Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Süßes für die Süßen ------------------- Es war einer der seltenen Tage an denen Claudia Caulfield sich ausnahmsweise einmal gesund fühlte. Ihre Brust stach nicht, wenn sie einatmete; ihr Kopf drohte nicht zu explodieren und ihre Knie gaben nicht unter ihr nach, als sie sich aufzurichten versuchte. Das feierte sie damit, dass sie das Fenster öffnete und sich streckte, während sie die frische Luft tief einatmete. Dabei ignorierte sie, dass der noch kühle Frühlingswind ihr silbernes Haar zerzauste und damit jegliche Bemühungen, es mit der Bürste zu zähmen, wieder zunichte machte. Da sie aber nicht vorhatte, fortzugehen, kümmerte sie das nicht weiter, als sie schließlich ihr Zimmer verließ und sich auf die Suche nach ihrem Sohn Frediano machte. Ein Tag, den sie nicht im Bett verbrachte, wollte sie unbedingt mit ihm verbringen, damit er sich nicht weiter zurückgesetzt fühlen musste. Seit vielen Jahren schon litt sie unter einer Krankheit, die sie immer wieder für mehrere Tage ans Bett fesselte und sie regelrecht in ein Delirium versetzte, so dass sie nicht mitbekam, was um sie herum vorging. Wenn sie manchmal wieder daraus erwachte, fürchtete sie sogar, dass ihr Mann in ihrer Abwesenheit Dinge getan hätte, um sie endgültig loszuwerden. Kein Arzt kannte eine Heilung, es gab nichts, was man dagegen tun konnte, außer das Unabwendbare weiter hinauszuzögern. Es ärgerte Claudia, versetzte sie in einen geradezu rauschartigen Wutzustand, dass sie selbst auch keine Heilmöglichkeit fand und nicht einmal jemanden kannte, der ihr weiterhelfen könnte. Die einzige Alternative, die ihr einfiel war, ihren Stolz hinunterzuschlucken und die Sternennymphe um Hilfe zu bitten – aber eher würde sie sich die Zunge abbeißen, daher kam das auch nicht in Frage. Allein der Gedanke an diese nervige Blondine, die dauernd ihre mangelnde Musikalität und blatante Dummheit zur Schau stellen musste, ließ ihr Blut wieder kochen. Aber all diese finsteren Gedanken verflogen sofort, als sie in das Zimmer trat, in dem Frediano den Großteil des Tages mit seinem Kindermädchen verbrachte. Es war ein riesiger Raum im Anwesen, der mit allerlei Spielzeug gefüllt war. Dario verbrachte nicht viel Zeit mit seinem Sohn, dafür bekam er umso mehr Dinge geschenkt, die ihm die Zeit vertreiben und ihn vergessen lassen sollten, wie unglücklich er eigentlich war – und es tat Claudia in der Seele weh, dass sie auch nicht helfen konnte, ihn sich besser fühlen zu lassen, weil sie auch nur selten Zeit für ihn fand. Zumindest konnte sie sich auf Amy verlassen, die gute Seele, die jeden Nachmittag nach Fredianos Unterricht mit ihm verbrachte – und die an diesem Tag ungewöhnlich blass aussah. Ihre Haut war geradezu aschfahl, so als stünde sie mit einem Fuß bereits im Grab und wüsste das nur noch nicht. Ihr dunkelblondes, sonst so wunderbar lebendiges Haar, das wie immer zu einem Zopf gebunden war, fiel kraftlos herab. Noch dazu hustete sie mehrmals, während Claudia sie beobachtete und dabei von keinem der beiden bemerkt wurde. Sie saß gemeinsam mit Frediano an einem Tisch gegenüber der Tür, direkt am Fenster und hatte sichtlich Mühe, sich aufrecht zu halten. Ausgehend von ihren Worten, mit denen sie ihm leise etwas erklärte, konnte Claudia schließen, dass sie gerade Hausaufgaben machten. Frediano hielt im Schreiben inne und blickte zu ihr. „Geht es noch? Wenn nicht, kannst du auch nach Hause gehen, Amy.“ „Nein, nein“, sagte sie und bemühte sich, zu lächeln. „Es wird bestimmt bald besser.“ „Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“ Claudia ging näher, bis sie bei Frediano angekommen war und ihm eine Hand auf die Schulter legen konnte. „Wir brauchen Sie noch eine Weile, Amy, vielleicht sollten Sie sich lieber zu Hause ausruhen. Ich könnte mich heute um ihn kümmern.“ Fredianos Augen leuchteten bei dieser Aussicht freudig auf, was sie mit einiges an Zufriedenheit erfüllte, immerhin liebte er sie also noch, obwohl sie so selten Zeit für ihn fand. „Ist das wirklich in Ordnung?