Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Ein unvergesslicher Moment -------------------------- Im zarten Alter von sechs Jahren, sah er das erste Mal in seinem Leben die Hauptstadt seines Landes. Als Junge, der auf dem Land aufgewachsen war, waren all die Gebäude, die so majestätisch in den Himmel ragten; all die Menschen, die sich eilig an einem vorbeidrängten und vor allem all die Geräusche, die sein Ohr brandeten, derart schwindelerregend, dass er weiche Knie bekam und beinahe gestürzt wäre. Lediglich sein Vater, der eisern seine Hand hielt, verhinderte, dass es so weit kommen konnte. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck, aber unaufhaltsam, bahnte er sich seinen Weg durch die Menge und zog seinen Sohn dabei mit sich. Immer wieder warf er einen Blick auf den Jungen hinunter und runzelte dann die Stirn. Ob er etwas sagte, um seinen Gesichtsausdruck zu erklären, konnte der Junge nicht so recht einschätzen; seine Ohren rauschten bereits wegen der Geräuschkulisse, waren schlichtweg überfordert und nicht mehr in der Lage, ausreichend zu filtern. Dieser Zustand besserte sich erst, als sein Vater ihn von der belebten Hauptstraße in eine leblose Seitengasse zog, wo der Lärm sofort gedämpfter schien. Dennoch hielt er nicht inne, sondern lief immer weiter, bis er schließlich einen verlassenen Platz erreichte, auf dem eine Bank aufgestellt war. Auf dieser bugsierte er seinen Sohn schließlich und kniete sich dann vor ihn. „Gut, Landis, hör mir zu.“ Seine Ohren fanden ihre Fähigkeit wieder, ihn vernünftig hören zu lassen, so dass es ihm möglich war, mitzubekommen, was sein Vater ihm mitteilte. Die Geräusche von der Hauptstraße schienen dafür aus weiter Ferne zu kommen. „Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen. Du wirst dich hier nicht von der Stelle rühren, verstanden? Egal, wer kommt oder was auch immer er dir erzählt.“ Landis nickte sofort, zeigte wie gehorsam er war und klammerte sich mit der frei gewordenen Hand an das Holz der Bank. Er wusste zwar, dass seine Mutter nicht sonderlich glücklich sein würde, wenn sie hörte, dass ihr Mann den gemeinsamen Sohn einfach zurückgelassen hätte, aber das war immerhin nicht Landis' Problem. Richard strich ihm lächelnd durch das Haar, erhob sich und war innerhalb weniger Sekunden wieder davongeeilt. Bevor er ganz aus Landis' Blickfeld verschwand, drehte er sich noch einmal zu ihm um, fast so als würde er sicherstellen wollen, dass sein Sohn sich wirklich an die Anweisung hielt, aber dann führten seine Schritte ihn bereits fort. Landis blickte auf die Gasse, in der sein Vater verschwunden war, ließ die Beine schaukeln und ermahnte sich immer wieder, dass er versprochen hatte, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Doch schließlich – es mochten nur wenige Minuten vergangen sein, die ihm allerdings wie Stunden vorgekommen waren – entschied er, dass ihm das zu langweilig war und er ließ erst einmal den Blick schweifen, um etwas zu finden, das seiner Aufmerksamkeit gerecht wurde. Zu seiner ernüchternden Enttäuschung fand er nur einen knorrigen Baum, einen verwitterten Busch, ein Brunnen – allerdings war ihm eindrucksvoll eingebläut worden, dass ein solcher nicht als Spielplatz geeignet war – doch schließlich blieben seine Augen an einer Häuserecke hängen, wo er eine Bewegung wahrnehmen konnte. Ein erschrockenes Keuchen später war dort auch nichts mehr zu sehen, aber es genügte, um Landis' Neugier anzufachen und ihn dazu zu bewegen, aufzustehen und hinüberzugehen, egal was er seinem Vater versprochen hatte. Bis dieser zurückkam, würde er bereits wieder auf der Bank sitzen, Richard würde davon nichts erfahren. Er nahm an, dass die Person schon lange fort sein würde, sobald er an der Ecke angekommen war – aber der Junge stand noch immer da, den Rücken gegen die Wand gepresst, als hoffte er tatsächlich, so nicht entdeckt zu werden. Mit nun wild entflammter Neugier stellte Landis sich direkt vor den fremden Jungen. „Hey!