Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Unter Kirschbäumen ------------------ Oriana Helton war oft unzufrieden und das schon als Kind. Dabei gab es nichts, worüber sie klagen könnte. Ihre Eltern verbrachten viel Zeit mit ihr und brachten ihr so viel Liebe entgegen, wie man sich nur wünschen konnte. Ihr Vater war der Kommandant der Stadtwache von Cherrygrove, dementsprechend gut gestellt war ihre Familie, es gab nichts, worauf sie verzichten musste. Wollte sie ein neues Spielzeug, bekam sie es, wollte sie lernen, wie man kämpfte, besorgte man ihr den besten Trainer, den man auftreiben konnte, wollte sie verreisen, wurde gepackt und alles in die Wege geleitet. Das einzige, was ihr nicht gekauft werden konnte, waren Freunde. Sie besuchte die Mädchenschule in Cherrygrove, wie jedes andere auch, aber während ihre Mitschülerinnen sich nach dem Unterricht trafen, um miteinander zu spielen, kehrte Oriana allein nach Hause zurück, um zu lesen. Es war nicht so, dass sie nicht versucht hätte, Freundschaften zu schließen. Sie hatte mit anderen Mädchen gesprochen, versucht, sympathisch zu sein und als das nicht funktionieren wollte, war sie zu Geschenken übergegangen, Essbarem, Spielzeug, Bücher, aber nichts davon hatte funktioniert. Die anderen Mädchen betrachteten sie weiterhin als... seltsam. Sie sagten, es sei nicht normal, dass Mädchen gerne lesen. Es sei nicht normal, dass Mädchen gern mit Holzschwertern spielten. Es sei nicht normal, dass sie Kampfkunst lernen wollten. Sie sagten, Oriana sei ein Junge, dem man nur einredete, dass er ein Mädchen wäre. Natürlich glaubte sie das nicht, Jungen waren anders als sie, nicht zuletzt körperlich. Aber das änderte nichts daran, dass alle anderen es glaubten und zu kichern begannen, wann immer Oriana ihnen zu nahe kam. Deswegen versuchte sie es inzwischen nicht mehr, saß lieber zu Hause und las. Jeden Tag, an ihrem Fenster, ohne hinauszusehen. Wenn ihr Blick hinausging, sie all die spielenden Kinder sah, erwachte in ihr nur wieder die Sehnsucht nach Freunden, mit denen sie all ihre Reichtümer teilen konnte, die sie so nahmen wie sie war und nicht hinter ihrem Rücken über sie sprachen. Sie war gerade einmal acht Jahre alt, als sie nach eingehendem Studium eines Fachbuches davon überzeugt war, erste Anzeichen einer Depressionen zu zeigen. Aber natürlich redete sie darüber mit niemandem, sie war immerhin noch ein Kind und selbst davon überzeugt, dass sich das wieder legen würde. Seitdem las sie solche Bücher nicht mehr, sondern bevorzugte es, sich wieder der Belletristik zuzuwenden. Natürlich las sie keine Bücher, die für Erwachsene geeignet waren, egal wieviel Übung sie bereits hatte, so dass ihr selbst schwierige Wörter keine Probleme mehr machten, waren ihr jene ein wenig zu kompliziert und zu trocken. Einmal hatte sie versucht ein solches zu lesen, aber es war ihr vorgekommen als ob Erwachsene keine Fantasie mehr haben dürften, eine schreckliche Vorstellung für sie, also las sie lieber wieder Märchenbücher. Sie liebte Märchen. Die Vorstellung, dass ein Prinz auf einem weißen Pferd sie eines Tages retten würde, erfüllte sie mit einem wohltuenden Gefühl – bis sie sich vorstellte, dass ihre Mitschülerinnen ihr sagen würden, dass sie eher der Prinz wäre. Aber daneben gab es auch