Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Dinge, die waren; Dinge, die sind und Dinge, die immer bleiben -------------------------------------------------------------- Landis nagte nervös auf seiner Unterlippe. Normalerweise tat er das seit Jahren nicht mehr. Als Kind hatte er sich dabei einmal so stark auf die Lippe gebissen, dass sie heftig zu bluten begonnen hatte. Noch heute konnte man bei ganz genauem Hinsehen eine feine Narbe erkennen. Und das war alles Nolans Schuld gewesen. Nicht nur das nervöse Nagen, sondern auch der Schreck, der zu dem Biss geführt hatte. Seitdem tat er das nicht mehr, stattdessen beschränkte er sich normalerweise auf eine innere Panikmache, auch wenn Yarah das nicht gern sah und es seinen Blutdruck stets in ungeahnte Höhen trieb. Würde er so weitermachen, wäre sein Tod nicht fern – aber das war er auch so nicht, dessen war er sich absolut sicher. Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Vorliegende, was sein Nagen erneut verstärkte. Aurora war im Kerker, er hatte Urlaub – und doch war er noch in New Kinging, statt sich in die alte Hauptstadt zu Yarah und Kureha zu begeben. Etwas hielt ihn hier und er wusste ganz genau, was es war. Oder besser wer. Die Tür des Restaurants schwang auf, ein schwarzhaariger Kavallerist kam herein, wie üblich ein breites Lächeln zur Schau tragend. Ja, das war der Nolan wie Landis ihn kannte und liebte – wie man seinen besten Freund eben liebte. Er musste ein tiefes, zufriedenes Seufzen unterdrücken, als ihm auffiel, dass zumindest dieser Mann eine angenehme Konstante in Landis' Leben bildete. Egal wieviel Zeit verging, Nolan schien sich kein Stück zu verändern. Es war schön zu wissen, aber auch fragwürdig. Bedeutete das vielleicht, dass er nie wirklich erwachsen werden würde? Landis wollte ihn zu sich winken, aber ihn verließ der Mut, den er brauchte, um seinen Arm zu heben. Egal wie sehr er sich mit Nolan unterhalten wollte, vielleicht wollte dieser genau das nicht. Es war ihm allerdings nicht zu verdenken, immerhin hatte Landis sieben Jahre lang absolut nichts von sich hören lassen. Sowas nannte sich bester Freund... Seufzend sank er ein wenig tiefer in seinen Stuhl, doch bevor er sich ganz seinen Depressionen hingeben konnte, hörte er bereits eine vertraute Stimme: „So wie du seufzst, muss deine Arbeit ganz schön hart sein.“ Erschrocken hob Landis den Kopf. „Ah, Nolan...“ Ungefragt setzte der Kavallerist sich zu ihm. „Musst du morgen etwa nicht arbeiten? Du weißt doch, wie du auf Alkohol reagierst.“ Natürlich wusste er das. Er erinnerte sich noch allzugut an die Nächte, in denen er auf dem Boden neben seinem Bett eingeschlafen war, weil er es nicht mehr hineingeschafft hatte. Nicht nur einmal war er dabei nicht allein gewesen, Nolan vertrug immerhin genausowenig. „Ich habe seit knapp einer Stunde Urlaub“, antwortete Landis. „Schon?“, fragte Nolan überrascht. „Wie lange arbeitest du erst? Du hältst wohl nicht sonderlich viel aus, was?“ Sein Schmunzeln nahm dem Gesagten die Ernsthaftigkeit, allerdings konnte Landis sie auch nicht wirklich ernstnehmen, dafür kannte er Nolan schon lange genug. „Du bist doch nur neidisch, weil du keinen Urlaub hast“, erwiderte der Page grinsend. Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht: Der Kavallerist lachte. „Ich sag dir, bei Fredi Urlaub zu bekommen, ist schwerer, als 'nem Tiger einen Zahn zu ziehen.“ „Hast du das mal ausprobiert?“, fragte Landis amüsiert. Dass die Frage kommen musste war klar. Schon früher war nach einem solchen Vergleich diese Frage gestellt worden, egal von wem. Lediglich Kenton und Oriana war es irgendwann langweilig geworden, aber Nolan und Landis machten es immer wieder gerne. „Würde man mich vor die Wahl stellen, würde ich lieber das mit dem Tiger ausprobieren. Wenigstens kürzt der mir dann nicht mein Gehalt.“ „Du würdest lieber mit einer fehlenden Hand weiterleben, als mit weniger Geld?“ Der Kavallerist zwinkerte ihm zu. „Was denkst du, wieviel Mitleid man dafür bekommen würde?“ Aufmerksamkeit war wohl eben immer noch eines der wichtigsten Dinge in Nolans Leben. Dabei war es egal, wodurch er diese erreichen konnte, solange er sie bekam. Prinzipiell hatte Landis auch nichts gegen Aufmerksamkeit einzuwenden – aber sie war ihm nicht wichtig genug, um ein Körperteil dafür zu opfern, nicht einmal einen Finger. „Wahrscheinlich würdest du eher Spott ernten“, erwiderte er daher. „Nicht jeder ist dumm genug, einem Tiger einen Zahn ziehen zu wollen.“ Mahnend hob Nolan den Zeigefinger. Sein Lächeln verriet, dass er eine besonders clevere Antwort darauf in petto hatte: „Du musst das anders sehen: Welcher gutaussehende und liebenswerte Held besitzt schon ein derart großes Herz, dass er seinen eigenes Wohlbefinden riskiert, um einem von Zahnschmerzen geplagten armen Tiger von dessen Leid zu erlösen?“ Er lachte als Reaktion auf seine eigenen Worte, während Landis nur amüsiert schmunzeln konnte. Auf derlei Aufmerksamkeit hatte er es also abgesehen. Also war seine Annahme vorhin falsch gewesen. Nolan veränderte sich sehr wohl – er tat es nur nicht so offensichtlich wie andere. Sein Charakter wechselte nur feine Nuancen aus, zu wenig, um eine Änderung auf den ersten Blick ersichtlich sein zu lassen, aber genug, um sie doch zu bemerken. Landis wusste nur nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Das alte Gefühl hüllte seinen Verstand mit beruhigend-nostalgischen Wellen ein, vernebelte diesen geradezu und nahm ihm so die Fähigkeit, noch klar zu denken. Wie gern wäre er einfach nur wieder der einfache Landis von früher, der sich keine Sorgen darum machen musste, für mehrere Morde angeklagt zu werden. Der Landis, der nicht ständig wachsam sein musste, sich nicht durch irgend etwas zu verraten. Wie schön war doch die alte Zeit. Er musste sich schwer beherrschen, nicht erneut zu seufzen. Um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, sprach er hastig weiter: „Du siehst dich also als Held?“ Nolan sah ihn ehrlich überrascht an. Mit einem Mal fühlte Landis sich, als ob er so eben etwas völlig Selbstverständliches, wie die Existenz der Naturgeister, in Frage gestellt hätte. „Wer sieht sich nicht gern als Held?“, konterte Nolan. „Weißt du noch, früher? Wir haben uns immer als Helden gesehen, selbst wenn andere uns eher als Rowdys bezeichnet haben.“ „Ich hasse dieses Wort“, meinte Landis gedankenverloren. Ihm war selbst nicht bewusst, ob er damit Held oder Rowdy meinte. Womöglich hasste er einfach beide Wörter. Früher war ihm zumindest das Letztere immer ein Dorn im Auge gewesen, nachdem er endlich die Bedeutung begriffen hatte. Ja, er und Nolan waren oft anderen auf die Nerven gegangen oder hatten Unruhe gestiftet, aber doch nicht, um Krawall zu machen. Sie waren jung gewesen, das Leben lag damals vor ihnen, sie wollten einfach etwas erleben. Darum waren sie auch Kavalleristen geworden. Tief in Gedanken versunken starrte er wieder das Glas an, das vor ihm auf dem Tisch stand. Die goldene Flüssigkeit darin schien ihn mit ihrer Köstlichkeit zum Trinken verführen zu wollen; doch der nachlassende Schaum obenauf zerstörte die Illusion und sagte ihm, dass es nur langsam Zeit wurde, bevor das Getränk schal schmecken würde. Er wusste nicht einmal mehr, wie lange dieses eine Glas schon vor ihm stand. Von seinen eigenen Gedanken abgelenkt, bemerkte er nicht, dass Nolan ihn ungewohnt ernst ansah. Erst als die Kellnerin diesem sein Getränk brachte, wurde Landis sich wieder seiner Umgebung bewusst und erwiderte den Blick seines Freundes fragend. Der Kavallerist bemühte sich sofort zu lächeln, doch es wurde mehr eine Grimasse, in der deutlich Sorge und Verwirrung zu erkennen war. „Du hast dich ziemlich verändert, Lan.“ Er konnte nicht anders, als bei diesem Satz leise zu lachen, was Nolans Miene wieder in Ratlosigkeit stürzte. „Habe ich was Witziges gesagt?“ „Das passt einfach so gar nicht zu dir“, erklärte Landis lächelnd. „Im Moment erinnerst du mich eher an Kenton.“ Seufzend hob Nolan die Schultern. „Ach, da werd ich einmal ernst und schon nimmt mich keiner mehr ernst, welch Ironie.“ Landis lachte erneut. „Das ist dein Schicksal, No. Du wirst für immer derjenige sein, der uns alle zum Lachen bringt.“ Das zufriedene Lächeln kehrte auf Nolans Gesicht zurück. „Immerhin etwas, das ich machen kann.“ Er hob sein Glas. „Wie wärs? Wollen wir mal wieder zusammen trinken? So richtig? Ist schon ne Weile her seit dem letzten Mal – und damals hast du dich auch nur betrunken, um die Hochzeit verschmerzen zu können.“ Für einen kurzen Moment zog er seine Stirn kraus, aber es verschwand sofort wieder, ohne das Lächeln verschwinden zu lassen. „Also?“ Eigentlich wollte Landis ablehnen, aus Furcht, mal wieder jegliches Maß zu verlieren, aber die Nostalgie umhüllte immer noch seinen Verstand, so dass er ebenfalls sein Glas hob. „Worauf warten wir dann noch?“ Landis konnte beim besten Willen nicht sagen wie spät es war oder wie viele Gläser sie getrunken hatten, als sie schließlich mitten in der Nacht aus dem Restaurant stolperten. Da keiner von beiden noch aufrecht gehen konnte, stützten sich beide gegenseitig auf ihrem Weg die Straße entlang. „U-un' weissu, desweschen is Fredi der schlechteschte un beschte Komm-dingsda“, erklärte Nolan lallend. „Kommdantat?“, versuchte Landis ihm zu helfen. „Naaah, anderster“, erwiderte Nolan. „Ach, morgen weiß isch es wieda...“ Beide begannen schallend zu lachen, bevor sie sich gleichzeitig daran erinnerten, dass sie leise sein sollten. Sie legten beide einen Finger an die Lippen. „Shhhhh!“ Im Augenblick fürchtete Landis tatsächlich von der Stadtwache erwischt und nach Hause geführt zu werden. Sein Vater wäre mit Sicherheit nicht sehr begeistert. Dass er inzwischen volljährig war und keinen Ärger mehr zu befürchten hatte, kam ihm dabei nicht in den Sinn. „Wo wohnsu nochmal?“, fragte Nolan plötzlich. Landis hob die Hand, um in eine bestimmte Richtung zu weisen, doch es endete damit, dass er in alle möglichen zeigte. „Isch hab keine Ahnung~“ „Dann kommsu middsumir!“, entschied Nolan kurzerhand. Landis wollte fragen, ob er denn wüsste, wo er selbst wohnt, doch seine Zunge spielte da nicht mit, so dass er nur den Daumen heben konnte, um zu zeigen, dass er einverstanden war. Sein Vater erwartete ihn ohnehin nicht. Stolpernd schafften sie es schließlich zu Nolan nach Hause. Wenn sich nicht plötzlich alles um Landis zu drehen begonnen hätte, wäre es sicherlich interessant gewesen, sich umzusehen. So aber war er froh, dass er es zumindest bis zum Bett schaffte, in das er sich sofort fallenließ. Träge streifte er seine Schuhe ab, bevor er sich unter die Decke verkroch. Nolan zog seine Schuhe zuerst aus, bevor er sich ebenfalls ins Bett legte. Zum Ausziehen waren beide bereits zu müde und außerdem war es aus Erfahrung für die beiden ziemlich schwer, in dem Zustand noch großartig etwas zu tun, selbst geradeaus laufen war ein anstrengender Akt. Landis schmunzelte, als er daran dachte, wie sie früher oft zusammen in einem Bett oder auf dem Boden daneben geschlafen hatten. Quasi jede Feier war damit ausgeklungen. In manchen Nächten waren auch Kenton und Oriana dabei gewesen. Ein sehnsuchtsvolles Seufzen entfuhr ihm bei diesem Gedanken. Wie schön war doch die damalige Zeit gewesen. Nolan lachte leise. „Ach, das mit Ria wird scho' irgenwee.“ Warum dachte er nur, dass dieses Seufzen Oriana galt? Wenngleich sie natürlich eine sehr wichtige Rolle in den verantwortlichen Erinnerungen spielte. „Ja, sischer~“, stimmte Landis seinem Freund zu. So negativ wie er sonst eingestimmt war, so positiv fühlte er sich durch den Rausch des Alkohols. Alles würde irgendwie gut werden, da war er sich ganz sicher. Obwohl er unendlich müde war, gab es etwas, was Landis seinem besten Freund unbedingt sagen musste. Er hasste es Geheimnisse vor ihm zu haben, das war schon früher nie gutgegangen, besonders wenn er betrunken war. Wäre er das nicht, würde er all seine Willenskraft zum Schweigen aufbringen, aber der nebelhafte Vorhang, der seine Gedanken umgab, ließ ihn alle Vorsätze und Bedenken vergessen. Egal, was er tat, sein bester Freund würde ihn schon verstehen und ihm vergeben, nicht wahr? „No~ Ich muss dir was gaaaaanz Wichtiges, äh, sagen, ja~“ „Wass'n?“, fragte Nolan bereits im Halbschlaf. „Kennsu Sicarius Vita?“ Die Frage war zwar überflüssig, da er sich selbst sehr gut daran erinnerte, dass sie sich bereits darüber unterhalten hatten, aber in seinem derzeitigen Zustand wusste er nicht, wie er das Thema sonst aufgreifen sollte – außerdem würde Nolan es so auch am besten verstehen. „Mh-hm~“, antwortete der Gefragte. „Ich gehör da auch dassu~“ Mit angehaltenem Atem erwartete er die Reaktion, die ganz anders ausfiel, als er erwartet hätte. Statt schlagartig wieder wach zu werden und ihn danach auszufragen, lachte Nolan amüsiert. „Uh-huh~ Und ich bin Fredis Affäre, schon klar. Schlaf endlich, Lan~“ Wahrscheinlich war es besser, dass er es für einen Scherz hielt, auch wenn es die Wahrheit war. So müsste Landis zumindest kein schlechtes Gewissen mehr haben, dass er es vor ihm verheimlichte. Was könnte er dafür, dass Nolan ihn nicht ernstnahm? „'N Nacht~“, sagte Landis, während er sich tiefer ins Bett kuschelte. Zur Antwort bekam er nur ein leises Brummeln, das ihm sagte, dass Nolan bereits kurz davor war, endgültig einzuschlafen. Der junge Page lächelte selig und schloss die Augen. Es war angenehm, zu wissen, dass in all den Änderungen, die um ihn herum geschahen, es immer Dinge gab, die stets eine angenehme Konstante bildeten. Dinge, die wohl immer gleich bleiben würden, egal wieviel Zeit verging und damit Sicherheit verhießen. Von dieser wohligen Erkenntnis beseelt, dauerte es nicht lange, bis ihn wohltuende Ruhe erfüllte und er schließlich in einen erholsamen tiefen Schlaf fiel. Liebe, die in den Sternen steht ------------------------------- Auf den ersten Blick schien der Auftrag wirklich leicht. In die Stadt rein, dort das Haus des Bürgermeisters suchen, einsteigen, das Juwel klauen und wieder abhauen. Jap, wirklich leicht, fast schon lächerlich einfach, Cherrygrove verfügte nicht einmal über Mauern. Das war schon regelrecht langweilig. Ein Grund, warum ich so gern meine Aufträge ausführte, war die Herausforderung. Hier sah ich allerdings keine. Die einzige Herausforderung wäre wohl ich selbst, wenn ich mir wieder im Weg stehen würde. Das tat ich ab und an ganz gerne, wenn ein Auftrag zu leicht war. Jeder andere Söldner wäre wohl froh über einen so einfachen Weg, Geld zu verdienen, ich dagegen... nein, ich, Asterea, die Meisterdiebin, wollte die Herausforderung! Leider suchte ich diese meist vergebens. Lag es daran, dass ich eine Nymphe war? Oder daran, dass ich in den Sternen die Zukunft sehen konnte? Wobei, die beiden Punkte hingen wohl zusammen. Vielleicht war es in der Menschenwelt nicht so vorteilhaft, die Zukunft zu kennen. Ich war allen einen Schritt voraus und das machte mein Leben langweilig. Den anderen Naturgeistern ging es da wirklich besser. Das einzige, was einen in Cherrygrove von einem Diebstahl abhalten konnte, waren die Stadtwachen. Tagsüber patrouillierten zwei von ihnen die Stadt, nachts ganze vier. Sie hielten sich für unsagbar schlau, doch ihr Bewegungsmuster war so einfach zu durchschauen, selbst wenn man nicht in die Zukunft sehen konnte, aber es war trotzdem ein Vorteil. Von einem sicheren Punkt aus – der Baumkrone eines weit genug entfernten Kirschbaums – beobachtete ich den Stadtrand, während ich überlegte, wie ich mich am besten einschleichen sollte. Es gab insgesamt nur vier Straßen, so dass eine Wache immer auf einer entlanglief. Unbeobachtet kam man wohl nur durch die Stadt, wenn man sich auf den Dächern fortbewegte. Allerdings spielte ich mit dem Gedanken, mich tatsächlich auf der Straße einzuschleichen. Das wäre mit Sicherheit ein hübscher Nervenkitzel. Doch ich beschloss, auf Nummer sicher zu gehen. Eine Verfolgungsjagd konnte ich mir mit den Wachen liefern, wenn ich das gewollte Juwel in der Hand hielt. Aber darauf freute ich mich schon besonders. In freudiger Erwartung begann ich leise zu summen, wie vor jeder Mission band ich mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, damit es mir nicht in der ungünstigsten Situation ums Gesicht flog und mir sogar die Sicht nahm. Ja, das war mir wirklich mal passiert. Bei dem Gedanken an den Sturz, der darauf gefolgt war, brummte mein Kopf immer noch. Im Wind wehendes Haar war eben nur für Heldenposen zu gebrauchen und nicht für alles andere. Zu schade, das sah nämlich unheimlich gut aus. Als die Wache sich wieder aus meinem Blickfeld entfernte, legte ich los. Geräuschlos ließ ich mich zu Boden gleiten und rannte in Richtung Stadt. Elegant wie eine Katze kletterte ich dort am ersten Gebäude hinauf, bis ich auf dessen Dach wieder innehielt. Mein Blick nach unten verriet mir, dass die nächste Wache mich nicht bemerkt hatte. Was anderes war aber auch nicht zu erwarten gewesen. Zufrieden mit mir selbst, klopfte ich mir auf die Schulter. Geschmeidig setzte ich meinen Weg über die Dächer fort. Da der Auftrag sich ohnehin von selbst erledigen würde, erlaubte ich meinen Gedanken, abzuschweifen. Es musste nun zwei Jahre her sein, seit ich mich als Söldnerin verdingte, um aufregende Abenteuer zu erleben. Als Nymphe lebte man gemütlich, aber das war mir zu wenig. Eine Einstellung, die meine Schwestern zwar nicht teilen konnten, aber zumindest respektierten. Mir machte es Spaß, auch wenn mir aufgrund meiner Fähigkeiten eben die besondere Herausforderung fehlte. Dafür geschahen manchmal die außergewöhnlichsten Sachen, die ich nicht vorhersehen konnte. So auch dieses Mal. Während ich noch in Gedanken versunken war, spürte ich plötzlich, wie ich den Boden unter den Füßen verlor. Mit einem erschrockenem Schrei fiel ich in die Tiefe. Katzen schafften es, sich im Flug zu drehen, um auf den Beinen zu landen, mein Körper allerdings drehte sich so, dass ich mit dem Rücken aufschlagen würde. Ich hatte keine Angst, zu sterben. Naturgeister waren nie lange tot, sie wurden innerhalb kurzer Zeit wiedergeboren, mit einigen Einschränkungen. Aber ich fürchtete mich vor dem Schmerz. Selbst wenn er nur für den Bruchteil einer Sekunde anhalten würde, so blieb selbst nach meiner Reinkarnation die Erinnerung daran und das war das Schreckliche. So dauerte der Fall in meiner Vorstellung doppelt so lang – doch der Aufprall blieb glücklicherweise aus. Der Sturz stoppte, ohne dass ich Erde unter mir spüren konnte. Verwirrt blinzelte ich, um meinen Blick wieder zu klären und zu erfahren, was geschehen war. Schließlich sah ich in das Gesicht eines entgeistert dreinblickenden Mannes. Er hatte mich aufgefangen, was wahrscheinlich nur ein Reflex gewesen war, aber für mich war er in diesem Moment ein Held, immerhin bewahrte mich das vor furchtbaren Schmerzen. Interessanterweise war das aber nicht das einzige, was mir in diesem Moment durch den Kopf – nein, durch meinen ganzen Körper – ging. Ein flaues, aber wohltuend warmes Gefühl entstand in meinem Bauch, vor meinem inneren Auge konnte ich Bilder sehen, wie bei meinen Visionen. Ich war mir zwar nicht sicher, ob diese Erscheinungen durch die Sterne oder durch diese Tat kamen, aber jede einzelne gefiel mir äußerst gut. Bislang hatte ich mich zwar nicht als liebende Ehefrau gesehen, aber das sah mir immerhin nach einer schönen Aufgabe aus. Man wurde geliebt, hatte jemanden, den man lieben konnte... Ja, vielleicht war es genau das, was ich eigentlich suchte. Von dem Gedanken und dem Wunsch beseelt, mich in diesen Mann zu verlieben, um das auch mal auszuprobieren, musterte ich ihn genauer. In den Augen einer normalen Frau wäre er wohl ein durchschnittlicher Kerl mit seinem braunen Haar und den gleichfarbigen Iriden, aber für mich war er mein Retter in der Not. Trotz der tiefsten Dunkelheit schien die Sonne für mich aufzugehen, ich wollte ihn heiraten und für immer bei ihm bleiben, ihm einfach mal mein Herz schenken. Mir wären wohl noch mehr kitschige Dinge eingefallen, aber dieser Idiot tat etwas absolut Unromantisches: Er ließ mich fallen! Was sollte das? Erst fing er mich auf und dann ließ er mich doch zu Boden fallen. Aber immerhin waren die Schmerzen in meinem Hintern erträglicher, als jene, die mir zugestoßen wären, wäre mein Sturz nicht gebremst worden. Ich hob den Blick und bemühte mich, besonders empört auszusehen. „Was soll das?“ „Eine Frau fällt nachts von einem Dach“, sagte er bedächtig. „Was bedeutet das wohl?“ Abfällig blickte er auf mich herab, was es mir äußerst schwer machte, meine Verliebtheit aufrecht zu erhalten. Dennoch setzte ich ein unschuldig-fragendes Gesicht auf. „Keine Ahnung?“ „Du bist eine Diebin, stimmts? In der letzten Zeit hatten wir öfter Probleme mit solchen.“ Aha, darum die ganzen Wachen und daher auch der hohe Preis für diese eigentlich so leichte Mission. Ich hätte misstrauisch werden müssen, aber immerhin lernte ich so meinen... meinen... wie hieß mein zukünftiger Ehemann eigentlich? Da er mir nicht helfen wollte, stand ich aus eigener Kraft wieder auf. „Ich bin Asterea.“ Das beantwortete seine Frage zwar nicht, brachte ihn aber vielleicht dazu, mir auch seinen Namen zu verraten. Allerdings ließ er sich nicht so leicht überrumpeln. Überheblich sah er mich immer noch an. Da er einen Kopf größer war, als ich, konnte er immer noch auf mich herabsehen. Ich fühlte mich davon allerdings nicht eingeschüchtert, nein, es gefiel mir. „Was interessiert mich der Name einer Diebin?“, erwiderte er forsch. Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass man seine Frau nicht als Diebin bezeichnete, aber er ahnte ja noch gar nichts von seiner glücklichen Zukunft mit mir. „Behandelt man so eine Dame?“, stellte ich die Gegenfrage. Ihm entfuhr ein genervtes Seufzen. „Damen klettern nicht über Dächer.“ „Doch! Wenn es brennt schon.“ Mir fiel selbst auf, wie bescheuert diese Aussage war – aber leider erst nachdem ich sie laut ausgesprochen hatte. Immerhin entlockte ich ihm damit aber ein leichtes Schmunzeln. Awww, ich wollte ihn küssen! Bedauerlicherweise wurde sein Blick sofort wieder ernst. „Genug geplaudert. Du bist wegen versuchtem Diebstahls festgenommen.“ Hastig wich ich seiner nach mir greifenden Hand aus. „Kannst du nicht mal ein Auge zudrücken?“ Ich schenkte ihm mein süßestes Lächeln, doch es musste einfach zu dunkel sein, denn er sprang nicht darauf an. „Das ist nicht möglich.“ Er griff noch einmal nach mir, ich sprang zurück – und geriet ins Sichtfeld der anderen drei Wachen. Glücklicherweise hatte keiner von ihnen meinen Sturz miterlebt, so dass die drei mich erst einmal nur perplex ansahen, als ob sie sich fragen würden, wer ich sei. Mein Liebling trat ebenfalls ins Sichtfeld seiner Kollegen, einer wandte sich ihm zu und so erfuhr ich endlich seinen Namen! „Richard, ist das schon wieder eine Diebin?“ Richard~ Der Name zerging einem quasi auf der Zunge, ich liebte ihn. Es brach mir fast schon das Herz, als er zustimmte und die anderen aufforderte, mich festzunehmen. Offenbar wurde es früher als beabsichtigt Zeit, mir eine Verfolgungsjagd mit den Wachen zu liefern. Zwar ohne Beute, aber die konnte ich mir auch noch ein andermal holen. Dann würde ich auch gleich meinen zukünftigen Mann wiedersehen, darauf freute ich mich bereits, obwohl ich ihm augenblicklich noch gegenüberstand. Lächelnd verabschiedete ich mich von ihm, versprach ihm, ihn bald wieder zu besuchen, was er mit einem konfusen Blick zur Kenntnis nahm, dann fuhr ich herum und lief hastig davon. Es dauerte einen kurzen Moment, in dem die anderen sich unentschlossene Blicke zuwarfen, doch schließlich entschieden sie sich tatsächlich dazu, mir zu folgen. Natürlich war es da bereits viel zu spät. Niemand holte mich ein, wenn ich erst einmal dabei war, wegzurennen. Zumindest kein Mensch. Zufrieden beobachtete ich von meinem Versteck aus, wie die Sonne aufging. Die Mission war zwar nicht gut ausgegangen, aber immerhin spürte ich in meinem Inneren endlich ein angenehmes Kribbeln, das ich immer hatte erleben wollen. Was tat Richard wohl gerade? War er frustriert, dass er mich nicht hatte verhaften können? Ging er gerade ins Bett? Dachte er vielleicht sogar ein ganz klein wenig an mich? Immer wieder rief ich mir die Visionen von mir und Richard ins Gedächtnis. Sie waren warm und versprachen sowohl Heimat als auch Abenteuer, ein schöner Traum. Ich wusste noch nicht, wie es dazu kommen sollte, aber auf das, was die Sterne mir sagten, war Verlass, das war sicher. Nun musste ich dem Ganzen nur noch ein wenig nachhelfen. Zwar besaß ich keinerlei Erfahrung in solchen Dingen, aber ich würde einfach das tun, was ich am besten konnte. Dann konnte doch nichts schiefgehen. Ich, Asterea, die Meisterdiebin würde also meinen größten Coup angehen: Ich würde das Herz eines Mannes stehlen. Gespräche über Gott und die Welt -------------------------------- Blond. Die Strähnen waren blond. Genervt pustete Landis sie aus seinem Blickfeld, doch sie fielen sofort wieder in ihre alte Position zurück. Wenigstens hatte es nur einige Strähnen erwischt, Yarahs Plan waren ursprünglich sein ganzes Haar gewesen. Aber warum musste es unbedingt blond sein? Seine Mutter war blond gewesen, ja, aber es war nie sein Wunsch gewesen, ihr nachzueifern. Braune Haare waren, zumindest in seinen Augen, doch so viel besser, besonders wenn es darum ging, was ihm stand und was nicht. Außerdem nahm er es der Puppenspielerin nicht ab, dass sie ihn damit nur verfremden wollte, damit man ihn nicht erkennt. Stattdessen war er sich sicher, dass er nur als Versuchskaninchen missbraucht worden war. So ganz traute er ihren seltsamen Experimenten nicht, aber er konnte ihr das auch nicht sagen. Sie behauptete zwar immer, dass er die wichtigste Person bei Sicarius Vita war, aber wenn das so war, warum nutzte sie ihn dann als Versuchsobjekt? Und warum schickte sie ihn nach Monerki in dieses seltsame Dorf? Auch wenn er zugeben musste, dass es äußerst hübsch und friedlich war. Die ruhige Atmosphäre, die über allem lag, war Balsam für seine Seele. In Old Kinging gab es jeden Tag wegen irgendetwas Stress, das war wohl der Nachteil, wenn man mit so vielen Frauen und Mädchen zusammenwohnte. Früher hatte Landis geglaubt, Hahn im Korb zu sein wäre der ideale Zustand, aber inzwischen wusste er, dass es mehr negative als positive Seiten gab. Aber hier in Germe konnte er ausatmen und sich entspannen ohne fürchten zu müssen, dass im nächsten Moment wieder ein Kreischen aus irgendeiner Ecke erklingen würde. So verbrachte er seit seiner Ankunft seine Zeit auf einer Bank an einem Fluss, dessen Quelle er nicht sehen konnte. Aber wen interessierte schon eine Quelle? Das Gesicht gen Sonne gerichtet, hielt er die Augen geschlossen, um die wärmenden Strahlen zu genießen. Wieviel Zeit vergangen war, wusste er nicht, aber plötzlich spürte er, wie sich ihm jemand näherte. Er öffnete seine Augen, als er ein leises Klicken hörte und wurde von einem hellen Lichtstrahl geblendet. Erschrocken zuckte er zusammen. Als die flimmernden Punkten vor seinen Augen wieder verschwanden, konnte er endlich wieder etwas erkennen. Ein junges Mädchen stand vor ihm, einen seltsamen grauen Apparat in der Hand. Landis konnte sich nicht erinnern, so etwas schon einmal gesehen zu haben, aber der Blitz war eindeutig davon gekommen. Das Mädchen kicherte leise. „Toll, was? Den hab ich gefunden. Al sagt, er kommt von drüben.