Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Alles für ein Lachen -------------------- Hochkonzentriert starrte Nolan auf die Zeitung, hinter der Kieran sich am Frühstückstisch zu verstecken schien. Er nahm nicht wahr, was auf den Seiten stand, die er sehen konnte, sondern wartete stattdessen auf eine gewisse Reaktion, die allerdings, sehr zu seiner Enttäuschung, ausblieb. Kieran senkte die Zeitung ein wenig, um ihm über den oberen Rand hinweg einen skeptischen Blick zukommen zu lassen. „Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Warst du schon bei den Witzen?“, fragte Nolan mit vorgeschobener Unterlippe. Er war an diesem Morgen extra früher aufgestanden, um zuerst an die Zeitung zu kommen und die entsprechende Seite zu lesen, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich lustig war – und das war sie an diesem Tag, mehr als je zuvor, wie er fand. Er hoffte nur, dass Kieran es genauso sah. Doch dieser enttäuschte ihn prompt. „Ja, war ich. Willst du die Seite haben?“ „Fandest du sie denn gar nicht lustig?“, erwiderte Nolan mit einer Gegenfrage. „Es ist wohl nicht mein Humor.“ Kieran zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Warum ist das so wichtig?“ „Ist es nicht.“ Aber dennoch konnte Nolan nicht verhindern, dass er enttäuscht klang. Statt noch etwas zu sagen, wandte er sich lieber wieder seinem Frühstück zu und wie er erwartet hatte, hob Kieran die Zeitung wieder, um sich erneut vollends auf diese zu konzentrieren. Entsprechend gedrückt war Nolans Stimmung, als er sich später mit Landis auf dem Hügel traf, der als ihr Hauptquartier fungierte. Die Knie angezogen, die Arme darauf abgelegt, um sein Kinn mit den Händen abzustützen, grübelte er nach wie vor über sein derzeitiges Ziel nach. Landis saß eine ganze Weile nur da und beobachtete seinen Freund dabei, bis er schließlich das Wort ergriff: „Hat es nicht funktioniert, No?“ „Nicht im Mindesten. Er hat nicht mal geschmunzelt.“ Das konnte er zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber die Wahrscheinlichkeit war gering, wenn er seinen Vater richtig einschätzte. „Erinnert mich an meinen Papa“, sagte Landis nachdenklich. „Kein Wunder, dass sie Freunde sind.“ „Onkel Richard habe ich aber schon lachen gehört“, erwiderte Nolan seufzend. „Mein Papa hat noch nie gelacht.“ Er runzelte angestrengt nachdenkend die Stirn. „Dabei hab ich echt alle Geschütze aufgefahren. Meine eigenen Witze, die aus der Zeitung, Erzählungen über das, was wir getan haben... aber er sieht mich immer nur an, als ob er sich wünschte, dass ich still bin.“ „Na ja, er ist nicht unbedingt der Unterhaltsamste“, stimmte Landis zu. „Vielleicht mag er es einfach nicht, wenn man zu viel redet... und er kann das nicht ausblenden, so wie mein Papa.“ Nolan hatte schon oft darüber nachgedacht, besonders, wenn er nachts nur schwer einschlafen konnte, aber er kam zu keinerlei Ergebnis – und Kieran redete natürlich nicht darüber. Einmal hatte Nolan ihn direkt gefragt, worüber er lachen würde, aber die einzige Antwort seines Vaters war ein Schulterzucken gewesen, gefolgt von einem gemurmelten „Das ist doch auch gar nicht wichtig“. In diesem Moment, in dem er Nolans Blick ausgewichen war, war es diesem vorgekommen als ob Kieran eigentlich eher schüchtern als griesgrämig war. Und Nolan musste zugeben, dass er mit schüchternen Menschen nicht unbedingt umgehen konnte, dafür kannte er zu wenige, aber jene, die er kannte, waren von seinem offenen Verhalten oft eingeschüchtert. Vielleicht galt das auch für seinen eigenen Vater. „No!“ Landis' Stimme holte ihn wieder aus seinen Überlegungen heraus. „Hast du mir zugehört?“ Nolan blinzelte träge, als er seinen Freund wieder ansah. „Was? Hast du etwas gesagt?