Märchen über Hexen, die wundersame Dinge erschufen; Naturgeister, die im Einklang mit den Elementen standen und kleine Wunder vollbrachten; Charon, der Wächter der Toten, der angeblich ungezogene Kinder zu sich holte – wobei sie sich fragte, warum er nicht endlich ihre Mitschülerinnen abholte – und dabei immerzu unheimlich lächelte und dann das schönste Märchen in Orianas Augen: Der Freundschaftsbund. Eine Geschichte über den Lebenswächter Fileon, der sich mit einem Menschen anfreundete und sogar ein Stück seiner Seele opferte, damit sie sich in jedem Leben wiederbegegnen würden. Oriana liebte dieses Märchen, liebte, dass beide über die Unterschiede des jeweils anderen hinwegsahen und Freunde wurden, sie liebte es so sehr, dass sie manchmal weinte, wenn sie es wieder einmal las. Jedes Mal weckte es wieder diese unheimliche Sehnsucht nach Freunden in ihrem Inneren, ein Schmerz, der, wie sie glaubte, wohl nie vergehen würde. Und just an einem Frühlingstag, an dem sie zum ungezählten Male dieses Märchen las, konnte sie von draußen aufgeregte Schreie hören. Normalerweise geschah in Cherrygrove nie etwas Ungewöhnliches, es war ein verträumtes kleines Dorf, fast schon eine Kleinstadt, in der jeder jeden kannte und ihn freundlich grüßte, wenn man ihn unterwegs traf. Besonders im Frühling, wenn die Kirschbäume ihre rosa Blüten trugen und in jedem Betrachter Friedfertigkeit weckten. Davon war an diesem Tag aber nichts zu sehen. Einige Hühner rannten gackernd durch die Straßen, verfolgt von zwei Jungen, die sie entweder jagten oder versuchten, sie wieder einzufangen, ganz sicher war sie sich nicht. Aber einer von beiden schrie immer wieder „Mission abbrechen! Mission abbrechen!“. Wenige Meter hinter den beiden folgte ein wütender Mann, der wohl der Besitzer der Hühner war und wüste Beschimpfungen über die beiden Jungen ausstieß. Oriana folgte diesem seltsamen Anblick mit den Augen, ehe sie schließlich beschloss, das Buch beiseite zu legen und hinauszugehen. Als sie aus dem Haus trat, schien bereits wieder Ruhe in das Städtchen eingekehrt zu sein, für einen Moment glaubte sie, sich das nur eingebildet zu haben, aber statt wieder hineinzugehen, folgte sie ihrem Gefühl, das sie anwies, in eine bestimmte Richtung zu laufen. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sie an einer Wiese ankam, die bereits von Kirschblüten bedeckt war – und dort fand sie die beiden Jungen von zuvor. Aus der Nähe betrachtet – was bedeutete, dass sie sich hinter einem Baum versteckte, um sie zu beobachten – wusste sie auch, wer die beiden waren. Der schwarzhaarige Junge, der ein Pflaster auf seiner Wange trug, war Nolan, der Sohn eines Händlers namens Kieran, der mit ihren Eltern befreundet war. Nichtsdestotrotz fand Oriana diesen Mann unheimlich, er lächelte oder lachte nie und sprach auch nur selten. Seine Frau Aydeen dagegen war eine warmherzige Person, der man selbst in einen verwunschenen Wald folgen würde, falls sie einen mit einem Lächeln hineinzulocken versuchte. Der andere Junge, der sich die braunen Strähnen aus der Stirn strich und trotz des warmen Wetters einen gelben Stoffschal trug, war Landis, der Sohn einer Stadtwache namens Richard. Dieser war nicht nur ein Untergebener ihres Vaters, sondern auch ein Freund ihrer Eltern und