Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Was niemand weiß... ------------------- Es war wirklich „still“. Das war nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, dass sie beide sich ganz allein in einem Schlafsaal befanden, der eigentlich für mehr als das zehnfache gedacht war. Deswegen konnte es nachts reichlich unheimlich werden, besonders wenn der Wind, wie in dieser Nacht heulend um das Waisenhaus strich und dabei immer wieder die Äste der nahestehenden Bäume gegen Fenster und Fassade drückte, wobei knarrende Geräusche entstanden, die auf ungute Weise zur Atmosphäre beitrugen. Dies war wohl der Hauptgrund, weswegen Richard und Kieran mitten in der Nacht beschlossen, sich einfach ein Bett zu teilen, so dass sie ihre Furcht nicht allein ertragen mussten. Eng aneinandergeschmiegt – anders war das gemeinsame Liegen in diesen kleinen Betten ja nicht möglich – war die Angst schon wesentlich leichter zu ertragen. Als jemand, der sonst nicht sonderlich viel Wert auf körperliche Nähe legte, war es doch äußerst angenehm für Kieran, in Richards Armen zu liegen und dessen ruhigem Herzschlag zu lauschen. Allerdings war er nach wie vor noch zu unregelmäßig, so dass Kieran wusste, dass sein Freund noch nicht schlief. Er fragte sich, ob er etwas sagen sollte, wusste gleichzeitig aber auch nicht, ob er damit nicht vielleicht nur eine unangenehme Situation für sie beide beschwören würde. Ihm selbst war das ganze schon ein wenig unangenehm – aber nur, weil es sich gut anfühlte, so nah bei ihm zu sein. Nach all den Gesprächen, die er bei den Mädchen mitbekommen hatte, war das, was er zu empfinden glaubte, zwar süß, aber hauptsächlich deswegen, weil es so unmoralisch war. Und eigentlich wollte er gar nicht unmoralisch sein oder gar Richard in diese ganze Sache hineinziehen. Aber andererseits... Unwillkürlich entfuhr ihm ein leises Seufzen, das auch von seinem Freund nicht unbemerkt blieb. „Was ist los?“, fragte Richard. „Kannst du nicht schlafen?“ „So wenig wie du.“ „Das ist wahr.“ Er gab ein leises, spöttisches Lachen von sich. „Aber wie soll man in einer solchen Nacht auch schlafen?“ Kieran runzelte die Stirn und fragte sich dabei, ob er von dem Sturm draußen sprach oder der Tatsache, dass sie beide in einem Bett schliefen. Natürlich stellte er diese Frage nicht laut, denn eigentlich wollte er auch keine Antwort darauf. Diese hätte nämlich schmerzhaft deutlich gezeigt, dass er der einzige war, der sich mit solchen Gefühlen auseinandersetzen musste. Es war ja nun nicht so, dass er das erst seit dieser Nacht spürte, nein. Schon seit Richard ihm nach seiner Ankunft in Cherrygrove das Leben gerettet hatte, indem er ihn aus dem Eis zog, war da dieses tiefe Gefühl von Vertrautheit gewesen, der geradezu innige Wunsch, mehr als nur ein Fremder für diesen mutigen Jungen zu sein. Inzwischen waren sie beste Freunde, aber selbst das schien ihm nicht wirklich genug – zumindest nicht in dieser Nacht, als das Gefühl wieder einmal übermächtig war. „Bist du eigentlich immer so... kuschelbedürftig?“, fragte Richard plötzlich. Offenbar hatte er bemerkt, dass Kieran sich unwillkürlich stärker an ihn geklammert hatte. „Falls ja, muss ich mir wirklich überlegen, ob wir das noch einmal machen.“ Kieran nuschelte eine Entschuldigung, ehe er wieder ein wenig lockerließ, obwohl Richard das auch nicht zu gefallen schien. „Nein, ich glaube, du hast das falsch verstanden. Ich meinte das eher im positiven Sinne, denn mich stört das nicht.“ „W-was?