“, fragte Amy, sah dabei aber ihren kleinen Schützling an, der sofort nickte, nicht, um sie loszuwerden, sondern vielmehr aus Sorge um sie. „Mach dir keine Gedanken um mich“, sagte er. „Ruhe dich lieber ein wenig aus.“ Mit einem sanften Lächeln verabschiedete sie sich von ihm, dann tat sie dasselbe bei Claudia, begleitet von einem respektvollen Knicks und ging dann hinaus, immer noch leise hustend. Selbst als die Tür sich hinter schloss und sie sich langsam entfernte, konnte man ihr verklingendes Husten auf dem Gang hören. Claudia wartete ab, bis es vollständig verstummt war, dann sah sie Frediano an. „Ist sie schon lange krank?“ Frediano blickte ein wenig zur Seite, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass er nachdachte und dabei in seinen Erinnerungen kramte – wo er schließlich die Antwort auf ihre Frage fand: „Seit etwa zwei Monaten. Anfangs war es noch nicht so schlimm, aber inzwischen ist es sehr besorgniserregend.“ Er seufzte leise. „Ich habe ihr schon oft gesagt, dass sie sich lieber ausruhen soll, nachdem der Arzt nichts finden konnte. Aber sie meinte, sie kann mich nicht allein lassen.“ Nach diesen Worten verzog er das Gesicht ein wenig. „Ist es meine Schuld, dass es ihr so schlecht geht?“ Sie fand es geradezu überwältigend, wie gutmütig und mitfühlend Frediano war und fragte sich, von welcher Seite der Familie er das wohl haben mochte. Von ihrer sicherlich nicht – und auch wenn sie Darios Eltern nicht kannte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass einer von diesen auch nur einen Hauch von Empathie in sich getragen hatte. Mit einem beruhigenden Lächeln strich sie ihm durch das weiße Haar. „Keine Sorge, mein Lieber, es ist nicht deine Schuld. Manchmal werden... Menschen einfach krank.“ Sie bemühte sich, dieses eine Wort nicht besonders zu betonen. Bislang wusste niemand aus ihrer Familie davon, dass sie eine Hexe war und das sollte auch so bleiben. Frediano atmete erleichtert auf. „Dann bin ich auch bei dir nicht Schuld daran?“ Sofort hielt sie inne, ihre Hand lag noch immer auf seinem Kopf. „Dachtest du das etwa?“ Er blickte zu Boden und nuschelte eine Bestätigung. Dabei klang und wirkte er derart traurig, dass Claudia leicht in die Knie gehen und ihn umarmen musste, was er damit quittierte, dass er seine Arme um sie schlang und sich schutzsuchend an sie drückte. „Du bist nicht schuld“, sagte sie leise. „Glaub mir, du bist einer der wenigen Gründen, warum es mir überhaupt gut geht – und Amy denkt sicher genauso.“ Sie war seit seinem sechsten Lebensjahr sein Kindermädchen – davor war er in einer Tagesstätte betreut worden, ehe Dario es aus unerfindlichen Gründen für besser gehalten hatte, ihn zu Hause unterrichten und auch betreuen zu lassen – und in all dieser Zeit hatte sie Frediano sehr in ihr Herz geschlossen, das wusste Claudia. Selbst an ihren freien Tagen kam Amy, wenn sie konnte; sie kam früher, wenn sie musste und sie blieb auch länger, wenn Frediano es erforderte. Einerseits schmerzte es Claudia, dass sie ihren Sohn immer an Amy weitergeben musste, wenn er mehr Aufmerksamkeit, zum Beispiel wegen einer Krankheit, benötigte. Aber gleichzeitig fühlte sie sich auch beruhigt, denn sie wusste, dass er bei Amy in guten Händen war und das war viel wert. Schließlich löste sie sich wieder von Frediano. „Willst du deine Hausaufgaben nicht lieber vergessen? Wir könnten heute viel Spaß zusammen haben~. Genau, lass uns erst einmal etwas Leckeres essen gehen!“ „Aber ich habe doch schon gegessen“, erwiderte er, da er es gewohnt war, auf feste Regeln zu achten, die ihm von seinem Vater eingebläut worden waren. „Aber nicht so etwas Gutes wie das, wohin ich dich einladen werde – du darfst es Dario eben nicht erzählen.