“ Einen flüchtigen Augenblick lang sah es so aus, als würde Landis darüber schmollen wollen, dass der andere ihm nicht zuhörte, aber dann erinnerte er sich offenbar wieder daran, dass er das selbst auch oft genug tat und besann sich darauf, seine Frage zu wiederholen: „Vielleicht kriegt man kein Lachen aus ihm heraus, indem man ihm etwas Lustiges erzählt? Vielleicht müssen wir etwas anderes tun, damit er gute Laune bekommt.“ Nolan überlegte einen kurzen Moment. Kieran machte nicht den Eindruck, als gäbe es irgendetwas, das man für ihn tun könnte, egal unter welchen Umständen. Er wirkte auf jeden so als ob er alles selbst im Griff hatte, immer die Ruhe behielt und niemanden benötigte, der ihm unter die Arme griff, dafür hatte Nolan ihn schon immer bewundert. Allerdings erinnerte er sich bei diesem Gedanken an eine Nacht, vor etwa einem Jahr. Eigentlich hätte er schon lange schlafen sollen, aber sein Durst war irgendwann übermächtig geworden und so war er, so leise wie nur irgendwie möglich, die Treppe hinuntergeschlichen. Das Licht im Wohnzimmer war derart gedimmt gewesen, dass er es erst bemerkt hatte, als er direkt vor der Tür gestanden war – und da hatte er Kieran gesehen, auf dem Sofa sitzend, den Oberkörper vorgebeugt, den linken Arm auf ein Knie gestützt und die Stirn auf seine Handfläche gestützt. Sein rechter Arm hatte schlaff auf seinem anderem Knie gelegen. Keinerlei Bewegung war von ihm ausgegangen, kein einziger Ton, aber Nolan hatte nie wieder etwas derart Trauriges und Einsames gesehen. Der Held seiner Kindheit hatte in diesem Moment seine empfindliche Seite gezeigt und dieses Bild war in seine Erinnerung gebrannt. Nolan wusste nicht, was ihn derart belastete, aber er wusste, dass es unter diesen Voraussetzungen so ziemlich unmöglich war, wirklich lachen zu können. Deswegen wollte er ihn ein einziges Mal lachen sehen, damit er diese Erinnerung neben jene des einsamen Kieran stellen konnte – und damit es seinem Vater zumindest ein wenig besser ging. Vielleicht könnte er sich dann in einer solchen dunklen Phase wieder daran zurückerinnern und zumindest ein wenig lächeln, das hoffte Nolan jedenfalls. Landis wusste nichts davon, aber dennoch war er bei diesem Plan dabei, doch er war genauso ratlos gewesen bis zu diesem Vorschlag, denn dieser brachte ihn wirklich auf einen Gedanken, der ihnen helfen könnte, Kierans Laune zu heben und ihn vielleicht sogar zu einem Lächeln zu bringen. Obwohl Cherrygrove keine sonderlich große Ortschaft war und es recht viel Land um jedes einzelne Haus gab, verfügte dennoch nicht jedes über einen Garten. Bei den meisten Häusern lag es vermutlich daran, dass die Besitzer kein Interesse daran hegten oder es ihnen zu viel Arbeit war. Immerhin gab es selten jemanden wie Landis oder Nolan, die den Leuten unentgeltlich im Garten halfen. Kierans und Nolans Garten gehörte zu jenen, die es zwar gab und auch durch einen hölzernen Zaun bezeichnet waren, aber viel gab es dort nicht zu sehen. Nolan hatte versucht, Dipaloma-Bäume großzuziehen, aber bislang war noch kein Samen gekeimt. Aydeen dagegen hatte zu Lebzeiten einmal ein Blumenbeet angelegt, sich dabei allerdings nicht auf eine einzelne Blumensorte beschränkt. So blühten selbst drei Jahre nach ihrem Tod immer noch bunt zusammengewürfelte Blumen im Garten, was auch an Kieran lag, der immer mal wieder vor dem Beet kniete, Unkraut zupfte und allerlei andere Dinge tat, von denen Nolan nichts verstand, die sein Vater aber von Aydeen beigebracht bekommen hatte. Jahre später sollte Nolan, wenn er daran zurückdachte, der Gedanke kommen, dass Kieran damit versucht hatte, Aydeen über diese Pflanzen am Leben zu erhalten und sich ihr nah zu fühlen. An diesem Tag blickten er und Landis auf dieses Beet und stellten beide betrübt fest, dass etwas Löcher hineingegraben und Blätter angenagt hatte. „Papa ist ziemlich unglücklich darüber“, erklärte Nolan. „Wenn wir das Wesen fangen, das dafür verantwortlich ist, dann freut er sich bestimmt.