“ Kieran wurde schlagartig ein wenig rot. „Sollte es dich nicht nicht stören?“ Richard zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber ich kümmere mich selten um etwas, das ich sollte... das weißt du doch eigentlich. Verwirrt dich das hier alles so sehr?“ „Ein wenig... vielleicht.“ Er konnte schlecht zugeben, dass es ihm eigentlich reichlich gut gefiel – und dass es gerade das war, das ihn eigentlich verwirrte. Es war unmoralisch, dass es ihm gefiel und das war nicht gut. Am Liebsten hätte er sich einfach unter seine Decke verkrochen, aber mit Richard neben sich, traute er sich nicht wirklich, das zu tun – schon allein, weil das hätte zweideutig sein können. Andererseits wusste er aber auch nicht so recht, was er sonst tun sollte, da die Nervosität in seinem Inneren gerade Überhand nahm und ihn sicher nicht schlafen lassen würde. Natürlich musste Richard – sehr zu Kierans Verzweiflung – das sofort bemerken. „Was ist los?“ „Ich fürchte, ich bin menschliche Nähe nicht gewohnt“, presste Kieran hervor. Besonders nicht, wenn ich einer Person nahe bin, für die ich derart viel empfinde. Richard erwiderte darauf nichts, aber es schien, als würde er über eine passende Antwort nachdenken – oder über etwas, das ihnen helfen könnte, die Situation zu überwinden. Kieran wiederum wünschte sich, nur für diesen Moment, mutiger zu sein, als er eigentlich war. Tapfer genug, um einfach die Gelegenheit zu ergreifen und... Er unterbrach sich in seinen eigenen Gedanken, als Richard sich bewegte. Einen flüchtigen Augenblick lang fürchtete er, dass sein Freund aufstehen und wieder in sein eigenes Bett wechseln würde, weswegen er sich automatisch fester an ihn klammerte. Doch Richard machte keine Anstalten, aufzustehen, stattdessen positionierte er sich nur so, dass er sanft Kierans Haar küssen konnte, was dessen Herz fast stillstehen ließ. „Meine Schwester hat das immer beruhigt“, erklärte Richard. „In jeder Sturmnacht kam sie in mein Bett und ich musste sie dann aufs Haar küssen, damit sie schlafen konnte.“ Kieran hätte am Liebsten geseufzt, da ihm diese Worte sagten, dass er ihn lediglich wie einen Bruder sah. Natürlich war dies etwas, wofür er sich überaus glücklich wähnte – aber insgeheim wünschte er sich eben doch weiterhin mehr. Aber das durfte niemand wissen, nicht einmal Richard. „Fühlst du dich nun besser?“, fragte er fürsorglich. Natürlich tat er das nicht, aber er wusste auch, dass es nichts bringen würde, es zu sagen, außer mehr Sorgen für seinen besten Freund, deswegen nickte er zustimmend. „Viel besser, danke.“ „Dann versuch jetzt zu schlafen“, meinte Richard müde. Die Worte klangen so endgültig, dass Kieran nichts mehr zu sagen wusste und deswegen schwieg, während er trotz der immer noch in seinem Inneren schwelenden Nervosität einzuschlafen versuchte. Seine Gefühle für Richard waren etwas, das nie jemand wissen dürfte, nicht einmal derjenige, den es betraf. Aber es war auch unwichtig. Er selbst brauchte keine Beziehung, ihm genügte die Freundschaft, die emotionale Nähe zu Richard – und deswegen würde er alles in seiner Macht stehende tun, um ihn zu beschützen, auch wenn das in diesem Moment noch nicht viel war. Aber egal, wie wenig er konnte oder wie schwach er war, er würde alles einsetzen, um Richard zu beschützen, sogar sein eigenes Leben, wenn es sein musste. Doch vorerst sank er erst einmal wider Erwarten in einen tiefen Schlaf, der frei von jedem Traum blieb. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)