Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Wahrheit oder Pflicht? ---------------------- Es war ungewöhnlich. Frediano konnte es auch im ersten Moment gar nicht glauben und blinzelte deswegen, nur um sicher zu gehen. Aber Landis, der sich locker gegen die Hauswand lehnte, war immer noch da. Normalerweise war er bereits längst zu Hause, wenn Frediano sich endlich dazu entschied, ebenfalls das Trainingsgelände zu verlassen, immerhin war es dann bereits dunkel und der nächste Tag nicht mehr allzuweit entfernt. Aber an diesem Tag war er tatsächlich noch da und starrte mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht in die Dunkelheit hinaus. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, wollte er an dem Wartenden vorbeigehen, blieb allerdings stehen, als er von Landis angesprochen wurde: „Guten Abend, Frediano.“ Reflexartig setzte er zu einer Erwiderung an. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht-“ – er stutzte – „Wie hast du mich genannt?“ Landis blickte ihn unbewegt lächelnd an. „Na Frediano. So heißt du doch.“ „Ja, das ist richtig.“ Aber es war ungewohnt, immerhin wurde er von ihm sonst eher als Fredi oder Fredi-Idiot bezeichnet – und das waren nur die harmlosen Namen, die ihm gerade einfielen. „Na siehst du?“ Frediano runzelte die Stirn über Landis' seltsames Verhalten und wollte gerade weitergehen, als ihn die Stimme des anderen noch einmal innehalten ließ: „He, hast du nicht Lust, mit uns was trinken zu gehen, Frediano?“ Er sah Landis wieder an, suchte in seinem Gesicht nach dem erwarteten Spott, fand aber nur immer noch dessen ehrliches Lächeln. „Wen meinst du mit uns?“ „No, Ken und mich natürlich“, kam die prompte Antwort. „Ich lade dich auch ein, ausnahmsweise. Mein Vater hat mir ziemlich viel Geld gegeben, damit ich lange wegbleibe.“ „Warum sollte er das tun?“ Nicht, dass Frediano nicht verstand, dass man Landis lieber weit weg von sich haben wollte, kam es ihm bei Richard doch unpassend vor. Sein Gegenüber zuckte allerdings nur mit den Schultern. „Ich denke lieber nicht zu lange darüber nach. Also komm, wie sieht es aus?“ So sehr es ihm auch widerstrebte, seine Zeit mit Landis zu verbringen, so sehr wollte er auch nicht zu seiner Tante nach Hause. Und wenn Landis im angetrunkenen Zustand – der Alkohol war inzwischen deutlich riechbar – so erträglich war, würde der Abend möglicherweise nicht allzu schlimm werden. Deswegen stimmte er nach kurzem Nachdenken schließlich zu, worauf Landis sich sogar zu freuen schien. „Yay, dann komm!“ Yay? Doch statt nachzuhaken oder Landis zu fragen, warum er hier auf ihn gewartet zu haben schien, folgte Frediano ihm lieber hastig. Es war das erste Mal, dass Frediano sich in der kleinen Taverne von Cherrygrove aufhielt und auch das erste Mal, dass er ein Bier trank, weswegen es erwartungsgemäß auch nicht lange dauerte, bis er ebenfalls angetrunken war, genau wie die anderen drei Anwesenden. Ungewöhnlich war für ihn besonders, Kenton in einem solchen Zustand zu sehen, der ihm sogar das ein oder andere Lächeln entlockte, das man sonst nicht zu Gesicht bekam. Er war auch der einzige in der Runde, der kein Bier, sondern Rotwein trank, was, wie Frediano fand, auch wesentlich besser zu ihm passte. Landis und Nolan waren überraschend ruhig und recht vernünftig, ein angenehmer Nebeneffekt, wenn man ihn fragte – zumindest bis Landis plötzlich zu schmunzeln begann. „Okay, wenn wir dann schon alle beisammen sind, wird es dann mal Zeit für ein Spiel.