln, sie sitzen also an der Stelle eines Organs.“ Wieder schwiegen die beiden Jungen, was Kenton für einen Beweis von Respekt und Ehrfurcht hielt, doch im nächsten Moment schnaubte Nolan bereits spöttisch. „Du spinnst doch. Rosen haben Stacheln, hat man sowas schon mal gehört?“ Kenton spürte einen schmerzhaften Druck auf seinen Ohren. Er deutete auf den Tisch. „Setzt euch, beide. Holt eure Bücher raus.“ Nolan befolgte den Befehl sofort, Landis dagegen ließ sich von Kenton den Weg ins Bad erklären. Mit nur einem der beiden Jungen im Zimmer schien sofort Ruhe einzukehren, jedenfalls schaffte Nolan es, ruhig sitzenzubleiben und sich Kentons Erklärungen anzuhören. Erst als Landis nach einer scheinbaren Ewigkeit wieder zurückkehrte, fiel ihm auf, wie lange er eigentlich weggeblieben war. Er hob den Kopf, um Landis zu fragen, wo er so lange geblieben war – und erstarrte. Der Junge kaute auf einem Apfel und reichte Nolan auch einen solchen und noch einige andere Sachen, die dieser sofort verspeiste als hätte er seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. „W-wo hast du das alles her?“, fragte Kenton. Sein Kiefer schmerzte inzwischen als ob er entzündet wäre. Landis schluckte das hinunter, was er gerade im Mund hatte, ehe er antwortete: „Das Schloss an eurer Vorratskammer ist echt mies. Ich brauchte nur drei Sekunden, um es zu knacken.“ Kenton konnte ihn über diesen Grad an Unverschämtheit nur sprachlos ansehen, weswegen er sich zu einer Erklärung berufen fühlte: „Dein Vater hat gesagt, wir sollen uns wie zu Hause fühlen und wir essen eben gern, wenn wir zu Hause sind – deswegen sagt mein Papa immer, dass ich rausgehen soll, um zu spielen, selbst wenn es regnet.“ „Nein, besonders wenn es regnet“, korrigierte Nolan ihn. Kenton entfuhr ein leises Wimmern, aber im nächsten Moment hörte er bereits die fassungslose Stimme seiner Mutter, die quer durch das Haus fragte, wer für das Plündern der Vorratskammer verantwortlich wäre. Er konnte hören, wie sein Vater lachte, da er noch glaubte, sie würde einen Scherz machen, während Landis und Nolan unbeirrt weiteraßen. Seufzend legte er sich die Hand an die Stirn. „Ich habe gewusst, dass das nicht gut enden würde...“ „Und kommt ja nicht auf die Idee, eure Blagen noch einmal bei uns abzuladen!“, grollte Faren. Kaum hatten er und Yuina herausgefunden, wer für die Plünderung der Kammer verantwortlich war, hatte er die beiden Jungen gepackt und sie zu Richards Haus geschleppt, wo die Väter der beiden gerade in einem Gespräch vertieft gewesen waren. Richard beugte ein wenig den Oberkörper vor. „Es tut mir Leid, das wird nie wieder vorkommen.“ „Wir werden sicherstellen, dass sie bestraft werden“, versicherte Kieran mit unbewegter Miene. Die beiden Jungen wurden augenblicklich blass und blickten auf den Boden. Aber Faren schien damit zufrieden zu sein. „Das will ich doch hoffen.“ Damit verabschiedete er sich ungewohnt missgelaunt von den anderen. Richard stemmte die Arme in die Hüften. „Ich bin sehr enttäuscht von euch, Jungs. So haben wir euch nicht erzogen, ihr könnt nicht einfach-“ „Er ist weg“, unterbrach Kieran ihn. Richard atmete erleichtert auf. „Endlich. Okay, Jungs, geht spielen oder sonst was.“ Während die beiden sich freudig ansahen, räusperte Asterea sich, die bislang untätig in der Tür zur Küche gestanden und das alles beobachtet hatte. „Wolltet ihr sie nicht für ihr Verhalten bestrafen?“ Sie empfand die Situation, dass Richard und Kieran einmal die guten und nachsichtigen Väter verkörperten wohl als derart ungewohnt, dass sie automatisch die andere Position einnahm. „Ich für meinen Teil bin froh darüber, dass sie einmal Farens Vorratskammer geleert haben und nicht meine“, erwiderte Kieran. „Ich sehe keinen Grund, sie zu bestrafen.“ „Geht mir genauso“, stimmte Richard zu. Asterea schüttelte seufzend mit dem Kopf. „Ich werde euch beide nie verstehen.“ „Das können wir dir zurückgeben“, erwiderte ihr Mann, ehe er sich wieder an die beiden Jungen wandte. „Habt ihr denn wenigstens etwas gelernt?“ Landis nickte sofort. „Oh ja! Ken hat uns beigebracht, dass Rosen keine Dornen, sondern Stacheln haben!“ „Und Kakteen dafür Dornen“, stimmte Nolan zu. Entgegen ihrer Skepsis zu Beginn, waren sie inzwischen überein gekommen, dass es doch wahr sein könnte, immerhin hatte er auch mit den nicht fliegenden Hühnern recht gehabt – und keiner von ihnen hatte seine ausführliche Erklärung verstanden, was für sie ebenfalls noch ein Grund war, ihm zu glauben. Solange ihnen also nicht das Gegenteil bewiesen wurde, würden sie das weiterhin glauben. Richard blickte fragend zu Kieran. „Ist das wahr?“ Nolans Vater, der einst ein Händler gewesen war und deswegen ebenfalls einiges an Wissen angehäuft hatte, nickte. „Ja. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die beiden Sachen immer durcheinandergebracht, aber Rosen haben tatsächlich Stacheln.“ „Oh, verstehe.“ Die beiden Jungen hoben nur die Hände zum Abschiedsgruß und gingen dann zur Treppe hinüber, um in Landis' Zimmer zu gehen. Während sie die Stufen hinaufgingen, neigte Landis besorgt den Kopf. „Ich frage mich, ob es Kenton gutgeht.“ „Ja, als wir gingen, sah er nicht sonderlich gut aus...“ In diesem Moment wusste noch keiner der beiden, dass Kenton von ihrem Besuch und ihrer nervigen Art derart überfordert gewesen war, dass er die nächsten fünf Tage mit Fieber im Bett liegen und sie beide an jedem einzelnen Tag verwünschen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)