“ Landis neigte den Kopf. So wie sie das sagte und dieser Apparat aussah, konnte er aus keinem ihm bekannten Land sein. So wie sie das „drüben“ betonte, musste es sogar eine andere Welt sein. Seine Mutter hatte ihm oft davon erzählt, dass es neben dieser auch noch mindestens eine andere Welt gab, die allerdings nicht betretbar war. Es war das Reich der Dämonen, das allerdings sorgsam von Naturgeistern versiegelt worden war. Bislang war es ihm allerdings schwer gefallen, das alles zu glauben, trotz all der Geschichten über diese Welt, die Asterea zu erzählen gewusst hatte. Es war einfach alles zu... seltsam und seine Mutter war stets für ihre lebhafte Fantasie bekannt gewesen – außerdem hatte er damals nicht gewusst, dass sie ein Naturgeist war, aber selbst heute erschien ihm alles wie ein Märchen. Künstliche Lichter, die nachts die Straßen erhellten, Türen, die sich von selbst öffneten und kleine Räume, die selbstständig Stockwerke wechselten... Wenn er so darüber nachdachte... nein, auch dieser Apparat überzeugte ihn nicht von der Existenz des Dämonenreich. Vielleicht stammte es auch von einem exzentrischen Wissenschaftler dieser Welt, von denen gab es immerhin auch hier genug. Wer brauchte da schon andere Welten? „Und?“, hakte Landis nach. „Glaubst du, dass er von drüben kommt?“ Sie nickte heftig, ihr rotblondes Haar flog dabei durch die Gegend. „Wenn Al das sagt, dann wird es auch so sein.“ Er kam nicht umhin, sich zu fragen, wer dieser Al wo war – oder diese. Die Antwort bekam er allerdings, ohne die Frage laut zu stellen. Ein lautes Poltern lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine leise jammernde Gestalt, die auf dem Boden lag, umgeben von mehreren Büchern. Das Mädchen setzte einen mitleidigen Gesichtsausdruck auf. „Oh, Al~ Tut mir Leid~“ Die Person richtete sich auf und schob seine Brille zurück. Er seufzte leise, bevor er seine honigfarbenen Augen öffnete. „Ich dachte, du wolltest mir helfen, Rose.“ „Ja~“, sagte das Mädchen ausweichend. „Aber dann habe ich das hier gefunden.“ Sie wedelte mit dem Apparat, mit dem sie Landis auch überrascht hatte. Al schüttelte seufzend mit dem Kopf. „Deine Aufmerksamkeitsspanne ist geringer als die eines Kaninchens.“ „Owww~ Das war gemein~“ Landis lachte leise, Al sah zu ihm hinüber. „Ah, tut mir Leid. Mir war gar nicht aufgefallen, dass du dich mit jemandem unterhältst, Rose.“ Al musterte seinen Gegenüber eine Weile, bevor er einen Mundwinkel nach oben zog. Landis fürchtete für einen Moment, doch als Mitglied von Sicarius Vita erkannt worden zu sein, obwohl er nicht einmal wusste, ob man die Gruppe hier überhaupt kannte. Doch als er weitersprach, entspannte der junge Mann sich wieder: „Es ist lange her, seit wir hier einen Besucher hatten. Ich hoffe, Rose machte keinen Ärger.“ Lächelnd schüttelte Landis mit dem Kopf. „Keine Sorge.“ – Er verzichtete darauf, zu erwähnen, dass sie ihn mit diesem Blitz geblendet hatte – „Ich bin Landis.“ Sein Gegenüber sah ihn erst erstaunt an, offenbar war er es nicht gewohnt, dass man sich ihm einfach so vorstellte. Doch er fasste sich schnell wieder und lächelte leicht. Es war nur ein knappes Hochziehen der Mundwinkel, das man kaum wirklich als Lächeln bezeichnen konnte, aber für den friedlichen Landis wirkte es doppelt so intensiv. „Mein Name ist Alphons. Das hier ist Rose.“ Er deutete zu dem Mädchen hinüber, das inzwischen tatsächlich seine Aufmerksamkeit etwas anderem zugewandt hatte. Alphons seufzte. „Sage ich doch: Eine geringere Aufmerksamkeitsspanne als ein Kaninchen.“ Fahrig ging er sich mit einer Hand durch das lange grüne Haar, bemerkte, dass es nicht mehr richtig saß und machte sich daran, seinen Pferdeschwanz zu richten. Landis kam nicht umhin, bei dieser Haarfarbe an Vita zu denken. Aber der Gedanke, dass dieser junge Mann möglicherweise ein Sohn der Sylphe sein könnte, kam ihm doch zu abwegig vor. Außerdem wäre sie dann doch menschlich geworden, oder? Und das war sie definitiv nicht. Schließlich fiel Alphons wieder auf, dass die Bücher alle noch auf dem Boden lagen. Leise klagend kniete er sich hin, um sie aufzuheben. Landis zögerte nicht lange und half ihm dabei. Der junge Mann bedankte sich seufzend, allgemein schien er leicht genervt zu sein, aber Landis' Menschenkenntnis sagte ihm, dass das wohl ein Standardzustand bei ihm war. „Wie kommt es, dass es hier so wenig Besucher gibt?“, fragte er neugierig. Es war ein so wundervolles und friedliches Dorf, dass es Landis schwerfiel, sich vorzustellen, dass es hier wirklich so wenige Besucher gab. Zwei Tage Entspannung hier waren sicherlich effektiver, als zwei Wochen im eigenen Heim. In Király gab es weit und breit kein solches Dorf. Alphons hob ratlos die Schultern. „Das wundert mich auch. Besonders da wir das einzige Wohngebiet in Monerki sind, das eine Verbindung zu einer anderen Welt aufweisen kann.“ Mit Mühe konnte Landis ein Lachen unterdrücken, doch Alphons fiel es dennoch auf: „Ah, du glaubst nicht an so etwas?“ „Kein Stück“, bestätigte er. „Es klingt einfach zu... äh, seltsam.“ „Das denken wohl viele, die es nie selbst gesehen haben.“ Die Frage, ob er es denn sehen dürfe, lag Landis auf der Zunge, doch er sprach sie nicht aus. Sein Zweifel sagte ihm, dass er gar keinen Beweis sehen wollte, aber seine Neugier wollte das genaue Gegenteil. „Vielleicht solltest du es sehen“, schlug Alphons vor. „Ich könnte es dir nachher zeigen, als Dank für deine Hilfe hier.“ „Sehr gern~“ Die Neugierde jubilierte innerlich, während der Zweifel sich schmollend in eine Ecke zurückzog, immer noch darauf bestehend, dass es keinen vernünftigen Beweis geben würde. Ein besonders dickes Buch erregte Landis' Aufmerksamkeit. Neugierig sah er es sich genauer an. „Die Schriften von Kreios? Wer ist Kreios?“ „Du kommst nicht aus Monerki, oder?“, erwiderte Alphons mit einer Gegenfrage. Landis schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich bin in Király aufgewachsen.“ „Mhm, kein Wunder.“ Alphons schnalze mit der Zunge. „Soweit ich weiß, wird dort nur der Glauben an die Naturgeister gelehrt. Diese wurden damals von Kreios erschaffen, um ihm bei der Erstellung dieser Welt zu unterstützen.“ Das war neu für Landis, obwohl seine Mutter ein Naturgeist gewesen war. Yarah und Aurora hatten ihm auch nie etwas von Kreios erzählt. Gab es einen Grund, warum sie ihn verschwiegen? „Doch als der Glauben an ihn schwand, wandte Kreios sich gegen die Menschen“, fuhr Alphons fort. „Und damit brachte er die Naturgeister, seine eigenen Diener, gegen sich auf.“ Möglicherweise redete deswegen keiner von ihnen über diesen Mann. „Sie sperrten seine Seele in einen Kristall – und seitdem ist der Glaube an die Naturgeister verbreitet, während der an Kreios langsam verschwindet.“ Das war ein eindeutiger Grund, warum keine von ihnen über ihn redete. Sicherlich dachten sie nicht so gern an diese Zeit zurück. Gegen ihren eigenen Herrn und Schöpfer vorzugehen musste ihnen allen wie der größte Verrat vorgekommen sein. Ob das die ominöse Tat von Vita war, über die weder Yarah noch Aurora sprechen wollten? „Du weißt ziemlich viel darüber“, sagte Landis anerkennend. Alphons schenkte ihm ein kurzes, echtes Lächeln, bevor sein Gesichtsausdruck wieder zu den verzogenen Mundwinkeln zurückkehrte. „Das liegt in der Natur der Sache. Ich studiere die Geschichte dieser Welt.“ „Und so ziemlich alles andere, was es gibt.“ Rose wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch zu. „Al erforscht alles und jeden. Im Moment macht er das auch bestimmt mit dir.“ Landis schmunzelte. „Da wird er nicht viel zu forschen haben.“ „Das denkst du“, sagte sie altklug. „Er kann mehr in deinem Gesicht sehen, als du selbst von dir weißt.“ Bevor er ihre Worte wirklich verarbeitet hatte und sich Sorgen machen konnte, schüttelte Alphons seufzend den Kopf. „Übertreib doch nicht, Rose. Ich weiß ein wenig über Mimik, aber nicht genug, um völlig Fremde vollständig einschätzen zu können.“ Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er schnitt ihr das Wort ab: „Deine Aktionen stehen dir stets in leuchtenden Lettern auf die Stirn geschrieben, dafür muss man nichts lernen.“ Schmollend schloss sie ihren Mund wieder, doch nach ein paar Sekunden öffnete sie ihn erneut, um etwas zu fragen und gleichzeitig das Thema zu wechseln: „Al, wie kann ich die Bilder ansehen?“ „Bilder?“, fragte Landis neugierig. Alphons hob das letzte Buch hoch und stand auf, genau wie er. Bevor der Gelehrte antwortete, setzte er sich in Bewegung und bedeutete Landis, ihm zu folgen, was dieser auch gleich tat. Rose folgte den beiden Männern eilig. „Der Apparat“, begann Alphons, „den Rose mit sich herumträgt, wird in seiner Herkunftswelt als Kamera bezeichnet.“ Chamära?, überlegte Landis. Was für ein seltsamer Name... „Ihr Zweck ist es, mittels bestimmter Techniken Bilder anzufertigen.“ „Wie ein Maler?“, hakte Rose nach, der es ein wenig schwerfiel, mit den beiden Schritt zu halten. Alphons lief ein wenig langsamer, damit sie nicht mehr rennen musste. „So in etwa. Du brauchst jemanden, der das Bild entwickeln kann.“ „Entwickeln?“, kam es unisono aus den Mündern von Landis und Rose. Der Gelehrte seufzte erneut, aber diesmal klang es äußerst amüsiert. „Das ist zu kompliziert, um es zu erklären. Jedenfalls kannst du das nicht ohne Weiteres hier tun.“ Enttäuscht ließ Rose den Kopf hängen, doch schon im nächsten Moment besserte sich ihre Laune wieder und sie begann erneut, den Apparat zu benutzen, als ob es die Erklärung eben nicht gegeben hätte. Landis neigte den Kopf. „Du studierst also diese Welt, aber über die andere scheinst du auch einiges zu wissen.“ Alphons nickte zögernd. „Das stimmt nicht ganz. Über die meisten Dinge weiß ich nicht Bescheid, diese technischen Spielereien sind nur mein Steckenpferd.“ „Ah, verstehe~“ Landis hatte noch nie jemanden getroffen, der sich für so etwas interessierte, weswegen er auch nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Ihm selbst war das alles zu fremd, aber seine Neugierde auf dieses Tor wurde immer stärker. Alphons führte ihn in das größte Haus des Dorfes, das als Bibliothek zu dienen schien. Regale voller Bücher, auch wenn in einigen Lücken waren, reihten sich an den Wänden entlang, eine Leiter lehnte an einem dieser Möbelstücke. In Cherrygrove gab es ebenfalls eine Bibliothek, genau wie in Old Kinging – Landis hatte allerdings noch keine von beiden besucht, weswegen er staunend all die Bücher betrachtete. Es schien ihm fast, als wären das alle, die es in der Welt gab, allein der Gedanke, dass noch viel mehr existierten, sorgte dafür, dass sich alles um ihn herum drehte. Landis stellte die Bücher auf einem Tisch ab und machte eine ausholende Handbewegung, die alle Regale mit einschloss: „Hast du die alle gelesen?“ Alphons lachte amüsiert. „Nein, dafür sind es zu viele. Aber einen Teil davon.“ Er deutete auf das Regal, das am Entferntesten stand. Es war auch das einzige, in dem keine Bücher fehlten, alles lückenlos geschlossen war. Allerdings waren die Ausgaben deutlich sichtbar eingestaubt, während die anderen fast schon peinlich genau gepflegt wirkten. Doch selbst das eine Regal war so riesig, dass Landis sich plötzlich klein und dumm fühlte. Wenn er wieder in Old Kinging wäre, würde er auch mehr lesen, beschloss er innerlich. Bislang war er nicht sonderlich begeistert gewesen von dem Gedanken ans Lesen, aber Alphons' nicht zu dick aufgetragene Belesenheit, gefiel ihm äußerst gut. So ähnlich wollte er auch sein, auch wenn er dafür erst selbst lesen musste. Die Zeit dafür besaß er ja im Überfluss. Alphons bedankte sich noch einmal bei ihm. „Ich wäre froh, wenn ich öfter Hilfe hätte.“ „Rose scheint wohl nicht so zuverlässig zu sein.“ Automatisch sahen beide zu dem Mädchen hinüber, das ihnen den ganzen Weg gefolgt war und nun neugierig die ganzen Bücher betrachtete, als wäre es das erste Mal. „Sie ist ein gutes Mädchen“, sagte Alphons schließlich. „Aber auch noch sehr jung, es ist natürlich, dass sie andere Dinge im Kopf hat, als jemandem wie mir zu helfen.“ Die Art, wie er über sich selbst sprach und dabei sein Gesicht verzog, verriet, dass er eine äußerst unangenehme Stellung im Dorf innehatte, warum auch immer. Den einzigen Außenseiter, den Landis kannte, war Frediano, aber dessen ekelhaftes, arrogantes Verhalten gegenüber anderen war der eindeutige Grund dafür. Alphons dagegen schien ihm zwar ein wenig eigen, aber nicht auf eine derart schlimme Art und Weise. Allerdings wusste Landis natürlich nicht, wie die anderen sich im Dorf untereinander verhielten, so konnte er also nicht sagen, woran es lag. „Ich werde mich später um die Bücher kümmern, willst du jetzt das Tor sehen?“ Landis nickte lächelnd. „Ja, bitte.“ Sie verließen die Bibliothek wieder, gemeinsam mit Rose, die sich ihnen ohne jede Aufforderung anschloss. Alphons kommentierte es nicht, er schien das gewohnt zu sein. Landis schmunzelte, als er das Mädchen gedanklich mit einem Hund verglich, der einem auf Schritt und Tritt folgte. Die Gruppe lief zu einer Felswand, die sich am Rand des Dorfes befand. Sie gehörte zu einer Bergkette, an die sich die Siedlung schmiegte, aber das Gestein war nicht schroff, die Wand fiel glatt ab, als ob sie so lange bearbeitet worden wäre, bis keine Unebenheit mehr zu sehen gewesen war. Das Wasser des Flusses lief aus einer großen blitzförmigen Öffnung mitten im Fels, die groß genug zu sein schien, um Menschen einzulassen. Landis' Aufregung wuchs, während sie darauf zugingen und erreichte einen Höhepunkt, als er das Innere des Berges betrat. Sonnenstrahlen fielen durch mehrere, kaum sichtbare Löcher hoch über ihnen und beleuchtete die Höhle so notdürftig. Es war nicht genug, um Details zu erkennen, aber ausreichend, um alles Wichtige zu sehen. Wasser fiel von vier höher gelegenen Plattformen, sammelte sich auf dem Boden und wurde zu dem Fluss, der sich durch das Dorf bahnte. Doch das Wichtigste war etwas, das sich direkt gegenüber des Eingangs befand: Es war eine ovale Öffnung, farbiger Nebel waberte darin, übte damit einerseits eine anziehende Faszination aus, die aber zumindest Landis zurückschrecken ließ. Etwas Fremdes, das ein derart positives Gefühl vermittelte, ließ ihn immer vorsichtig werden – die letzte exotische Frucht hatte ihm immerhin starke Übelkeit beschert und damals war es dieselbe Anziehung gewesen. Rose, die den Anblick schon gewöhnt war, deutete auf die Fläche direkt vor dem Portal. „Hier liegen manchmal Sachen von drüben.“ Landis stellte sich vor, wie sie jeden Tag vorbeikam, um wieder etwas aus dieser anderen Welt zu finden und damit zu Alphons zu gehen, damit dieser ihr erklärte, was es damit auf sich hatte. Wäre er in diesem Dorf zu Hause, würde er das genauso machen. Im Moment war allerdings nichts zu sehen. „Darf man es anfassen?“, fragte Landis zögernd. Alphons hob die Schultern. „Es gehört keinem von uns. Ich selber würde davon abraten, aber ich gelte ohnehin nicht als sonderlich heldenhaft.“ Das erinnerte Landis daran, dass er früher gern ein Held gewesen wäre. Es war sein Traum gewesen, den er mit Nolan geteilt hatte. Viel daraus geworden war nicht... aber immerhin könnte er nun den Mut dafür gebrauchen. Er trat auf das Portal zu und streckte langsam die Hand aus. Sein ganzer Körper zitterte, nicht vor Aufregung oder Nervosität, sondern weil da dieses Gefühl war, dass etwas jenseits des Tors versuchte, ihn abzustoßen. Etwas Bösartiges, das ihn nicht bei sich haben wollte. Ein tiefes Grollen erklang. Aus den Augenwinkeln bemerkte Landis, dass es auch Alphons und Rose auffiel, die sich ebenfalls umzusehen begannen. Offenbar war es auch für die beiden neu. Mit aller Kraft schaffte er es schließlich, den Nebel zu berühren. Schmerzen zuckten durch seinen Körper, Blitze erschienen vor seinen Augen, abwechselnd mit seltsamen Bildern, die er allerdings immer nur für Bruchteile von Sekunden sehen konnte und kaum waren sie fort, waren sie bereits aus seinem Gedächtnis verschwunden. Zuletzt kam noch ein letzter, besonders greller Blitz, dann hörte er sich selbst schreien und im nächsten Moment spürte er einen dumpfen Schmerz in seiner Hüfte. Als Landis wieder vollends zu sich kam und auch seine Umgebung wieder wahrnehmen konnte, bemerkte er, dass er auf dem Boden lag. Alphons und Rose waren über ihn gebeugt, beide blickten ihn besorgt an. „Ich sagte doch, ich würde es nicht tun.“ „Ich lebe ja noch“, erklärte Landis mit gebrochener Stimme. „Mir tut nur alles weh.“ Alphons nickte, offenbar zufrieden und im nächsten Moment erfuhr Landis auch direkt, warum. Der Gelehrte wandte sich an Rose. „Siehst du? Darum solltest du das Portal nicht anfassen.“ Offenbar hatte er es ihr bereits öfter verboten und diese Reaktion von eben erfüllte nur seine Befürchtungen. Das Mädchen nickte heftig, deutlich beeindruckt von der Präsentation. Vorsichtig richtete Landis sich wieder auf. Sein Körper schmerzte, besonders sein Kopf, als er versuchte, sich die Bilder von eben wieder in Erinnerung zu rufen. Offenbar waren sie aber aus seinem Gedächtnis verbannt worden, nur das Gefühl der Verwirrung, dass sie in ihm ausgelöst hatten, war geblieben. „Warum stößt mich dieses Portal ab?“, fragte er in einem jammernden Tonfall. Er war doch der Sohn eines Naturgeists, warum konnte er es dann nicht öffnen? Alphons blickte wieder zu dem Nebel, der friedlich vor sich hinwaberte. „Warum willst du denn durchgehen? Du glaubst doch ohnehin nicht daran.“ Der trockene Sarkasmus störte Landis weitaus weniger, als der triefende, den andere an den Tag legten – selbst wenn er manchmal zu jener Gruppe gehörte. „Wenn man es mal selbst gesehen hat, fällt es schwer, nicht mehr zu glauben“, antwortete Landis. „Genau wie ich dachte.“ Alphons zog seine Mundwinkel wieder ein wenig nach oben. Sein Gegenüber erwiderte es mit einem richtigen Lächeln, bevor er selbst wieder zum Portal sah. Die Geschichten seiner Mutter waren also tatsächlich immer wahr gewesen, auch wenn er es nie hatte glauben wollen. Er selbst besaß allerdings nicht die Fähigkeit, hindurchzugehen, wenngleich er nicht wusste, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Enttäuscht war er allerdings nicht. Selbst diese Welt bot noch unzählige Geheimnisse, er musste nicht erst eine andere erforschen, um Dinge zu entdecken. War dieses Portal für Yarah ein Grund gewesen, ihn herzuschicken? Wollte sie, dass er so eines zumindest einmal in seinem Leben gesehen hatte? Oder war da noch mehr? Zumindest an diesem Tag würde er das nicht mehr herausfinden, also konnte er seine Zeit nun vernünftiger verbringen – zum Beispiel, indem er seine neue Bekanntschaften ein wenig vertiefte, was für ihn ein viel besserer Grund war, in eine abgelegene Gegend wie diese zu kommen. So verließ die kleine Gruppe die Höhle wieder, um gemeinsam zu essen und fast schon unmerklich zu Freunden zu werden. Die Caulfield-Bürde ------------------- Es war nicht leicht, als Sohn von Dario Caulfield aufzuwachsen. Als Kommandant der Kavallerie von Király war er es gewohnt, dass man seinen Befehlen ohne Widerspruch gehorchte. Weder bei der eigenen Frau noch dem Sohn machte er da eine Ausnahme. Wenn das nicht schlimm genug gewesen wäre, hielten einen andere Kinder auch noch für arrogant und verzogen, weswegen sie nicht mit einem sprachen, sondern nur über einen. Doch das war nicht das Schlimmste für mich. Nein, schlimmer fand ich die Tatsache, dass mir untersagt wurde, mir meine eigene Karriere zu suchen. Stattdessen war mir bereits von klein auf beigebracht worden, dass ich eines Tages ebenfalls Kavallerist zu werden habe, noch besser sogar Kommandant genau wie mein Vater. Das an sich wäre auch nicht weiter tragisch gewesen. Dass die Ausbildung in Cherrygrove mehrere Meilen von meiner Heimat New Kinging entfernt stattfand, das war für mich das Schlimme. An meinem zwölften Geburtstag war mir eröffnet worden, dass ich dorthin ziehen musste, zu meiner ungeliebten Tante, der Schwester meines Vaters, einer furchtbaren Frau mit einer Haut, deren Farbe der eines Steins glich. Sie trank viel, schlief wenig und verbrachte erstaunlich viel Zeit damit, sich selbst zu bemitleiden. Ich wusste nicht, warum, obwohl ich ihr bei jeder Mahlzeit stets aufmerksam zuhörte. Aber das einzige, was ich bislang glaubte verstanden zu haben, war die Tatsache, dass sie tatsächlich der Meinung war, die Welt hätte sich gegen sie verschworen, weil irgendein Kerl, in den sie verliebt gewesen war, eine Außenseiterin ihr vorgezogen hatte. Konnte einen das wirklich so sehr zerstören? Immerhin hieß es, dass sie einst eine wunderschöne Frau gewesen sein soll, bis eben zu jenen Tagen. Jedenfalls fühlte ich mich abgeschoben, von meinem Vater, aber vor allem von meiner Mutter, die mir all die Jahre stets versichert hatte, dass sie mich lieben und stets zu mir halten würde. Ich fühlte mich von ihr verraten, verkauft, hintergangen. Dass sie nicht einmal Briefe schrieb, um mit ihrem einzigen Sohn Kontakt zu halten, bestätigte mich darin, dass sie mich nicht mehr bei sich haben wollte und ich mich nur auf mich selbst verlassen konnte. Das war inzwischen zwei Jahre her, aber selbst mit 14 fand ich mich noch mit denselben Problemen konfrontiert. Die anderen Jugendlichen tuschelten hinter meinem Rücken über mich, keiner sprach mit mir, meine Tante klagte immer noch über ihr zerstörtes Leben – es war furchtbar. Doch egal wie schlimm es war, es widerstrebte mir, mich wie meine Tante zu benehmen. Stattdessen zeigte ich mich kämpferisch, legte mir einen Panzer an Gleichgültigkeit zu, der mich sicher durch meine Jugend bringen sollte. Doch gleichzeitig ärgerte es mich, dass ich damit meinem Vater nachstrebte, was auch niemals mein Ziel gewesen war. Die einzige Möglichkeit, die mir blieb, um das zu umgehen, war, Teil dieser Gesellschaft zu werden. Aber das war nicht so einfach, da es dafür nicht nur meinen eigenen Willen brauchte, sondern auch den der anderen – und die hatten bereits alle ihre Urteile über mich gefällt. So blieb mir nichts anderes übrig, als meine Mitauszubildenden aus der Entfernung zu betrachten. Die meisten kannte ich aus New Kinging, aber eine kleine Gruppe von vier Personen – von denen eine nicht an der Ausbildung beteiligt war – stammte aus Cherrygrove, weswegen ich sie nach meinem unfreiwilligen Umzug das erste Mal gesehen hatte. Inzwischen kannte ich auch ihre Namen. Oriana Helton, die Tochter des Kommandanten der Stadtwache von Cherrygrove, das einzige Mädchen in der aktuellen Ausbildungsphase, auch wenn sie oft als Junge durchgehen konnte. Trotz ihrer eleganten und weiblichen Erscheinung war sie außerordentlich burschikos, sie schreckte nicht vor Prügeleien zurück und innerhalb der Gruppe schien sie es zu sein, die die Jungs herumkommandierte. Dann war da noch Landis, der Sohn der großen Liebe meiner Tante. Er war der Jüngste in der Gruppe und gleichzeitig der Abenteuerlustigste. Es fiel ihm schwer, stillzusitzen, eigentlich schaffte er das nur, wenn Oriana ihn dazu zwang. Ich war mir sicher, dass mein Vater kein Vergnügen mit einem derart disziplinlosen Kavalleristen haben würde. Ohnehin erschien es mir fragwürdig, warum jemand wie er sich offenbar freiwillig für diese Ausbildung hatte entschließen können. Nolan war offenbar der beste Freund von Landis und nur unwesentlich jünger als ich. Er war ein stets gutgelaunter Junge voller Energie, aber ohne jegliche Ambitionen