Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Familie ------- Manchmal beneidete Asterea ihren Mann regelrecht. Er arbeitete und daher war er oft nicht zu Hause, was ihm durchaus recht war – und was sie auch gern hin und wieder hätte erleben dürfen. Besonders in der Ferienzeit, wenn Nolan verreist und Landis deswegen den ganzen Tag zu Hause war, wünschte sie sich, einfach irgendwohin gehen zu können, eine Ausrede dafür zu besitzen. Aber da sie keine solche hatte, musste sie sich selbst beim Kochen, wie an diesem Tag, mit seinem gelangweiltem Starren abgeben. Anfangs hatte sie versucht, ihn in den Kochprozess einzubeziehen, aber er hatte sich entweder derart ungeschickt angestellt oder aber ein so großes Chaos veranstaltet, dass sie ihn gebeten hatte, ihr nie mehr zu helfen, es sei denn, sie würde ihn darum auf Knien anflehen. Das hielt ihn aber dennoch nicht davon ab, sie immer zu beobachten, auch heute, während sie den Teig vor sich zu möglichst gleichmäßigen Brötchen formte. „Willst du nicht vielleicht lieber draußen spielen?“, fragte sie schließlich. Er schob die Unterlippe ein wenig vor. „Nerve ich dich etwa?“ Sie haderte mit sich, ob sie ihm das bestätigen sollte, aber schließlich entschied ihr erst kürzlich erwachter Mutterinstinkt, dass sie lieber etwas anderes sagen sollte: „Nein, aber es muss doch furchtbar langweilig sein für dich.“ „Draußen ist es auch langweilig. Nolan ist bei seinen Großeltern in Jenkan.“ Er machte eine kurze Pause. „Und Ria ist mit ihren Großeltern verreist. Keiner hat Zeit für mich.“ Er seufzte leise, enttäuscht und auch einsam – beides Dinge, bei denen Asterea ihm nicht mehr böse sein konnte, dass er sie derart mit seinem Starren nervte. Sie glaubte, er würde ihr gleich verraten, dass er sich furchtbar einsam ohne all seine Freunde fühlte, aber stattdessen überraschte sie mit einer vollkommen anderen Frage: „Warum habe ich keine Großeltern?“ Das Thema war derart heikel, dass Asterea beschloss, den Teig erst einmal sich selbst zu überlassen und sich neben Landis zu setzen, um auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Er blickte sie abwartend an, während sie überlegte, was genau sie ihm eigentlich sagen sollte. Die Geschichte von Richards Eltern war schnell erklärt, aber sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie ein Naturgeist war und deswegen nicht einmal Erzeuger hatte. Deswegen entschied sie sich, mit Richards Familie anzufangen. Bislang hatten sie noch nie mit Landis über dieses Thema gesprochen, aber da er auch selbst erst seit kurzem auf seine Umwelt reagierte, war es von keinem der beiden bislang als notwendig erachtet worden. „Die Eltern und die Schwester deines Vaters sind vor vielen Jahren bei einem... Brand in ihrer Heimat umgekommen.“ Sie beschloss, die Wahrheit ein wenig zu beschönigen, mit seinen acht Jahren musste er immerhin noch nicht über alles Furchteinflößende in dieser Welt Bescheid wissen. „Die gesamte Stadt wurde damals zerstört und so kam Richard auch hier nach Cherrygrove.“ Er blickte sie abwartend an, aber etwas in seinen Augen verriet ihr immerhin, dass er das verstanden hatte und sich merken würde. Nun wartete er aber auf die Geschichte ihrer Familie und sie wusste nicht so recht, was sie erzählen sollte. Also beschloss sie, einfach zu improvisieren. „Na ja, weißt du... ich erinnere mich nicht an meine Eltern. Sie sind gestorben, als ich noch viel jünger war als du jetzt. Meine Schwestern haben mich aufgezogen.“ Das war nicht vollkommen gelogen, immerhin bestand der Großteil ihres Lebens aus der Zeit, die sie gemeinsam mit den anderen Nymphen verbracht hatte. Kreios, ihr Schöpfer, nahm da nur einen sehr geringen Teil ein. „Meine Großeltern sind also alle tot“, fasste Landis monoton zusammen. „Wie blöd.