“ „Und was könnte das gewesen sein?“, fragte Landis. Darüber grübelte Nolan schon eine Weile und auch Kieran schien ratlos, wenn er genauso mit gerunzelter Stirn vor dem Beet stand, wie sein Sohn in diesem Moment. Doch diesem kam schließlich tatsächlich ein Gedanke, der ihm vollkommen logisch erschien. Er schlug die Faust auf seine Handfläche. „Das muss ein Kobold gewesen sein!“ „Glaubst du wirklich?“, fragte Landis und sah ihn mit großen Augen an. „Mein Papa sagt, es gibt keine Kobolde...“ Sein letzter Satz war ein lahmer Versuch, Nolan dazu zu bringen, ihm zu widersprechen, um ihm zu beweisen, dass Richard ihm nur seine Fantasie madig machen wollte – und sein Freund ließ ihn nicht lange darauf warten: „Es muss einer gewesen sein! Einmal hat mein Papa ein Buch über Dämonen herumliegen lassen und ich hab dann darin gelesen. Kobolde leben unterirdisch und graben sich Tunnel, um von einem Ort zum anderen zu kommen und manche von ihnen essen auch Pflanzen.“ Es war ein echtes Sachbuch gewesen, davon war Nolan überzeugt, von wem auch immer sein Vater es bekommen haben sollte, aber es existierte und er erinnerte sich besonders an diesen Eintrag. Zumindest glaubte er, dass es nur der Kobold-Eintrag gewesen war und nicht eine Mischung aus verschiedenen, die er nun nicht mehr auseinanderhalten konnte. Ein bewunderndes Glitzern war in Landis' Augen zu sehen. „Aber wie fangen wir einen solchen Kobold?“ „Wir warten, bis...“ Nolan verstummte schlagartig, als er eine Bewegung im Erdreich feststellen konnte. Landis folgte seinem Blick und versteifte sich sofort. „Er ist da!“, zischte er ehrfurchtsvoll. „Was tun wir jetzt?“ „Wir stürzen uns auf ihn!“, schlug Nolan vor, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Sein Satz war noch nicht einmal beendet, da sprangen sie tatsächlich auf den sich bewegenden Erdhaufen zu, aus dem in diesem Moment etwas seine Nase hervorstreckte. Es war flauschig und weiß, so viel konnte Nolan gerade noch sehen, als er und Landis gleichzeitig danach zu greifen versuchten. Doch das Wesen bemerkte die Gefahr rechtzeitig und zog sich wieder in Sicherheit zurück, so dass die beiden Jungen nur Erde in die Finger bekamen. Enttäuscht richteten sie sich wieder auf, um herauszufinden, was fehlgeschlagen war und wie sie am besten beim nächsten Versuch vorgehen sollten. Landis kratzte sich nachdenklich am Kopf, wobei er Klumpen feuchter Erde in seinem Haar zurückließ. „Sind Kobolde normalerweise weiß und flauschig?“ Ganz offenbar hatte er nicht viel Ahnung von solchen Dingen und hoffte darauf, dass sein Freund sich an noch mehr Einzelheiten erinnerte. Nolan verschränkte die Arme vor seinem Körper und schmierte dabei braune Erde auf sein weißes Hemd. „Dafür gibt es nur eine Erklärung: Es ist ein Albino-Kobold!“ Über diese Eröffnung vollkommen fassungslos, riss Landis Augen und Mund auf, statt etwas zu sagen. Nolan nickte langsam, um seine eigenen Worte zu unterstreichen. Eine ganze Weile hielt die eingetretene Stille an, bis Landis sie schließlich wieder mit einer verwirrten Frage brach: „Und was tun wir jetzt?“ „Die Strategie bleibt dieselbe“, sagte Nolan entschlossen. „Wir müssen nur schneller sein, Albino-Kobolde mögen kein Sonnenlicht.“ Landis nickte heftig. „In Ordnung.