diese sinnvoll einzusetzen. Selbst diese Ausbildung war er nur angetreten, da der jüngere Landis es ihm vormachte. Über seine Familie war mir nicht sonderlich viel bekannt, außer, dass seine Mutter vor etwa vier Jahren gestorben war. Es gab Gerüchte, dass sein Vater ihn schlagen würde, aber Nolan sprach nie darüber, also wusste niemand, ob es wirklich der Wahrheit entsprach. Der Letzte im Bunde war Kenton, der Sohn einer Stadtwache. Er war nicht nur der Älteste, sondern auch der Vernünftigste und gab stets sein Bestes, um seine Freunde auf dem Boden der Tatsachen zu halten oder sie dorthin zurückzuholen, wenn es Zeit dafür wurde. Als einziger im Freundeskreis besaß er eine kleine Schwester, ein äußerst liebenswertes Mädchen. Alle anderen waren Einzelkinder, genau wie ich. Doch das war es nicht, was mich gerade an dieser Gruppe so sehr faszinierte, dass ich sie beobachtete und jedes Detail über sie in Erfahrung zu bringen versuchte. Sie alle umgab eine unheimlich anziehende und freundliche Ausstrahlung, dass ich nicht anders konnte, als mich zu ihnen hingezogen zu fühlen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als ein Teil von ihnen zu sein, aber dennoch sprach ich keinen von ihnen je an. Es mangelte mir nicht an Mut, sie anzusprechen, zumindest redete ich mir das immer wieder ein. Nein, ich wollte nur nicht nachgeben. Um zu einem Teil von ihnen zu werden, müsste ich meinen Schutzpanzer aufgeben, ihnen erlauben, mir nahe genug zu kommen, um mich verletzen zu können, ich müsste Schwäche zeigen – und das war es, was mich fürchten ließ. Was geschah, wenn man zuließ, dass andere einen verletzten, konnte ich an meiner Tante sehen. Doch was geschah, wenn ich genau das nicht zuließ, sah ich an meinem Vater. Keines von beidem war für mich erstrebenswert, aber wie sollte ich den Mittelweg finden, wenn es niemanden gab, der mir diesen zeigen konnte? Es war ein Dilemma aus dem ich keinen Ausweg fand, weswegen ich mich schon damit abfand, den Rest meines Lebens immer nur mir selbst vertrauen zu können und nur das zu tun, was mein Vater wollte – zumindest bis zu dessen Tod. Doch dann kam dieser Tag, der alles verändern sollte. Es regnete selten in Cherrygrove, aber wenn, dann immer besonders heftig. So auch an diesem Tag, an dem ich wieder einmal für meine Tante einkaufen ging. Sie selbst fühlte sich wie so oft nicht in der Lage dazu. Das waren oft die einzigen Gelegenheiten, in denen sie mich tatsächlich mit Namen ansprach und um etwas bat. Ansonsten schien sie meine Anwesenheit nicht einmal zu bemerken. Nach zwei Jahren störte mich das nicht einmal mehr. Wenn ich an die Gerüchte über Nolan und dessen Vater dachte war es mir auch um einiges lieber, ignoriert zu werden. Seit Stunden regnete es ununterbrochen in Strömen, weswegen ich wieder einmal über den selten genutzten Schirm froh war, den ich im Haus meiner Tante gefunden hatte. Als ich mit einem Korb voller Lebensmittel wieder auf dem Rückweg war, kam ich an dem Trainingsgelände der Kavallerie vorbei. Unter dem Vordach stand eine Person, die ich schon von weitem als Oriana Helton erkannte. Ich wusste nicht, was sie hier an einem freien Tag machte, aber so missmutig wie sie in den Himmel sah, schien sie darauf zu warten, dass der Regen aufhörte oder dass jemand sie abholte. Zumindest ersteres würde wohl aber noch lange dauern. Die dunkle Wolkendecke hatte eine gleichmäßig dicke, stahlgraue Schicht über den Himmel gelegt. Sonnenstrahlen würden diese am heutigen Tag mit Sicherheit nicht mehr durchdringen können. Eigentlich widerstrebte es mir, sie anzusprechen, aber als ich sie allein dort stehen sah, war dieses anziehende Gefühl noch stärker als je zuvor. Etwas schien mich direkt zu ihr zu ziehen. In der sicheren Überzeugung, dass sie mich ignorieren, zurechtweisen oder auslachen würde, ging ich ein wenig näher, gerade so sehr, dass ich auf dem halben Weg zwischen Straße und Vordach stand. Ehe ich etwas sagen konnte, wandte sie mir den Blick zu. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich jemals so direkt angesehen hatte, jedenfalls war es mir nie aufgefallen. Ihre blauen Augen blickten freundlich, obwohl alles an ihr deutlich zeigte, wie wütend sie war. „Hallo, Frediano~“ Es fiel mir schwer, zu erklären, was in dem Moment in mir vorging, als ich hörte, wie sie meinen Namen aussprach. Er klang plötzlich anders, viel melodiöser, wundervoller. „Was tust du hier?“, fragte ich, nachdem ich die Begrüßung erwidert hatte. Sofort konnte ich sehen, wie ihre Wut verstärkt zurückkehrte. Verärgert warf sie ihr Haar zurück. „Landis wollte heute mit mir trainieren – aber noch während ich mit den Vorbereitungen beschäftigt war, macht sich dieser Idiot einfach aus dem Staub! Bestimmt sitzt er wieder mit Nolan zusammen und tut gar nichts!“ Die letzten zwei Jahre war mir immer wieder aufgefallen, wie eng die Beziehung der beiden war und auch in ihren Worten war es deutlich zu hören. So sehr ärgerte man sich nur über jemanden, den man wirklich mochte, dessen war ich mir sicher. „Und jetzt weiß ich nicht, wie ich nach Hause kommen soll, ohne dabei klatschnass zu werden“, fuhr sie frustriert fort. „Alles nur die Schuld dieses Idioten! Wenn ich den erwische!“ Bei jedem anderen wäre ich jetzt wohl weitergelaufen, allerdings hätte ich bei jedem anderen auch gar nicht erst nicht angehalten. „Soll ich dich begleiten?“ Was war da nur über mich gekommen? Der Wunsch, ein Teil dieser Gruppe zu werden, hatte für einen Moment meinen Panzer aus Gleichgültigkeit überwunden – und dieser eine Augenblick schien alles gewesen zu sein, was meine Zunge brauchte, um diese Worte zu formulieren. Die Überraschung in ihrem Gesicht wich schnell einem Lächeln. „Danke schön, Frediano, das ist wirklich nett von dir.“ Ich glich die letzte Distanz zum Vordach aus, damit sie problemlos unter den Schirm kommen konnte. Gemeinsam legten wir schließlich den Weg zu ihrem Haus ein. Eine Weile schimpfte sie weiter über Landis, wovon sie von mir nur ein „Aha“ bekam. Mangels Erfahrung im Umgang mit Menschen wusste ich nicht viel anderes zu sagen. Plötzlich verstummte sie. Schuldbewusst sah sie mich an. „Tut mir Leid, ich wollte dich nicht damit zureden. Das interessiert dich sicherlich nicht.“ Ich hob die Schultern. „Ich rede ungern über Leute, die ich nicht wirklich kenne.“ Sie seufzte schwer. „Ich wünschte, Landis wäre auch so schlau.“ Landis war derjenige in der Gruppe, der mich am Wenigsten interessierte, weswegen ich erneut die Schultern hob. Hastig entschuldigte sie sich. „Ich sollte nicht so viel über ihn reden. Aber erzähl doch mal etwas über dich.“ Das überrumpelte mich. Ich konnte nicht anders, als sie fragend anzusehen: „Was soll ich denn erzählen?“ Da ich mich äußerst gut kannte, gab es meiner Meinung nach nichts Interessantes zu erzählen. Als sie den Blick abwandte, um wieder nach vorne zu sehen, war ich überzeugt, meine einzige Chance darauf, Teil der Gesellschaft zu werden, vertan zu haben. Doch sie schien nur nachgedacht zu haben, denn plötzlich lächelte sie mich wieder an. „Es ist ziemlich schwer, über sich selbst zu sprechen, ich weiß. Also gebe ich dir den Anfang: Wie ist es so, der Sohn des Kavalleriekommandanten zu sein?“ „Anstrengend“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Stets den Ansprüchen genügen, die einem von irgendjemandem gesetzt wurden, sich nie beschweren, immer Höchstleistungen abliefern...“ Zum dritten Mal hob ich die Schultern, um zu zeigen, wie gleichgültig mir das war, auch wenn dem nicht so war. Aber mich emotional daran aufzureiben, war auch nicht der richtige Weg, damit umzugehen. Spätestens mit dem Tod meines Vaters würde ich nur noch meinen eigenen Ansprüchen genügen müssen und diesen Moment erwartete ich sehnsuchtsvoll. „Ah, ich verstehe“, sagte Oriana. „Mein Vater ist auch Kommandant, das weißt du sicherlich, oder?“ „Ja, Joshua Helton, Kommandant der Stadtwache von Cherrygrove.“ Sie lachte amüsiert. „Das ist richtig. Ich kann nur ahnen, wie schwer es für dich sein muss. Meine Eltern erwarten zwar auch viel von mir, aber es ist auch nicht schlimm, wenn ich diese Erwartungen nicht erfülle. Sie sind dann nicht enttäuscht, sondern stehen weiter hinter mir.“ Das hörte sich traumhaft an. Bei meinem Vater aber wohl eine reine Wunschvorstellung, er würde nie so werden. Er war bereits von meinem Großvater so behandelt worden und tat es so auch mit mir, aus Überzeugung, dass dies die einzig richtige Erziehungsmaßnahme war. „Aber ich habe gehört, dass Dario Caulfield sehr viel strenger ist als mein Vater.“ Ich nickte wortlos. Innerlich dachte ich mir, dass das aber möglicherweise auch gut so war. Mein Vater war vielleicht unterkühlt und außerordentlich streng, aber er war ein erfolgreicher und starker Mann, der sich alles hart erarbeitet hatte. Möglicherweise wollte er aus mir nur einen ähnlich erfolgreichen Menschen machen und da er keinen anderen Weg kannte, musste es eben so funktionieren. Während ich noch nach Worten suchte, um ihr diese Überlegung mitzuteilen, neigte sie plötzlich den Kopf. „Aber vielleicht will er nur das Beste für dich. Kommandant Caulfield ist immerhin im ganzen Land bekannt, das Königshaus soll von seiner Arbeit in der Kavallerie begeistert sein.“ Das entsprach der Wahrheit. Die hohen Ansprüche an mich kamen immerhin nicht von ungefähr. Mich erstaunte allerdings, dass sie genau dasselbe dachte wie ich und offenbar auch im selben Moment. Sie lächelte verlegen. „Habe ich was Falsches gesagt?“ „Warum fragst du?“ Zur Antwort zeigte sie auf mein Gesicht, worauf mir erst auffiel, dass ich äußerst verwirrt dreinschaute. Sofort räusperte ich mich und bemühte mich, meine Mimik wieder dem gleichgültigen Ausdruck anzupassen. „Ich war nur erstaunt, dass du dasselbe dachtest, wie ich.“ „Ah~“ Das warme Lächeln, das sich in diesem Moment auf ihrem Gesicht ausbreitete, wird auf ewig in meinem Gedächtnis verankert bleiben. In diesem Moment schien es sogar mein Inneres zu wärmen und mich den Regen vergessen zu lassen. Vor einem bestimmten Haus blieben wir wieder stehen. Ich war leicht enttäuscht, dass sich unsere Wege bereits trennten, aber seltsamerweise erfreut, dass sie das ebenfalls zu sein schien. Mit leichter Traurigkeit beseelt lächelte sie mich noch ein letztes Mal an. „Danke, dass du mich heimgebracht hast, Frediano. Wir sehen uns morgen.“ Ich verabschiedete mich nicht, sondern sah ihr nur hinterher, wie sie den Weg zur Eingangstür zurücklegte. Erst als die Tür hinter ihr zufiel, erwachte ich wieder aus meiner Starre. In der eingetretenen Stille kam mir das Prasseln des Regens plötzlich noch lauter vor. Nur widerwillig setzte ich meinen eigenen Weg fort, in Gedanken immer bei Oriana und diese wenigen Minuten, die wir miteinander geteilt hatten. Auch den Rest des Tages dachte ich an diese Begegnung. Seit ich denken konnte war es das erste Mal gewesen, dass jemand, der zumindest annähernd in meinem Alter war, vollkommen normal mit mir sprach. Offenbar strahlte ich von Geburt an etwas aus, das andere auf Abstand hielt. Aber auf Oriana schien das keine Auswirkungen zu haben – nicht, dass mich das traurig machen würde. Immerhin war sie mir sympathisch, sie war einer der Gründe, warum ich unbedingt ein Teil dieser Gruppe werden wollte. Ich fragte mich, ob ich der Erfüllung dieses Plans mit dem heutigen Tag einen Schritt näher gekommen war oder ob ich nun weiter entfernt denn je davon war. Meine mangelnde Erfahrung hinderte mich daran, eine verlässliche Einschätzung zu treffen, weswegen ich beschloss, von meinen Prinzipien abzuweichen und einfach abzuwarten, was geschehen würde, statt mich vorzubereiten, in welcher Weise auch immer. So begab ich mich am nächsten Tag zum Unterricht, wo ich wieder einmal von allen, auch Oriana ignoriert wurde. Es enttäuschte mich tatsächlich, aber es hielt sich in Grenzen. Ich wollte es nicht an mich herankommen lassen und das würde es auch nicht, nicht solange ich das sagte. Aber ich müsste lügen, wenn ich sage, dass es mich vollkommen kalt ließ, sie mit den anderen reden zu sehen, als wäre absolut gar nichts am Tag davor geschehen. Doch vielleicht maß ich dieser Begegnung viel mehr Bedeutung bei als sie. Nein, bestimmt sogar. Die Erkenntnis traf mich härter als erwartet. Das bestärkte mich allerdings nur in dem Beschluss, meinen Gleichgültigkeitspanzer nicht mehr abzulegen, für niemanden mehr. Wie schnell dieser allerdings ins Wanken kommen würde, erlebte ich bereits am Ende des Unterrichtstages. Wie üblich verließ ich als einer der letzten das Klassenzimmer, knapp vor Landis, Nolan und Oriana, die sich mal wieder über irgendetwas absolut Belangloses unterhielten. Ich blendete das Gespräch aus, mit den Gedanken bei meinem Panzer – bis ich plötzlich meinen Namen hörte. Überrascht blieb ich stehen. Oriana, Landis und Nolan blieben gleichauf mit mir stehen. Das Mädchen lächelte warm, was meinen Panzer direkt zum Schmelzen brachte. „Du warst heute so schweigsam.“ „Er ist immer schweigsam“, bemerkte Landis, überraschend vorurteilsfrei. „Vielleicht weil er schüchtern ist“, mutmaßte Nolan. Ich konnte nicht anders, als ihn fassungslos anzusehen. Er hob lächelnd die Schultern. „Ach, komm schon, Fredi. Wenn die Hauptstadt-Idioten dich als arrogant bezeichnen, muss das bedeuten, dass du das genaue Gegenteil bist.“ Bei all der Beobachtung war mir nie aufgefallen, dass die kleine Gruppe äußerst abfällig über ihre Mitschüler aus New Kinging dachte. Ich hatte mir die Abgrenzung immer anders erklärt. Allerdings erstaunte mich in diesem Moment, dass die drei wirklich zu glauben schienen, dass ich anders war. „Ihr... denkt das also nicht?“, hakte ich nach. Nolan und Landis warfen sich einen Blick zu, sie beide schienen geräuschlos miteinander zu kommunizieren und zu einem Ergebnis zu kommen – das mir seltsamerweise von Oriana präsentiert wurde: „Bis gestern schon, ein wenig zumindest.“ Als ob sie ein Kollektiv wären, das immer genau wusste, was jeder einzelne Teil dachte. Ich war ehrlich erstaunt. Passierte so etwas, wenn man lange miteinander befreundet war? „Aber gestern bist du so nett gewesen“, fuhr sie fort. „Darum glaube ich, dass du einfach nur... nicht viele Freunde und darum auch keine Erfahrung mit anderen hast.“ Landis lachte. „Ja. Mama sagt, Menschen sind komisch, wenn sie nie Freunde haben.“ Ehe ich fragen konnte, warum das einen von ihnen interessieren sollte, antwortete mir Nolan bereits: „Wenn die anderen Idioten nichts mit dir zu tun haben wollen, kommst du eben zu uns.“ Oriana nickte zustimmend. „Wenn deine Familie schon nicht zu dir steht, werden wir das tun.“ Ich blickte von einem zum anderen, in der Erwartung, dass sie gleich zu lachen und alles als Scherz abtun würden, doch jeder einzelne blieb ernst. Das kollektive Lächeln auf ihren Gesichtern durchbrach den letzten Rest meiner Barriere. Ich wollte ihnen glauben und Teil dieser Gruppe werden, ich wollte, dass mein Traum sich endlich erfüllte. Dafür vergaß ich die Gedanken an meinen Vater, meine bisherige Erziehung, der Glaube, dass ich niemandem außer mir selbst vertrauen konnte. In den Moment hätte ich wohl alles aufgegeben, nur um endlich Freunde zu haben, statt sie nur aus der Entfernung zu betrachten und mir vorzustellen, wie es wohl war, ein Teil davon zu sein. Also zögerte ich nicht lange und erwiderte das Lächeln entgegen all meiner guten Vorsätze der letzten zwei Jahre. „Vielen Dank.“ Du warst meine Loreley ---------------------- Ich erinnere mich noch gut an unsere erste Begegnung. Sie war einfach da, stieg aus diesem Wasserloch wie eine Erscheinung und schien sich absolut nicht um mein Erstaunen zu kümmern. Es war vollkommen normal, dass Leute darin badeten, aber sie... sie... ich finde heute noch keine Worte für sie. Ihre ganze Erscheinung faszinierte mich vom ersten Augenblick an. Damals erschien sie mir wie ein Wesen, das nicht von dieser Welt sein konnte, zu makellos war ihre Erscheinung, zu perfekt jeder einzelne ihrer Schritte. Hätte ich meiner damaligen Intuition nur vertraut, mir wäre viel Schmerz erspart geblieben. Doch stattdessen näherte ich mich ihr, um sie für mich zu gewinnen. Ich wollte, dass sie mich liebt und begehrte, so wie ich es bei ihr tat. Zuerst erschien sie verschreckt, als ob sie es nicht gewohnt wäre, dass ein Mann sie ansprechen würde, doch das legte sich bald. Mit jedem Tag vertraute sie mir mehr, bis ich sogar ihren Namen erfuhr: Loreley. Ein Name aus uralten Zeiten, es hieß, dass eine Undine namens Loreley Männer auf den falschen Weg führte, sie in den Tod schickte, um sich an ihrer Verzweiflung zu laben. Dieser Name hätte mich misstrauisch machen müssen, aber in meiner Verliebtheit blendete ich jegliche Bedenken einfach aus. Kaum hatte ich ihren Namen erfahren, verstärkte ich mein Werben noch einmal. Sie musste einfach mir gehören. Ich wusste genau, dass ich ohne sie nicht mehr leben könnte. Also tat ich alles, was mir einfiel. Ich schenkte ihr Blumen, schickte ihr Liebesbriefe und komponierte sogar Balladen, die ich ihr schließlich vortrug. Mit jeder Tat konnte ich sehen, wie das Eis um ihr Herz ein Stück mehr schmolz. In meinem Bestreben, sie für mich zu gewinnen, bemerkte ich nicht, wie mein eigenes Leben Stück für Stück zerbrach. Freunde wandten sich von mir ab, meine Familie sagte sich von mir los und auch meine Arbeit als Schneider litt darunter, da ich nicht mehr in der Lage war, mich zu konzentrieren, solange es nicht um meine Angebetete ging. Noch nie zuvor hatte Liebe mich und mein ansonsten eher logisches Wesen derart verblendet. Und dann kam der Tag an dem mein Herzenswunsch in Erfüllung ging. Loreley erhörte meine Liebesbekundungen und schenkte mir ihr Herz. In jenem Moment war ich der glücklichste Mann in ganz Király. Was kümmerten mich verlorene Freunde, mich verlassende Verwandte oder das Ausbleiben von Kundschaft solange ich Loreley an meiner Seite wusste? Was brauchte ich mehr als sie? Die gemeinsamen Monate schienen ein Segen zu sein, wir waren glücklich und die Zeit flog nur so dahin. Doch irgendwann wurde mir bewusst, dass etwas sehr Fundamentales in unserer Beziehung fehlte: Nähe. Loreley bekundete stets, wie sehr sie mich liebte, doch vermied sie jegliche Berührungen, nicht einmal ihre Hand durfte ich halten. Ich begehrte sie mehr als je zuvor, weswegen ich diesen Zustand nicht hinnehmen wollte. Ich stellte sie zur Rede und nach einer nervlich anstrengenden Diskussion über die Bedeutung einer Beziehung, erlebten wir eine leidenschaftliche Nacht miteinander, der noch viele weitere folgten. Jede einzelne verwurzelte sich tief in meinem Gedächtnis, noch heute gehören sie zu den wertvollsten Erinnerungen, die ich besitze. Besonders weil die nächste Stufe unserer Beziehung keine sonderlich erinnerungswürdige ist. An einem wundervollen Sommerabend, ein Jahr nach unserem ersten Treffen, kamen wir an dem Ort zusammen, an dem wir uns das erste Mal begegnet waren. Ich war fest entschlossen, ihr einen Antrag zu machen, so dass sie mich nie wieder verlassen könnte. Wir würden für immer zusammen bleiben, egal was kommen würde, zumindest dachte ich das vor dem Treffen noch. Doch bevor ich dazu kam, sie zu fragen, fiel mir auf, wie schweigsam und gedanklich abwesend Loreley an diesem Tag war. Besorgt sprach ich sie darauf an, worauf sie mir offenbarte, dass sie mir ein Geheimnis anvertrauen müsste. Ich versicherte ihr, dass ich es bewahren würde, so lange ich lebte. Doch auf das, was sie mir erzählte, war ich in keiner Weise vorbereitet gewesen. „Ich bin die Undine Loreley aus der Legende.“ Ich war wie vom Donner gerührt. Für einen kurzen Augenblick hielt ich es für einen Scherz, verzog bereits mein Gesicht, um zu lachen, doch meine Mimik hielt in einer scheußlichen Grimasse inne. Sie dagegen sah mich unbewegt an. Im Nachhinein glaube ich, dass Besorgnis in ihrem Blick zu lesen war, doch in jenem Moment kam mir dieser Gedanke nicht. Nein, in jenem Moment reifte in mir die Erkenntnis, dass das letzte Jahr meines Lebens nur Teil ihres Plans gewesen war, um nun auch mich zu ihren Opfern zählen zu können. Noch vor wenigen Minuten war ich so glücklich gewesen, aber nun lag meine Welt in Trümmern vor mir, zerstört von einem einzigen Satz. Reue und Hass stieg in mir auf. Reue, dass ich nicht auf die Warnungen meiner Freunde und Verwandte gehört hatte; Hass, dass ich meiner eigenen Intuition keinen Glauben hatte schenken wollen. Die Magie der Undine war meine einzige Erklärung dafür. Sie musste mich für all das geblendet haben, wie sonst sollten dieses Wesen es schaffen, all die Männer in ihr Verderben zu locken? Statt mich weiter mit dieser Frage aufzuhalten, wandte ich mich wortlos von Loreley ab und ging davon. Sie versuchte noch, mich aufzuhalten, doch von ihrem Zauber befreit, ließ ich das nicht zu und ging einfach weiter. Fort von diesem Ort, dieser Frau, die mein Leben zerstört hatte und auch von der Stadt, die ich kannte und liebte. Ich ließ alles zurück, um neu anzufangen und erfuhr so nicht den Grund, weswegen Loreley mir ihr Geheimnis offenbarte. „Und was denkst du, war der Grund?“ So abrupt aus seiner Erzählung gerissen, blickte der Schneider fragend auf. Der Gastwirt, ein freundlicher älterer Herr, der stets mit jedem per du zu sein schien, sah ihn neugierig an und wartete auf eine Antwort auf seine Frage. Dass er diese Geschichte überhaupt zu hören bekommen hatte, verdankte er seiner Art und seiner Neugier, die bei diesem Reisenden sofort angeschlagen hatte. Immerhin sah man nicht oft Schneider, die ohne ihr Handwerkszeug durch das Land reisten und in Tavernen rasteten. Der Schneider hob die Schultern. „Ich wusste es lange nicht. Und ehrlich gesagt bin ich mir auch noch nicht ganz sicher.“ „Aber du musst doch eine Vermutung haben“, sagte der Wirt hoffnungsvoll, begierig, mehr zu erfahren. Abschätzend neigte der Schneider den Kopf, als müsste er erst abwägen, ob er darüber mit jemandem reden könnte. Schließlich entschied er sich dafür, dass er es könnte. „Ich habe gehört, dass Loreley tot ist – aber sie soll zwei Kinder zurückgelassen haben, Zwillinge.“ Die Augen des Wirts weiteten sich vor Erstaunen. „Und du meinst, dass es deine Kinder sind?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete der Schneider wahrheitsgemäß. „Aber ich bin entschlossen, es herauszufinden, deswegen suche ich nach den Kindern. „Weißt du, wo sie sind?“ Die Geschichte schien den Wirt mehr zu interessieren als seine Gäste, die durstig an ihren Tischen saßen und auf Getränke warteten. Der Schneider schüttelte mit dem Kopf. „Das Dorf, in dem sie einmal lebten, wurde zerstört. Aber ich weiß, dass sie noch leben. Ich muss sie nur finden.“ „Aber woher weißt du denn, wann du sie gefunden hast?“ Er lächelte vielsagend. „Ich kenne ihre Namen.“ „Spann mich nicht auf die Folter“, bat der Wirt, der entweder aus reiner Neugier oder aus dem Willen zu helfen heraus diese Namen wissen wollte. „Wie heißen sie denn?“ Lächelnd schlug der Schneider die Augen nieder, während er sich die beiden Namen ins Gedächtnis rief. Die Namen, die bereits seine Träume heimsuchten, die mit allerlei bunten Vorstellungen, wie ihre erste Begegnung aussehen würde, erfüllt waren. „Sie heißen Nadia und Aidan.“ Stille Nacht? ------------- Landis nickte zustimmend, als er das verwirrte Gesicht seines Freundes betrachtete. Nolan starrte mit großen Augen in den Wohnraum und fand schließlich die Worte, um die Frage zu stellen, die ihn in diesem Augenblick brennend interessierte: „Warum steht ein Baum mitten in eurem Haus?“ Landis seufzte. „Das war die Idee meiner Mutter.“ Er deutete auf Asterea, die gut gelaunt damit beschäftigt zu sein schien, den Baum mit allerlei bunten Glasgegenständen zu schmücken. „Und warum macht sie das?“, fragte Nolan entgeistert. „Ich habe keine Ahnung...“ Landis versuchte ebenfalls, dahinter zu kommen, während Richard, wie so üblich, von alldem gar nichts wissen wollte und seine Zeit lieber auf der Arbeit verbrachte – obwohl es sein freier Tag war. „Deine Eltern sind so... schräg manchmal“, murmelte Nolan, worauf Landis nur wiederholt zustimmend nicken konnte. Sein Vater beteuerte immer, seine Familie zu lieben, war aber auch gern weit entfernt von ihnen und seine Mutter besaß äußerst seltsame Anwandlungen als wäre sie gar kein Wesen aus dieser Welt. Wer stellte denn schon einen Baum – eine Tanne auch noch, deren Nadeln den ganzen Boden ruinierten – in sein Wohnzimmer? „Sie hat so lange gebettelt, bis Papa ihr diesen Baum geholt und aufgestellt hat“, erklärte Landis. Das hatte sie eigentlich schon immer gemacht, aber bislang war es immer an Richard abgeprallt. Warum er ausgerechnet dieses Jahr ihrem Wunsch gefolgt war, blieb seinem Sohn unerklärlich. Als Asterea nicht mehr mit Glaskugeln, sondern mit Kerzen zu hantieren begann, gingen Landis und Nolan näher. „Du willst ihn anzünden?“, fragte der Schwarzhaarige verwirrt. Irritiert wandte Asterea, die sich bislang allein geglaubt hatte, ihnen zu. Als sie die Kinder endlich erkannte, nickte sie lachend. „Mehr oder weniger. Ich will nur die Kerzen anzünden und nicht den Baum selbst~ Was ist schon ein Weihnachtsbaum, der nicht erleuchtet ist?“ Nolan blinzelte verwirrt. „Ich dachte, das ist eine Tanne.“ Asterea lachte amüsiert. „Jetzt ist es ein Weihnachtsbaum – immerhin feiern wir damit Weihnachten.