Kieran. Auf den ersten Blick wirkte er auch ein wenig wie dieser unheimliche Mann, aber Oriana hatte Richard bereits lächeln gesehen und lachen gehört und sie spürte auch, dass er keineswegs bedrohlich war, dafür strahlte er Sicherheit aus, in seiner Gegenwart geschah einem bestimmt niemals etwas. Seine Frau Asterea war nicht nur hübsch, sie war ungewöhnlich und sie redete und lachte gern als ob es für sie nur die Sonnenseite des Lebens geben würde. Oriana mochte sie sehr. Aber mit den beiden Jungen hatte sie normalerweise nicht viel zu tun. Sie besuchten die allgemeine Schule in Cherrygrove, hatten daher auch weniger Unterricht als sie an der elitären Mädchenschule und waren bekannt dafür, Unfrieden im Dorf zu stiften, weswegen sie von ihren Eltern angewiesen worden war, sich nicht von den beiden in irgendetwas verwickeln zu lassen... was auch immer sie damit meinten. Im Moment konnte sie die beiden nur weiterhin beobachten, während Landis laut seufzte. „Das war ein Reinfall, No.“ „Ja, ich geb's ja zu.“ Ein wenig verlegen kratzte Nolan sich am Nacken. „Aber ich konnte ja nicht wissen, dass Hühner nicht fliegen können. Ich dachte, dieser Kenton würde lügen.“ „Warum hätte er das tun sollen?“, fragte Landis ehrlich verwundert. Diesmal verschränkte Nolan die Arme vor seinem Körper und neigte den Kopf. Sein Blick ging ein wenig gedankenverloren nach oben. „Ich weiß nicht. Vielleicht weil er was dagegen hat, dass wir Helden werden wollen. Vielleicht ist Kenton ja eifersüchtig. Ah!“ Plötzlich schlug er sich mit der Faust auf seine andere Handfläche. „Genau! Wir sollten uns mit Kenton anfreunden!“ Landis runzelte skeptisch die Stirn. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“ „Aber klar doch! Er ist bestimmt nur verbittert, weil er die ganze Zeit im Haus herumsitzt und diese Bücher liest. Wir könnten ihn...“ Er hielt plötzlich inne und blickte in Orianas Richtung – was wohl daran lag, dass sie unwillkürlich zu kichern begonnen hatte. Doch kaum bemerkte sie das, hielt sie sich hastig den Mund zu und hoffte, dass Nolan beschloss, sich das nur eingebildet zu haben. Das tat er zwar nicht, aber er wandte sich fast schon panisch wieder seinem Freund zu. „Lan! Der Baum lacht mich aus!“ Landis zuckte zusammen und blickte mit vor Angst geweiteten Augen zu dem Baum hinüber. „W-was? Vielleicht ist er von einem Geist besessen?“ „Mann, Lan, lass die Schauergeschichten. D-das macht mir Angst!“ Die beiden gerieten in eine Diskussion darüber, ob Bäume lachen könnten oder ob es Geistern möglich war, Besitz von ihnen zu ergreifen – und wenn ja, was das bringen sollte. Seufzend kam Oriana hinter dem Baum hervor, worauf das Gespräch der beiden Jungen sofort erstarb. Nolan atmete erleichtert auf. „Es ist nur Ria.“ „Oriana“, erwiderte sie ein wenig pikiert. „Hast du gelacht?“ Landis wollte anscheinend auf Nummer sicher gehen, was das Kichern anging. Sie nickte schüchtern, erwartete, dass beide sich im nächsten Moment von ihr abwenden würden deswegen, aber stattdessen grinste Nolan. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Ich dachte, der Baum würde lachen. Das wäre ganz schön gruselig, wenn es so gewesen wäre, meinst du nicht?“ Sie nickte noch einmal, wartete immer noch darauf, dass die beiden lachend weggingen, aber keiner von ihnen machte Anstalten dazu, weswegen sie sich traute, noch etwas zu fragen: „Was hattet ihr mit den Hühnern vor?