“ Damit wandten sie sich wieder dem Blumenbeet zu – und warteten. Als Kieran mehrere Stunden später an seinem Haus ankam, hielt er vor der Tür erst einmal inne. Da er niemanden in der nahen Umgebung entdecken konnte, lehnte er sich gegen das Holz und seufzte tief. Der Tag war anstrengend gewesen, voller Arbeit für die er eigentlich nicht geschaffen war, besonders weil sie mit Tieren zu tun hatte, vor denen er immer noch übermäßig viel Respekt empfand. Was tut man nicht alles, um einen heranwachsenden Jungen zu bezahlen? Natürlich gab es noch Nolans Großeltern in Jenkan, die ihren Enkel finanziell unterstützten, aber es war für Kieran schnell klar geworden, dass sie ihm wirklich nur das Nötigste überließen, in der Hoffnung, dass er einknicken und Nolan zu ihnen schicken würde. Aber das hatte er nicht vor, lieber griff er den verschiedenen Einwohnern von Cherrygrove unter die Arme und sicherte sich so deren Unterstützung, selbst wenn das bedeutete, dass er mit Tieren arbeiten musste. Dabei war er sich inzwischen nicht einmal mehr wirklich sicher, warum genau er Nolan bei sich behalten wollte. Doch bevor er wieder darüber nachzusinnen begann, ob er in dem Jungen vielleicht doch mehr als sein Werkzeug für die Rettung der Lazari und Dämonen sah, öffnete er die Tür, um hineinzugehen und sich erst einmal ein wenig auszuruhen. Aber schon nach wenigen Schritten hinein, hielt er wie elektrisiert wieder inne. Das Wohnzimmer war komplett verwüstet worden. Das Sofa lag auf der Seite, der Tisch ebenfalls umgestürzt, der Teppich hatte seine Position von der Mitte des Raumes an die Wand verlagert, wo er teilweise hochstand – was ihm sagte, dass er ihn zu sehr verstärkt hatte – eine der Pflanzen, die Bellinda aus Dekorations- und Aufmunterungsgründen dort abgestellt hatte, nachdem Aydeen bereits gestorben war, lag ebenfalls auf dem Boden, der Keramiktopf war zersprungen und die Erde war auf dem Grund verteilt. Kierans Instinkt sprang sofort an und malte ihm das Bild eines Eindringlings, der Nolan zu entführen versuchte und eines Jungen, der verzweifelt versuchte, sich dagegen zu wehren und dabei eine solche Verwüstung anrichtete. Die Sorge über den Verbleib des Jungen ließ Kieran fast wahnsinnig werden, aber dennoch bemühte er sich, nach Spuren Ausschau zu halten, die ihm verrieten, ob vielleicht noch mehr geschehen war. Blut, Haare, vielleicht auch sonstige Überreste eines Zaubers – aber er konnte nichts entdecken. Er hoffte, dass es kein schlechtes Zeichen war. Vorsichtig trat er in den Raum, um sich weiter umzusehen, in der Hoffnung, Anzeichen zu finden, die ihn auf die Identität des Eindringlings hinwiesen, aber da fiel sein Blick auch auf etwas anderes. In einer Ecke des Wohnzimmers, die er von außen nicht hatte einsehen können, saß Landis, der gefesselt war und durchaus glücklich schien, ihn zu sehen. „Ah, Onkel Kieran!“ „Was tust du da?“, fragte Kieran. Doch ehe er eine Antwort bekommen konnte, bemerkte er, wie jemand hinter dem Sofa hervorkam. Er blickte hinüber und fühlte Erleichterung in sich aufwallen, als er Nolan entdeckte, der ihn mit einem glücklichen Lächeln begrüßte, gleichzeitig aber auch einen Hauch von Schuld auf dem Gesicht trug. „Was ist hier passiert?“, fragte Kieran. Er sprach nicht aus, dass er glücklich darüber war, dass sich sein Verdacht als unbegründete Panik herausgestellt hatte, immerhin war es auch nicht wichtig, dass die beiden Jungen wussten, was er dachte. „Nichts“, sagte Nolan zerknirscht. „Nichts?“ Kieran machte eine ausholende Handbewegung, die das gesamte Wohnzimmer einschloss. „Und als was würdest du das hier bezeichnen?“ Nolan warf einen schuldbewussten Blick umher, antwortete aber nicht, weswegen Kieran weiterfragte: „Und warum ist Landis gefesselt?“ Noch immer keine Antwort. „Warum versteckst du dich hinter dem Sofa?“ „Oh das“, sagte er schließlich, offenbar wesentlich zuversichtlicher, was diese Antwort anging. „Ich wollte mich vor Landis in Sicherheit bringen, wenn er sich verwandelt.