“ Die beiden Freunde warfen sich einen verwirrten Blick zu. Erfand Asterea etwa schon Feiertage? Und wenn ja: Warum? Und was sollte das überhaupt sein? Sie seufzte schwer, als sie das bemerkte. „Ich vergesse immer, dass ihr alle ja gar keinen Ahnung habt, was Weihnachten ist.“ Bevor einer der beiden fragen konnte, wie es ihr möglich war, das nach zehn Jahren immer noch zu vergessen, bedeutete sie ihnen, sich hinzusetzen und ihr zuzuhören. Das taten die beiden Jungen auch sofort und lauschten der Erzählung von zwei Menschen mit Namen Maria und Josef, die aus Gründen, die keiner der beiden Zuhörer verstand, in eine Stadt namens Jerusalem aufbrechen mussten – wo auch immer die liegen sollte – und dort dann in einem Stall einen Sohn namens Jesus bekamen. Landis und Nolan nickten verstehend, ohne die Fragen zu stellen, die ihnen bereits durch die Köpfe schossen und lauschten weiter. Asterea setzte die Geschichte mit drei Weisen fort, die – viel zu spät – mit Geschenken für Jesus ankamen, der sich alsbald zu einem Prophet und Messias mauserte – nur um schließlich hingerichtet zu werden. „Kein gutes Ende für einen Helden“, kommentierte Nolan. So wenig die beiden auch von dieser Geschichte verstanden hatten, so war ihm doch klar, dass dieser Jesus eine Art Held war. Immerhin konnte er anscheinend über Wasser laufen und Kranke heilen – wer, außer einem Helden, sollte so etwas schon können? „Eigentlich war das auch gar nicht das Ende, immerhin ist er einige Tage danach wieder auferstanden.“ Die Augen der beiden Jungen weiteten sich – es bestand kein Zweifel mehr, dieser Jesus musste ein Held gewesen sein, wenn er sogar dem Tod trotzen konnte! „Aber das ist die Sache eines anderen Festes“, fügte Asterea hinzu. „An Weihnachten feiern wir seine Geburt.“ „Also hat Jesus an Weihnachten Geburtstag?“, hakte Nolan noch einmal nach, was von Asterea mit einem Nicken bestätigt wurde. „Ganz genau.“ Landis warf einen Blick zu seinem Freund, dessen Lächeln bereits sagte, dass er gerade einen Plan fasste – er selbst war sich aber nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte. Plötzlich runzelte Asterea ihre Stirn, unterbrach ihre Tätigkeit mit den Kerzen und wandte sich wieder ihnen zu. „Wollt ihr nicht draußen spielen gehen? Ich komme bald zur nächsten Vorbereitungsphase und da wäre es ungeschickt, wenn ihr dabei wärt.“ Zwar war Landis durchaus neugierig, was das zu bedeuten hatte, aber so energisch wie Nolan bereits aufstand, wusste er genau, dass es nun wichtiger war, seinem Freund bei dessen Plan beizustehen. Als er Nolan hinausfolgte, hörte er noch, wie seine Mutter ihm hinterherrief, dass sie nichts anstellen und friedlich sein sollten. Aber waren sie das nicht immer? Vor der Tür stemmte Nolan bereits die Hände in die Hüften und drückte den Rücken durch. „Ich weiß genau, was wir heute tun werden!“ „Und was?“, fragte Landis neugierig. „Wir besuchen Jesus und schenken ihm was zum Geburtstag!“ Der Satz war so entschlossen gekommen, dass Landis im ersten Moment genauso begeistert war wie Nolan – nur um im nächsten direkt fragend den Kopf zu neigen. „Was?“ Sein Freund wiederholte den Entschluss, worauf Landis eine Augenbraue hob. „Aber woher willst du wissen, wo wir ihn finden?“ Belehrend hob Nolan den Zeigefinger. „Ist doch ganz klar. Tante Asti hat doch gesagt, dass Jesus an Weihnachten Geburtstag hat, oder? Und das ist heute, oder?“ Landis nickte langsam. „Und?“ „Ich kenne nur eine einzige Person, die heute Geburtstag hat~“ Er überlegte ein wenig, doch Landis fiel auf Anhieb niemand ein, der Geburtstag hatte, weswegen er mit gerunzelter Stirn fragte, wen Nolan meinte. Er grinste breit. „Na, ist doch klar. Kennst du nicht den Einsiedler am Waldrand? Ich hab vorhin gehört, dass er heute Geburtstag hat – also muss er Jesus sein.“ Landis wollte widersprechen, doch Nolan kam ihm bereits zuvor: „Komm schon, er ist mindestens uralt, er muss es sein.“ Seufzend gab Landis seinen Widerstand auf. „Gut. Aber was sollen wir ihm schenken?“ Nolan legte die Stirn in Falten und neigte den Kopf. „Also in der Geschichte haben sie ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe gebracht.“ „Und kamen zu spät“, ergänzte Landis. „Hauptsache, wir kommen pünktlich. Aber wir haben kein Gold.“ „Und von Weihrauch und Myrrhe habe ich noch nie gehört.“ Nolan verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Wir sind nur zu zweit, also bringen wir ihm nur zwei Sachen mit. Und am besten wäre was Praktisches... Brot und Milch, das ist immer praktisch, oder?“ „Ich denke schon“, sagte Landis zögernd, da er immer noch an dem Erfolg dieser Sache zweifelte. Doch wie so oft ließ Nolan keinen Widerspruch zu und schaffte es alsbald, seinen besten Freund mit seinem Enthusiasmus anzustecken und die Mission „Begegnung mit Jesus“ zu beginnen. So begannen die zwei Nicht-Weisen-sondern-Helden-in-Ausbildung Landis und Nolan ihre Reise zu der Hütte des alten Mannes, den sie besuchen wollten. Brot und Milch, die sie anstatt Myrrhe, Weihrauch und Gold verschenken wollten, waren sicher in einem Korb in Landis' Händen verstaut. Auch wenn der Junge nicht genau wusste, warum er die Sachen eigentlich tragen sollte, wenn es doch Nolans Idee gewesen war. Dieser war allerdings zu sehr damit beschäftigt, ihn den Weg zur Hütte hin zu führen. Spontan fragte Landis sich, woher er den Weg eigentlich so genau kannte. Der Waldrand war lang, immerhin war es ein ziemlich großer Hain und obwohl Landis oft schon dort gewesen und daran entlanggelaufen war, hatte er nie eine Hütte gesehen. Vielleicht gab es diesen Einsiedler ja auch gar nicht? Aber Nolan lief unbeirrt immer weiter, ein leichtes, vergnügtes Lächeln auf dem Gesicht als wäre das hier ein aufregendes Abenteuer. Landis brachte es daher nicht über sich, Nolan darauf hinzuweisen, dass diese Unternehmung möglicherweise doch zum Scheitern verurteilt war und folgte ihm weiterhin. Doch offenbar entpuppte sich Nolan als richtig guter Navigator, denn tatsächlich konnte Landis schließlich eine kleine Hütte am Waldrand ausmachen, in einer Gegend, in der er bislang nie gewesen war. Zwar wirkte das Gebäude im Moment noch verlassen, doch zumindest bewohnt, wie das frisch aufgeschichtete Holz in einem Unterstand davor demonstrierte. Allerdings konnte Landis sich nicht vorstellen, dass jemand wie Jesus an so einem entlegenen Ort wohnen würde – doch als er seinen Zweifel mit Nolan teilte, wurde er sofort von diesem belehrt: „Was denkst du, wie viele Leute dauernd vor seiner Tür stehen würden, um sich heilen zu lassen, wenn er in einer Stadt wohnen würde?“ Dieses Argument konnte Landis nicht von der Hand weisen, weswegen er nicht weiter widersprach. An der Hütte angekommen, klopfte Nolan mehrmals laut vernehmlich gegen die Tür, ohne dass jemand öffnete oder die Kinder hereinbat. Nolan, der ohnehin nicht als geduldig bekannt war, versuchte bereits, die Tür einfach zu öffnen, um unaufgefordert hineinzugehen. „Vielleicht sollten wir warten, bis er wiederkommt“, meinte Landis zaghaft. „Vielleicht ist ihm aber was passiert“, erwiderte Nolan. „Er ist immerhin uralt. Wir sollten mal nachsehen.“ Widerwillig folgte Landis seinem Freund hinein, als dieser schließlich die Tür geöffnet hatte. Ein halbdunkler Raum empfing sie, mit Schatten in den Ecken, in denen sich laut Nolans stetig plapperndem Mundwerk finstere Dämonen verborgen hielten, die nur darauf warteten, die beiden jungen Helden zu zerfetzen. Landis betrachtete ihn missmutig, während sich sein Hals immer weiter zuzuschnüren schien. Woher hat er nur diese Fantasie? Glücklicherweise stellte Landis bald fest, dass sich in den Schatten lediglich Mäuse verbargen, die angsterfüllt davonhuschten, sobald man ihnen zu nahe kam. Es gab also keinen Grund, sich zu fürchten – zumindest nicht, bevor sie ins Bad kamen. Das Badezimmer war ein kleiner finsterer Raum, aber das wenig einfallende Licht genügte, um die dunkle Flüssigkeit in der Wanne erkennen zu lassen. „D-das ist Blut, oder?“, fragte Nolan mit leicht zitternder Stimme. Landis deutete ein Nicken an. „Entweder das oder große Mengen an Himbeersirup.“ Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass sie die Rollen getauscht hatten – normalerweise hätte Nolan die Anspielung auf den Sirup machen müssen. Doch der Schwarzhaarige schien zu beschäftigt damit, schockiert zu sein. „Was ist das für ein Held, der Blut in seiner Badewanne sammelt?“ „Können wir die Frage... woanders klären?“, fragte Landis leise. Er wollte nicht unbedingt, dass sein Blut ebenfalls in dieser Wanne enden würde – aber mit Sicherheit würde das geschehen, wenn sie die Hütte nicht verließen, ehe der Besitzer wieder heimkam. Vergessen war der Gedanke, dass hier ein Held lebte. Vielleicht hatten sie sich ja in der Hütte geirrt? Nolan nickte hastig, ging einige Schritte rückwärts und fuhr dann herum, um wieder zu gehen – doch er zuckte sofort wieder zurück. „Was ist los?“, fragte Landis. Sein Freund war inzwischen kreidebleich geworden. „Er... er ist gerade am Fenster vorbeigelaufen, er kommt gleich wieder rein!“ Die sonst so energische Stimme war zu einem erbärmlichen Krächzen verkommen. Landis' Blick huschte zu einem anderen Fenster – und sein Herz setzte für einen Schlag aus, als ein Schatten daran vorbeizog. „Was sollen wir tun?“ Panisch blickte Nolan sich um, aber die Hütte verfügte über keinen weiteren Ausgang – und die Fenster verfügte über eine komplizierte Öffnungsvorrichtung, die von den beiden Jungen schon bei Kenton zu Hause nicht verstanden worden war. Doch gerade als Landis ebenfalls in Panik ausbrechen und hysterisch im Kreis laufen wollte, wurde Nolan schlagartig wieder ernst. Entschlossen ballte er eine Hand zur Faust und reckte diese in die Luft. „Wir werden ihn überfallen, sobald er zur Tür hereinkommt! Dann können wir ihn überrumpeln! Niemand soll sagen, dass wir Feiglinge wären, die zusammengekauert in einer Ecke starben!“ Landis zweifelte zwar auch am Erfolg dieser Mission, besonders da der Mann vor der Tür den Plan inzwischen bestimmt mitbekommen hatte, aber es war besser als gar kein Plan, da war er sich sicher. Also stellten sie sich beide in Bereitschaft und blickten konzentriert auf die Tür, von der leise Geräusche erklangen als würde jemand davor seine Schuhe abputzen. Ein komischer Mörder, der sich vorher die Füße saubermacht... Doch die sich öffnende Tür unterbrach Landis' Gedanken. Kaum war sie weit genug offen, dass sie nicht einfach wieder zugeschlagen werden könnte, erklang Nolans Stimme: „Zum Angriff!“ Landis' Körper reagierte fast schon automatisch, als er seinen Freund an sich vorbeistürmen sah und schloss sich ihm mit einem eigenen Kampfschrei an. Gemeinsam stürmten sie auf den in der Tür stehenden Mann zu, der beiden nur verdutzt entgegenstarren konnte. Einige Stunden später hatten Nolan und Landis einiges über den vermeintlichen Mörder gelernt: Sein Name war nicht Jesus, sondern Deror. Obwohl sein Haar grau war, war er nicht uralt. Er lebte nicht wegen eventueller Heilkräfte oder Mordgelüsten so abgeschieden, sondern weil er gern seine Ruhe hatte. Im Winter zerlegte er erlegte Tiere in seinem Bad, was das Blut in der Wanne erklärte. Aber das Wichtigste – zumindest für die beiden Jungs – war eindeutig: „Dieses Hirschgulasch ist so lecker!“, schwärmte Nolan mit glänzenden Augen, als er zwischen den Bissen Zeit zum Reden fand. Landis nickte zustimmend. „Sowas Gutes habe ich noch nie gegessen!“ Deror lachte amüsiert und bedankte sich für das Lob. „Das mache ich jedes Jahr an meinem Geburtstag, inzwischen bin ich also ein Experte darin~“ „Es ist also eine Tradition?“, hakte Nolan nach. Landis warf seinem Freund über den Tisch einen überraschten Blick zu. Der Wortschatz des Jungen schien sich stetig zu vergrößern und – das war das Neue daran – er brachte sie auch in den richtigen Kontext. Langsam bekam Landis das Gefühl, von seinem besten Freund abgehängt zu werden... Deror nickte lächelnd. „Genau. Das war auch schon so, als meine Eltern noch gelebt haben.“ „Ich will auch eine Tradition!“, forderte Nolan sofort. Über diesen Enthusiasmus konnte ihr Gastgeber nur lachen, während Landis leise seufzte. Manchmal verstand er seinen Freund einfach nicht, da war er viel zu... unhöflich. Seine Eltern hätten ihn für diese Forderung im Haus eines Fremden sofort abgestraft. Derors Blick fiel auf den Korb, indem immer noch Brot und Milch lagen, die als Geschenk gedacht waren. „Wie wäre es mit einer neuen Tradition? Ihr bringt mir jedes Jahr an meinem Geburtstag Brot und Milch und ich lade euch dafür auf Hirschgulasch ein?“ Die Augen beider Jungen begannen bei dem Vorschlag sofort zu leuchten, weswegen Deror wieder lachte. „Das nehme ich mal als Ja von eurer Seite aus.“ Beide nickten aufgeregt und vertieften sich dann sofort wieder in das Essen, in Gedanken bereits beim nächsten Jahr, in dem sie dann auch Kenton und Oriana mitbringen wollten – was sie beide gleichzeitig wussten, ohne sich miteinander abgesprochen zu haben. Und während sie weiter so friedlich zusammen aßen und sich dabei lachend Geschichten erzählten als würde man sich schon ewig kennen, fiel langsam die Dunkelheit über die Hütte – und mit ihr der erste Schnee des Jahres. Auf Messers Schneide -------------------- 46 Tage. So lange war Frediano Caulfield bereits ein Teil des Freundeskreis von Oriana. 46 Tage in denen er besonders Landis und Nolan näher gekommen war als ihm je lieb gewesen wäre. Auch – oder gerade wenn – sie die typischen Jugendlichen waren, gingen sie dem Kommandantensohn regelmäßig auf die Nerven. Bislang hatte er den Großteil seiner Zeit mit Erwachsenen verbracht, weswegen ihm seine gleichaltrigen Freunde nun kindisch und peinlich vorkamen. Lediglich Oriana und Kenton waren eine angenehme Ausnahme. Allerdings war es seinem Pech zu verdanken, dass er seine meiste Zeit mit Landis und Nolan verbringen musste. Seine Meinung über die beiden hatte sich in den letzten 46 Tagen nicht geändert – zumindest nicht zum Positiven. Nolan war ein recht angenehmer Zeitgenosse, solange Landis nicht in der Nähe war. Doch sobald der Jüngste dazukam, schien auch Nolan seinen Verstand abzugeben, was Frediano stets dazu bewegte, mit den Augen zu rollen. Ihn darauf anzusprechen hatte der Kommandantensohn bereits aufgegeben. Jeder Versuch war in einer spontanen Aktion von Landis untergegangen – als ob dieser genau spüren könnte, was und wann Frediano etwas vorhatte. Verrückt. Genau wie alles, was Landis tut – und wie das, was ich hier tue. Missmutig betrachtete Frediano die felsigen Wände. Es war so dunkel in dieser Höhle, dass er kaum etwas sehen konnte, was sich außerhalb des Lichtscheins von Nolans Lampe befand. Die ovale Laterne spendete warmes, orange-farbenes Licht, das allerdings nur die drei Jungen einhüllte. Landis, der wie üblich enthusiastisch vorauslief; Nolan, der ihm mit schwingender Laterne folgte und dann er, Frediano, der gelangweilt hinterhertrottete. „Klärt mich mal auf“, bat der Kommandantensohn. „Was genau machen wir hier noch mal?“ Landis drehte sich um und lief rückwärts weiter. Dass er dabei nicht über einen Stein stolperte, wunderte Frediano inzwischen nicht mehr – seiner Erfahrung der letzten Tage nach besaß dieser Junge mehr Glück als Verstand, was ihm vermutlich auch in der Zukunft öfter mal den Hals retten würde. Zumindest schätzte der Kommandantensohn es so ein. Belehrend hob Landis einen Zeigefinger. „Wir suchen Sylphen~“ Skeptisch warf Frediano noch einen Blick in die Dunkelheit. Irgendwo außerhalb des Lichtkreises erklang ein empörtes Fauchen, offenbar gefiel es irgendeinem einheimischen Tier nicht, das sie hier spazieren gingen. Schließlich fixierte Frediano wieder Landis. „Denkst du wirklich, dass Naturgeister, die über den Wind herrschen, in einer finsteren Höhle leben?“ „Ich denke es nicht nur, ich weiß es“, erwiderte der Junge. „Ich habe hier ihr Lied gehört.“ Das war nun etwas, was sich der Kommandantensohn gar nicht vorstellen konnte. Nicht nur, dass die Sylphe hier leben sollte, sondern auch dass Landis sie gehört haben wollte und dass er überhaupt wusste, wie sich dieses Lied anhören würde. Aber es interessierte ihn gar nicht so sehr, woher Landis das alles wissen wollte. Vermutlich spielte die Fantasie des Jungen ihm nur wieder einen Streich. „Also laufen wir hier jetzt so lange herum, bis wir die Sylphe gefunden haben?“ Oder bis wir gefressen wurden. Oder bis wir uns verlaufen haben und verhungern. Landis nickte. „Ganz genau, Fredi~“ Hör endlich auf, mich so zu nennen. Er sprach den Gedanken nicht aus. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er Landis in den letzten Tagen darum gebeten hatte, aber egal wie oft der Junge ihm versicherte, es nicht mehr zu tun, es geschah dennoch. Also sparte er sich den Ärger und resignierte lieber, auch wenn seinem Vater das ganz und gar nicht gefallen würde. Resignation war für ihn der Weg des Feiglings – aber Frediano bezweifelte, dass Dario es mit denselben Gegnern zu tun hatte wie er hier. Landis fuhr wieder herum und lief weiter. Nolans andauerndes Schweigen wurde dem Kommandantensohn langsam unheimlich, er schien schon den ganzen Tag deprimiert zu sein, zumindest sagte das seine leicht geduckte Körperhaltung. Wenn es stimmt, dass sein Vater ihn verprügelt... hat er das dann etwa schon wieder getan? Und warum unternimmt Nolan nicht endlich etwas dagegen? Frediano war noch nie von irgendwem körperlich misshandelt worden, weswegen er es sich äußerst leicht vorstellte, sich gegen derlei Übergriffe zu wehren, egal von wem sie kamen. Notfalls ging man einfach zu jemandem, der einem helfen konnte. Frediano hatte bereits überlegt, etwas zu tun, sich dann aber entgegen entschieden. Wenn Nolan keine Hilfe wollte, würde er sie ihm auch nicht geben. Schweigend lief die Gruppe weiter, bis sie an einem Abgrund ankamen. Nolan beugte sich ein wenig vor, um vorsichtig hinabzusehen, doch das Licht verlor sich in der Tiefe, lediglich undeutlich war eine Plattform zu erkennen. Ein Sturz könnte allerdings äußerst schmerzhaft werden. „Bei welcher Gelegenheit hast du eigentlich ihr Lied gehört?“, fragte Frediano. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Landis allein so tief in die Höhle gegangen war und bislang war absolut nichts zu hören. Wie lange müssen wir hier noch herumlaufen? „Das war weiter draußen“, gab Landis zu. „Aber es kam aus dem Inneren der Höhle, also muss sie hier drinnen sein.“ Nolan seufzte, doch Fredianos Hoffnung, dass er ihm den Rücken stärken würde, wurde direkt zerschlagen: „Gehen wir mal weiter. Vielleicht finden wir ja noch was.“ War ja klar. Wenn es bei ihm wirklich so schlimm ist, will er natürlich nicht so schnell zurück. Der Abgrund zog sich ein gutes Stück an ihrem Weg entlang. Normalerweise betrat niemand diese Höhle in den Bergen jenseits von Cherrygrove, weswegen sie nicht sonderlich erforscht war. Warum niemand hier hereinkam war Frediano durchaus klar: Es gab hier nichts. Also warum sollte jemand hier hereinkommen? Nicht einmal Monster waren weit und breit zu sehen. Nicht, dass er unbedingt welche hätte bekämpfen wollen. Kurz vor dem Ende des Abgrunds fuhr ein heftiges Beben durch den Untergrund. Landis und Nolan machten automatisch einen Satz nach vorne, um auf sicherem Boden zu stehen, während Frediano wie elektrisiert stehenblieb. „W-was war das?“, fragte der Kommandantensohn. „Ein Erdbeben“, erwiderte Nolan. „Das ist normal in der Gegend.“ Mit zusammengezogenen Brauen sah Frediano ihn tadelnd an. „Ich lebe seit zwei Jahren in Cherrygrove und es gab bislang kein Erdbeben.“ Nolan schüttelte den Kopf. „Ich meinte auch hier in der Gegend, dieses Gebirge. Erdbeben sind hier normal, deswegen kommt auch keiner hierher.“ Frediano blickte ihn abwartend an und wartete darauf, dass ihm selbst auffiel, wie dumm es in Anbetracht dieser Aussage gewesen war, herzukommen – doch offensichtlich blieb er der einzige, dem das bewusst war. Er wollte sich gerade wieder in Bewegung setzen, um den letzten Meter auf sicheren Untergrund zu schaffen, als erneut eine heftige Erschütterung die Höhle zum Beben brachte. Nolan und Landis gingen in die Hocke und legten ihre Arme über ihre Köpfe, um sich zu schützen. Nach wenigen Sekunden ließen die Erschütterungen nach, sie richteten sich wieder auf und sahen sich um. „Puh, Glück gehabt“, stellte Nolan fest. „Die Höhle ist uns nicht auf den Kopf gefallen.“ Landis nickte und wandte sich in die Richtung, in der Frediano stand. „Alles gut gegangen, was, Fredi?“ Keine Reaktion erfolgte, weswegen die beiden Jungen genauer hinsahen – und augenblicklich erschraken. „Frediano!“ Sie hetzten zum Abgrund, um hinunterzublicken. Tatsächlich konnten sie mit dem Licht der Lampe einen schwachen menschlichen Umriss ausmachen, der auf dem Boden weit unterhalb lag und sich nicht mehr regte. „Frediano!“, rief Nolan hinunter, um eine Reaktion zu erzwingen. „Fredi! Sag doch was!“ Erneut folgte nichts von unten, außer eine kurze Regung des Körpers. Nolan sah Landis panisch an. „Denkst du, er lebt noch?“ Im Gegensatz zu seinem Freund blieb er vollkommen ruhig, was ansonsten gar nicht seinem Verhalten entsprach. „Lass uns Hilfe holen gehen.“ Wortlos blickte Nolan zwischen ihm und dem Abgrund hin und her, er überlegte angestrengt, ob sie das wirklich tun könnten. Da er sich offenbar nicht entscheiden konnte, griff Landis an seine Schultern. „Hör zu, No! Er lebt noch und wenn wir Hilfe holen, wird er weiter leben! Aber dafür müssen wir nun gehen und jemanden herholen!“ Nolan schluckte schwer. „Bist du sicher?“ „Ganz sicher.“ Landis lächelte ihm aufmunternd zu. „Erinnerst du dich noch, was ich dir einmal gesagt habe?“ Nolan musste nicht lange überlegen, er nickte sofort. „Ja, natürlich...“ Wie könnte er so etwas auch vergessen? „Also vertrau mir, es wird ihm gut gehen.“ Nolan nickte noch einmal und fuhr bereits herum, um wieder in Richtung Ausgang zu laufen. Landis warf noch einen letzten Blick in den Abgrund hinunter, dann folgte er Nolan hastig, um nicht im Dunkeln zurückzubleiben. Die Schmerzen, die in Wellen durch seinen ganzen Körper, rollten und geradezu aufheulten, sobald er versuchte, sich zu bewegen, machten es ihm unmöglich, sich aufzurichten oder den Rufen von Nolan zu antworten. Allein schon ein flacher Atemzug erfüllte seinen Brustkorb mit stechender Pein. Ich lebe noch, aber... wie lange? Er zweifelte nicht daran, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Schmerzen schwinden und er endgültig nicht mehr existieren würde. D-das darf nicht sein, nein...! Er war ein Caulfield und daher nicht gewillt, einfach aufzugeben. Nicht auf dem Boden einer dunklen Höhle, in die er wegen eines Idioten gegangen war. Als er seine Finger zu bewegen versuchte, zuckten wieder heftige neue Schmerzimpulse durch seinen Körper, die ihn leise stöhnen ließen. Verdammt nochmal! Ich werde mich nie wieder auf so einen Schwachsinn einlassen! Ein Seufzen folgte, als ihm bewusst wurde, dass er auch keine Gelegenheit mehr dazu bekommen würde. Er würde hier sterben, wenn nicht noch ein Wunder geschehen würde. Noch während er auf eines hoffte, spürte er plötzlich eine fremde Präsenz neben sich, begleitet von einem grünlichen Glühen. Wunderbar, ich werde wahnsinnig. Doch als er fühlen konnte, wie eine Hand sanft über seine Wange strich, schien es keine Einbildung mehr zu sein. Er versuchte, die Gestalt auszumachen, doch sie befand sich jenseits seines Blickwinkels. Wer war diese Person? Warum war sie hier? Würde sie ihm helfen? „Mein armer, armer Frediano~“ Ein Frösteln erfasste seinen Körper, der gleich darauf wieder von heftigen Schmerzen geplagt wurde. Viel mehr als die Pein störte ihn im Moment aber die Tatsache, dass diese Person seinen Namen kannte – ihm dagegen kam nicht einmal die Stimme bekannt vor. Er wollte sie fragen, wer sie war und woher sie seinen Namen wusste, doch lediglich ein jämmerliches Röcheln erklang aus seiner Kehle. Dennoch schien sie genau zu wissen, was er fragen wollte, denn sie antwortete nach einem kurzem Kichern: „Ich kenne dich sehr genau, mein Lieber und ich bin froh, dich endlich zu treffen. Es wundert mich nicht, dass du mich nicht kennst. Mein Name ist Vita.“ Wie die Sylphe, schoss es ihm durch den Kopf. Dann hatte Landis recht...? Dann war dies sein Plan! Er zweifelte keine einzige Sekunde daran, dass Landis ihn mit der Absicht, ihn in diese Situation zu bringen, in die Höhle gebracht hatte. Dass es keinen Grund dafür gab, blendete er dabei aus. Vita kicherte noch einmal. „Awww, du denkst an den kleinen Landis, wie süß~ Findest du es nicht auch gemein von ihm, dass er dich hier zurückgelassen hat?“ Die Stimmen von oben waren längst verstummt, doch bislang war Frediano davon ausgegangen, dass sie Hilfe holen wollten. Aber Vitas Worte verdrängten seine Vermutung und machten einer Gewissheit Platz, die nicht seine eigene war. „Ganz genau~ Wie böse von ihm, dass er dich auf diese Weise loswerden wollte~“ Je mehr sie mit ihrer einschmeichelnden Stimme erzählte desto fester verankerten sich Gedanken und Gewissheit in Fredianos Inneren und desto mehr kristallisierte sich ein entschlossener Wunsch in seinem Inneren: Rache. Seine Abneigung gegenüber Landis wandelte sich langsam in bohrenden Hass, der sogar seine Schmerzen überdeckte. Er wollte Vergeltung für das, was Landis ihm hier angetan hatte. Dafür musste er allerdings überleben. Sein Lebenswille bäumte sich noch ein letztes Mal auf, mit einem lauten Schmerzensschrei versuchte er, sich aufzurichten. Sein ganzer Körper protestierte, es gab keinen einzigen Knochen, der nicht bei dieser Bewegung aufheulte. Dennoch konnte er nicht aufgeben. Er schrie den Schmerz hinaus, um ihn von sich wegzustoßen und entgegen aller Vernunft wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Vita strich weiter über seine Wange. „Was für ein guter Junge~ Mit dieser Stärke sollte ein Sieg über Landis doch ein leichtes sein für dich.