“ „Ein Spiel?“, hakte Frediano nach, während Nolan bereits begeistert nickte und Kenton entnervt seufzte. „Jap. Es heißt Wahrheit oder Pflicht. Kennst du das?“ So viel zu 'vernünftig'... Frediano nickte trotz seines Gedanken ergeben. Bislang war er stets um so etwas herumgekommen, aber er hatte davon gehört, wenngleich er das Spiel eigentlich als recht kindisch empfand, weswegen es ihn umso mehr verwunderte, dass Kenton noch nicht aufgestanden war, um zu gehen – und mit Sicherheit war er von Landis nur deswegen eingeladen worden. „Du darfst anfangen, Frediano.“ Das passte allerdings nicht dazu, weswegen er erst einmal fragend blinzelte, aber Landis lächelte immer noch, weswegen er innerlich seufzend die Schultern zuckte. Wenn er schon nicht drum herum kam, konnte er es auch schnell hinter sich bringen. „Soll ich mit dir anfangen? Gut, dann... Wahrheit oder Pflicht?“ „Wahrheit.“ „Hast du mich nur wegen diesem Spiel eingeladen?“ Zu seiner Überraschung schüttelte Landis mit dem Kopf. „Uh-uh. Ich dachte, es wäre mal ganz lustig, wenn du auch dabei wärst und du dich nicht allein langweilen musst.“ Frediano warf einen Blick zu Kenton, der zustimmend nickte. „Das ist richtig. Als die Rede auf dich kam, sprang er plötzlich auf, meinte, er kann es nicht ertragen, zu wissen, dass du dich den Rest des Abends langweilen wirst und stürmte hinaus.“ „Wir dachten noch, er macht einen Witz und kommt gleich wieder“, fügte Nolan hinzu. „Aber dann kam er mit dir zurück.“ Also meinte Landis es wohl doch ehrlich... und dieses Spiel war etwas, das sie öfter spielten, so routiniert wie Nolan bereits wirkte, als er auf Landis' Frage mit „Pflicht“ antwortete. Der Auftragsteller sah sich einen Moment um und deutete dann auf einen Tisch, der mit einigen jungen Frauen besetzt war, die höchstwahrscheinlich aus der ansässigen Mädchenschule stammten. Zwar trugen sie abends und an diesem Ort natürlich keine Uniform, aber Frediano glaubte, sie bereits tagsüber einmal gesehen zu haben – und da waren sie in Uniformen unterwegs gewesen. „Geh mal da rüber und frage sie, ob sie Interesse an einer weiteren Runde haben, wenn ja, gibst du ihnen eine aus.“ Diese Anweisung begleitete Landis damit, dass er Nolan etwas Geld in die Hand drückte, das selbst in Fredianos Augen überraschend viel war. Nolan erwiderte allerdings nichts darauf und ging tatsächlich zu dem Tisch hinüber, wo er sich ohne jegliche Berührungsängste in das laufende Gespräch einklinkte. Die im ersten Moment abweisenden Gesichter der Frauen wurden bald herzlicher, nachdem sie Nolan gemustert hatten. Es war also nicht nur ein Gerücht, dass er bei erstaunlich vielen Frauen in Cherrygrove gut ankam. Landis schmunzelte zufrieden. „Läuft wohl wieder gut für ihn.“ „Du weißt doch, wie das ist“, meinte Kenton. „Er lächelt, sagt irgendwas in seinem charmantesten Tonfall und sofort liegen ihm alle zu Füßen. Deswegen lasse ich meine Schwester nie allein mit ihm.“ „Ich glaube nicht, dass er Renea zu nahe kommen würde“, erwiderte Landis, doch Kenton ließ das nicht gelten: „Es ist für mich schon schlimm genug, dass er sie Ren nennt.