“ Sein Gegenüber gab noch einmal ein erschrockenes Keuchen von sich, als würde er das erste Mal eine fremde Stimme hören. Jedem andere wäre nun klar geworden, dass der Fremde sehr schüchtern war, aber Landis kam das gar nicht in den Sinn, da er bislang noch nie eine schüchterne Person erlebt hatte. „Ich bin Landis“, stellte er sich gewohnt enthusiastisch vor. „Wer bist du?“ „Uhm, uh...“ Der fremde Junge legte sich eine Hand auf die Brust und wollte zurückweichen, aber die Wand war immer noch in seinem Rücken. Also versuchte er, zur Seite auszuweichen, aber Landis stellte sich sofort wieder vor ihn und signalisierte damit, dass er verhindern würde, dass der andere fliehen könnte. Er tat das nicht aus Böswilligkeit, seine Neugier war einfach viel zu groß. Dies schien den Fremden allerdings derart einzuschüchtern, dass er nichts mehr zu tun wusste und ihn nur anstarrte wie ein gefangenes Tier. Landis störte sich nicht weiter daran und näherte sich seinem Gesicht, bis er nur noch eine Nasenspitze von ihm entfernt war, dabei starrte er ihn direkt an und rief dann begeistert aus: „Wah, deine Augen sind so blau! So was habe ich noch nie gesehen! Viel blauer als die meiner Mama!“ „Uhm...“ Die Augen des anderen huschten unruhig umher, suchten nach einem Ausweg, fanden aber keinen solchen und resignierten schließlich. „Ich bin Frediano...“ Seine Stimme glich mehr einem Flüstern, aber sie war genug, dass Landis sie verstand. Er zog sich wieder ein wenig von dem anderen zurück und nickte. „Fredi also.“ „Nein“, erwiderte der andere, der das Konzept von Abkürzungen offenbar nicht verstand, mit gerunzelter Stirn. „Frediano.“ Doch für diesen Einspruch hatte Landis kein Ohr, stattdessen stemmte er die Hände in die Hüften, genau wie Nolan es immer tat, wenn er einen Plan gefasst hatte. „Gut, Fredi, dann lass uns etwas spielen!“ Frediano hob die Augenbrauen, die so schneeweiß wie sein Haar waren. „Was?“ „Etwas spielen“, wiederholte Landis, etwas langsamer und deutlicher. „Du und ich.“ „Ich glaube nicht, dass mein Vater das gut finden würde“, protestierte Frediano schwach. Landis warf sofort einen Blick in jede Richtung, die er sehen konnte, konnte aber niemanden sonst entdecken und zuckte dann mit den Schultern. „Er ist grad aber nicht da, oder? Also lass uns spielen!“ Ohne auf einen weiteren Widerspruch zu warten, ergriff Landis seine Hand und zog ihn mit sich auf den Platz zurück. Erst als er ihn dort wieder losließ, senkte Frediano den Blick. „Ich weiß aber gar nicht, wie man spielt oder was man so spielt.“ Das war fast schon traurig, wie Landis fand, aber er ließ sich davon erst gar nicht die Laune ruinieren, sondern hob belehrend einen Zeigefinger. „Das ist gar nicht so schwer, wirklich. Ich zeig dir ein paar Spiele.“ Die er selbst nur von Nolan kannte und woher dieser davon wusste... das war Landis fremd, er hatte seinen Freund auch nie danach gefragt. Vielleicht sollte er das irgendwann einmal nachholen. Frediano gab seinen Widerstand glücklicherweise auf und ließ zu, dass Landis ihm die leichten Regeln einiger simpler Spiele erklärte, mit denen sie sich den ganzen Nachmittag beschäftigen sollten. Nachdem er alles getan hatte, worum er von Joshua gebeten worden war, verließ Richard den Palast von New Kinging wieder. Er hatte seine Schuldigkeit getan