“ Eine neue Welle von Schmerzen ließ in ihm gar nicht erst die Frage aufkommen, warum die Sylphe ihn so sehr gegen Landis aufhetzte. Die Welt schien vor seinen Augen zu verschwimmen, in seinem Kopf herrschte ein beständiges Pochen, das ihn niederzustrecken drohte. „Nun, du hast wohl genug gelitten, mein Lieber.“ Ihre Hand fuhr über sein Haupt, wohltuende Wärme erfüllte sein Inneres und verdrängte sowohl die Schmerzen als auch die nahende Ohnmacht. Erleichtert atmete er tief ein. Selbst die modrige Luft dieser Höhle schien ihm wie ein Geschenk. Er lebte noch und nun – „Nun kannst du Vergeltung an Landis üben.“ Sein Blick ging ruckartig zu Vita hinüber, die er nun mustern konnte. Das zu einem Zopf gebundene grüne Haar fiel glatt über ihren Rücken, das fein geschnittene Gesicht war freundlich, die Augen funkelten, in ihrer rechten Hand trug sie einen Stab. Obwohl sie alles in allem wie eine nette Reisende wirkte, gab es etwas an ihr, das Frediano automatisch zurückweichen ließ. Seine Augen huschten an ihr hinauf und hinunter, auf der Suche nach diesem Etwas, doch er schaffte es einfach nicht, es festzuhalten. „Na na~“, tadelte sie ihn. „Hast du etwa deine Entschlossenheit schon vergessen? Du wolltest doch Landis schaden~“ Ihre Fröhlichkeit, was diese Sache anging, irritierte Frediano. Welchen Grund gab es, dass eine Sylphe ihn unbedingt dazu bringen wollte, Landis etwas anzutun? Doch je länger er in ihre Augen sah, um das zu ergründen, desto gleichgültiger wurde ihm diese Frage, bis sie schließlich gänzlich aus seinen Gedanken verschwand und nur einen leeren Fleck Erinnerung zurückließ. Doch dieser freie Platz wurde alsbald mit Überlegungen gefüllt, wie er es Landis am besten heimzahlen konnte. Sicher war nur, dass der Tod zu gut für ihn war. „Schon besser~“, sagte Vita, die seine Gedanken bemerkte. „Falls du Hilfe brauchen solltest, stehe ich jederzeit für dich zur Verfügung, rufe mich dann einfach.“ Er nickte ihr zu, statt etwas zu sagen. Sie lächelte und hüllte ihn und sich in eine grüne Kugel. Noch bevor er sich fragen konnte, was geschah, befand er sich bereits wieder im Eingangsbereich der Höhle. In weiter Entfernung konnte er den Ausgang erkennen. Vita tätschelte ihm noch einmal den Kopf, dann verschwand sie wieder wortlos und so plötzlich wie sie gekommen war. Frediano blickte auf den Punkt, an dem sie eben noch gestanden hatte. Tief in seinem Inneren wusste er genau, dass irgend etwas Schlechtes vorgefallen war. Doch er konnte den Gedanken nicht vertiefen, denn als er das versuchte, fiel ihm nur wieder sein Hass auf Landis ein als ob irgend etwas verhindern wollte, dass er zuviel hinterfragte. Statt weiter nachzudenken wandte er sich wieder dem Höhlenausgang zu. Es wurde langsam Zeit, nach Hause zu kommen. Als er hinaustrat, atmete er tief die frische Luft des nahenden Abends ein von der er noch vor wenigen Minuten geglaubt hatte, sie nie wieder spüren zu können. In der Entfernung konnte er Landis, Nolan und Richard sehen, die auf die Höhle zukamen. Sein Blick verfinsterte sich, er lief ihnen entgegen, um nach Hause zu gehen. Alle drei blieben stehen, als er bei ihnen angekommen war. „Frediano...“, sagte Nolan erstaunt. „Wie kommst du denn hier raus?“ Da er nicht antwortete, seufzte Richard. „Offenbar habt ihr beiden wieder übertrieben.“ Landis schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ganz bestimmt nicht. Er lag da unten... wir haben ihn gesehen!“ „Du solltest nicht alles glauben, was du siehst“, erwiderte Frediano kühl. Ohne ein weiteres Wort lief er an ihnen vorbei und ging davon. Die anderen drei sahen ihm mit gemischten Gefühlen hinterher. Während Richard der festen Überzeugung war, dass alles nur eine Überreaktion der beiden Jungen gewesen war, blieben eben diese verwirrt zurück. Noch ahnte keiner von ihnen, welche Veränderung in Frediano vorgegangen war und welchen Einfluss dies auf die Zukunft nehmen würde. „Was hat denn nun ein Hase damit zu tun?“ ----------------------------------------- Es war immer wieder ein Erlebnis, sie zu beobachten. Kieran, der sonst eigentlich nicht dafür bekannt war, Unterhaltung zu frönen, die kein Geld einbrachte, liebte es besonders, sich gegen einen Baum zu lehnen und dann Asterea bei ihren Aktionen zuzusehen. Asterea war anders und das wusste inzwischen jeder in Cherrygrove. Es war kein Geheimnis mehr, genausowenig wie die Tatsache, dass sie verrückt nach Richard war, was sie in den Augen vieler auch als sehr seltsam einstufte. Sie selbst kümmerte sich aber nicht darum und Richard, der direkt neben Kieran saß, hatte bereits resigniert und sich damit abgefunden, dass sie ihn den Rest seines Lebens verfolgen würde. Kieran konnte nicht verstehen, was seinen besten Freund daran störte, immerhin war Asterea nicht nur hübsch, sie erschien ihm auch klug, humorvoll und und er wusste einfach, dass sie alles für Richard tun würde, sofern er es verlangte, sogar alle Sandkörner im Meer zählen – selbst wenn sie damit ewig beschäftigt wäre. Doch Richard war mit soviel Hingabe und Leidenschaft anscheinend eher überfordert. An diesem Tag allerdings waren sie beide es gewesen, die Asterea verfolgten, um herauszufinden, warum sie bereits seit dem frühen Morgen beschäftigt war. „Sie wohnt jetzt bei mir“, berichtete Richard ohne jegliche Begeisterung. „Als ich heute Morgen in die Küche kam, war sie damit beschäftigt, gekochte Eier zu bemalen.“ Mit hochgezogenen Brauen sah Kieran ihn an. „Gekochte Eier?“ Richard nickte grimmig, ohne den Blick von Asterea abzuwenden. „Das ist es auch, was sie da gerade überall im Gras verteilt.“ Sofort sah Kieran wieder zu ihr hinüber, er betrachtete den Korb in ihrer Hand genauer und bemerkte nun auch, dass sie tatsächlich bunte Gegenstände daraus hervorholte, die Eier sein könnten – wenn sie von einem Regenbogenhuhn gelegt worden wären. „Versucht sie, euch ein Abendessen anzulocken?“ Fallen stellen und Köder auslegen war immerhin ganz alltäglich für Leute, die den Geschmack einiger wilder Tiere mochten, doch Richard schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Ich wollte sie bislang nicht fragen.“ Auch wenn er es nicht zugab, schien er sich doch ebenso sehr über Asterea zu amüsieren wie alle anderen es bislang auch taten. Das war wohl auch der Grund, warum er sie bei sich wohnen ließ. „Dann werde ich das tun.“ Richard warf ihm einen warnenden Blick zu, doch bevor er widersprechen konnte, hatte Kieran sie bereits zu sich gebeten. Die Art, wie sie lustlos zu ihnen trottete, erinnerte Richard an ein kleines Kind, das lieber in der Sonne spielen wollte, statt den Erwachsenen Rede und Antwort zu stehen. Dennoch lächelte sie, als sie vor ihnen stehenblieb. „Was gibt es?“ „Rea“ – Kieran sprach sie meist nur mit Spitznamen an, da er diesen als wesentlich passender empfand als ihren vollständigen Namen – „warum verteilst du bunte Eier im Gras?“ Einen kurzen Augenblick schob sie die Unterlippe vor als würde sie schmollen wollen, doch sie besann sich sofort anders. „Morgen ist Ostern.“ Beide Männer sahen sie schweigend an, warteten darauf, dass sie noch etwas hinzufügen oder es als Scherz deklarieren würde, doch da sie die Blicke nur ungetrübt erwiderte, hakte Kieran nach, wovon sie eigentlich sprach. Ihr entfuhr ein tiefes und schweres Seufzen. „Ich blende immer aus, dass ihr davon keine Ahnung habt.“ „Wovon?“, fragten beide synchron. „Von vielem – aber sprechen wir mal nur über Ostern, ja? Das ist ein sehr wichtiger Tag für viele Leute, immerhin ist an diesem der Messias von den Toten wiederauferstanden.“ Kieran war sich sicher, dass jeder andere aus dem Dorf bei diesem Satz in spöttisches Gelächter ausgebrochen wäre, er und Richard allerdings hoben nur skeptisch je eine Augenbraue, was ein sehr interessanter Anblick war, schafften sie es doch ohne jede Absprache, sich gegenseitig zu ergänzen. „Ein typischer Fall von Fehldiagnose“, urteilte Richard trocken. „Mit Sicherheit war er noch gar nicht tot.“ Asterea pumpte empört Luft in ihre Backen. „Er war drei Tage lang tot! Und er verschwand spurlos aus einer sicher verschlossenen Höhle!“ „Und du warst dabei?“, hakte Kieran nach. Bei dieser Frage wich sie einen Schritt zurück, den Blick in den Himmel gerichtet, um keinen von beiden ansehen zu müssen, als sie murmelnd verneinte, was bei beiden zu einem zufriedenen Schmunzeln führte. Doch sie fand sofort ihr altes Temperament wieder. „Aber das ist auch egal! Ich weiß, dass es stimmt! Und deswegen verstecke ich diese Eier!“ „Was mich wieder zu meiner ursprünglichen Frage bringt“, schlug Kieran sofort den Bogen. „Warum verteilst du bunte Eier im Gras?“ „Damit jemand sie sucht“, stöhnte Asterea. „Das ist an Ostern so üblich.“ Kieran dachte an ihre Erzählung zuvor zurück und versuchte darin einen Zusammenhang mit versteckten bunten Eier zu finden, doch war ihm das absolut nicht möglich. Da er sie immer noch ratlos ansah, setzte sie noch etwas hinzu, was ihn aber nur noch weiter verwirrter: „Der Osterhase versteckt die Eier und man sucht sie dann.“ „Was hat denn nun ein Hase damit zu tun?“ Die Verzweiflung klang allzu deutlich aus Richards Stimme Kieran konnte sich vorstellen, dass sie oft derlei Unterhaltungen führten, die früher oder später darauf hinausliefen, dass sein bester Freund irgendwann derart entnervt war, dass er das Gespräch einfach beendete. Aber zumindest an diesem Tag war es Asterea, die das in die Hand nahm. Sie schnaubte wütend. „Du bist so engstirnig.“ „Gib doch einfach zu, dass du keine Antwort darauf hast.“ Statt darauf noch etwas zu sagen, fuhr Asterea herum und stapfte mit zornigen Schritten davon, fort aus ihrem Blickfeld und – wie Kieran vermutete – auch aus ihrer Hörweite. „Was macht sie jetzt?“ „Schmollen“, antwortete Richard. „Zu Hause geht sie dafür immer ins Gästezimmer. Hier setzt sie wohl ihre Tätigkeit fort.“ Kieran sagte nichts mehr dazu, reckte dafür aber den Hals und versuchte, sie wieder zu entdecken, doch von der jungen Frau war nichts mehr zu sehen. „Sie ist seltsam, stimmts?“ Es klang weniger wie eine Frage, es schien Kieran eher, dass Richard um Zustimmung bei seiner Feststellung heischte, immerhin hatte er diese bislang von allen Seiten im Dorf bekommen, da wollte er auch seinen besten Freund auf seiner Seite wissen. Doch Kieran enttäuschte ihn darin: „Sie ist anders – aber interessant. Ich denke, sie passt ziemlich gut zu dir. Du bist immerhin auch anders – aber nicht interessant.“ Der Seitenblick von Richard blieb ihm trotz seinem Versuch, Asterea zu erspähen, nicht verborgen, doch er reagierte nicht darauf, immerhin hatte er seiner Meinung nach nur die Wahrheit gesagt. „Das sagt gerade der Richtige“, brummte Richard schließlich. Kieran schmunzelte nur und hielt weiter Ausschau, bis es zu dunkel wurde, um noch etwas zu sehen. Der heftige Wind, der an den Fenstern rüttelte, vermischt mit den Regentropfen, die dagegen prasselten, ließen Kieran glücklich darüber sein, sich im Inneren eines Hauses zu befinden. Mit einer Tasse Tee in den Händen und einer hellen Lampe auf dem Tisch, die alles jenseits der Fenster noch dunkler erscheinen ließ, konnte er stundenlang dasitzen und nach draußen starren. Richard tat es ihm oftmals gleich, aber an diesem Abend sah er immer wieder zwischen seinen Händen und der Tür hin und her, während er mit dem Fuß in einem unregelmäßigen Rhythmus auf den Boden tippte. „Sie ist immer noch nicht wieder da“, stellte er tonlos fest Kieran neigte den Kopf. „Das sollte dich doch freuen? Du warst doch immer genervt von ihr.“ Er wusste, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, wollte aber die Reaktion seines Freundes austesten – und er wurde nicht enttäuscht. Richard runzelte seine Stirn. „Nur weil sie mich manchmal nervt, heißt das nicht, dass ich will, dass ihr etwas passiert. Oder vielleicht ist ihr schon etwas geschehen. Normalerweise kommt sie nicht so spät nach Hause.“ Selbst für Kierans Empfinden war das schon regelrecht süß. So wie er seinen besten Freund kannte, waren diese Worte mit Sicherheit der beste Beweis dafür, dass Asterea ihm etwas bedeutete. „Sollen wir sie suchen gehen?“ Richard schien durchaus erleichtert zu sein, dass dieser Vorschlag nicht von ihm kam, nickte aber sofort und erhob sich. Nachdem er drei Regenmäntel herausgesucht und Kieran zwei Lampen vorbereitet hatte, begaben sie sich in den Sturm hinaus. Der heftige Wind zerrte an ihren Mänteln, der Regen durchnässte diese in wenigen Sekunden, die klamme Feuchtigkeit ließ in Kieran die Sehnsucht nach einem heißen Bad entstehen. Die Lampen halfen nicht sonderlich viel gegen die Dunkelheit, die alles Licht zu verschlucken schien, aber sie verbreiteten ein Gefühl von Sicherheit, das beiden half, sich ohne Besorgnis vom Haus und schließlich von der kleinen Stadt zu entfernen, während sie nach Asterea suchten. Da keiner von beiden wusste, wo sie hingegangen war, liefen sie aufs Geratewohl in irgendeine Richtung, die Richard gut erschien, was sie direkt in ein kleines Waldstück führte. Das war etwas, was Kieran an Cherrygrove absolut nicht mochte: Es war auf allen Seiten auf irgendeine Art und Weise von Wald umgeben, einer davon durfte sogar nicht mal betreten werden. Der, in dem sie sich in dieser Nacht befanden, gehörte allerdings bereits zu der Bergkette im Süden und war keine verbotene Zone. Doch warum es Richard ausgerechnet dorthin zog, konnte Kieran nicht sagen – umso größer war seine Überraschung, als er tatsächlich einen Korb auf dem Boden entdeckte. Die Eier, die darin gewesen waren, lagen auf dem Boden verstreut, von einigen war die Schale abgesplittert. „Sie war hier“, stellte Richard triumphierend fest. Kieran war immer noch damit beschäftigt, sich zu fragen, woher er so genau gewusst zu haben schien, in welche Richtung er gehen musste, um sie zu finden, wenngleich sie selbst immer noch fehlte. Durch das Finden des Korbs mit neuem Enthusiasmus beseelt, strebte Richard weiter, gefolgt von Kieran, der neugierig war, ob sein Freund es tatsächlich schaffen würde, sie zu finden. In den Bergen schien das Wetter noch schlimmer zu sein als auf dem freien Feld zuvor. Kierans ganzer Körper zitterte vor Kälte, die Kleidung klebte auf seiner Haut und das laute Heulen des Windes schien ihm geradezu in die Ohren zu schreien, mit dem Ziel, ihn taub werden zu lassen. Richard allerdings war nichts davon anzumerken, er lief unbeirrt weiter, selbst als ihm seine Lampe aus der Hand fiel und mit einem leisen Splittern zersprang. Das Feuer loderte noch einmal hell auf, als es sich endlich in Freiheit wähnte und erlosch im nächsten Moment durch den heftigen Regen. Richard fluchte leise, setzte dann aber seinen Weg fort. Kierans Lampe bot ihm immer noch genug Licht, dass er seinen Weg durch das Gebirge finden konnte – bis sie ein helles Glühen inmitten der Dunkelheit sehen konnten. Gleichermaßen unschlüssig blieben sie beide stehen, Wind und Regen ausgesetzt, aber ausnahmsweise waren sie dem gegenüber mal gleichgültig. „Du kennst dich besser aus“, begann Richard, „was könnte das sein?“ Kieran runzelte seine Stirn, als er nachdachte. „Viele Möglichkeiten gibt es nicht, vor allem nicht im Regen. Es könnte ein anderer Wanderer sein.“ „Oder eine Hexe?“ Mit gehobener Augenbraue blickte er Richard an. Er hob sogar die Lampe ein wenig, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können, um sicherzugehen, dass es sich bei diesem Mann wirklich um seinen sonst so rational denkenden Freund handelte, der früher nicht einmal die Existenz solcher Frauen in Erwägung gezogen hatte. Statt das allerdings anzusprechen und sich nun in Diskussionen darüber zu ergehen, was zu seinem neuen Denken geführt hatte, stellte Kieran eine Gegenfrage: „Was sollte eine Hexe hier bei diesem Wetter tun?“ „Was tun wir hier?“, erwiderte Richard. Kieran rollte mit den Augen, konnte sich aber die Bemerkung nicht verkneifen, dass Asterea wohl ihren ganz eigenen Einfluss auf seinen Freund hatte. Dafür wurde er mit einem finsteren Blick bedacht, doch Richard sagte nichts mehr und wandte sich lieber wieder dem Licht zu. „Finden wir heraus, was es ist.“ Unausgesprochen glaubte Kieran die Worte Hoffentlich ist mit Asterea alles in Ordnung zwischen dem Gesagten zu hören, doch erneut sagte er nichts dazu, sondern nickte nur und folgte Richard weiter. Je näher sie dem Licht kamen, desto deutlicher wurde, dass es aus dem Inneren einer kleinen Höhle schien – und im Schein davon konnten sie einen deutlichen Umriss erkennen. Richard atmete erleichtert auf und stürzte hastig in die Höhle, worauf Asterea aus ihrem Halbschlaf hochschreckte und das Licht erlosch, so dass Kieran nicht erfahren konnte, wovon es verursacht worden war. Als er sich ebenfalls zu den beiden in die Höhle gesellte, war Asterea bereits dabei, stockend zu erklären, warum sie hier war. „Es war schon dunkel, als ich in die Berge kam – und dann hat mich ein Bär erschreckt. Ich hab mich dann hier in diese Höhle gerettet...“ „Und der Bär?“ „Der wird wohl mehr Angst vor ihr gehabt haben als sie vor ihm“, antwortete Richard auf Kierans Frage und erntete dafür einen kraftlosen Schlag gegen seinen Arm von Asterea. „Sei nicht so gemein zu mir, Ardy, ich hatte wirklich Angst. Zum Glück war der Bär aber wesentlich langsamer als ich.“ Doch plötzlich entspannte sich ihr Gesicht wieder und ein liebevoller Ausdruck erschien darauf. „Aber du bist mich suchen gekommen.“ „Es war Kierans Idee“, wehrte Richard brummend ab. „Bedank dich lieber bei ihm.“ Das tat sie auch, wenngleich nur kurzangebunden, um sich gleich darauf wieder lächelnd Richard zuzuwenden. Für sie war immerhin er ihr Held und Kieran hatte auch keinerlei Ambitionen darauf, ihm diesen Platz wegzunehmen, deswegen sagte er nichts weiter dazu. Stattdessen beobachtete er, wie Richard den dritten Regenmantel hervorzog – der auf mysteriöse Weise nicht nass geworden zu sein schien – und diesen um Astereas Schultern legte, wofür er ein dankbares Lächeln bekam und er dieses sogar erwiderte. Kieran schmunzelte leicht. Ja, für ihn war es eindeutig, dass Richard genau die Person gefunden hatte, die ihn ergänzte und mit der er glücklich werden könnte. Ganz offenbar würde sie immerhin nicht nur alles für ihn tun, er tat es auch für sie – oder zumindest tat er mehr für sie als für andere Menschen und bei ihm war das schon ein Zeichen. Mit Sicherheit fehlte nicht mehr viel, bis auch Richard sich eingestand, was er fühlte und dann könnten sie beide zusammen glücklich werden, zumindest wünschte Kieran es ihnen. „Dann können wir morgen zusammen Ostereier suchen~“ Astereas Stimme holte ihn wieder aus seinen Gedanken. „Was ist das für eine Suche, wenn du doch weißt, wo alle sind?“, erwiderte Richard. „Ich kann es bis morgen vergessen, wirklich~“ Er rollte mit den Augen. „Ja, mit Sicherheit – aber ich verstehe immer noch nicht, was dieses Ostern mit Eiern oder einem Hasen zu tun hat...“ Genausowenig wie Kieran – und so wie er Asterea kennen gelernt hatte, würde keiner von ihnen beiden es je verstehen. „Ich verstehs auch nicht“, merkte Nolan an, als Kieran die Geschichte beendet hatte. Es war einer der seltenen Tage an denen sein Vater einen klaren Kopf besaß und sogar gemeinsam mit ihm und dem misstrauischen Landis zu Abend aß. An solchen Tagen konnte Nolan sich schwer vorstellen, dass er manchmal panische Angst allein beim Gedanken an Kieran empfand. Doch zu seinem Bedauern wurden diese friedvollen Tage immer seltener. „Tante Asti verteilt also bunte Eier, um einen Zombie zu feiern?“ Landis prustete los, worauf sogar Kieran nicht anders konnte als ein wenig zu lächeln. Nolan sah zwischen beiden hin und her. „Aber so ist es doch.“ „Hat Rea euch schon von Weihnachten erzählt?“ Die beiden Jungen nickten einstimmig, worauf Kieran fortfuhr: „Dieser Jesus ist derjenige, der an Ostern wiederauferstanden ist.“ Nolans Augen begannen sofort zu leuchten. „Dann feiern wir, wie ein Held den Tod besiegt hat!“ „So könnte man sagen.“ „Aber diese Eier-Sache...“, warf Landis ein, ehe Nolan anfangen würde, wieder einen Plan zu schmieden, der sie genau wie damals an Weihnachten in die Hütte eines vermeintlich Geisteskranken führen würde. „Ich wette, Rea weiß selbst nicht, was es damit oder mit dem Hasen auf sich hat. Wo auch immer sie solche Ideen aufgeschnappt hat. Zumindest in Király habe ich noch nie von so etwas gehört.“ Kieran und Nolan blickten Landis an, der allerdings auch nur mit den Schultern zucken konnte. „Keine Ahnung, wo sie das alles immer aufgeschnappt hat. Keiner bei uns fragt sie danach – aber selbst wenn, sie würde nur irgendwas Blödes sagen.“ Damit spielte er auf ihre kryptischen Antworten an, die oft dazu führten, dass das Thema gewechselt wurde, schon allein weil es Richard zu dumm wurde. „Hoffentlich habt ihr morgen viel Spaß beim Suchen der Ostereier“, bemerkte Kieran freundlich. Landis sah ihn erneut so misstrauisch wie schon den ganzen Abend zuvor an. Zwar konnte Nolan das durchaus nachvollziehen, aber er genoss die ruhigen und friedlichen Zeiten einfach, statt sich darum zu sorgen, dass sie bald wieder enden könnten. Einen Moment fürchtete er, sein Vater oder Landis würde diesen Frieden abrupt beenden, doch als Kieran sanft lächelte – was er selten tat – legte sich zumindest die misstrauische Mimik bei seinem Freund und er fuhr mit dem Essen fort. Nolan lächelte erleichtert und aß ebenfalls weiter, um zumindest an diesem Abend eine vollkommen normale Mahlzeit wahrzunehmen, an die er trotz dieser Ereignislosigkeit noch viele Jahre denken würde. Die Stimme der Erfahrung ------------------------ Mit wachsendem Unwohlsein beobachtete Nolan wie Landis immer wieder auf und ab tigerte. Kenton dagegen, der auf der hölzernen Veranda saß, schien so sehr in sein Buch vertieft, dass er das nicht einmal bemerkte, jedenfalls ließ er sich absolut nicht in seiner Konzentration stören. Nolan lehnte mit dem Rücken an einem der Holzpfosten, der das Vordach des Ausbildungsgebäudes stützte. Sein Kopf folgte den Bewegungen seines Freundes. Landis murmelte wütend vor sich her. Das konnte nur eine Ursache haben und das wussten seine Freunde beide, gerade deswegen schwiegen sie. Aber an diesem Tag war es besonders extrem. „He, Lan“, sagte Nolan schließlich, als ihm das doch zu unheimlich wurde. „Solltest du dich nicht mal wieder beruhigen? Du führst dich auf, als hätte jemand versucht, dich umzubringen.“ Augenblicklich hielt Landis inne und blickte Nolan wütend an. „Nein, tue ich nicht!“ „Vielleicht kein direkter Mordversuch“, sagte Kenton, ohne von seinem Buch aufzublicken. „Aber du tust tatsächlich so als hätte jemand dich kidnappen wollen.“ „Ich würde mich lieber kidnappen lassen“, erwiderte Landis schlecht gelaunt. „Dann müsste ich zumindest Oriana nicht mehr sehen.“ Nolan und Kenton rollten gleichermaßen mit den Augen. „Worüber habt ihr heute gestritten?“ Die Prozedur war beiden bereits dermaßen bekannt, dass sie nur noch genervt reagieren konnten. Aber dass Landis dermaßen wütend deswegen war, das war neu. Eigentlich konnte das nur eines bedeuten, aber sie wollten es doch von ihm hören. „Worüber wohl?“, brummte er zur Antwort. Er hielt endlich wieder an und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. „Es ging um diesen verdammten Fredi-Idioten!“ Seit dem Zwischenfall in der Höhle waren inzwischen zwei Jahre vergangen und egal wie oft Landis versucht hatte, sich bei Frediano zu entschuldigen und ihm alles zu erklären, der Kommandantensohn wehrte einfach immer ab und gab ihm zu verstehen, dass er nichts davon hören wollte. Bei Nolan war er nicht ganz so verschlossen, aber dieses Thema war selbst dann noch ein rotes Tuch für ihn. Die letzten zwei Jahre hatten Landis und Nolan damit verbracht, sich zu fragen, was dem anderen wohl geschehen und wie es ihm gelungen war, zu entkommen. Aber keiner von beiden war der Antwort auch nur ansatzweise nahegekommen. Fredianos Ablehnung, verbunden mit dessen Annäherungsversuchen an Oriana, hatten bei Landis eine äußerst starke Abneigung gegen den Kommandantensohn erzeugt, die mit quasi jedem Tag größer wurde. Kenton seufzte leise, während er eine Seite in seinem Buch weiterblätterte. „Du bist auch selbst Schuld. Warum ignorierst du Frediano nicht einfach, statt auf jede Provokation einzugehen?“ Nolan nickte zustimmend. „Du weißt doch, dass Oriana ihn mag, da solltest du lieber versuchen, zumindest Waffenstillstand zu führen – außerdem ist er der Sohn von Kommandant Caulfield und da du in der Kavallerieausbildung bist wäre es blöd, wenn du dir es gleich am Anfang verbaust.“ Wütend über die fehlende Zustimmung seiner Freunde, schnaubte Landis. „Ich verstehe eh nicht, warum Ria so an dem Kerl hängt. Er ist ein arroganter Idiot, kein Wunder, dass in New Kinging keiner mit ihm zu tun haben wollte.“ „LANDIS!“ Er zuckte heftig zusammen. So sehr wie er in Rage gewesen war, hatte er nicht bemerkt, wie die Blicke von Nolan und Kenton plötzlich auf einen Punkt hinter ihm fixiert worden waren. Schuldbewusst wandte Landis sich Oriana zu. Ihr zorniger Gesichtsausdruck sprach Bände und verriet ihm, dass er hier mit einer einfachen Entschuldigung nicht mehr weit kommen würde. „W-wie lange stehst du schon da?