“ Nolan freute sich sichtlich über diese Frage, sein Gesicht begann förmlich zu strahlen. „Lan und ich haben uns darüber unterhalten, warum Hühner nicht einfach über den Zaun fliegen und abhauen, da kam dieser Kenton vorbei und meinte, dass wir total dumm wären, weil Hühner gar nicht fliegen können. Wir wollten ihm das Gegenteil beweisen, aber...“ Oriana kannte auch Kenton. Sein Vater Faren war ebenfalls ein Untergebener ihres Vaters, ein sehr geselliger und lustiger Mann, der genau wie Asterea gern redete und lachte, Oriana hatte ihn bislang nie ernsthaft gesehen. Kentons Mutter Yuina dagegen war das krasse Gegenteil, die Ärztin von Cherrygrove war stets ernst, mit einem Blick behaftet, der jede Lüge aufzudecken schien, aber ihre Untersuchungen und Behandlungen zeigten, wie sanftmütig sie eigentlich war. Kenton kam ganz nach seiner Mutter, er war stets ernst, neigte nicht zu Scherzen und lernte sehr viel. Er war bereits zehn und Oriana wusste, dass einige ihrer Mitschülerinnen hin und wieder über ihn sprachen und ihm kichernd Liebesbriefchen schrieben. Oriana glaubte aber nicht, dass er diese mit großem Interesse las. Nolan vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Hühner können wirklich nicht fliegen. Wer hätte das gedacht?“ Sie überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass Kenton es doch gesagt hatte, beließ es aber bei einem „Hm“. Nicht zuletzt deswegen, weil im nächsten Augenblick bereits eine wütende Stimme erklang, die Nolans Namen rief. Für den Bruchteil einer Sekunde erlosch das Grinsen des Jungen komplett und als es wiederkehrte, wirkte es gekünstelt und gequält. „Er hat es meinem Vater erzählt. Ich muss dann mal los.“ Oriana schien, dass Landis nach seinem Handgelenk greifen wollte, es sich dann aber anders überlegte und lediglich bedrückt nickte. „Das wird schon.“ Nolan verabschiedete sich von seinem Freund und auch von Oriana, mit einer Miene, die aussah als ob er gerade dabei wäre, seine eigene Beerdigung aufzusuchen, obwohl Oriana sich nicht vorstellen konnte, dass Aydeen zuließ, dass Kieran ihrem Sohn etwas antat. Sie sah ihm lange hinterher, bis er nicht mehr zu erkennen war, dann blickte sie zu Landis, der immer noch in die Richtung sah, in der sein Freund verschwunden war. Er sah traurig aus als ob er wirklich befürchtete, dass er Nolan erst wieder auf dessen Beerdigung sehen würde. Aber Orianas Aufmerksamkeit galt bereits etwas anderem. Sie konnte ihren Blick nicht mehr von dem Fleck auf dem Schal abwenden, er stand für sie derart unangenehm heraus, dass es ihr unmöglich war, ihn zu ignorieren. Als Landis bemerkte, dass sie ihn nach wie vor ansah, wandte er sich ihr zu. „Ist alles okay?“ „Uhm... d-da...“ Ohne weitere Worte deutete sie auf den Fleck. Er sah irritiert hinunter und seufzte leise. „Oh Mann, Mama dreht mir den Hals um, wenn sie das sieht...“ Nun wirkte auch er als ob er kurz vor dem Tod stand, was Oriana nicht mitansehen konnte. Sie streckte ihm die Hand entgegen und fühlte sich plötzlich wesentlich selbstsicherer. „Gibst du ihn mir? Ich kriege den Fleck bestimmt raus.