“ Frediano sagte nichts dazu, schon allein, weil er Landis hätte zustimmen müssen und so tief würde er sich nicht sinken lassen. Dementsprechend froh war er, dass Nolan gleich darauf mit einem glücklichen Lächeln wieder an den Tisch zurückkehrte. „Ich hab nachher eine Verabredung.“ „Glückwunsch“, kam es von Landis, während Kenton nur einen Schluck aus seinem Glas nahm und Frediano sich fragte, ob es nicht viel zu spät für eine Verabredung werden würde, wenn er sich jetzt noch zu ihnen setzte, obwohl es schon nach zehn Uhr war. „Gut, Kenton, du bist dran“, sagte Nolan gut gelaunt – und in dem Moment fiel Frediano auf, dass es bei ihnen wohl üblich war, im angetrunkenen oder betrunkenen Zustand jeden mit vollständigem Namen anzusprechen statt wie üblich mit Abkürzungen oder Kosenamen, was er durchaus bemerkenswert fand. Kenton machte nur eine kurze Handbewegung, aber Nolan schien genau zu wissen, was das bedeuten sollte, denn er stellte seine Frage, ohne dass der andere erst Wahrheit sagen musste: „Ich hab da drüben grad die interessante Geschichte aufgeschnappt, dass du mit Chryssabelle ausgehst. Was läuft da zwischen euch?“ Frediano war sich sicher, dass ein nüchterner Kenton lediglich die Stirn gerunzelt und erwidert hätte, dass es niemanden außer sie beide etwas anginge, aber im angetrunkenen Zustand kroch ihm tatsächlich die Röte den Nacken hinauf, worauf deutlich sichtbar rote Flecken an seinem Hals entstanden. Er schien bemüht, eine neutrale Mimik zu bewahren, schaffte es aber nicht und wirkte so eher dezent verlegen. „Nichts weiter. Wir sind nur ein paar Mal miteinander ausgegangen.“ Nolan seufzte. „Als ich mit ihr ausgehen wollte, meinte sie so 'Erst wenn deine Intelligenz proportional gleich zu deiner Attraktivität verläuft' und ich so 'Hä' und sie so 'Genau deswegen nicht'. Das war echt seltsam.“ Kenton griff sich an die Stirn, die vermutlich genau wie die von Frediano zu schmerzen begonnen hatte, lediglich Landis klopfte seinem besten Freund ermutigend auf die Schulter. „Also seid ihr wirklich nur ausgegangen?“, hakte Nolan nach. „Ist das nicht gegen die Spielregeln?“, mischte Frediano sich ein, allerdings war es erstaunlicherweise Kenton, der den Kopf schüttelte. „Nein, wir haben die Regeln ein wenig angepasst. Eine Folgefrage, die sich aus der Antwort auf die vorige Frage ergibt, darf noch in derselben Runde gestellt werden. Leider.“ Er seufzte schwer und wandte sich an Nolan. „Da du ohnehin nicht locker lassen wirst: Wir sind nicht nur ausgegangen. Aber mehr erfährst du von mir nicht.“ Ein Teil seiner Vernunft war wohl doch noch geblieben, aber Nolan schien sich bereits damit zufrieden zu geben und lehnte sich grinsend zurück. Kenton warf Frediano einen Blick zu und dieser erwiderte ihn automatisch mit einer Kopfbewegung zu Landis hin, zum Zeichen, dass er gut darauf verzichten konnte, an die Reihe zu kommen – und glücklicherweise verstand Kenton das auch und stellte Landis die Frage, die der Junge sofort mit „Wahrheit“ beantwortete. „Macht es dir und Nolan Spaß, mich so zu quälen?“ Landis überlegte einen Moment ernsthaft und neigte dann den Kopf. „Wir wollen nur an deinem Leben teilhaben – und von allein erzählst du ja nichts.“ Ein Augenrollen war die einzige Erwiderung, die von Kenton kam, vermutlich hatten sie dieses Gespräch schon öfter geführt, weswegen er an diesem Punkt einfach aufgab – so dass Landis sich nun an Frediano wenden konnte: „Wahrheit oder Pflicht?“ Er kam nicht drum herum. „Wahrheit.