“, fragte er mit zitternder Stimme. „Lange genug! Was denkst du dir eigentlich dabei!?“ Er presste die Lippen aufeinander. Aus Erfahrung wusste er, dass jedes weitere Wort die Situation nur verschlimmern würde, weswegen er lieber schwieg. Ohne sich umzusehen bemerkte er, dass Nolan und Kenton eilig die Flucht ergriffen, um dem Streit zu entgehen. „Meine Güte!“, fuhr Oriana fort. „Ich verlange ja nicht, dass ihr Brüder werdet! Ich will nur, dass du endlich aufhörst, dich immer mit ihm zu streiten!“ „Er fängt immer an!“, erwiderte Landis, der das nicht auf sich sitzen lassen wollte. „Und er ist älter als ich, er sollte es also besser wissen!“ Zufrieden über seine Reaktion nickte er sich selbst zu, doch Oriana war entschlossen, ihn so nicht davonkommen zu lassen. „Frediano weiß nicht sonderlich viel davon, wie man mit Menschen umgeht, das solltest du respektieren und dich dementsprechend verhalten.“ Sie zögerte für einen kurzen Moment, fuhr dann aber dennoch fort: „Du solltest das doch verstehen. Die Leute nehmen immerhin auch Rücksicht auf deine verminderte Intelligenz.“ Da Landis, der von diesen Worten sprachlos war, nichts erwiderte, nahm sie an, dass er sie einfach nicht verstanden hätte, weswegen sie zu einer kurzen Erklärung ausholte: „Oh, verzeih~ Ich meinte natürlich, dass du das verstehen solltest, weil die Leute wegen deiner Dummheit Rücksicht auf dich nehmen.“ Empört pumpte Landis Luft in seine Backen, Zornesröte stieg in sein Gesicht. „Fein! Dann geh doch zu deinem Sozialkrüppel, wenn ich dir zu dumm bin! Er ist immerhin was Besseres als ich, nicht wahr?“ Er fuhr herum und lief mit großen Schritten davon. Eigentlich wollte sie ihm hinterher rufen, dass es keinen Zweck hätte, wegzulaufen und er gefälligst zurückkommen sollte, damit sie darüber sprechen könnten, doch ihre Zunge war dummerweise schneller als ihre Vernunft: „Er kann zumindest richtig lesen!“ „Du kannst mich mal!“, rief er zurück, ohne sich zu ihr umzudrehen. Oriana grummelte leise bis Landis aus ihrer Sichtweite verschwand. Kaum war das geschehen, seufzte sie laut. „Idiot.“ „Wenn du es nicht so gemeint hast, solltest du dich vielleicht entschuldigen.“ Diesmal war sie es, die wegen der unerwarteten Stimme zusammenzuckte. Hastig wandte sie sich ihm zu. „Ah, Frediano. Wie lange bist du schon da?“ Er hob gleichgültig die Schultern. „Lange genug. Findest du es richtig, dich so sehr mit ihm zu streiten?“ Da ihr keine andere Antwort einfiel, erwiderte sie einfach das Erstbeste: „Du machst das dauernd.“ „Ich liebe ihn aber nicht.“ Seine Erwiderung ließ sie zusammenzucken. Allerdings fing sie sich sofort wieder und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Pah~ Langsam bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Ihn interessiert es offenbar ja nicht, was ich denke und fühle.“ „Das ist mir auch schon aufgefallen“, bemerkte er mit geneigtem Kopf. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr widersprechen würde, allerdings kam seine Zustimmung äußerst unerwartet. Es verunsicherte sie. Wenn sogar Frediano so etwas bemerkte, dann musste auch etwas dran sein. Möglicherweise empfand Landis einfach nicht dasselbe für sie wie sie für ihn und fühlte sich möglicherweise von ihr eingeengt. Dann hätte Papa ja recht gehabt... Ihr Vater hatte sie stets vor dem Versuch gewarnt, einen Jungen in Landis' Alter an sie zu ketten. Er hatte von Freiheitsdrang und dem Abstoßen irgendwelcher Hörner gesprochen... Wenn sie ehrlich war, hatte sie nie wirklich zugehört, weil sie immer der festen Überzeugung gewesen war, es besser zu wissen. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Sie verwarf die Gedanken hastig wieder, da sie Fredianos abwartenden Blick auf sich spürte. „Oh, tut mir Leid... hast du etwas gesagt?“ „Ich wollte wissen, ob du mit mir essen willst. Meine Tante ist zurzeit nicht da.“ Sie lächelte ein wenig traurig. „Natürlich, danke.“ Wie üblich herrschte Schweigen am Tisch. Normalerweise lag das daran, dass Landis sein Essen hinunterschlang und Richard sich darauf konzentrierte, das zu ignorieren; den Versuch, seinem Sohn das auszutreiben, hatte er schon längst aufgegeben. An diesem Tag kam das Schweigen aber eher von einem bedrückten Landis, der lustlos in seinem Essen herumstocherte. Richard dagegen genoss die Stille und die in seinen Augen ausnahmsweise angenehme Mahlzeit. Asterea sah immer wieder zwischen beiden hin und her. Die auffordernden Blicke, die sie Richard zuwarf, wurden von ihm erbarmungslos mit seinem Mich-kümmert-es-nicht-Ausdruck erwidert. Wann immer sie zu Landis sah, blickte dieser nur stur auf sein Essen hinunter, das er mit seiner Gabel bereits in seine Einzelteile zerlegt hatte. Als sie schließlich seufzte, sank Richards Laune auf den Tiefpunkt. Allerdings sagte er nichts, sondern ließ Asterea die Frage stellen, die ihr auf der Zunge brannte: „Was ist los, Landis?“ „Nah... gar nichts.“ Richard wollte bereits aufatmen, doch er hielt sich zurück, da er seine Ehefrau gut genug kannte, um zu wissen, dass sie nicht aufgeben würde. Tatsächlich hakte sie sofort nach: „Da muss doch was sein. Sonst denke ich immer, du willst unser Geschirr gleich mitessen. Du wirst doch nicht etwa krank, oder?“ Besorgt legte sie eine Hand auf seine Stirn, was er normalerweise mit einer Armbewegung abwehrte. An diesem Tag aber ließ er sie gewähren, er blickte nicht einmal auf. „Hmm, nein, du fühlst dich nicht heiß an. Also, was ist los?“ „Können wir nicht einmal in Ruhe essen?“, fragte Richard seufzend. „Wir können doch auch später darüber sprechen, oder?“ Damit meinte er eigentlich nur Asterea und Landis, er selbst kümmerte sich nur ungern um die Probleme seines Sohnes und überließ das lieber seiner überfürsorglichen Frau. Ihr beißender Blick verriet ihm, dass ihr das Gesagte wieder einmal nicht sonderlich gefiel, aber ihn kümmerte das nicht, so dass er einfach weiteraß. Asterea seufzte wortlos und wandte sich wieder ihrem Sohn zu. „Also~ Was liegt dir auf dem Herzen, Lan?“ Er sah kurz zu Richard, der inzwischen nicht mehr zuzuhören schien, dann wandte er sich wieder an seine Mutter. „Oriana und ich haben uns heute gestritten. Also, richtig heftig, nicht wie sonst...“ „Owww, mein armer kleiner Lan~“ Für Asterea schien das eine Aufforderung zu sein, ihren Stuhl näher zu ihm zu rücken und ihre Arme um ihn zu legen. „Erzähl deiner Mutter alles, was dich belastet~“ Normalerweise wehrte Landis sich dagegen, von ihr umarmt zu werden, doch selbst dafür fühlte er sich im Moment nicht wirklich in der Stimmung. „Du verhätschelst ihn“, kommentierte Richard. „Es ist doch nur ein Streit gewesen.“ Beide sahen zu ihm hinüber, wobei Asterea schon wieder verärgert war, ihn aber diesmal nicht zurechtwies – immerhin sah sie hier die Gelegenheit, dass es endlich mal zu einem Vater-Sohn-Gespräch kam. Tatsächlich legte Richard wieder eine Pause ein und sah Landis an. „Du bist vierzehn. Es wird in deinem Leben noch viele Streitereien geben. Du kannst dich nicht nach jedem Streit deinen Depressionen hingeben, irgendwann wird das ohnehin nicht mehr gehen. Stattdessen solltest du diese Möglichkeiten nutzen, um daran zu wachsen. Jeder Streit bietet dir die Gelegenheit, deinen Horizont zu erweitern und deine sozialen Kontakte auszusortieren.“ Erstaunt, aber stolz, sah Asterea ihren Mann an. Sie wusste ja immer, dass so einiges in ihm steckte, aber mit so viel Weisheit hätte sie nicht gerechnet. „Ich kann doch Oriana nicht aussortieren!“, erwiderte Landis heftig. „W-wir wollten immer zusammenbleiben!“ Richard ließ sich von der Emotionalität seines Sohnes nicht aus der Ruhe bringen und sah ihm stattdessen direkt in die Augen. „Ihr wolltet das? Oder nur sie?“ Getroffen zuckte Landis wieder zusammen. „Wie ich vorhin gesagt habe, du bist erst vierzehn“, fuhr Richard fort. „Du musst dir von einer Oriana Helton nicht sagen lassen, wie du dein Leben zu verbringen hast. Es ist sehr wahrscheinlich, dass du in deinem Leben noch viele Frauen kennenlernen wirst und möglicherweise wirst du jede einzelne davon mal heiraten wollen – wenn auch nur für eine Nacht.“ Er schmunzelte, als ob er sich an etwas Lustiges erinnern würde, was Asterea mit einem Stirnrunzeln quittierte. „Wie kannst du das sagen, Ardy?“ „Hör endlich auf, mich so zu nennen“, erwiderte Richard. Manchmal, besonders in diesem Moment, zweifelte Landis an der Liebe seiner Eltern zueinander. Sie verhielten sich einfach nicht so wie andere Paare, die er kannte. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte er auch noch nie gesehen, dass sie sich küssten oder sich gar sagten, dass sie sich liebten. Gäbe es ihn nicht, wäre er überzeugt, dass die beiden einfach nur zwei Fremde waren, die zufälligerweise im selben Haus wohnten. „Du siehst das viel zu romantisch, Asterea. Liebe hält selten für immer, die erste Liebe noch seltener. Und in seinem Alter ist er sich wahrscheinlich noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt liebt, sondern er folgt einfach dem bequemen Weg, den Oriana Helton ihm vorgegeben hat.“ Landis senkte den Kopf. Widersprechen schien ihm im Moment sinnlos, selbst er konnte die Wahrheit der Erfahrung in den Worten seines Vaters hören, auch wenn er es nicht glauben wollte. Hastig schüttelte er seine Mutter ab und stand auf. „Ich habe keinen Hunger mehr.“ Er verließ das Zimmer, um sein eigenes aufzusuchen. Wütend sah Asterea ihren Mann an. „Richard! Warum sagst du so etwas zu Landis?“ Gleichgültig hob er die Schultern. „Es ist nur die Wahrheit. Und von Frauen, die einen in die Hochzeit treiben, habe ich genug Erfahrung.“ Selbst sein darauf folgendes Schmunzeln, das zeigen sollte, dass er es nicht ernst meinte, konnte sie im Moment nicht mehr beruhigen. „Er ist noch jung, das ist wahr, aber das heißt nicht, dass du ihm seine erste Liebe vermiesen musst. Vielleicht hätte sich das alles auch wieder in Wohlgefallen aufgelöst, das weißt du nicht. Aber so...“ Sie verstummte, als eine Welle von Trübsinn sie überkam. „Er ist manchmal ohnehin so labil... Was, wenn er sich etwas antut...?“ Richard wusste genau, dass er die folgenden Worte bereuen würde, doch nachdem, was sie da eben gesagt hatte, konnte er sich selbst nicht mehr bremsen. „Das dürfte dir ja gut passen. Du wolltest ihn ja ohnehin nicht.“ Instinktiv zog er den Kopf zwischen die Schultern, doch der erwartete Wutanfall blieb aus. Ihr schlagartig blass gewordenes Gesicht weckte das schlechte Gewissen in seinem Inneren statt der Reue, die er eigentlich erwartet hatte. Bedrückt senkte sie den Blick wieder. Er konnte sie leise „So ist das nicht“ murmeln hören, aber aus Erfahrung wusste er, dass sie auf eine eventuelle Frage nicht reagieren würde. Da sie im Gegensatz zu sonst nicht aufstand und aus dem Raum rauschte, zog sich das angespannte Schweigen hin. Asterea aß weiter, während es nun Richard war, der nur lustlos in seinem Essen stocherte. So sehr er Stille normalerweise genoss, in einer solchen Atmosphäre war ihm dies nicht möglich. Also beschloss er, etwas dagegen zu tun. „Asti...“ Normalerweise bekam er alles, was er wollte, sobald er sie mit diesem Namen ansprach und es diente ihm auch stets dafür, dass sie ihre Wut vergaß. Er verstand zwar nicht, was das sollte, da er selbst es hasste, wenn man seinen Namen auf irgendeine Art und Weise abkürzte, aber warum sollte er es nicht dennoch ausnutzen? Sie hob den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren ungewöhnlich dunkel, was bedeutete, dass sie wirklich verletzt war, das verstärkte sein schlechtes Gewissen noch einmal. „Es tut mir Leid, ich habe das nicht so gemeint.“ Nur zögernd lächelte sie, als sie seine Worte registrierte. „Ist schon gut. Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe, langsam sollte ich darüberstehen.“ Trotz ihrer Worte füllten ihre Augen sich mit Tränen. Richard zögerte nicht lange, stand auf und ging um den Tisch herum zu Asterea hinüber. Neben ihr ging er in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein. Fragend blickte sie ihn an – und zuckte zusammen, als er ihr über die Wange strich, um eine der Tränen wegzuwischen. „Du solltest nicht weinen“, sagte er leise. „Tränen stehen dir nicht, Liebling.“ Tatsächlich begann sie wieder zu lächeln, als sie das hörte. „Ardy~“ Als die beiden sich schließlich küssten, bemerkte keiner von beiden, wie Landis, der vor der leicht geöffneten Tür gestanden hatte, hastig zurücktrat, um den Moment nicht zu stören. Er wandte sich wieder in Richtung seines Zimmers und lief davon, wobei er sich schwer beherrschen musste, nicht vergnügt zu summen. Seine Eltern schafften es, ihre Probleme zu besiegen und sich mit ihrer Liebe zusammenzuraufen. Dann würden er und Oriana das doch ebenfalls schaffen, oder? Entfremdung ----------- „Worüber habt ihr euch diesmal gestritten?“ Nicht einmal Nolans Frage brachte Landis dazu, von dem Buch aufzublicken, obwohl er sich sicher war, dass sein Freund bereits wusste, dass er nicht ernsthaft las. Dafür war er schon viel zu lange auf der selben Seite. „Wer sagt, dass wir gestritten haben?“, fragte Landis. „Ihr redet seit einer Woche nicht mehr miteinander.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir sind auch kein Paar, warum sollten wir dann jeden Tag sprechen?“ Nachdenklich neigte Nolan den Kopf, aber es war Kenton, der ihm schließlich die Antwort auf seine unausgesprochenen Fragen gab: „Landis und Oriana sind seit einem Monat nicht mehr zusammen – und seit einer Woche geht sie dafür mit Frediano aus, deswegen redet Landis nicht mehr mit ihr.“ Der Junge blickte ihn wütend über den Rand seines Buchs hinweg an. „Kannst du nicht mal jemand anderen beobachten?“ „Das wäre nicht halb so lustig.“ Kenton schmunzelte, konnte Landis damit aber nicht besänftigen. „Es nervt mich aber.“ „Du bist nur böse auf mich, weil du die Situation mit Oriana nicht erträgst. Seit zwei Jahren besteht eure Beziehung nur daraus, dass ihr zusammenkommt, euch trennt und dann wieder zusammenkommt...“ „Ja und das war toll!“, bekräftigte Landis. „Nach jedem Streit haben wir uns wieder versöhnt, bevor wir uns irgendwann wieder gestritten haben. Das war aufregend! Aber jetzt... jetzt ist Frediano dazwischengekommen! Der Kerl darf sich nicht einmischen! Überhaupt, wie konnte sie sich auf den einlassen? Er ist immer noch ein Sozialkrüppel.“ Leise meckerte er weiter vor sich her, während er wieder das Buch vor sein Gesicht hielt. „Findest du nicht, du übertreibst etwas?“, fragte Kenton. „Mit sechzehn solltest du langsam erwachsen genug sein, um deine Probleme anders zu lösen.“ Missmutig pustete Nolan Luft durch seine geschlossenen Lippen. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass du zu alt für uns bist.“ Kenton hob schmunzelnd die Schultern. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass du zu dumm für mich bist.“ Nolan schnitt ihm eine Grimasse. „Oww, der war fies. Wie auch immer aber~ Fredi und Ria sind jetzt also seit einer Woche zusammen?“ Landis knurrte zustimmend und unterbrach dafür sogar seine Meckereien über Frediano. „Das ist seltsam...“, bemerkte Nolan gedankenverloren. Sofort ließ der Jüngste das Buch sinken. „Was denn?“ Er hoffte, etwas zu hören, was ihm helfen würde, Frediano für lächerlich zu befinden, doch Nolan druckste nur herum. „Na ja... ich weiß nicht, ob ich dir wirklich darauf antworten soll...“ „Sag schon!“, forderte Landis lautstark. Er griff nach Nolans Kragen, doch sein Freund wich hastig zurück. „Na ja, das ist nicht unbedingt... du wirst ziemlich böse werden...“ „Das werde ich auch so, wenn du nicht bald sagst, was so seltsam ist.“ Eine Prügelei – und wenn sie mit seinem besten Freund war – käme ihm gerade recht, immerhin könnte er sich so ein wenig abreagieren. Seufzend gab er auf. „Gut, ich sag's dir. Also, ich hab Frediano heute gesehen, er kam gerade aus New Kinging zurück.“ Er machte eine Pause, die zu einem entnervten „Und?“ von Landis führte. „Fredi hatte was bei sich und ich habe ihn so lange genervt, bis er mir gezeigt hat, was das ist.“ Noch einmal hielt er inne. Er schien sich erst überwinden zu müssen, was in Landis kein sonderlich gutes Gefühl erweckte. Langsam war er sich gar nicht mehr so sicher, ob er es wirklich hören wollte, aber nun ging es nicht mehr anders, er wusste bereits zu viel und musste nun auch den Rest erfahren. Nolan setzte ein gequältes Gesicht auf. „Es war ein Verlobungsring.“ Kenton zuckte zusammen, während Landis überraschend ruhig blieb. „Ein Ring, huh? Er will Ria nach einer Woche schon fragen, ob sie ihn heiraten will?“ Er lachte laut auf. „Was für ein Idiot. Als ob Ria darauf eingehen würde.“ Kenton und Nolan warfen sich irritierte Blicke zu. „Warum sagst du das?“, fragte der Älteste. „Sonst regst du dich über alles auf, was Frediano angeht.“ „Ja, aber da mache ich mir keine Sorgen. Ria wird mit Sicherheit niemand anderen heiraten als mich.“ „Was macht dich da so sicher?“, hakte Kenton nach. Selbstsicher warf Landis sein Haar zurück. „Ria hat es gesagt. Als wir das erste Mal zusammenkamen.“ Der Älteste seufzte. Es war Kenton durchaus anzusehen, dass er sich manchmal fragte, wie er nur in die Freundschaft mit den beiden geraten war. In diesem Moment wieder, aber es endete auch diesmal wie immer: Ihm fiel ein, dass das alles nur die Schuld seines Vaters war, aber so wirklich böse konnte er diesem nicht sein; die guten Zeiten und wertvollen Erinnerungen, die er mit seinen Freunden teilte, machten alles wieder wett, was er an Tagen wie diesen erleiden musste, wenn er glaubte, dass die Dummheit der beiden Schmerzen bei ihm verursachen würde. „Das war vor drei Jahren“, erinnerte er Landis. „Damals warst du dreizehn und sie noch nicht ganz vierzehn, in der Zeit kann sich einiges verändern.“ „A-aber als wir klein waren, haben wir uns das schon unter einem der Kirschbäume geschworen“, murmelte Landis kleinlaut. Kentons Worte erinnerten ihn in unangenehmer Weise an die seines Vaters von vor zwei Jahren. Doch besonders im Moment wollte er diese nicht akzeptieren. Es durfte einfach nicht sein, dass Oriana ihn endgültig verließ – und das auch noch wegen Frediano. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass du übermäßig naiv bist, Landis“, meinte Kenton. „A-ach ja? Und ich habe das Gefühl, dass du... du...“ Hilflos hielt Landis inne und suchte nach irgendeiner Beleidigung, die seinen Freund auch treffen würde. Allerdings kannte er ihn gut genug, um zu wissen, dass nichts, was ihm einfiel, funktionieren würde. An Kenton prallte einfach alles ab. Geknickt senkte er den Kopf. „Uuuh~ Ich muss herausfinden, ob Ria den Antrag annimmt... Aber ich kann sie ja nicht dauernd überwachen...“ Heroisch stemmte Nolan die Arme in die Hüften und streckte die Brust raus. „Fürchte dich nicht, dein Held ist zur Stelle!“ Ein leises Seufzen entfuhr Kenton bei dieser Aktion. Über die Lächerlichkeit dieses Auftritts hatte er sich bereits oft genug beklagt, da sparte er sich jedes weitere Wort. Landis dagegen schien jedes Mal erneut davon begeistert, vermutlich weil das immer eine gute Nachricht für ihn bedeutete. „Was weißt du denn?“ „Ich hab Fredi so lange genervt, bis er mir nicht nur verraten hat, dass es ein Verlobungsring ist, sondern auch wann und wo er Ria den Antrag machen will.“ Gleichermaßen überrascht blickten die beiden anderen ihn an. Dass Frediano sich trotz der leicht nervigen Art des Jungen recht gut mit Nolan verstand, war ihnen bekannt gewesen, aber dass er es gerade mit diesem Verhalten schaffte, an Informationen zu kommen, das war erstaunlich für sie. „Wo? Wo?“, fragte Landis aufgeregt. Zufrieden über die Reaktion seiner Freunde, grinste Nolan. „Also...“ Der Vollmond war das einzige, was den drei Freunden mitten in der Nacht Licht spendete und den von Bäumen umgebenen kleinen See in der Nähe von Cherrygrove illuminierte. Nolan, der als einziger recht unbeschwert war, betrachtete lächelnd die hellen Kirschblüten, für die er sich viel zu selten Zeit nahm. Kenton dagegen war mehr als genervt davon, dass er zu neugierig gewesen war, um diesen Ausflug auszuschlagen, ungeachtet des beachtlichen Studienstoffs, der sich auf seinem Schreibtisch stapelte. Landis war versucht, nervös auf seiner Unterlippe zu nagen, doch er hielt sich selbst davon ab, in Gedanken an die Verletzung, die er sich einst dadurch zugezogen hatte. Dafür war seine innere Unruhe geradezu spürbar. Sein Blick suchte immer wieder die Gegend ab, während er nach Oriana und Frediano Ausschau hielt. Die Zeit verging und mit jeder Minute, die verstrich, wuchs in Landis die Befürchtung, dass die beiden möglicherweise nicht kommen würden. Vielleicht hatte Frediano seinen Freund nur angelogen, um ihn loszuwerden. Oder Nolan hatte ihn angelogen. Vielleicht war er ja nun mit Frediano befreundet und wollte helfen, Landis fertigzumachen. Ah, hör auf, dir das einzureden! Das würde er nie tun. Trotz seiner eigenen inneren Ermahnung, blickte er prüfend zu Nolan hinüber. Als er das gedankenverlorene Lächeln auf seinem Gesicht bemerkte, verwarf er die Überlegung endgültig. Das würde er wirklich nie tun, No ist zu nett dafür. Also sah Landis wieder zum See hinüber – und bemerkte in dem Moment tatsächlich zwei Personen, die auf das Gewässer zutraten. Automatisch duckten die drei Jugendlichen sich, so dass sie von einem großen Busch verdeckt wurden. Am Ufer blieben Frediano und Oriana stehen. Sie schienen sich über etwas zu unterhalten, doch sie redeten zu leise, um es verstehen zu können. Landis seufzte lautlos. Können die sich nicht ein wenig lauter unterhalten? „Soll ich rausgehen und fragen, worüber sie sprechen?“, fragte Nolan flüsternd. Landis warf ihm einen bösen Blick zu, sparte sich aber eine Antwort, um keine Aufmerksamkeit auf ihr Versteck zu ziehen. Schuldbewusst sah Nolan wieder zum See hinüber, genau wie Landis, der sich gleich darauf wieder ärgerte. Oriana lachte – über etwas, das Frediano gesagt hatte! Wut kochte in ihm hoch, als er die beiden beobachtete. Bislang war es ihm schon zu viel gewesen, wenn er sie während des gemeinsamen Unterrichts zusammen gesehen hatte und da wirkten sie nicht so... verliebt. Die Eifersucht in seinem Inneren wuchs. Während der letzten zwei Jahre war ihm nie so sehr bewusst gewesen, dass er Oriana tatsächlich verlieren könnte – und im Gegensatz zu seinem Vater machte ihm das tatsächlich etwas. Selbst wenn die Möglichkeit existierte, dass er irgendwann jemand anderem begegnen würde, den er lieben könnte, so wollte er das eigentlich gar nicht. Alles, was er wollte, war Oriana. Ihr Temperament, ihr Lächeln, ihre Stimme, ihr Humor... all das wollte er haben. Und sie hatten ihm das auch versprochen – es war nicht fair, dass sich Frediano dazwischendrängte. Nolan sog scharf die Luft ein. Aus seinen Gedanken gerissen, bemerkte Landis erst in diesem Moment, dass Frediano sich vorgebeugt hatte, um Oriana zu küssen. Er glaubte zu spüren, wie etwas in seinem Inneren zerriss. Bevor einer seiner Freunde ihn zurückhalten konnte, sprang er auf und rannte auf das Paar zu. Die beiden waren so in ihren Kuss vertieft, dass sie Landis erst bemerkten, als dieser Frediano zu Boden gerissen und sie damit wieder getrennt hatte. Verwirrt sah Oriana auf die beiden Jugendlichen hinunter, die direkt mit einer Prügelei anfingen und sich in wüsten Beschimpfungen über den jeweils anderen ergaben. Dass Nolan und Kenton kurz darauf ebenfalls dazukamen, der Szene aber nur zusahen, wunderte das Mädchen dann nicht mehr. „Landis, hör auf damit!“ „Nein, mach weiter!“, feuerte Nolan seinen Freund an. Natürlich hörte er nicht auf sie, sondern versuchte stattdessen weiterhin, Frediano zu treffen, was dieser aber gekonnt abwehrte. Oriana schnaubte wütend und griff zu härteren Methoden. Rücksichtslos trat sie auf Landis ein, damit dieser endlich aufhörte – zumindest bei seinen anderen Keilereien half das immer. Tatsächlich ließ Landis nach wenigen Tritten von Frediano ab und ließ sich seitlich ins Gras fallen. „Au... das ist nicht fair, Ria...“ Normalerweise kniete sie sich danach neben ihm und verpasste ihm eine Kopfnuss, gefolgt von einem Kuss, doch diesmal ging sie neben dem Kommandantensohn in die Knie. „Alles in Ordnung, Frediano?“ Er richtete sich ein wenig auf. „Ja, schon gut. Das kam nur überraschend.“ Landis wollte wütend schnauben, doch er spürte, dass bereits Blut aus seiner Nase floss, da war Schnauben möglicherweise keine gute Idee. Wütend blickte Oriana zu Landis und seinen Freunden. „Was macht ihr Idioten hier überhaupt?!“ „Wir waren neugierig“, antwortete Nolan, bevor die anderen beiden auch nur reagieren konnten. Kenton seufzte. „Nolan... wie wäre es mit etwas Diplomatie?“ „Ja, okay, aber wo willst du hier Tee herbekommen?“, erwiderte er perplex. Ein erneutes Seufzen folgte auf seine Worte, Landis musste gegen seinen Willen schmunzeln. Oriana half derweil Frediano aufzustehen. „Lass uns gehen. Ich kümmere mich um deine Verletzungen.“ Landis erhaschte einen siegessicheren Blick, der ihm von dem Kommandantensohn zugeworfen wurde, bevor er wieder in seinen neutralen Gesichtsausdruck verfiel. „Gut.“ Die beiden gingen davon, während Landis weiterhin liegenblieb und in den Himmel starrte. „Das war eine schlechte Idee, oder?