“ Normalerweise tat sie lieber Dinge, die eher den Hobbys von Jungen entsprachen, aber ihre Mutter hatte ihr in einem Anfall von Umsichtigkeit auch tägliche Belange des Haushalts nähergebracht. Er zögerte einen Moment, griff dann aber nach dem Schal und löste diesen, um ihn ihr zu reichen. Sie winkte ihn mit sich zur Wasserpumpe des Dorfes, die um diese Zeit vollkommen verlassen war. Aufmerksam beobachtete er, wie sie den Fleck nass machte, sich dann auf eine nahegelegene Bank setzte und damit begann, ihn sauberzumachen. Landis saß die ganze Zeit neben ihr und schwieg. Ein Zustand, der ihr unerträglich schien, weswegen sie schließlich etwas fragte: „Warum trägst du eigentlich diesen Schal?“ Scheinbar unwillkürlich hob er die Hand und legte diese auf seinen Nacken. Er schien damit nicht Verlegenheit ausdrücken zu wollen, es sah eher so aus als wollte er damit etwas verdecken. „Uhm... i-ich mag ihn.“ Sie wandte ihm den Blick zu, worauf er tatsächlich ein wenig verlegen zu werden schien. „Hast du da etwas im Nacken, was niemand sehen soll?“ Ertappt zuckte er zusammen. „I-ist das so klar?“ „Ein wenig.“ Er ließ die Hand wieder sinken und beugte sich so, dass sie einen Blick auf seinen Nacken werfen konnte, was mit Sicherheit ein Zeichen war, dass er ihr vertraute, obwohl sie nie wirklich miteinander gesprochen hatten. Sie entdeckte, kaum sichtbar unter seinem Nackenhaar, ein rotes Feuermal, das waagerecht über seine Haut verlief, aber kurz vor dem Hals endete, so dass es nicht direkt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. „Woher hast du das?“ Er richtete sich wieder auf. „Das hatte ich schon immer. Papa meinte, Mama wäre fast ohnmächtig geworden, als sie das nach meiner Geburt sah. Dabei ist es gar nicht so schlimm, sagt er.“ „Ist es auch nicht“, beruhigte Oriana ihn. „Man sieht es kaum.“ Landis lächelte erleichtert. „Ich trage den Schal trotzdem, damit nicht jeder es sofort sieht. Nolans Vater meinte, in manchen Orten gilt so ein Mal als schlechtes Omen – und Mama scheint immer traurig zu sein, wenn sie es sieht.“ Bedrückt sah er ein wenig zur Seite. Für einen kurze Moment konnte sie spüren, dass etwas ihn außerordentlich traurig machte, ein Gefühl, das in etwa ihrer eigenen Traurigkeit entsprach, wenn sie allein war. Aber sie fragte ihn nicht danach, sie hatte das Gefühl, es würde sie nichts angehen. Schließlich reichte sie ihm seinen Schal, der inzwischen sauber war. „Hier, bitte.“ „Danke, Ria!“, rief er glücklich aus und legte ihn sich sofort wieder um. Kaum hatte er ihn wieder umgebunden, kehrte seine Selbstsicherheit, die er sonst zur Schau trug, zurück. „Musst du jetzt nicht zu deinen Freundinnen zurück? Die warten bestimmt schon auf dich.“ Sie senkte bedrückt den Kopf. „Ich habe gar keine Freundinnen.“ Warum sie ihm das erzählte, wusste sie nicht, vielleicht weil sie seine Traurigkeit und damit kurzzeitig eine Verbundenheit zu ihm hatte spüren können. Was genau sie darauf als Reaktion erwartet hatte, wusste sie ebenfalls nicht, aber mit Sicherheit nicht das, was dann wirklich kam. Landis ergriff ihre Hand, damit sie wieder den Blick hob. Er lächelte enthusiastisch, so sehr, dass sie ein wenig rot wurde. „Dann lass uns Freunde sein!“ „Bist du sicher?“ „Natürlich! Jeder braucht Freunde, mit denen man gute Erinnerungen sammeln kann oder die einem helfen können, wenn man in der Klemme steckt.