“ Wer wüsste schon, was Landis einfallen würde, wenn er ihm etwas auftragen sollte – dummerweise hatte er auch nicht mit der Frage gerechnet, die er nun bekam: „Bist du noch Jungfrau?“ Da Nolan ihn genauso gespannt anblickte wie Landis, blickte er hilfesuchend zu Kenton, doch dieser winkte ab. „Regeln sind Regeln, du musst die Frage beantworten.“ In nüchternem Zustand wäre er einfach aufgestanden und gegangen, aber im Moment fühlte er sich eher wie eine Maus in einer Falle. Schließlich konnte er sich aber doch zu einer Antwort durchringen und nickte. „Ja...“ „Dann hast du nicht mit Ria geschlafen?“, versicherte Nolan sich, worauf Frediano noch einmal nickte – und dann irritiert feststellte, dass der Fragende in die Tasche griff und etwas Geld hervorholte, das er Landis reichte. „Du hast die Wette gewonnen.“ Zufrieden zählte Landis die Münzen durch. „Tja und du wolltest mir nicht glauben.“ Frediano spürte, wie seine Ohren heiß zu werden begannen. „W-wieso wettet ihr um so etwas?“ „Oh, ich wollte Wahrheit nehmen“, meinte Landis, „gut mitgedacht, Frediano. Wir wollten ja eigentlich nicht darum wetten, aber Ria sagte, ihr hättet nicht miteinander geschlafen, worauf Nolan meinte, dass sie das nur gesagt hat, damit ich nicht wütend auf dich werde – und dann haben wir uns so lange gestritten, bis es zu einer Wette wurde.“ Er lächelte nach dieser Erklärung – und zum ersten Mal verstand Frediano, was andere Dorfbewohner meinten, wenn sie sagten, man könne Landis nicht lange böse sein, wenn er lächelte. In diesem Moment beruhigte nämlich selbst er sich wieder. „Ich verstehe. Tja, dann bist du wohl dran.“ Landis wollte sich gerade enthusiastisch an Nolan wenden, als dieser plötzlich aufstand. „Ich muss los. Wir machen ein andermal weiter.“ „Schon?“, fragte Landis deutlich enttäuscht und warf einen Blick zu den jungen Frauen hinüber, die inzwischen ihren Tisch verlassen hatten. Lediglich eine stand noch da und winkte Nolan auffordernd zu sich. Als er das sah, wurde ihm offenbar bewusst, dass er kaum verlangen konnte, dass sein Freund blieb, deswegen sah er ihn betrübt lächelnd an. „Geht klar. Viel Spaß.“ Frediano glaubte fast, die gesamte Traurigkeit hinter diesen Worten spüren zu können und musste schlucken, doch Nolan ignorierte es entweder oder bemerkte es selbst nicht, denn nach einer kurzen Verabschiedung war er gemeinsam mit der jungen Frau bereits verschwunden. Kenton nahm derweil noch einen letzten Schluck aus seinem Glas und stand dann wortlos auf. Da Frediano davon ausging, dass er nur am Tresen noch mehr Wein holen wollte, kümmerte er sich nicht weiter darum, sondern sah automatisch wieder zu Landis, der bedrückt auf den Tisch blickte. Von dem gerade eben noch so zufriedenen Jungen war nichts mehr zu sehen. Die drückende Atmosphäre störte den angetrunkenen Frediano, weswegen er das entstandene Schweigen brach: „Warum hast du ihm nicht gesagt, dass du nicht willst, dass er geht?“ Landis hob nicht einmal den Kopf. „Es reicht, wenn ich deprimiert bin, ich sollte ihm seinen Spaß gönnen. Außerdem enden die Abende meist so, ich bin das gewohnt.“ „Eure Abende enden damit, dass du mit Kenton zurückbleibst?“ Nun hob Landis doch den Kopf, aber er lachte dabei humorlos. „Mit Kenton? Nein, ganz allein.