“ Sein letzter Satz klang derart süß, dass sie sich das Kichern verkneifen musste, um ihn nicht aus Versehen zu beleidigen. Lieber versuchte sie, ihn aufzumuntern: „Aber du hast doch uns. Reicht das nicht?“ Auch wenn sie sich ihm gegenüber nicht immer sonderlich nett oder vorteilhaft verhalten hatte und sich durchaus im Klaren war, dass er das ebenfalls anführen würde. Aber stattdessen verzog er die Lippen ein wenig. „Doch, natürlich. Aber ihr seid erwachsen – und habt auch nicht immer Zeit für mich oder wollt mit mir spielen. Das ist okay. Onkel Kieran sagt, Erwachsene haben wichtige Dinge zu tun, damit wir Kinder ein schönes Leben haben können. Aber Großeltern sind da eben wieder was ganz anderes, das hat Tante Aydeen gesagt.“ Das konnte Asterea weder bestätigen noch verleugnen, sie kannte sich nicht mit Familien aus, aber sie war davon überzeugt, dass Aydeen schon wusste, wovon sie redete. Angestrengt nachdenkend runzelte er die Stirn. „Großeltern sind auch ganz anders. Ich habe versucht, mich mit denen von Nolan und Oriana, äh, gutzustellen, aber keiner von denen mag mich.“ Schmollend stieß er Luft durch seine geschlossenen Lippen und pustete damit eine Strähne aus seiner Stirn. Sie musste ihm bei nächster Gelegenheit unbedingt wieder das Haar schneiden. „Großeltern sind viel komplizierter als Eltern“, schloss er. „Deswegen will ich eigene Großeltern.“ In einer tröstenden Geste legte sie ihm eine Hand auf den Arm. „Es tut mir wirklich Leid, Schatz.“ Allerdings verstand sie immer noch nicht, warum er unbedingt Großeltern haben wollte. Immerhin wusste sie aus sicherer Quelle, dass Nolan seine nicht sonderlich gut leiden konnte – und Oriana sah ihre nur einmal im Jahr, wenn überhaupt. Um herauszufinden, was genau ihn bewegte, außer vielleicht Langeweile, fragte sie ihn einfach direkt, was er sich von eigenen Großeltern erhoffte und zu ihrer großen Freude antwortete er sogar: „Wenn ich welche hätte, wüsste ich, wie sehr No seine mag. Ich glaube, er mag sie mehr als mich, auch wenn er immer über sie schimpft – und dass er deswegen irgendwann ganz bei ihnen bleiben wird.“ „Oh Lan...“ Ergriffen legte sie eine Hand auf ihr Herz. Die einzige Sorge ihres Sohnes war also, dass sein bester Freund ihn irgendwann nicht mehr genug mögen könnte, um wieder nach Cherrygrove zurückzukehren. Das erleichterte sie ziemlich, denn sie hatte bereits angefangen, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, dass sie ihm auch keine Großeltern bieten konnte. Um ihn weiter zu trösten, zog sie ihn ihre Arme und strich ihm beruhigend über den Rücken. „Hör zu, Lan. Familie ist immer anders, als Freunde. Man liebt beide auf ihre ganz eigene Art und Weise, das kann man einfach nicht erklären. Deswegen musst du dich auch nicht mit Nos Großeltern vergleichen.“ Landis erwiderte die Umarmung nur verhalten. „Dann heißt das... ihr werdet mich auch nicht allein lassen? Du und Papa?“ „Natürlich nicht“, antwortete Asterea lächelnd. „Wie kommst du denn auf diese Idee?“ „Nolans Großeltern haben gesagt, ich wäre ein so missratener Bursche, dass es sie nicht wundern würde, wenn ihr beide mich irgendwann im Wald aussetzt.“ Sie musste zugeben, dass es sie sehr überraschte und auch verärgerte, dass Aydeens Eltern es sich herausnahmen, ihrem Sohn so etwas zu sagen. Sicher, Landis mochte sich nicht immer von seiner besten Seite zeigen, manchmal war er sehr anstrengend und besonders wenn er mit Nolan zusammen war, vergaß er auch gern jegliche Erziehung und Zurückhaltung – aber das war kein Grund, ihm so etwas ins Gesicht zu sagen, vor allem, wenn Richard sich sehr über die inzwischen eingezogene Normalität seines Sohnes freute. „Das würden wir nie tun“, versprach sie ihm, worauf seine Umarmung inniger wurde. „Dein Vater und ich lieben dich sehr, Landis.