“ „Du hättest ein wenig überlegter vorgehen sollen“, stimmte Kenton zu. „Aber immerhin wird er ihr den Antrag wohl kaum heute machen, du hast also möglicherweise Zeit gewonnen. Dummerweise hast du mit dieser Aktion aber auch jede Menge Boden für ihn gutgemacht.“ „Ich bin ein Idiot...“ Bestimmt geschieht es mir nur recht, wenn sie ihn wirklich heiratet... „Wir sollten auch zurückgehen“, meinte Kenton. „Meine Mutter kann sich um deine Verletzungen kümmern... wie immer.“ Er half Landis, aufzustehen. „Also, gehen wir.“ „H-he, Moment mal!“, forderte Nolan. „Was ist jetzt mit meinem Dipaloma-Tee?“ Es ist vorbei ------------- Ein Monat war seit dieser kleinen Keilerei am See vergangen. Wie erwartet hatte das meiner Beziehung zu Oriana ziemlich zugesetzt. Sie schwieg mich nicht nur an, sie ignorierte mich sogar, wenn ich mit ihr sprach – normalerweise schenkte sie mir nur einen bösen Blick. Dementsprechend schlecht war jedenfalls auch meine Stimmung, weswegen ich Nolans Angebot ausschlug, an unseren freien Tagen mit ihm trinken zu gehen. Da ich ihn aber nicht auch noch deprimieren wollte, redete ich ihm aus, bei mir bleiben zu wollen. Anschließend versicherte ich meiner Mutter noch, dass alles in Ordnung war, damit sie und mein Vater mich auch allein ließen und ihrer Einladung zum Abendessen bei Freunden folgten. Mir lag absolut nichts daran, meiner Mutter erneut mein Gefühlsleben darzulegen, das ging mir langsam selbst auf die Nerven und es half ohnehin nichts. Warum fragte sie überhaupt so oft danach? Manchmal beneidete ich Nolan darum, dass er seit seinem dreizehnten Lebensjahr bereits allein aufwuchs, sich höchstens von seinen Nachbarn versorgen ließ und nur alle paar Monate einmal Besuch von seiner Großmutter bekam, um wieder mit Geld und Lebensmitteln versorgt zu werden. So lag ich an diesem Abend also in unserem Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte an die Decke. Den letzten Monat hatte ich das auf dem Bett in meinem Zimmer getan, aber manchmal brauchte ich eben ein wenig Abwechslung. Ich zählte die einzelnen Holzdielen aus denen die Decke bestand, gab aber schließlich auf, als ich feststellte, dass ich immer wieder von vorne anfangen musste, weil ich so unkonzentriert war. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu diesem Tag am See, dabei spürte ich wieder die Schmerzen, die Fredianos Schläge in mir ausgelöst hatten – zumindest im Nachhinein. Im Augenblick der Situation war gar nichts zu spüren gewesen. Im Gegensatz zu den Tritten von Oriana, die direkt eingesetzt hatten. Verrückt, selbst das fehlte mir in dem Moment. Ich überlegte sogar, Frediano noch einmal in eine Prügelei zu verwickeln, nur damit sie noch einmal einen Grund hatte, mich zu treten. Allerdings wusste ich schon im nächsten Augenblick, dass ich das bereuen würde, schon allein weil sie mich dann ja noch mehr hassen würde. Ein störendes Geräusch holte mich in die Wirklichkeit zurück. Sofort konzentrierte ich mich darauf, zu lauschen, um zu erkennen, was es war, aber es kam nicht wieder. Wahrscheinlich hatte ich es mir nur eingebildet oder irgendein Tier strich um das Haus. Zum Glück war ich kein kleines Kind mehr, das in solchen Situationen Angst bekam und sich im Schrank versteckte – ich war nur ein wenig nervös. Gerade, als ich wieder an etwas anderes denken wollte, erklang das Geräusch erneut, so dass ich es endlich einordnen konnte: Jemand klopfte gegen die Tür. Meine Nervosität verschwand sofort, zufrieden verschränkte ich die Arme hinter dem Kopf. Moment! Jemand war an der Tür! Hastig sprang ich auf und stolperte dabei beinahe über meine Schuhe, die ich achtlos abgestreift hatte. Eigentlich wollte ich ja allein sein, aber vielleicht war es Nolan mit irgendwas Alkoholischem – und das könnte ich im Moment gut brauchen, also sollte ich besser aufmachen. Auf meinem Weg zur Tür wuchs meine Freude darüber, was für einen tollen besten Freund er doch war, der mich in meinem Liebeskummer selbst dann nicht allein ließ, wenn ich ihn darum gebeten hatte. Ich kann wirklich nicht sagen, ob die Überraschung oder die Enttäuschung größer war, als ich die Tür öffnete und nicht Nolan vorfand. Aber was auch immer es war, im Endeffekt konnte ich die Person, die mir da gegenüberstand, nur anstarren. „Uhm... kann ich reinkommen?“, fragte Oriana zurückhaltend. Ich überging die Tatsache, dass sie mich nicht begrüßte – in dem Moment fiel mir das nicht mal auf – und trat zur Seite, damit sie hereinkommen konnte. Schüchterner als es für sie üblich war, trat sie ein und hielt direkt auf das Wohnzimmer zu. Ich schloss die Tür wieder und folgte ihr. Als sie meine Schuhe entdeckte, schüttelte sie seufzend den Kopf. „Lan, wie oft habe ich dir gesagt, dass du deine Sachen ordentlich wegräumen sollst?“ Ich erwiderte nichts darauf. Es kam mir wie ein Traum vor, dass sie plötzlich einfach aufgetaucht, nun wieder hier stand und mir wieder einmal Ordnung predigte. Das musste eine Einbildung sein, ganz sicher! Bekam man vom an-die-Holzdecke-starren Halluzinationen? Oriana schob die Schuhe mit den Füßen zusammen an die Seite, dann wandte sie sich mir zu. Sie lächelte, aber ein trauriger Glanz lag in ihren Augen. ... Ich wusste bis dahin nicht einmal, dass ich so etwas erkennen konnte, aber bei ihr fiel mir das sofort auf. „Was willst du hier?“, fragte ich abweisender als beabsichtigt. Eigentlich hätte ich sie am Liebsten in meine Arme gezogen und die Sache mit Frediano vergessen, aber ich konnte eine Ablehnung in ihrem Inneren spüren, die mir sagte, dass sie nicht deswegen gekommen war. „Du bist immer noch sauer, hm?“ „Was erwartest du? Dass ich dankbar vor dir auf die Knie falle, weil du mich durch Frediano ersetzt hast?“ Spätestens an dieser Stelle wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise wäre sie an dieser Stelle nun laut geworden, hätte mich beschimpft und mir wütend erklärt, dass Frediano kein Ersatz war – und auch kein Sozialkrüppel. Doch an diesem Abend blieb sie überraschend ruhig, ihr trauriges Lächeln riss nicht ab. „Nein, natürlich nicht.“ Sie setzte sich auf das Sofa und gab mir zu verstehen, dass ich das auch tun sollte. Ich folgte dieser Aufforderung nur langsam als ob ich damit die drohende schlechte Nachricht so lange hinausschieben könnte, bis sie sich in Luft aufgelöst hätte. Ja, zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass mir Orianas Nachricht nicht gefallen würde, auch weil sie eine Weile herumdruckste als müsse sie erst überlegen, wie sie mir das am besten beibringen sollte. Am Liebsten hätte ich sie gebeten, es mir einfach kurz und schmerzlos zu sagen, doch meine Kehle fühlte sich so trocken an, dass ich sicher war, nur ein Krächzen hervorbringen zu können. Als sie mir plötzlich direkt in die Augen sah, zuckte ich überrascht zusammen. Die Entschlossenheit in ihrem Blick wollte mir gar nicht gefallen. „Landis... du weißt, dass du mir sehr wichtig bist, nicht?“ „Wichtig genug, dass du mir mal versprochen hast, dass du mich heiratest.“ Auf meine Worte folgte ein Seufzen. „J-ja. Aber du weißt, Zeiten ändern sich.“ Nein... nein... das wollte ich eigentlich gar nicht wissen. Egal was mein Vater gesagt hatte und egal wie viele Frauen ich noch finden würde, ich wollte doch keine andere als Oriana und das würde auch immer so bleiben, das wusste ich einfach. „Und ich wollte, dass du es von mir erfährst und nicht von jemand anderem.“ Sie griff in ihre Tasche. Ich wusste bereits, was sie herausholte, bevor ich den Ring sah, den sie demonstrativ an ihren linken Ringfinger steckte. Sie sagte nichts, sah mich einfach nur an, mit der stummen Bitte nach Vergebung in ihren Augen. Ein splitterndes Geräusch schien in meinem Inneren zu erklingen, meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Es war dieser Moment, in dem ich begriff, dass mir etwas sehr Wichtiges unwiederbringlich verloren gegangen war. „R-Ria...“ Meine Stimme war tatsächlich ein einziges Krächzen, ich wunderte mich sogar, dass ich diesen kurzen Namen aussprechen konnte. Sie ergriff mein Gesicht mit beiden Händen und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Diese Geste war mir schmerzhaft vertraut, es war ihr Versuch mich zu trösten – nur wollte er an diesem Abend einfach nicht funktionieren. „W-warum tust du mir das an?“, murmelte ich halblaut. Sie entfernte sich wieder ein wenig von mir und neigte fragend den Kopf. „Hm?“ Ich packte sie an den Armen, so grob, dass sie vor Schmerzen ihr Gesicht verzog. Doch ich ignorierte das und wiederholte meine Frage ein wenig lauter. „Ich tue dir gar nichts an! Lass mich los!“ Mit einem heftigen Ruck riss sie sich von mir los und stand direkt wieder auf, damit ich sie nicht erneut packen konnte. „Geez, Lan, ich bin doch nicht das einzige Mädchen auf der Welt.“ Ich hatte erwartet, dass sie nun endlich wütend werden würde, doch stattdessen sprachen ihr Blick und ihre Stimme nur von Mitleid. „Du wirst jemanden finden, der besser für dich ist.“ Mir ging nur ein „Bla bla bla“ durch den Kopf, doch ich konnte das nicht sagen. „Ich will aber niemanden, der besser ist.“ Ich wollte ihr erklären, dass sie perfekt für mich war und ich nur sie liebte und immer lieben könnte, aber die Worte kamen mir nicht über die Lippen. Ihr mitleidiger Blick und der Verlobungsring an ihrer Hand sagten mir, dass es vergebliche Liebesmüh sein würde. Sie hätte den Antrag niemals angenommen, wenn sie sich nicht absolut sicher gewesen wäre. Ich müsste schon ein mittleres Wunder vollbringen, um ihre Meinung zu ändern – denn so viel dürfte es wohl brauchen, damit sie begann, ihren Verlobten mit denselben Augen zu sehen wie ich und ihn wieder verlassen würde. In einer tröstenden Geste strich Oriana mir über das Haar. Schmerzen durchzuckten meine Kopfhaut, als ob sie in Flammen stehen würde. Ich stieß ihre Hand weg, ein wenig eingeschüchtert wich sie zurück. „T-tut mir Leid. Du bist mir immer noch sehr wichtig, das weißt du. Können wir nicht einfach Freunde bleiben?“ Ich war mir nicht sicher, was ich ihr darauf antworten sollte oder ob ich das überhaupt tun sollte. Von ihr ignoriert zu werden war kein Zustand, den ich weiterhin erleben wollte, doch ich war mir nicht sicher, ob es mir gelingen würde, diese Verbindung jemals zu akzeptieren. ... Zumindest denke ich heute, dass ich damals so etwas hätte überlegen sollen, aber alles, woran ich denken konnte, war dass Frediano gewonnen hatte – und zwar das Wichtigste in meinem Leben. Ich schüttelte leicht den Kopf, nicht als Antwort auf ihre Frage, aber sie interpretierte es wohl als solche. „Bitte, Ria... geh einfach...“ Der Anblick des Ringes, der meine Augen über kurz oder lang anzog, bereitete mir stetig anwachsende Übelkeit. Die Traurigkeit in ihrem Gesicht zerriss mir zwar fast das Herz, aber ich wollte nun mehr als zuvor allein sein. Sie sagte nichts dazu, doch noch ein Mal, ein letztes Mal, küsste sie meine Stirn, bevor sie stillschweigend ging. Ich hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, während ich wie betäubt auf die Stelle starrte, an der sie eben noch gestanden hatte. Noch immer glaubte ich, das vorlaute Funkeln des Diamants sehen zu können. Erst als das Geräusch der Tür restlos verklungen war, sank ich auf dem Sofa zurück und starrte wieder an die Decke. Wenn ich mir einredete, dass alles nur ein Traum gewesen war, würde sich das vielleicht erfüllen. Ja, vielleicht war sie ja gar nicht hier gewesen und ich hatte mir das alles nur eingebildet. Aber das mir den Atem raubende Gefühl in meiner Brust störte mich sehr extrem in dieser Vorstellung. Tief in mir wusste ich: Es war vorbei. „Owwwww~“ Auroras und Aidans gemeinsamer Ausbruch unterbrachen Landis' Erzählung. Irritiert sah er seine Zuhörer an. „Äh, was?“ Bevor er sich entziehen konnte, hatte Aurora ihn bereits umarmt. „Mein armer kleiner Lan~ Was für eine böse Abfuhr~“ „Übertreib nicht“, erwiderte er und tätschelte ihr den Rücken. Nadia stimmte nickend zu. „Ja, er ist immerhin selbst schuld. Er hätte Frediano nur besser verprügeln müssen, dann hätte der sich nicht mehr an Oriana rangemacht.“ Die Blicke aller richteten sich nun auf sie, wobei besonders Aidan äußerst schockiert aussah. „Aber nein, Gewalt bringt doch nichts.“ „Ja, vielleicht hätte Frediano dann Landis umgebracht“, bemerkte Kureha. „Und das wäre sehr ungeschickt für uns gewesen.“ Nadia schnaubte. „Pff, irgendwie hätten wir das schon hinbekommen.“ Sie erntete nur ein Lachen von allen Anwesenden. „Ah, deswegen liebe ich unsere gemeinsamen Abende“, erklärte Aurora lächelnd. „Wir sitzen zusammen, trinken Tee und unterhalten uns über früher~“ Wie erwartet rollte Nadia mit den Augen. „Also nur über überflüssiges Zeug. Wen interessiert schon die Vergangenheit? Die ist immerhin vorbei.“ „Aber Landis kann so gut erzählen“, verteidigte Aidan die Sache sofort. „Du hörst ihm doch auch gern zu.“ Ertappt zuckte sie zusammen, ein leichter Rotschimmer legte sich auf ihr Gesicht. „G-gar nicht wahr!“ Erneut lachten die anderen, worauf sie schließlich einstimmte. Yarahs Abwesenheit, die inzwischen so gewohnt war, da sie nie dabei war, wurde gar nicht mehr bemerkt von den anderen. Schließlich ließ Aurora Landis wieder los. „Ah nun~ Du scheinst diese Trennung recht gut verkraftet zu haben, Lan.“ Er schmunzelte. „Abgesehen davon, dass ich Frediano endlich am Boden sehen will, um der nächste Mann an Orianas Seite zu sein... total gut.“ Die anderen ließen sich von seinem Schmunzeln anstecken. „Oh ja, sehr gut verkraftet.“ Freudig klatschte Aurora schließlich in die Hände. „Dann weiter, weiter~ Wer ist nun dran?“ Trautes Heim, Glück allein -------------------------- Sich in dem längst verlassenen Old Kinging heimisch einzurichten, erwies sich als schwieriger als erwartet. Wie so oft stellte Landis fest, dass er mit völlig falschen Vorstellungen herangegangen war. Allerdings blieb ihm in dieser Stadt nicht viel Zeit, sich darüber zu ärgern, da er quasi ständig jemanden seinen Namen rufen hörte als ob sie nur darauf lauern würden, ihn wieder aus seiner wohlverdienten Freizeit zu reißen. So rechnete er auch diesen Moment jederzeit damit, dass jemand nach ihm verlangte. Erst vor wenigen Minuten war er in das Zimmer zurückgekommen, das er sich ausgesucht und aufgeräumt hatte. Langsam wurde ihm klar, warum Asterea ihn immer angehalten hatte, sein Zimmer zu Hause aufzuräumen; Staub setzte sich überraschend hartnäckig in den kleinsten Winkeln fest, von den Spinnen oder anderen Insekten ganz zu schweigen. So richtig sauber war der Raum immer noch nicht, aber immerhin entstanden keine Staubwolken mehr, wenn er sich auf sein neues Bett fallen ließ. „Landis!“ Grummelnd richtete er sich wieder auf und verließ sein Zimmer, um der Stimme zu folgen, die ihn diesmal zu sich rief. Es stellte sich als Yarah heraus, die auf einem Tisch stand. Ihre Augen waren vor Panik weit aufgerissen, weswegen sie ihn gar nicht zu bemerken schien. „Was ist los?“, frage er genervt. Völlig aufgelöst gestikulierte sie hektisch auf den Boden. Landis suchte die Stelle mit seinen Augen – und seufzte noch einmal. „Das ist nur eine Ratte.“ „Nimm sie weg!“, kreischte Yarah. „Los!“ Du machst ihr mehr Angst als sie dir. Er kniete sich neben das Tier, das sich ohne jeden Widerstand auf seine Hand nehmen ließ. Die Ratte zitterte so heftig, dass Landis befürchtete, sie würde jeden Moment aufhören zu atmen. „Bring sie raus!“ Missmutig sah er zu Yarah hinüber. „Dein Kreischen bringt das arme Wesen noch um.“ Die Puppenspielerin verschränkte die Arme vor der Brust und schob schmollend ihre Unterlippe vor. „Ja, halte nur zu dem Ungeziefer.“ Er verließ den Raum, bevor Yarah möglicherweise noch auf die Idee kam, etwas nach ihm zu werfen. Im Garten setzte er die zitternde Ratte wieder ab, die sofort davonrannte. Die kommt bestimmt nicht wieder – Yarahs Kreischen wird ihr auf ewig in den Knochen hängen. Als er das Tier schließlich aus den Augen verloren hatte, machte er sich auf den Weg in sein Zimmer zurück. Siegessicher wollte er bereits die Tür öffnen, doch – „Landis!“ Mit wachsender Verzweiflung schloss er für einen Moment die Augen. Dann wandte er sich um und folgte der Stimme, die ihn zu Nadia führte. Sie stand am Eingang eines Ganges, den bislang keiner von ihnen erkundet hatte – außer sie anscheinend. „Was ist los?“, fragte er genervt. Plötzlich lächelte sie, aber er kannte ihre Mimik inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dies nur ein Teil ihrer Strategie war, um das zu bekommen, was sie wollte. „Du musst mir eine Spinne beseitigen~“ „Kann das nicht Aidan machen?“ Auf der Suche nach diesem ließ Landis seinen Blick schweifen, doch der Bogenschütze war nirgends in der Nähe zu sehen. Das gab dem Braunhaarigen doch zu denken, aber um zu verschwinden war es nun ein wenig zu spät. Ich hätte gar nicht erst auftauchen dürfen. Nadia schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Uh-uh, er hat Angst vor Spinnen.“ Auf Landis machte Aidan eher den Eindruck einer Person, die mit Spinnen spielte, statt Angst vor ihnen zu haben, aber Nadia musste es als seine Zwillingsschwester ja besser wissen. Also zuckte er mit den Schultern. „Okay, wo ist sie?“ Er würde auch dieses Insekt noch nach draußen tragen und dann endlich ein wenig schlafen. In der letzten Nacht war er kaum dazu gekommen, weil Aurora ihn auf der Suche nach einem Geist ständig herumgescheucht hatte – am Ende war es allerdings nur ein wilder Waschbär gewesen. An Schlaf war dann nicht mehr zu denken gewesen, da er den ganzen Tag Kleinigkeiten für die anderen erledigt hatte. Äpfel für Kureha, das Ausrollen eines Teppichs für Dawn, Mittagessen kochen für alle und im Anschluss auch das Säubern der Küche. An die restliche Tage der letzten Woche wollte er gar nicht denken. Von wegen, sobald man von zu Hause auszieht, hat man es leichter. Mit der Hand lockte sie ihn, ihr zu folgen und führte ihn in den Gang hinein. Wenige Schritte danach blieb sie stehen. „Geh du vor. Sie sitzt mitten auf dem Boden, du kannst sie also gar nicht verfehlen.“ Ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, folgte er dem Weg, den Blick dabei auf den Boden gerichtet. Ein leises Geräusch ließ ihn schließlich innehalten und erneut den Kopf heben. „Da ist sie~“, verkündete Nadia fröhlicher als sie eigentlich klingen sollte. Landis' rechtes Augenlid zuckte nervös. „DAS ist sie?“ Das Wesen, das da vor ihm stand, sah tatsächlich aus wie eine Spinne – nachdem man sie mit einem haarigen Riesen gekreuzt hatte. Es nahm quasi den gesamten Gang ein, er musste sogar den Kopf in den Nacken legen, um mehr als nur die baumstammartigen Beine sehen zu können, auch wenn der Körper keine sonderliche Augenweide war. Geifer – zumindest hoffte Landis, dass es solcher war – tropfte von der Schnauze der Spinne. Er bezweifelte, dass er sie einfach so nach draußen bringen konnte. Nadia stand bereits mit gezücktem Naginata neben ihm. „Ja, das ist sie~ Hübsches Exemplar, oder?“ „Wenn man auf Mutanten steht...“ Er beschäftigte sich bereits mit der Frage, was hier im Palast wohl dieses Wachstum ausgelöst hatte, weswegen er sich nicht noch extra damit abgeben wollte, ob dieses Wesen als hübsch bezeichnet werden konnte. Als ein lautes Grollen durch den Gang hallte, zog Landis sein Schwert. „Kümmern wir uns lieber darum.“ Es war bereits dunkel, als Landis sich wieder auf den Weg in sein Zimmer machte. Dabei entfernte er sich immer noch Reste von Spinnweben aus seinem Haar und grünes, zähes Spinnenblut aus seinem Gesicht. Der Kampf war schließlich siegreich verlaufen, zumindest in dem Maß, dass das Wesen schließlich auf seinen sieben verbliebenen Beinen weggerannt war – Landis hoffte, es nie wiedersehen zu müssen, sicherheitshalber hatte er sogar die Tür verschlossen und verbarrikadiert, durch die es geflohen war. Er hoffte nur, dass Nadia ihre Neugier nun auch zügeln würde, immerhin war sie kreischend weggerannt, als die Spinne angefangen hatte, ein seltsames Sekret zu verschießen. Mit Sicherheit hatte sie bereits gebadet und ruhte sich nun aus, etwas, was er auch unbedingt tun wollte. Gerade als er eine Hand auf die Klinke seiner Tür legte, hörte er Schritte und hielt inne. Bitte nicht... Ich will nichts mehr tun. „Ah, Landis, da bist du ja~“, sagte Aurora. „Ich habe dich schon gesucht.“ Er hob die Hand, bevor sie weitersprechen konnte. „Ich will nichts mehr hören.“ „Aber –„ „Uh-uh-uh! Ich werde mich jetzt waschen, mich dann umziehen und schlafengehen!“, erwiderte er mit Nachdruck. „Ich will heute nichts, aber auch GAR NICHTS, mehr von euch hören, verstanden?“ Sprachlos konnte Aurora nur nicken. Sie wartete, bis Landis in seinem Zimmer war, dann drehte sie sich um und ging wieder zurück in den Speisesaal, wo die anderen bereits warteten. Kureha war noch damit beschäftigt, das restliche Besteck aufzulegen. „Was ist mit Landis?“, fragte Aidan, als er den Jungen nicht sehen konnte. Aurora hob die Schultern. „Er wollte schlafen. Außerdem war er ziemlich aggressiv, da wollte ich nicht unbedingt weitersprechen. Ich nehme einfach an, er hat keinen Hunger.“ Nadia schnaubte. „Pff, man kann sich auch anstellen.“ „Eben“, bestätigte Yarah. „Was tut er denn schon, außer den ganzen Tag herumzuliegen?“ Die anderen stimmten leise murmelnd zu. Aurora zuckte erneut mit den Schultern. „Was soll's? Lasst uns ohne ihn essen. Weltenwanderer -------------- „Mehr Salz.“ „Meinst du nicht eher, Pfeffer?“ „Nein, dieses weiße Zeug... warte, vielleicht doch eher Zucker?“ „Wie kommt es, dass du nicht mal mehr Salz und Zucker auseinanderhalten kannst?“ Landis hielt inne und sah seinen besten Freund nachdenklich an, während dieser auf seine Antwort wartete. „Uhm... na ja... du weißt doch, wie meine Mutter kocht.“ Absolut nicht davon überzeugt, hob Nolan eine Augenbraue. „Ich finde, Tante Asti kocht sehr gut.“ „Deine Geschmacksnerven sind schon tot, oder?“ Er kratzte sich am Kopf. „Vielleicht. Ich koche ja ständig selbst, seit meine Mutter nicht mehr da ist... Aber mein Vater findet es nicht so schlimm.“ Landis zeigte sich von diesem Argument nicht sonderlich überzeugt. „Der hat doch auch keine Geschmacksnerven mehr.“ „Ja, vielleicht...“ Da es Nolan sichtlich unangenehm war, über seinen Vater zu sprechen, wandte Landis sich wieder dem Herd zu. Die aufgesetzte Suppe kochte, der ausgehende Geruch war allerdings nicht unbedingt appetitanregend – auf der anderen Seite wiederum roch es auch nicht ekelhaft, das war aber immerhin schon mal ein Fortschritt zu ihrer letzten Mahlzeit. „Jedenfalls muss noch irgendwas rein, denn bislang riecht es nach nichts“, meinte Nolan. Ehe Landis seine eigene Meinung abgeben konnte, hörten sie Schritte hinter sich, gefolgt von einem empörten Ausruf. „Nolan! Was macht ihr hier schon wieder!?“ Die Jungen zuckten zusammen und sahen die Frau an, die dazugekommen war. Ihre zusammengezogenen Brauen vermehrten die Falten in ihrem Gesicht. Nolan setzte die unschuldigste Miene auf, die er beherrschte. „Wir wollten nur Essen kochen, Oma~“ „Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr das lassen sollt?“ „Wir... wollten nur helfen“, erwiderte Nolan kleinlaut. Landis schwieg vorsichtshalber, sorgten seine Worte doch meist dafür, dass Nolans Großmutter noch wütender wurde – immerhin hielt sie ihn für einen schlechten Umgang für ihren Enkel. Dass er überhaupt gemeinsam mit ihm seine Ferien in Jenkan verbringen durfte, verdankte er Nolans Betteln und Flehen – in einem ruhigen Moment hatte er Landis einmal erklärt, dass er ihn mitnehmen wollte, weil es sonst viel zu langweilig in Jenkan war, immerhin kannte Nolan dort sonst niemanden. Nolans Großmutter seufzte schwer, als sie die beiden bat, nach draußen zu gehen, um dort zu spielen, was sie auch sofort taten. Draußen schnaubte Nolan und steckte die Pfeffermühle, die er vor lauter Schreck vergessen hatte wieder zurückzustellen, in seine Tasche. „Als ob wir spielen würden. Wollen wir nicht lieber in Jenkan ein paar Heldentaten vollbringen?“ „Ah, ich weiß nicht...“ Er war nicht oft in dieser Stadt, aber er wusste, dass die Bewohner solchen Leuten wie ihnen gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen waren. Nolans Großmutter hasste ihn schon genug und würden sich die Nachbarn über ihn beschweren, gäbe es mit Sicherheit noch mehr Ärger und er wusste, wieviel Einfluss die Großeltern in letzter Zeit auf seinen besten Freund hatten. Manchmal kam es Landis gar schon vor als würde Nolan tatsächlich abgeneigt sein, wenn es darum ging, Zeit mit ihm zu verbringen – wie in diesem Moment. „Mann, in letzter Zeit bist du voll der Langweiler geworden“, merkte Nolan an. „Was ist denn los mit dir?“ Landis überlegte, ihm von seinen Bedenken zu erzählen – doch da lenkte ihn etwas anderes bereits ab: Ein Mann mit auffallend grünem Haar stand mitten auf der Straße und warf immer wieder einen verwirrten Blick umher, ehe er erneut auf den Zettel in seiner Hand blickte – nur um sich direkt danach noch einmal umzusehen. „Der kommt nicht von hier“, meinte Nolan. „Meinst du, wir sollen ihn fragen, was er will?“ Eigentlich war ihnen verboten worden, mit Fremden zu sprechen, aber Landis hatte nicht das Gefühl, dass dieser Mann böse war – und sie waren immerhin bereits Auszubildende der Kavallerie, da würden sie sich doch zu zweit gegen einen bösen Mann wehren können. Also gingen sie zu diesem Mann hinüber und fragten ihn, ob sie ihm irgendwie helfen könnten. Er lächelte regelrecht erleichtert, als er die beiden Jungen ansah. „Oh, endlich. Ich dachte schon, in dieser Stadt gibt es keine freundlichen Menschen.