“ Frediano warf einen Blick umher, um Kenton ausfindig zu machen und Landis damit zu demonstrieren, dass es zumindest an diesem Abend nicht so war – aber er konnte den jungen Mann nicht finden. „Das ist so eine Eigenart von Kenton“, erklärte Landis. „Wenn er betrunken ist, wird er müde und dann steht er auf und geht einfach nach Hause, ohne sich zu verabschieden. Ich glaube, er weiß dann gar nicht mehr so genau, dass er eigentlich mit Begleitern unterwegs war.“ Aus seinen Worten sprach in diesem Moment so viel Traurigkeit, dass selbst Frediano für einen kurzen Augenblick Mitleid mit ihm bekam. Aber wirklich nur für den Bruchteil einer Sekunde, immerhin war er davon überzeugt, dass dieser Junge kein Mitleid benötigte oder gar Wert darauf legte. Schweigend trank Landis sein Glas leer, was Frediano ihm unwillkürlich nachmachte, nur um dann zeitgleich mit ihm aufzustehen. „Ich begleite dich nach Hause“, erwiderte er auf Landis' fragenden Blick. Eigentlich erwartete er eine empörte Abfuhr, aber der Junge nickte lediglich und verließ gemeinsam mit Frediano die Taverne. Er schwankte dabei ein wenig, hielt sich aber gut, während dem Kommandantensohn der Alkoholspiegel gar nicht anzumerken war, solange man sich nicht mit ihm unterhielt. Die ersten Schritte brachten sie schweigend hinter sich, doch dann brach Landis die Stille: „Wahrheit oder Pflicht?“ „Spielen wir denn immer noch?“ Landis hob belehrend den Zeigefinger. „Das Spiel endet erst, wenn alle Spieler eingeschlafen sind.“ Gleichgültig zuckte Frediano mit den Schultern, immerhin waren sie jetzt auch unter sich, da würde es ihm weniger ausmachen, hoffte er. „Fein, Wahrheit.“ „Hasst du mich?“ Die Frage kam so naiv, so unschuldig herüber, dass Frediano einen kurzen Augenblick brauchte, um sie wirklich zu begreifen und bearbeiten zu können – und dann brauchte er eine Weile, um über die Antwort nachzudenken. Nüchtern hätte er auf diese Frage mit einem kühlen „Ja“ geantwortet, aber in seinem jetzigen Zustand machte er sich tatsächlich ernsthaft Gedanken darum. Es gab keinen logischen Grund, Landis zu hassen und zumindest betrunken schien er ganz angenehm zu sein, zumindest bislang. „Ich denke nicht“, antwortete er schließlich. „Ich kann nur nicht viel mit deiner Denkweise anfangen – und ich war immer ein wenig neidisch auf dich.“ Landis musste keine weitere Frage stellen, Frediano wusste auch so, dass er wissen wollte, weswegen. „Als ich nach Cherrygrove kam, hatte ich gar nichts. Keine Freunde; niemand, der mich liebt und meine Familie hatte mich gerade erst zu einer Frau abgeschoben, die mich so wenig mochte wie ich sie. Und dann sah ich dich. Wusstest du, dass du die allererste Person außer meiner Tante warst, die ich in Cherrygrove gesehen habe? Nein, natürlich nicht.“ Er verfiel einen Moment ins Schweigen, als er sich an den braunhaarigen Jungen zurückerinnerte, der damals gerade mit seinem Vater an seinem Fenster vorbeigelaufen war. Er wusste einfach, rein aus dem Bauch heraus, dass sie Vater und Sohn sein mussten. Das Gesicht des Jungen war unglücklich gewesen, er wirkte wie ein begossener Pudel, so dass Frediano sofort wusste, dass er etwas angestellt hatte und dabei erwischt worden war. Während er die beiden beobachtete, hatte er sich vorgestellt, wie sein Vater, Dario, ihn bestrafen würde, auch wenn er die genaue Tat nicht kannte. Doch plötzlich war der fremde Vater stehengeblieben, um sich zu seinem Sohn hinunterzuknien. Auf die Entfernung und durch das Fenster hindurch, war es Frediano nicht möglich gewesen, zu hören, worüber sie sprachen, doch als der Vater sich wieder erhob, fuhr er seinem Sohn liebevoll durch das Haar, worauf der Junge wieder glücklich lächelte und sie ihren Weg fortsetzen konnten. Er lächelte unmerklich. „Ich war so neidisch in diesem Moment. Und dann fand ich ja heraus, dass du Freunde hast... und dann wurde es nur noch schlimmer.