“ Er bemerkte ihre Verwirrung offensichtlich, deswegen setzte er noch etwas hinzu: „Jeder bekommt mal Probleme und braucht dann Freunde. Oder wenn man traurig ist, braucht man auch Freunde. Oh und wenn man glücklich ist, braucht man auch Freunde, um das Glück zu teilen, damit man sich doppelt so sehr freuen kann. Das hat No gesagt.“ Bei diesen Worten konnte Oriana nicht anders als zu lächeln. „Ja, du hast recht.“ Sie dachte wieder an die Märchen zurück, die sie so gern las – und sah plötzlich Landis in der Rolle ihres Prinzen, es fehlte nur noch das weiße Pferd auf dem er angeritten kommen würde. Gut, er war kein echter Prinz, nicht einmal annähernd, aber ihr schien, er wäre zu ihrer Rettung gekommen, genau im richtigen Moment, auch wenn er eigentlich immer nebenan gewesen war. „Dann wollen wir Freunde sein?“, fragte sie leise. Er nickte zustimmend und hielt dabei immer noch ihre Hand. „Ich werde bei dir sein und wenn ich mal nicht da bin, werde ich immer zu dir eilen, wenn du Hilfe brauchst, genau wie ein Held es tun sollte. Du musst dann nicht einmal nach mir rufen, ich werde wissen, dass du mich brauchst.“ Bevor sie wusste, was sie tat, schlang sie plötzlich die Arme um ihn. „Danke, Landis.“ Sie spürte, wie sein Gesicht heiß zu werden begann und musste darüber ein wenig lächeln. „Weißt du was, Landis?“ Sie war sich nicht sicher, wo dieser Gedanke herkam, aber er erschien ihr völlig logisch und richtig. „Wenn wir erwachsen sind, will ich dich heiraten.“ In Märchen heirateten die Prinzen immerhin auch ihre Prinzessinnen und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Also wäre es doch nur richtig, wenn sie das auch taten – und zu ihrer Erleichterung stimmte Landis zu. „Klar doch.“ Lächelnd schloss sie ihre Augen und schmiegte sich dichter an den Jungen, der ihr in diesem Moment wie eine willkommene Zuflucht vor der Einsamkeit schien. Das Summen neben ihr sorgte dafür, dass sie ihre Augen wieder öffnete und gerade noch beobachten konnte, wie eine Blüte des Kirschbaums neben der Bank, direkt vor ihrem Gesicht herunterschwebte. Ihr Blick zur Seite zeigte ihr, dass Landis neben ihr saß – und auch, dass seit diesem Ereignis aus ihrer Erinnerung inzwischen sechs Jahre vergangen waren. Wie so oft saßen sie gemeinsam auf der Bank neben der Wasserpumpe, die für sie eine enorme Bedeutung gewonnen hatte. Jedes Mal schloss sie die Augen, um sich an diesen einen Tag zurückzuerinnern, während Landis leise ein Lied summte, das sie nicht kannte. Sie genoss diese Momente, denn sie schaffte es nicht oft, allein mit ihm zu sein. Normalerweise war er nämlich nie allein – und der Grund dafür kam in diesem Moment bereits auch die Straße entlang. Allerdings wirkte er zu beschäftigt, um die auf der Bank Sitzenden auch nur zu beachten. Zu Orianas Verwunderung trug Nolan ein Huhn auf den Armen. Neben ihm lief Kenton, der immer wieder den Kopf schüttelte und auch keinen Sinn für die Personen auf der Bank hatte. „Du kannst einem Huhn nicht das Fliegen beibringen. Die Flügel sind zu verkrüppelt dafür, ihr Körperbau zu gedrungen und nicht aerodynamisch genug – und dieses Huhn wäre ohnehin zu alt.“ „Ach was“, erwiderte Nolan. „Hühner haben Flügel, also müssen sie auch fliegen können – und Kiki ist nicht alt.“ „Du hast dem Huhn einen Namen gegeben?