“ Kieran neigte den Kopf ein wenig und blickte zu Landis, der allerdings nur entschuldigend lächeln und mit den Schultern zucken konnte. Also seufzte er innerlich und sah wieder Nolan an. „Und in was sollte er sich verwandeln?“ „Na in einen Albino-Kobold!“, antwortete der Junge, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, weswegen es erst eine weitere Nachfrage von Kieran benötigte, damit er weiter erklärte: „Landis wurde von einem Albino-Kobold gebissen, also wird er sich auch in einen solchen verwandeln.“ „Das ist doch Unsinn“, erwiderte Kieran und ging zu Landis hinüber, um die Fesseln zu lösen und sich dann die Verletzung genauer anzusehen. Es war nur ein kaum sichtbarer Biss zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Die Wunde war nicht einmal wirklich zu sehen und wies erst recht keinerlei Verfärbungen auf, sie war vollkommen harmlos, weswegen er Nolans Protest bezüglich der gelösten Fesseln zur Seite wischte. „Außerdem gibt es keine Albino-Kobolde.“ Zumindest nicht in dieser Gegend. „Gibt es wohl!“ Nolan stampfte mit dem Fuß auf und deutete dann in die andere Ecke, die vorher nicht für Kieran einsehbar gewesen war. „Wir haben ihn dort eingefangen!“ In diesem Moment fiel ihm die umgedrehte Kiste auf, die dort stand und unter der sich etwas zu bewegen schien. Ein wenig neugierig geworden, ging Kieran hinüber, um sich anzusehen, was die beiden dort eingefangen hatten. Er glaubte nicht daran, dass es sich um einen Albino-Kobold oder auch nur um einen normalen Artgenossen handelte, denn sie bevorzugten die wesentlich entspannenderen Gefilde des Nordkontinenten, auf dem sich allerlei mystische Wesen tummelten. Sicherlich kam es nicht selten vor, dass einer von ihnen sich auch mal woanders hinverirrte – aber dann mit Sicherheit nicht nach Cherrygrove, über dem der Schutzzauber eines Dämons lag. Was genau er erwartete, konnte er daher nicht sagen, doch es war sicher nicht das, was er dann wirklich sah. Es war weiß, so viel entsprach der Wahrheit, es war flauschig, hatte lange Ohren und seine Nase bewegte sich unablässig, es war alles andere als ein Kobold. Trotz seiner Furcht griff er nach dem, was dort saß, packte es am Nacken und zog es hervor, um es dann Nolan und Landis zu demonstrieren. „Wonach sieht das für euch aus?“ Beide blinzelten einen Moment, um das Wesen genauer zu mustern, während Kieran es sicher in den Händen hielt, dann hellte sich Nolans Gesicht auf. „Das ist ein Kaninchen!“ „Genau genommen ist es eines der Zuchtkaninchen von Frau Foster, das heute entlaufen ist. Wo habt ihr es her?“ „Wir haben es im Garten gefunden“, antwortete Nolan. „Es war der Übeltäter, der immer Mamas Beete ruiniert.“ Kieran zuckte für einen kurzen Moment zusammen, als er Aydeen erwähnte und er wieder an die Beete denken musste, die immer schlimmer ausgesehen hatten. Aber gleichzeitig fiel ihm dabei auch auf, dass die beiden Jungen voller Erde waren und zumindest die Kleider des einen mussten von ihm gewaschen werden. „Ihr habt also dieses Kaninchen eingefangen?“, fragte Kieran. „Weil es die Beete ruiniert hat?“ Beide Jungen nickten zustimmend, diesmal allerdings nicht mehr sonderlich glücklich, sondern ziemlich frustriert und auch... ein wenig furchtsam vor dem, was folgen könnte. „Und dafür hab ihr euch schmutzig gemacht? Euch verletzt? Und das Wohnzimmer auseinander genommen?“ Den Groll in seiner Stimme konnte er nicht wirklich unterdrücken, denn allein der Gedanke, dass er das alles würde aufräumen müssen, verbunden mit der Tatsache, dass er auch Nolans Wäsche waschen musste und das wohl nie wieder wirklich sauberbekommen würde, ließ Ärger in seinem Innerem entstehen und er glaubte nicht, dass es eine Erklärung geben könnte, die ihn das wieder vergessen ließ. Landis warf einen auffordernden Blick in Nolans Richtung, worauf dieser einknickte und seufzend den Kopf senkte. „Ich dachte, es würde deine Stimmung verbessern, wenn ich das einfange, was Mamas Beet schadet.