“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Er lächelte ein wenig unsicher, fast schon furchtsam, immerhin war er nicht gut darin, gegen Regeln zu verstoßen und das auch noch für sich zu behalten, aber dennoch nickte er und stand auf. Doch noch ehe er sich richtig in Bewegung setzte, steckte er die Hände in die Taschen seiner Hose und kramte rasch mehrere bunt eingewickelte Bonbons hervor, die er auf den Tisch legte. Im ersten Moment ging Claudia davon aus, dass es sich dabei um Geschenke von Amy handelte, aber sie wusste genau, dass das Kindermädchen so etwas nicht tun würde und der Grund lag nahe. „Von wem hast du die?“, fragte Claudia. Frediano betrachtete die Bonbons abweisend. „Lady Deirdre schenkt sie mir immer, wenn wir uns sehen. Es ist unhöflich, ihr zu sagen, dass ich keine Süßigkeiten mag, deswegen nehme ich sie an.“ Allein der Name dieser Person brachte Claudias Blut zum Kochen. Lady Deirdre war die Vizekommandantin der Kavallerie – aber sicherlich nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern vielmehr, weil sie eine sehr enge Bindung zu Dario besaß. Claudia wusste davon, aber sie konnte nichts dagegen tun, ohne nicht ihren Mann bloßzustellen und damit ihre Ehe zu zerstören und das war nun wirklich das letzte, was sie wollte. „Hast du noch mehr davon?“, fragte Claudia. „Nein, ich habe sie immer Amy gegeben, weil sie Süßigkeiten mag.“ Sie nickte verstehend, beschloss dann aber, erst einmal nicht weiter darüber nachzudenken – auch wenn sie bereits einen finsteren Verdacht in ihrem Inneren hegte – und lächelte Frediano an: „Lass uns jetzt einen schönen Tag haben, ja?“ Claudia verbrachte den gesamten Nachmittag mit Frediano. Nicht in dem schillernden Viertel, in dem die Reichen und Adeligen verkehrten, sondern in einem Restaurant auf der Hauptstraße in dem hauptsächlich Reisende oder Händler einkehrten, die keinen von ihnen kannten und in dem es leckere Mahlzeiten gab, die einen sättigten, zu einem Preis für den man nicht gerade all seinen Besitz verkaufen musste. Frediano erzählte dabei nur von Dingen, die er während des Heimunterrichts oder mit Amy erlebt hatte und nicht zum ersten Mal bemerkte Claudia, dass es Freunde waren, die ihrem Sohn fehlten, er aber nicht einfach so bekommen konnte. Am Abend kehrten sie rechtzeitig wieder zum Dinner nach Hause zurück, so dass Dario nichts von dem Regelverstoß erfuhr. Erst spät in der Nacht, als alle im Haus bereits schliefen, kehrte Claudia in Fredianos Spielzimmer zurück, um die Bonbons näher in Augenschein zu nehmen. Sie lagen immer noch dort, wo Frediano sie zurückgelassen hatte, so dass sie nicht einmal das Licht entfachen musste, um sie wiederzufinden. Kaum hielt sie die Süßigkeiten in der Hand, schauderte sie. Die feine Magie, die sie umgab und stets aktiv war, verriet ihr selbst bei diesem geringen Kontakt, dass eine gefährliche, eine giftige, Substanz in diesen Bonbons enthalten war. Nicht genug, um jemanden direkt zu töten – so etwas würde auch Misstrauen erwecken – aber über einen längeren Zeitraum hinweg eingenommen, würde man langsam wie an einer Krankheit dahinsichen; Amy war das beste Beispiel dafür. Also war es doch Fredianos Schuld gewesen, dass sein Kindermädchen nun derart krank war – aber es war nicht in seiner Absicht gelegen und deswegen würde sie ihm auch nichts davon sagen und stattdessen die eigentlich Schuldige dafür die Konsequenzen tragen zu lassen. Mit einem wütenden Knurren fuhr sie herum und nur kurze Zeit später klopfte sie, eingehüllt in einen schwarzen Umhang, gegen Deirdres Haustür. Es dauerte nicht lange, bis ihr geöffnet wurde. Um diese späte Uhrzeit trug Deirdre ihre Uniform, in der Claudia sie sonst sah, nicht, aber der dunkelblaue Morgenmantel aus Seide schmiegte sich ähnlich an ihre grotesk dünne Figur, an der Darios Frau absolut nichts Interessantes entdecken konnte; das dunkelbraune Haar fiel ausnahmsweise offen über ihre Schultern, statt anständig hochfrisiert zu sein. Das Lächeln auf ihren Lippen, das sie getragen hatte, als die Tür geöffnet worden war, erfror augenblicklich, als sie erkannte, dass es sich bei ihrem unerwarteten Besuch um niemanden handelte, der ihr freundlich gesinnt war. Sie öffnete ihren Mund, doch noch ehe ein Wort diesen verlassen konnte, hatte Claudia ihre rechte Hand um Deirdres Hals gelegt und führte sie stumm wieder ins Haus zurück. Erst als die Tür geschlossen war, brach Claudia das Schweigen wieder: „Ich habe deine Spielchen langsam satt!