“ „A-aber wir haben dich doch in unseren Kreis aufgenommen, es gab keinen Grund mehr, neidisch zu sein!“, protestierte Landis sofort und stürzte vor lauter Übereifer fast über seine eigenen Füße. Frediano verhinderte den Sturz, musste dann aber damit leben, dass Landis den Arm um seine Schulter gelegt hatte, damit so etwas nicht noch einmal geschah. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwer es ist, sich in euren Kreis zu integrieren. Ich meine, ihr alle kennt euch, seit ihr klein wart, ich dagegen bin ein nachträglich dazugekommener Eindringling gewesen – und den Eindruck vermittelt ihr mir selbst heute noch manchmal.“ Landis murmelte eine Entschuldigung, aber Frediano schüttelte nur mit dem Kopf. Er war längst fertig mit diesem Thema, aber es war mal eine sehr interessante Erfahrung, es laut auszusprechen. „Und weil ich neidisch bin auf alles, was du hast und ich nicht, hasse ich dich... denke ich zumindest. Also, im Moment ist es eher so, dass ich es nicht verstehe und sich dieses fehlende Verständnis in Hass ausdrückt... war das verständlich?“ „Also ich habe es verstanden.“ Frediano nickte zufrieden, obwohl das eigentlich ein Thema war, über das er nie mit Landis hatte sprechen wollen, es war etwas, das er nie hätte erfahren dürfen. Aber nun war es zu spät und er konnte nur noch hoffen, dass Landis sich am nächsten Tag an nichts erinnern könnte. „Ich bin dran. Also, Wahrheit oder Pflicht?“ Landis überlegte nicht lange. „Wahrheit!“ „Wen liebst du mehr? Nolan oder Oriana?“ Die Frage interessierte Frediano schon lange, ungefähr seit er das erste Mal mit Oriana ins Gespräch gekommen war. Damals, an jenem Regentag an dem Landis sie wegen Nolan einfach stehengelassen hatte. Es überraschte Frediano nicht, dass Landis über diese Frage ein wenig nachdenken musste. „Na ja... Nolan ist mein bester Freund, fast schon so etwas wie mein Bruder und ich bin... glücklich, wenn ich bei ihm bin, als ob er etwas hat, das mir fehlt. Aber Oriana gibt mir Kraft, Zuversicht, bei ihr fühle ich mich als wäre ich zu Hause angekommen und wenn sie in meinen Armen liegt ist es als ob die gesamte Welt nur für uns stillsteht.“ Seine Augen glitzerten auf eine eigentümliche Art und Weise, Frediano auch von sich selbst kannte, wenn es um Oriana ging. Es gab keinen Zweifel, die Gefühle des Jungen waren echt. „Deswegen bin ich einerseits froh und gleichzeitig unglücklich, dass sie sich für dich entschieden hat. Du wirst ihr immerhin nie wehtun, oder?“ „Niemals“, antwortete Frediano sofort und das direkt vom Grunde seines Herzens. Allein der Gedanke, dass er Oriana mutwillig verletzen könnte, ließ Frediano vor sich selbst erschrecken. Nein, er hatte längst geschworen, sich gut um sie zu kümmern, solange er lebte. Landis lächelte, wieder dieses traurige Lächeln, das er zuvor Nolan geschenkt hatte. „Ich wusste es. Und das ist auch gut so... Aber solltest du ihr jemals wehtun, dann werde ich da sein, verstanden?“ „Klar und deutlich.