“ „Meine Stimmung verbessern?“, hakte Kieran ratlos nach. „Du bist immer so schlecht gelaunt“, fuhr Nolan fort. „Und traurig. Also wollte ich dich aufheitern, indem ich etwas tue, was dir sicher gefallen würde.“ Als Landis zustimmend nickte, atmete Kieran tief durch. Er hatte ja immer gewusst, dass Nolan sicherlich merken würde, dass es ihm nicht gut ging und er oft nachts im Wohnzimmer saß und seinen Gedanken nachhing, aber dass es dem Jungen so sehr zusetzen würde, dass er sich sogar Dinge überlegte, die ihn aufheitern sollten, wäre ihm nicht einmal im Traum eingefallen. Immerhin erklärte das aber auch, weswegen Nolan ihm in den letzten Wochen immer all die Witzen und die lustigen Geschichten erzählt hatte. „Du hast das alles nur für mich getan?“ Nolan nickte zustimmend, den Kopf immer noch gesenkt, um seine Strafpredigt zu empfangen. Doch in diesem Moment mischte sich Kierans Erleichterung, dass keinem etwas geschehen war, mit der Freude über Nolans unerwarteten Einsatz und seine Besorgnis, die sicher dahinter steckte, die musste er noch nicht einmal wirklich aussprechen. Diese so selten verspürten Gefühle, ließen Kieran all den Ärger vergessen, spülten ihn hinfort und brachten stattdessen ein Lächeln auf seinem Gesicht zum Vorschein, das alsbald von einem heiseren Lachen begleitet wurde. Nolan und Landis blickten beide überrascht auf, als sie das hörten und starrten Kieran an, als wäre er nicht von dieser Welt. Es dauerte eine ganze Weile, in der er einfach weiterlachte, bis sie schließlich erleichtert miteinstimmten. Inzwischen war es eigentlich nicht mehr üblich, dass Kieran Nolan am Abend ins Bett brachte, aber an diesem schien er doch sichergehen zu wollen, dass sein Sohn auch wirklich schlief – zumindest glaubte Nolan das. Immerhin hatte er für die Verwüstung des Wohnzimmers, auch wenn es aus gutem Willen heraus geschehen war, erst einmal Hausarrest bekommen und Nolan konnte das sogar verstehen... ein wenig. Aber immerhin hatte er Kieran lachen gehört. Es war heiser gewesen, ungewohnt nach all der langen Zeit, aber er hatte gelacht und er war fröhlich gewesen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Seit diesem flüchtigen Augenblick schien er aber alles in allem wesentlich besser gelaunt zu sein – wenn man das bei ihm so sagen konnte. Er blickte noch immer mürrisch, aber darunter war ein Funke von Fröhlichkeit zu erkennen und das war vermutlich auch ein Grund, weswegen er Nolan wieder ins Bett brachte. Gewissenhaft stellte Kieran sicher, dass er zugedeckt war und wollte sich bereits wieder umdrehen, als Nolan ihn noch einmal aufhielt: „He, Papa... geht es dir jetzt besser?“ Er wollte es nur wissen, um sicherzugehen. Er wollte es aus Kierans Mund hören und sich dann über seine vollbrachte Heldentat freuen – während seines Hausarrests würde das immerhin sein einziger Freudenquell bleiben. Kieran lächelte ein wenig, wie er durch das aus dem Gang einfallende Licht sehen konnte. „Ja, danke, Nolan.“ Ohne noch etwas zu sagen oder auf weitere Fragen zu warten, verließ Kieran das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, so dass der gesamte Raum in Dunkelheit getaucht war. Nolan atmete tief durch, nachdem er das gehört hatte. Er wird ab sofort viel glücklicher sein. Ganz sicher. Mit diesem Gedanken in seinem Inneren driftete er in den verdienten Schlaf ab, der von wohltuenden Träumen einer angenehmen Vergangenheit und einer noch besseren Zukunft für ihn und seinen Vater durchzogen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)