und die monatlichen Berichte der Stadtwache von Cherrygrove bei Nathan Greenrow, dem Berater der Königin abgegeben. Etwas, das Joshua ungern selbst machte, immerhin hielt Nathan die Freunde viel zu gern auf, um sich mit ihnen zu unterhalten und nachzuhaken, wie es Kieran gerade ging. Warum der Berater so interessiert an ihm war, wusste Richard zwar nicht, aber an diesem Tag interessierte er sich nicht auch so recht dafür, da es etwas Wichtigeres zu tun gab. Mit eiligen Schritten begab Richard sich wieder zu dem Platz zurück, wo er Landis zurückgelassen hatte. Dabei hoffte er nicht nur, dass der Junge noch da war, sondern auch, dass Asterea niemals etwas davon erfahren würde. Sie mochte auch nicht die verantwortungsvollste Mutter sein, die es gab, aber gerade deswegen legte sie Wert darauf, dass er besser mit ihrem Sohn umging. Schon von weitem konnte er Stimmen hören, von denen er nur eine kannte, aber nach dem ersten Schreck, der ihm eiskalt durch die Glieder fuhr, stellte er fest, dass die andere Stimme ebenfalls zu einem Kind gehörte. Als er endlich am Platz angekommen war, entdeckte er schließlich, dass Landis vollkommen in das Spielen mit einem fremden Jungen vertieft war. Das Spiel an sich, in das mehrere Kieselsteine integriert waren, kannte Richard nicht, aber offenbar fanden beide ziemliches Vergnügen daran und unterhielten sich lebhaft über ihre jeweiligen Züge. Er traute sich kaum, die beiden zu unterbrechen, weswegen er einfach nur dastand und sie beobachtete, bis der Fremde auf ihn aufmerksam wurde und dann flüsternd Landis davon in Kenntnis setzte. Sein Sohn blickte sich misstrauisch um, was ihm verriet, dass er ihn gut erzogen hatte, lächelte dann aber sofort, als er seinen Vater erkannte. „Papa! Bist du schon fertig?“ Richard nickte und blickte den Jungen an. „Wer ist dein Freund?“ Der Junge stellte sich aufrecht hin und verbeugte sich leicht. „Mein Name ist Frediano Caulfield.“ „Oh...“ Im Gegensatz zu Landis, der sich nichts aus dem Nachnamen zu machen schien, hob Richard erstaunt eine Augenbraue. „Der Sohn des Kavalleriekommandanten?“ Auch daraus machte sein Sohn sich absolut nichts, was ein weiteres Indiz dafür war, dass Richard ihn gut erzogen hatte. Frediano nickte, wenngleich zerknirscht, als würde er nicht gern darauf angesprochen werden, weswegen er das Thema auch sofort fallenließ. „Vielen Dank, dass du dich um Landis gekümmert hast.“ „O-oh...“ Frediano wich sofort zurück und hob die Hände. „N-nichts zu danken. Ich habe das wirklich gern gemacht.“ „Wir sollten bald wieder einmal spielen!“, sagte Landis begeistert. „Du solltest auch nach Cherrygrove kommen, dann spielen wir zusammen mit Nolan!“ Frediano nickte schüchtern und verabschiedete sich dann von Landis, ehe er davonging. „Du machst dir wohl überall Freunde, was?“, fragte Richard, während er seinem Sohn durch das Haar fuhr. Landis lachte zufrieden. „Aber natürlich, warum auch nicht?“ Das war eine Eigenschaft, die er ganz sicher von Asterea hatte, Richard selbst war immerhin nicht so erpicht darauf, derart viele Freunde zu gewinnen, ganz anders als Landis. „Wollen wir dann nach Hause?“ „Aber natürlich! Ich muss Nolan davon erzählen!“ Landis griff nach Richards Hand und zog ihn mit sich, um so schnell wie möglich heimzukommen und seine Pläne in die Tat umzusetzen. Der stolze Vater folgte ihm und hoffte, dass Landis' Offenheit für immer bestehen und ihm sein ganzes Leben lang helfen würde, neue Freunde kennenzulernen. Allerdings, sagte eine leise Stimme in seinem Inneren, hoffe ich doch, dass sie nicht alle so anstrengend wie Nolan sein werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)