“ Daran zweifelte Frediano auch nicht im Mindesten und fast schon empfand er erneut Mitleid für Landis, da er ja immerhin nicht vorhatte, seine Verlobte – der Gedanke kam ihm immer noch seltsam und unwirklich vor – zu verletzen. „Wahrheit oder Pflicht?“ Landis' Stimme holte ihn aus seinen Tagträumen, die normalerweise immer begannen, wenn er von Oriana als seiner Verlobten dachte. Zur Abwechslung entschied Frediano sich einmal für Letzteres, worauf Landis zu grinsen begann. „Oh, das wird lustig. Weißt du, ich hab schon mit Oriana geschlafen.“ „Ich weiß“, erwiderte Frediano trocken, immerhin hatte Nolan es ihm einmal ungefragt erzählt. „Aber was hat das mit dem Spiel zu tun?“ „Lass mich doch ausreden. Also, es gibt da etwas, das Oriana geradezu in deinen Händen schmelzen lässt, wenn du es tust. Deine Pflicht wird es sein, das auszuprobieren, wenn ihr endlich ernstmacht.“ „Ist das nicht bescheuert? Du kannst doch gar nicht nachprüfen, ob ich es tue.“ Es sei denn, Landis würde ihn ab sofort immer verfolgen und auch Mittel und Wege finden, ihn selbst in versperrten Räumen zu beobachten – das würde er seinem Rivalen sogar durchaus zutrauen. Aber Landis lachte auf diese Erwiderung leise. „Oh, ich weiß, dass du es tun wirst. Immerhin ist es eine Herausforderung von mir und du kannst es nicht mit deinem Stolz vereinbaren, sie sausen zu lassen.“ Er gab es zwar nur ungern zu, aber da hatte sein Rivale recht. „Fein, und was ist es?“ Landis zog seinen Kopf ein wenig näher zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Frediano sofort wieder rot werden ließ. „W-was? Ernsthaft?“ Sein Rivale ließ ihn wieder los und nickte. „Vertrau mir, du wirst es nicht bereuen.“ Ihm zu vertrauen fiel ihm schwer, aber vielleicht war das ausnahmsweise kein Trick von ihm, immerhin war er gerade betrunken – und es hieß doch immer, dass Betrunkene und Kinder immer die Wahrheit sagten. „Warum rede ich mit dir überhaupt über so etwas?“, fragte Frediano seufzend. „Na, weil du betrunken bist.“ Der Kommandantensohn überlegte einen Moment. „Hmm, das macht Sinn.“ Vor dem Haus von Landis' Eltern blieben sie schließlich wieder stehen. Er löste sich von Frediano und stützte sich stattdessen gegen die Wand. „Also, denk dran, es auszuprobieren. Wenn du es getan hast, spielen wir weiter, ja?“ Frediano nickte lediglich und half ihm dann, die Tür zu öffnen. Landis bedankte sich leise lachend. „Oh und gute Nacht. War sehr unterhaltsam, hoffentlich hattest du auch ein wenig Spaß.“ „Es war jedenfalls nicht langweilig. Gute Nacht, Landis.“ Er wartete, bis sein Rivale die Tür wieder geschlossen hatte, ehe er sich auf den Weg zum Haus seiner Tante machte. Der Abend war wirklich nicht langweilig gewesen und zu einem gewissen Grad sogar amüsant und lehrreich. Zwar wusste er nicht, ob und wieviel er davon in Gedächtnis behalten würde, aber etwas davon würde auf jeden Fall in seiner Erinnerung verankert bleiben und ihm auch in Zukunft öfter helfen, sich zu beruhigen, sobald er wieder Hass auf Landis verspürte: Sein trauriges Lächeln, als Nolan ging, so wie der Klang seiner Stimme, als er gestand, dass viele Abende damit endeten, dass er allein blieb. All das würde Frediano sich für immer merken, das wusste er bereits, bevor er den Großteil des Rests am nächsten Morgen tatsächlich vergessen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)