“ Gespielt schockiert riss Deirdre die Augenbrauen hoch. „Was meint Ihr damit, Lady Caulfield?“ „Komm mir nicht damit!“ Sie löste ihre Hand vom Hals der Konkurrentin, holte die Bonbons hervor und schleuderte ihr diese entgegen. „Ich weiß, dass du vorhattest, meinen Sohn zu vergiften!“ Deirdre wurde blass und blickte auf die Süßigkeiten hinab. Die farbenprächtigen Verpackungen hatten sich gelöst, die Bonbons an sich waren zersplittert und knirschten leise, als Claudia zuguterletzt noch auf sie trat. „Ich habe keine Ahnung, was du damit bezwecken wolltest“, fuhr sie düster fort. „Aber niemand – absolut niemand – vergreift sich ungestraft an meiner Familie!“ Deirdres Mundwinkel zuckten, aber ihre Augen verrieten, dass sie zu viel Furcht verspürte, um etwas erwidern zu können oder vielleicht sogar nur über eine passende Antwort nachdenken zu können. „Ich habe dir schon viel zu lange alles nachgesehen“, sagte Claudia. „Es wird Zeit, dass ich dir zeige, was ich von dem halte, was du tust.“ Sie starrte Deirdre direkt an, ihre blauen Augen begannen zu leuchten und in diesem Moment wurde der Blick der Vizekommandantin leer. „Du wirst dein gesamtes Gift selbst zu dir nehmen“, sprach Claudia deutlich, ein Widerhall in der Stimme, dem erfahrungsgemäß – in Kombination mit ihren Augen – niemand widerstehen konnte. Deirdre bildete da keine Ausnahme, sie deutete ein Nicken an, sagte jedoch nichts mehr. Stattdessen ging sie in die Knie und begann damit, die Bonbon-Splitter aufzusammeln und sich diese in den Mund zu stecken. Claudias Augen hörten auf zu leuchten, im selben Moment spürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust, der ihr verriet, dass sie zu viel ihrer Kraft eingesetzt hatte. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Haus wieder, damit Deirdre sich von ihr nicht gestört fühlen könnte – und erlaubte sich draußen, mit einem Keuchen gegen die nächstgelegene Wand zu sinken. Sie griff sich an die noch immer schmerzende Brust, die ihr das Atmen erschwerte. Wie tief bin ich nur gesunken? Aber immerhin hatte sie sich endlich um dieses Problem gekümmert, nun würde hoffentlich niemand mehr versuchen, ihren Sohn töten zu wollen – oder ihre Ehe zu zerstören. Langsam, sich weiterhin an Wänden abstützend, machte sie sich wieder auf dem Weg nach Hause, um sich von dieser Anstrengung zu erholen. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie schließlich in Fredianos Zimmer schlich. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie feststellte, dass er tief schlief und dabei sein Kissen umarmte. Sie setzte sich auf die Kante seines Bettes und strich ihm vorsichtig über das Haar. Er quittierte das mit einem glücklichen Lächeln, was sie zufrieden seufzen ließ. Sie beugte sich zu ihm hinunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe, der ihn nicht weckte. „Ich schwöre dir, Frediano“, murmelte sie kaum hörbar, „ich werde alles tun, um dich zu beschützen. Solange ich lebe, wird dir niemand je etwas antun.“ Seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte. Also strich sie ihm noch einmal durch das Haar und stand dann auf, um selbst ins Bett zu gehen. Am nächsten Morgen würde man Deirdre tot in ihrem Haus auffinden und es nach einigem Nachforschen als Selbstmord deklarieren. Nicht lange danach sollte auch Amy sterben – und Frediano daraufhin gegen Claudias Willen nach Cherrygrove geschickt werden. Aber von all dem ahnte sie noch nichts, als sie müde in ihr Bett sank und einschlief, noch ehe ihr Kopf das Kissen berührt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)