“, fragte Kenton perplex. Nolan warf ihm einen verwunderten Blick zu als hätte er gerade das Offensichtlichste der Welt in Frage gestellt. „Natürlich hab ich ihr einen Namen gegeben. Ich mag sie immerhin und sie mich auch.“ Tatsächlich schien es dem Huhn in Nolans Armen gut zu gefallen, es atmete ruhig und hielt die Augen geschlossen, also fühlte es sich nicht im Mindesten bedroht. Kenton schlug sich in einer verzweifelten Geste die Hand vor das Gesicht. „Oh Mann... Nolan, du bist echt unmöglich.“ Die beiden liefen weiter, wobei sie nicht darüber zu diskutieren aufhörten, warum Hühner denn nicht fliegen können sollten und verschwanden aus dem Blickfeld des auf der Bank sitzenden Paares. „Das war seltsam“, urteilte Oriana. Landis neigte den Kopf. „Oh ja. Das Huhn sieht gar nicht aus wie eine Kiki.“ Lachend wandte sie sich ihm zu „Ja, das auch. Willst du ihm nicht hinterher?“ Zu ihrer Freude schüttelte er mit dem Kopf. „Nein, heute bin ich mit dir unterwegs.“ Manchmal konnte er wirklich so umsichtig sein, bedauerlich, dass er es nicht immer war. „Erinnerst du dich noch daran, als wir das erste Mal hier saßen?“, fragte sie neugierig. Er blickte nach oben, schien sich aber nicht erst erinnern zu müssen, sondern dachte lediglich lächelnd daran zurück. „Oh ja. Das war der Tag an dem wir Kenton beweisen wollten, dass Hühner fliegen können – und an dem wir das erste Mal wirklich miteinander sprachen.“ Sie nickte und darauf fuhr er fort: „Und der Tag, an dem wir versprachen uns zu heiraten.“ Es freute sie, dass er sich ebenfalls noch daran erinnerte. „Aber wusstest du damals, was ich meinte?“ „Nicht wirklich.“ Er lachte verlegen. „Aber kurz davor war ja eine andere Hochzeit in der Stadt gewesen, eine große Feier mit viel Essen – ich dachte, du meintest, du willst mit mir auch ein solches Fest veranstalten und wie könnte ich etwas dagegen haben?“ Es war typisch für ihn, deswegen ärgerte es sie auch nicht, sondern brachte sie nur dazu, weiter zu lächeln. „Inzwischen weißt du es ja aber hoffentlich besser“ „Natürlich. Spätestens nachdem mein Vater es mir erklärt hat. Er war ein wenig entsetzt, als ich ihm sagte, dass ich heiraten will und ich ihn fragte, wie lange ich noch warten muss, bis ich es darf.“ Oriana lachte leise, als sie sich Richards Gesichtsausdruck nach dieser Frage vorstellte. Mit Sicherheit hatte er wieder einmal befürchtet, dass sein Sohn zu schnell erwachsen werden würde. „Weißt du eigentlich, dass jedes Paar, das sich unter den Kirschbäumen in Cherrygrove versprochen hat zu heiraten, am Ende glücklich wurde?“ Als sie ihm dieses Versprechen abgerungen hatte, war es ihr selbst nicht bewusst gewesen. Erst einige Jahre später war es ihr von ihrer Mutter erzählt worden und sie hatte sofort an ihr Versprechen mit Landis denken müssen. Er neigte den Kopf ein wenig, eine Geste, die zeigte, wie sehr ihm etwas gefiel, was aber nicht durch ein Lächeln oder durch Worte ausgedrückt werden konnte. „Dann haben wir ja eine gute Zukunft vor uns.“ „Es sieht ganz danach aus.“ Zu diesem Zeitpunkt wusste noch keiner von beiden, dass Fredianos Werben bald Früchte tragen und Oriana ihr Versprechen gegenüber Landis brechen würde, um zumindest für sieben Jahre eine glückliche Ehe führen zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)