“ Und zum ersten Mal, als sie das sagte, konnte sie ihren eigenen Worten Glauben schenken und spüren, dass ihr Herz ihn wirklich als Teil von ihr akzeptiert hatte. Schon allein dafür, dass der Rest der Welt ihn anscheinend nicht leiden mochte. Kein Mensch – oder halber Naturgeist in diesem Falle – hatte es verdient, derart verachtet und dann nicht einmal von seiner eigenen Mutter geliebt zu werden. „Wann immer du uns brauchst, werden wir da sein“, versprach Asterea ihm. „Dafür gibt es immerhin die Familie. Sie fängt dich auf, wenn niemand anderes dich halten kann.“ Zumindest waren das all ihre Beobachtungen in den letzten Jahrhunderten gewesen, zusammen mit ihren Erfahrungen, die sie mit ihren Schwestern gemacht hatte. „Danke, Mama“, murmelte er leise in die Umarmung hinein. Damit war die Atmosphäre plötzlich wesentlich friedvoller und Asterea fühlte sich wesentlich erleichterter. „Willst du mir dann jetzt beim Kochen helfen?“ Er löste sich wieder ein wenig von ihr und runzelte die Stirn. „Dafür musst du mich aber erst auf Knien anflehen.“ Mit einem amüsierten Lachen ließ sie ihn los, stand von ihrem Stuhl auf und ging vor ihm auf die Knie, die Hände vor der Brust gefaltet. „Oh, mein bester und tapferster Landis, bitte hilf einer Frau in Not und backe gemeinsam mit mir Brötchen~! Ohne dich ist es unmöglich zu schaffen!“ Trotz des zuvor noch so ernsten Themas, setzte er nun gespielt nachdenkliches Gesicht auf, während er sich den Finger an das Kinn legte. Doch schließlich nickte er großmütig. „Wenn Ihr mich so bittet, Gnädigste, kann ich kaum ablehnen. Ich werde Euch helfen!“ Lachend erhob sie sich wieder und schloss ihn noch einmal in die Arme, ehe sie ihm alles reichte, was er dafür benötigte und sich dann gemeinsam mit ihm an die Arbeit machte. Als Landis Stunden später erschöpft ins Bett fiel und friedlich schlief, fühlte Asterea wieder, wie sie jemand anstarrte – aber dieses Mal handelte es sich um den Blick von Richard. Er stand vor der Arbeitsfläche, Arme und Oberkörper darauf gebeugt, während sie einige Schritte entfernt stand. „Was ist denn?“, fragte sie verlegen, während sie sich weiter darauf zu konzentrieren versuchte, die Küche sauberzumachen. Dieses Mal hatte Landis wesentlich weniger Chaos hinterlassen, aber durch die gegen Schluss entstandene Wasserschlacht zwischen den beiden – die von Asterea initiiert worden war – war die Küche einem Schlachtfeld nicht mehr fern gewesen. Inzwischen war sie aber fast mit dem Säubern fertig, so dass sie Richards Blick überhaupt erst bemerkte. „Ich habe nur gerade nachgedacht“, sagte er mit überraschend sanfter Stimmer, die sie, so glaubte sie jedenfalls, noch nie von ihm gehört hatte. „Und worüber?“ Er lächelte ein wenig. „Darüber, dass ich das Gefühl habe, dass du und Landis euch heute sehr viel näher gekommen sein müsst.“ Diese Beobachtung zauberte ein stolzes Lächeln auf ihr Gesicht. „Ja, das ist richtig. Wir hatten heute ein sehr emotionales Gespräch zwischen Mutter und Sohn und stehen uns jetzt sehr nahe.“ „Das freut mich.“ So wie er das sagte, wusste Asterea sofort, wie viel es ihm bedeutet hatte, dass sie und Landis sich näherkommen würden, wohl nicht zuletzt, weil er viel Wert auf ein inniges Familienleben legte, jedenfalls soweit es auch seine Gefühle zuließen. „Dann freut es mich auch“, sagte sie lächelnd. Schließlich löste er sich von der Arbeitsfläche, ging zu Asterea hinüber und legte die Arme um sie. „Lass die Küche für heute mal Küche sein, ja?“, flüsterte er. „Lass uns lieber schlafen gehen.“ Bei einer solchen Aufforderung, die viel zu selten von ihm kam, wie sie fand, konnte sie nicht widerstehen. Sie ließ das Tuch einfach an Ort und Stelle liegen, löschte das Licht und ging dann gemeinsam mit ihm aus der Küche hinaus. Damit lag der Raum, in dem an diesem Tag so viel geschehen und der von Lachen erfüllt gewesen war, im Dunkeln und vollkommen still. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)