“ „Na ja, wir kommen auch nicht von hier“, erwiderte Landis. „Aber du hast recht, in dieser Stadt wohnen nur Idioten.“ Kaum wurde ihm bewusst, was er da sagte, warf er einen um Entschuldigung heischenden Blick zu Nolan, doch dieser war noch immer damit beschäftigt, den Fremden zu begutachten und schien ihn gar nicht gehört zu haben. „Solange ihr euch hier auskennt, soll es mir recht sein. Ich bin doch in...“ – er warf einen prüfenden Blick auf seinen Zettel – „Király, oder?“ Die Jungen nickten zustimmend. „Gut... Und das hier ist Jenkan, oder?“ Noch ein Nicken, worauf er erleichtert ausatmete. „Sowas wie Ortsschilder würden euch ganz gut tun, wisst ihr das?“ „Keine schlechte Idee“, meinte Nolan, wenngleich Landis sich fragte, wie er sich vorstellte, das durchzusetzen, aber wie er seinen Freund kannte, würde er das ohnehin bald wieder vergessen haben. „Ihr wisst nicht zufällig, wo ich hier einen Führer finden könnte, oder?“ Landis legte seine Stirn in Falten, während er nachdachte, doch Nolan antwortete bereits, bevor er sich auch nur im Geringsten hatte vorstellen können, wo ein Führer sich aufhalten würde: „Sowas gibt es hier nicht. Aber nur keine Sorge~ Mein Freund und ich sind Helden in Ausbildung, wir bringen dich überallhin!“ Sein skeptischer Blick ging zwischen den beiden Jungen hin und her, doch schließlich zuckte er mit den Schultern. Inzwischen war es ihm wohl egal, wer ihn an sein Ziel bringen würde, solange er dort ankam. „Das wäre super von euch. Mein Name ist Russel.“ „Freut mich. Ich bin Nolan und das ist Landis.“ Die beiden schüttelten ihrer neuen Bekanntschaft die Hand, worauf Russel schelmisch lächelte: „Haben eure Eltern euch eigentlich nicht beigebracht, nicht mit Fremden zu sprechen?“ „Doch, natürlich“, antwortete Landis. „Aber meine Mutter sagte auch, wir sollen Leuten in Not helfen und unserem Gefühl vertrauen – und wir glauben, du bist nicht böse.“ „Aww, wie nett~ Ihr habt jedenfalls recht, ich entführe keine kleinen Jungs, ich brauche wirklich Hilfe.“ Nolan schlug sich auf die Brust. „Kein Problem! Sag uns nur, was du suchst.“ Dieser Aufforderung folgend erklärte Russel ihnen, dass er eine Art Pflanze suchte, die in einer Höhle in der Nähe wachsen sollte. Allerdings waren die Berge derart zeklüftet, dass er befürchtete, ewig zu suchen, wenn er sich allein aufmachte. Landis wollte bereits wieder zugeben, dass er keine Ahnung hatte, doch Nolan schnitt ihm das Wort ab: „Oh, ich weiß genau, was du suchst, Rus.“ Das Gesicht des Mannes hellte sich auf, als er diesen Spitznamen hörte. „Wirklich, Kleiner?“ „Klar doch~ Eigentlich sollen wir da nicht allein hingehen, aber wenn du mitgehst, geht das schon.“ Er deutete auf das Schwert an Russels Hüfte. Während dieser geschmeichelt lächelte, sah Landis mit gerunzelter Stirn zu seinem Freund hinüber. Es schien ihm fast als würde dieser sich langsam aber sicher von ihm entfernen – und ihn nicht mehr brauchen. So wie auch niemand anderes sonst... Doch bevor er sich weiter in diesem deprimierenden Gedanken verlieren konnte, holte Nolan ihn wieder in die Wirklichkeit zurück: „Also, Lan, lass uns gehen.“ Landis nickte. „Ja, lass uns gehen...“ Mit Russel zwischen sich, verließen die beiden Jungen die Stadt und strebten direkt auf die Berge zu, wobei Landis sich auf Nolan verlassen musste, immerhin kannte er sich weniger gut aus, wenn er ehrlich sein musste. Allerdings musste er auch zugeben, dass er Jenkan hasste. Nicht nur wegen Nolans Großeltern oder den doch recht seltsamen Leuten, die dort wohnten, es gab weit und breit auch einfach nichts zu sehen oder zu erleben. Ganz anders als die Abwechslung, die Cherrygrove mit seiner vielfältigen Umgebung bot. Aber wenn er genau darüber nachdachte, lag es wohl doch hauptsächlich an Nolans Großeltern. Er selbst besaß keine mehr, weswegen sein bester Freund einst versucht hatte, Landis zu einem Teil seiner Familie zu machen – aber er war den beiden wohl zu... unsympathisch gewesen. Es war schon immer deutlich gewesen, dass sie ihn nicht mochten und das hatte sich nie geändert. Dass er überhaupt noch nach Jenkan ging, lag nur daran, dass Nolan ihn immer darum bat, mitzugehen, damit ihm nicht zu langweilig wurde. „Ihr seid also Freunde, ja?“ Offenbar wollte Russel eine Unterhaltung anzetteln, wusste aber nicht, wie er das besser machen sollte als mit einer solch lächerlichen Frage. Nolan nickte bestätigend. „Die besten Freunde! Schon seit wir klein waren.“ Wieder einmal versuchte Landis, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sie eigentlich Freunde geworden waren, doch es blieb bei einer sehr undeutlichen Erinnerung, weswegen er es schließlich wieder aufgab. Irgendeine äußerst finstere Barriere verhinderte, dass er sich an allzuviele Dinge in seiner Vergangenheit erinnerte. Er wusste nur noch, dass da etwas gewesen war, das ihm furchtbare Angst eingejagt hatte... und wann immer ihm das wieder bewusst wurde, war er ganz froh darüber, sich an nichts zu erinnern. „Oh, das klingt schön“, bemerkte Russel. „Dann hängt ihr bestimmt sehr am jeweils anderen.“ Landis antwortete nicht, aber offenbar war das auch überflüssig, da Nolan es erneut übernahm: „Natürlich! Solche Freunde wie uns gibt es immerhin nur einmal.“ Russel lächelte, worauf auch Landis nicht anders konnte als ebenfalls zu lächeln, wenn auch mit gesenktem Kopf. „Und irgendwann“, fuhr Nolan fort, „werden wir gemeinsam Helden sein und dann wird man auch noch in Büchern von unserer Freundschaft lesen, wenn wir schon lange bei Charon sind.“ „Das klingt nach einem schönen Traum.“ Russels Blick ging gedankenverloren in die Entfernung. „Hoffentlich vergesst ihr ihn nicht“ „Niemals!“, sagte Nolan, auch wenn Landis sich da ganz und gar nicht sicher war, immerhin hatte er selbst ja schon ganz andere Dinge vergessen. Lächelnd klopfte Russel beiden auf die Schultern. „Ihr seid mir schon so zwei. Ich glaube, mein Glück hat mich euch treffen lassen. Ich mag euch.“ „Wirklich?“, fragte Nolan erfreut. Es war Landis schon ziemlich oft aufgefallen, dass Nolan Wert darauf legte, selbst von wildfremden Menschen gelobt zu werden, genauso wie er wollte, dass jene ihn mochten. Offenbar genügte es seinem besten Freund nicht, dass so ziemlich jeder in Cherrygrove ihn mochte – und Landis ihn in einem freundschaftlichen Sinne sogar liebte und mehr als einmal seine Beziehung mit Oriana riskiert hatte, um ihm beizustehen. Argh, hör auf damit, Lan, er ist ein toller Kerl und du magst ihn und er mag dich. Wir werden Freunde bleiben, ganz sicher. Erst bei der fraglichen Höhle angekommen – Landis war von Nolans Orientierungssinn geradezu erstaunt – hörte er mit seinen deprimierenden Gedanken wieder auf. Die abgestandene Luft im Inneren verhieß Abenteuer und Spannung, genau das, was er immer wollte. Doch Nolan schlug sich vor die Stirn, kaum dass sie ein paar Schritte hineingewagt hatten. „Wir haben vergessen, eine Laterne mitzunehmen.“ Landis wollte sich gerade entschuldigen, galt es doch immer als seine Aufgabe, an so etwas zu denken, doch Russel winkte bereits ab. „Das ist schon okay.“ Kaum hatte er das gesagt, erschien eine grüne Flamme in seiner Hand, die durch den Luftzug ein wenig flackerte, aber nicht erlosch und genügend Licht spendete, um sich ausgiebig umsehen zu können. „Wie machst du das?“, fragte Nolan neugierig. „Oh, ich bin einfach gut darin“, bekam er die vergnügte Antwort. Offenbar machte es Russel tatsächlich Spaß, seine Zeit mit ihnen zu verbringen. „Wollen wir dann? Ich fürchte, meine Zeit wird langsam knapp.“ Während sie ihren Weg durch die Höhle antraten, beschloss Landis, endlich zu fragen, wofür er diese Pflanze brauchte. Russel legte die Stirn in Falten, während er anscheinend darüber nachdachte, ob er es verraten oder doch lieber für sich behalten sollte. Doch schließlich zuckte er seufzend mit den Schultern. „Jemand, den ich kenne ist schwer krank geworden und nur ein aus dieser Pflanze gewonnenes Gegengift kann ihm helfen. Aber dort, wo ich lebe, gibt es eine solche Pflanze gar nicht mehr.“ Nolan blickte ihn irritiert an, Landis wusste sofort, was ihn so stutzig machte und beschloss, selbst zu fragen: „Ken hat gesagt, diese Pflanze ist nicht sonderlich anspruchsvoll, sie wächst überall auf der ganzen Welt. Sogar in der Wüste – lediglich in Király ist sie eher selten. Woher kommst du, wenn es sie bei dir nicht gibt?“ Im ersten Moment schien es den beiden als würde Russel nicht antworten wollen, doch dann lächelte er schelmisch. „Wenn du schon so fragst, kann ich ja zugeben, dass ich aus einer anderen Welt komme.“ Mit großen Augen sahen die beiden Jungen ihn an. Ein anderer Erwachsener hätte bei diesem Blick zu lachen angefangen und verraten, dass es nur ein Scherz gewesen war, aber Russel blieb vollkommen ernst. „Dann hatte Tante Asti ja recht“, triumphierte Nolan. „Sie hat immer gesagt, dass es andere Welten gibt!“ Fast schon beleidigt, wandte Landis den Blick ein wenig ab. „Ich glaube das trotzdem nicht.“ Es schien, dass Nolan ihn dafür zurechtweisen wollte, doch Russels Lachen hielt ihn davon ab. „Du tust gut daran, nicht alles zu glauben, was andere dir erzählen. Ich zwinge dich also nicht, mir das abzunehmen.“ Landis erwiderte nichts darauf – nicht zuletzt, weil sie am Ende der Höhle angekommen zu sein schienen. Durch ein Loch in der Decke fiel Sonnenlicht in den kreisrunden Raum, dessen Boden mit Sand bedeckt war und direkt in der Mitte wuchs die gesuchte Pflanze. Russel ging einige Schritte darauf zu, blieb jedoch plötzlich wieder stehen. Sein Blick ging zu Boden, während die beiden Jungen sich nur verwirrt ansahen und sich fragten, was los war. Doch ehe sie die Frage laut stellen konnten, ertönte ein lautes Grollen, der Sand wurde hochgeschleudert und verdeckte damit die Sicht der Jungen auf den Raum – und als Russel wieder zu sehen war, sogen sie überrascht und erschrocken die Luft ein. Der Mann schien sich im Inneren eines Käfigs zu befinden, der allerdings komplett aus grünen, robust aussehenden Ranken bestand. Eine dieser Ranken führte zu dem monströsen Körper eines Wesens, das direkt aus einem Märchen entsprungen zu sein schien. Zwar hatte es einen Stamm, der in der Erde verwurzelt war, genau wie es bei einem Baum der Fall sein sollte, doch statt Laub trug es ein riesiges Maul von dessen Fängen Geifer tropfte, der beim Aufkommen auf dem Sand zischend verdampfte. „Das sieht nicht gut aus“, kommentierte Nolan. Landis war versucht, sich umzudrehen und wegzulaufen – aber er konnte Russel nicht im Stich lassen und Nolan schien ebenfalls nicht vorzuhaben, zu fliehen. Andererseits wirkte er aber auch nicht so als ob er wüsste, wie er nun vorgehen sollte. Hilfesuchend sah er Landis. „Was sollen wir tun?“ Und in dem Moment begriff Landis etwas Essentielles ihrer Freundschaft: Egal wie erwachsen und wie klug Nolan werden würde, es müsste in seinem Leben immer eine Person geben, die ihn unterstützte und ihm notfalls den Kopf aus der Schlinge zog, wenn er mal wieder gedankenlos ins Abenteuer gestürzt war – und Landis übernahm diese Aufgabe mit dem allergrößten Vergnügen. „Hast du noch die Pfeffermühle dabei?“, fragte er sofort. Nolan nickte, zog den Behälter hervor und dann dämmerte ihm, was sein Freund damit vorhatte. „Aber wie willst du das anstellen?“ Das Maul des Wesens war viel zu weit oben, um die Mühle einfach so hineinzuwerfen, aber Landis konnte auch unmöglich daran hinaufklettern. „Ich kriege das schon hin“, versprach er allerdings, als er Nolan das Gefäß abnahm und sich dann dem Monster zuwandte. „Du müsstest es nur ein wenig ablenken.“ „Ja, sicher doch.“ Landis nickte ihm noch einmal zu und lief dann zu Russel hinüber, der erfolglos versuchte, die Ranken mit seinen Schwert zu durchtrennen. „Die Dinger sind widerstandsfähiger als Gummi.“ „Keine Sorge“, bemerkte Landis. „Wir kriegen dich da raus.“ Russel ließ seine Schwert sinken und lächelte sanft. „Es ist schon okay. Ihr solltet lieber weglaufen, ich komme hier schon allein zurecht.“ Landis schüttelte nur den Kopf und begann, an der Pflanze hinaufzuklettern, nachdem er sichergestellt hatte, dass Nolan die Aufmerksamkeit des Monsters auf sich zog und einigen beweglichen Ranken auswich, die immer wieder nach ihm schlugen. Zu ihrem Glück schien das Wesen nicht sonderlich intelligent zu sein, denn es konzentrierte sich vollends auf Nolan ohne Russel oder Landis auch nur Beachtung zu schenken. Letzterer kam gerade auf dem Käfig an, von wo aus er mithilfe der größten Ranke weiterkletterte, um das Maul des Wesens zu erreichen. Dabei überlegte er, ob er irgendwann einmal etwas darüber gelernt hatte, stellte aber fest, dass er noch nicht einmal ein Bild dazu gesehen hatte – Bücher wussten also doch nicht alles und Kenton würde ihnen das hier mit Sicherheit nicht glauben. Warum geschehen so spannende Sachen auch immer, wenn sonst keiner da ist? Die Antwort war allerdings einfach: Kenton hätte ihn diesen Ausflug sofort wieder ausgeredet und es wäre nie dazu gekommen. Er konnte hören, wie eine der Ranken mit mehr Wucht als zuvor auf dem Boden aufschlug, so dass die ganze Höhle zu zittern begann. Nolan stürzte mit einem überraschten Ausruf zu Boden, wie Landis mit einem kurzen Blick feststellte, und bewegte sich nicht mehr. Für einen kurzen Augenblick schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, wieder runterzuspringen, um nachzusehen, ob es ihm gutging, aber es war zu hoch dafür und außerdem würde er sich damit auch nur noch unnötig in Gefahr begeben. Ihm blieb keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, stattdessen holte er aus und warf die Pfeffermühle in das geöffnete Maul des Monsters. Und tatsächlich – obwohl das Behältnis im Vergleich zu dem Wesen winzig war, so dass Landis befürchtet hatte, es würde diesen nicht einmal bemerken – kaute es darauf herum, bis der Pfeffer wirklich anzuschlagen schien. Hastig kletterte er wieder nach unten. Kaum berührten seine Füße den Boden, gab die Pflanze ein ersticktes Gurgeln von sich und verdorrte innerhalb von Sekunden. Zurück blieb allerdings jene, nach der Russel gesucht hatte, der sie auch sofort an sich nahm. „Das war... seltsam. Ist das in eurer Welt so üblich?“ „Eigentlich nicht“, erwiderte der immer noch aufgeregte Nolan, der inzwischen wieder stand und unverletzt schien. „Aber das macht es doch umso toller!“ Russel lachte leise. „Wie wahr. Aber sehen wir lieber zu, dass wir verschwinden, bevor noch so ein Wesen auftaucht.“ Die beiden Jungen nickten und traten mit ihm den Rückweg an. „Sag mal, Lan“, begann Nolan unterwegs. „Woher wusstest du, dass das Vieh stirbt, wenn du ihm Pfeffer gibst?“ „Na ja... es sah aus wie eine Pflanze – und ich hab es mal geschafft, unabsichtlich natürlich, Mamas Pflanzen mit Pfeffer umzubringen. Ich habe so viel Ärger bekommen, dass ich das nie mehr vergessen werde.“ Während Landis bedrückt den Kopf hängen ließ bei dieser Erinnerung, brachen Russel und Nolan in schallendes Gelächter aus. „Du bist echt unmöglich~“ „Ja, das hat Papa auch gesagt“, brummte Landis. „Nachdem er ebenfalls gelacht hat.“ Doch schon im nächsten Moment hellte sich seine Miene wieder auf. „Aber immerhin sind wir da alle wieder sicher rausgekommen dadurch.“ „Ja und ich danke euch für eure Hilfe, Jungs.“ Russel stutzte einen Moment. „Nein, vielleicht sollte ich euch eher Männer nennen. Immerhin seid ihr im Angesicht der Gefahr nicht weggerannt.“ „Wir lachen der Gefahr ins Gesicht“, erwiderte Nolan. „Nur so wird man zum Helden.“ Russels Lächeln verriet, dass er das nicht glaubte, allerdings widersprach er auch nicht. Am Höhlenausgang wurde es schließlich Zeit, sich von ihm zu verabschieden, auch wenn Nolan das ein wenig unglücklich zu stimmen schien: „Wirst du auch mal wiederkommen?“ „Klar. Keine Sorge, ich werde euch nicht vergessen. Spätestens, wenn ihr Helden seid, bin ich wieder da, um mit euch zu feiern.“ Doch so sehr Nolan ihn auch am Liebsten nicht hätte gehen lassen, wandte er sich dennoch um und ging leise summend davon. Nolan sah ihm ein wenig deprimiert hinterher, aber noch während Landis überlegte, wie er seinen besten Freund aufmuntern sollte, seufzte dieser plötzlich. „Weißt du, was das Schlimmste an der ganzen Sache ist, Lan?“ Da fielen ihm jede Menge Dinge ein. Sie waren schmutzig, das hieß, sie würden Ärger mit Nolans Großeltern bekommen; sie kamen zu spät zum Essen, das bedeutete doppelten Ärger; sie würden diesen Weltenwanderer trotz seines Versprechens mit Sicherheit nie wiedersehen, was Nolan bestimmt deprimierte. Doch statt all das aufzuzählen, schüttelte er nur mit den Kopf, worauf Nolan es ihm erklärte: „Wir haben gerade ein Monster besiegt – und kein Mensch wird uns das glauben!“ Mütter ------ Die Gruppe blickte auf, als Landis das Buch mit einem entnervten Laut gegen die nächste Wand schmetterte. „Das ist alles viel zu kompliziert!“ Während die anderen noch ihre Gedanken über diesen plötzlichen Ausbruch sammelten, konnte Kenton sich keine schmunzelnde Bemerkung verkneifen: „Immerhin wird dein Wurfarm besser.“ Landis schnitt ihm wie üblich eine Grimasse. „Wir können nicht alle mit so einer Intelligenz wie du gesegnet sein.“ „Es heißt wie deiner“, wies Kenton ihn zurecht. Seufzend sank Landis wieder auf den Boden. „Ich werde immer dumm bleiben.“ „Das würde ich so nicht sagen.“ Frediano blickte nicht einmal von dem Buch auf, sondern las immer weiter als ob er damit beweisen wollte, dass er besser war als Landis. „Immerhin hast du bereits eingesehen, dass du dumm bist, da bist du schon einmal einen Schritt weiter als so manch anderer Idiot.“ Landis rollte mit den Augen, während er leise grummelnd an ihm vorbeiging, um sein Buch wieder aufzuheben. „Wessen Idee war dieses gemeinsame Lernen nochmal?“ Die Versammelten deuteten auf Nolan, der sich unschuldig umsah. „Ich hielt es für eine gute Idee.“ In Anbetracht des Initiators sparte Landis sich das, was er über diese Idee dachte und setzte sich wieder zwischen Nolan und Oriana, die keinerlei Notiz von den Ereignissen genommen zu haben schien. „Es ist auch eine gute Idee“, bekräftigte sie. „Landis besitzt nur die Konzentration einer Stubenfliege und die Intelligenz eines Baumes, da sollte es niemanden wundern, dass er nicht mitkommt.“ Es war unschwer zu bemerken, dass die beiden wieder einmal getrennt waren. Landis warf den Kopf zurück und schlug das Buch auf. „Ich komme sehr wohl mit. Ich habe nur keine Lust, mich in meiner Freizeit auch noch damit zu beschäftigen.“ Seine Noten in der Ausbildung sprachen für sich; obwohl er offenbar nicht im Mindesten lernfähig war, bestand er jede Prüfung mit relativ hoher Punktzahl. Laut eigener Aussage riet er die Antworten einfach und war darin sehr talentiert – sehr zum Unglück von Kenton, der mit einem solchen Verhalten nicht konform gehen konnte. Doch Landis' Konzentration für eine aufkeimende Diskussion schwand bereits wieder, als er feststellte, dass eine edel aussehende Kutsche in Cherrygrove einfuhr. „He~ Adelsbesuch.“ Das war nicht sonderlich selten. Da in diesem Dorf die Kavalleristen ausgebildet wurde, suchten adelige Familien sich oft bereits bei den Schülern zukünftige Männer für ihre Töchter. Laut ihren Lehrern galt Frediano als sehr begehrter Kandidat, dicht gefolgt von Nolan, beides Dinge, die Landis durchaus eifersüchtig werden ließen. Er selbst wurde immer wieder gerade einmal mit einem spöttischen Blick gestreift und dann als Bauerntölpel aussortiert. Jedes Mal aufs Neue fragte er sich wieder, warum sie Nolan ihm vorzogen – und was geschehen würde, wenn sein bester Freund tatsächlich einmal ein adeliges Mädchen heiraten sollte. Frediano schnalzte mit der Zunge und unterbrach damit Landis' Gedanken. „Das ist kein Adelsbesuch. Das ist die Kutsche meiner Familie.“ „Die Caulfields haben eine eigene Kutsche?“, fragte Nolan neugierig. Frediano nickte und stand bereits auf, um herauszufinden, wer von seiner Familie ihn da besuchen kam. Kenton und Oriana schienen ähnlich neugierig, Landis war eher genervt – und Nolan überlegte bereits, was man tun musste, um solch ein Gefährt zu bekommen. Die Kutsche hielt vor dem Haus, vor dem sich auch die Jugendlichen aufhielten und als die Tür geöffnet wurde und die Person darin heraustrat, hielten sowohl Landis als auch Nolan und sogar Kenton die Luft an. Die Frau, die einen Fuß auf den Boden setzte und dabei sanft lächelte, war die mit Abstand schönste Dame, die sie jemals in Cherrygrove gesehen hatten. Ihr silber-graues Haar war zu einem Pferdeschwanz hochgesteckt, zwei lose Strähnen rahmten ihr Gesicht ein, die klaren blauen Augen leuchteten geradezu durch ihr Lächeln. Im Gegensatz zu allen Frauen, die es in Cherrygrove gab, strahlte sie eine unbekannte Form von Würde aus, die noch keinem der Jungen je zuvor begegnet war. Nolan griff hastig nach Fredianos Arm. „He, ist das deine Schwester? Kannst du sie mir vorstellen?“ Der Kommandantensohn seufzte schwer. „Das ist meine Mutter...“ Fassungslos wandten sich ihm alle Blicke zu. „Deine Mutter!?“ Er konnte nichts mehr sagen, da das glockenhelle Lachen der Frau ihm das Wort abschnitt. „Oh, Frediano-Liebling, ich wusste gar nicht, dass du Freunde gefunden hast.“ Sie ignorierte sein „Das sind nicht meine Freunde“ und reichte Oriana als einziges Mädchen im Bunde die Hand. „Claudia Caulfield. Es tut mir Leid, dass unser Treffen so lange auf sich warten ließ, ich hatte in den letzten Jahren gesundheitliche Beschwerden.“ Wovon man absolut nichts mehr sah, wie auch das Mädchen bestätigte, ehe es sich höflich als Oriana Helton vorstellte. Claudia wirkte davon äußerst angetan. „Oh, du musst die Tochter von Joshua und Bellinda sein. Du musst genauso reizend sein wie deine Eltern.“ Oriana, die sonst nicht sonderlich viel von Komplimenten dieser Art hielt, schien tatsächlich ein wenig verlegen zu werden bei diesen Worten. Nacheinander reichte Claudia auch allen anderen die Hand und lauschte lächelnd jeder Vorstellung – bis sie zu Landis kam. Sie berührte kaum seine Fingerspitzen, als sie auch schon gequält das Gesicht verzog. Statt ihm die Hand zu schütteln, zog sie ihre wieder zurück. „Mein Lieber... magst du mir die Namen deiner Eltern verraten?“ Nach diesem Verhalten eben stand ihm nicht gerade der Sinn danach, ihr das zu sagen, aber das war glücklicherweise auch nicht weiter wichtig, denn genau in diesem Moment kam gerade Asterea vorbei. „Na? Seid ihr schon fertig mit Lernen, Kinder?“ Offenbar ignorierte sie vollkommen die Kutsche und die Frau daneben, was absolut typisch für sie war, wie Landis fand. Sie lebte oft in ihrer ganz eigenen Welt, wo sie alles ignorierte, was nicht sonderlich gut hineinpasste. Es störte sie auch nicht weiter, dass keiner der Anwesenden ihr antwortete, stattdessen klopfte sie direkt auf den Korb, den sie bei sich trug. „Dabei habe ich euch extra etwas zu essen und trinken bringen wollen.“ Die anderen schwiegen immer noch. Der Kontrast zwischen der würdevollen Claudia und der eher einfachen Asterea war so offensichtlich und derart krass, dass die anderen nicht anders konnten als das schweigend zur Kenntnis zu nehmen, während Landis sich wieder einmal ärgerte. Wie sollte er auch was Besonderes werden, wenn seine Eltern schon derart gewöhnlich waren? „Asterea“, kam es scharf von Claudia. „Wie schön, dich hier zu treffen.“ Die Angesprochene fuhr ratlos herum – und erstarrte augenblicklich, als sie die andere Frau sah. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das allerdings eher an eine Grimasse erinnerte. „Claudia...“, murrte sie frostig. „Was führt dich in dieses hinterwäldlerische Dorf?“ „Ihr kennt euch?“, fragte Nolan erstaunt, worauf beide Frauen nickten, ohne die Augen voneinander abzuwenden. Alle Beobachter schwörten im Nachhinein, das sie Funken zwischen ihnen sprühen sahen. Hätten sie noch begonnen, sich zu umkreisen, wären alle davon überzeugt gewesen, dass sie zwei Raubtiere waren, die sich um ihr Revier balgten. „Ich besuche meinen Sohn“, antwortete Claudia auf Astereas Frage und deutete zu Frediano hinüber. „Oh, lass mich raten, meine Liebe. Du hast dich hier niedergelassen, in einem kleinen Häuschen, mit einem tumben Ehemann und einem Nichtsnutz von Sohn. Nichts gegen dich, Kleiner.“ Landis winkte ab, da er ihr nicht sonderlich wütend sein konnte. Astereas Mundwinkel zuckten. „Nolan, mein Lieber?“ Der Junge reagierte sofort und wusste instinktiv, was sie wollte: „Tumb bedeutet einfältig.“ Wieder einmal waren alle von seinem umfangreichen Wortschatz, den er seinen Großeltern verdankte, überrascht. Asterea allerdings nickte nur dankbar. „Mein Mann ist absolut nicht einfältig. Er ist der beste Ehemann, den es auf dieser Welt geben kann.“ Claudia lachte spöttisch. „Ich bleibe dabei, dass er tumb ist, das musste er sein, um eine Person wie dich zu heiraten.“ „Sie hat ihn eher gezwungen, sie zu heiraten“, mischte Landis sich ein, da er sich berufen fühlte, seinen nicht anwesenden Vater zu verteidigen. Er schreckte zurück, als Asterea sich ihm wütend zuwandte, in ihren Augen die stumme Frage, auf wessen Seite er eigentlich stand. Claudia dagegen lächelte zufrieden. „Nicht einmal dein Sohn mag dich, Asterea. Du musst ein wirklich schweres Leben haben~“ „Das sagt gerade die Person, die ihren Sohn abschiebt und sich jahrelang nicht sehen lässt!“ „Im Gegensatz zu dir, gibt es Menschen, die krank werden. Aber das betrifft eben nur Menschen.“ „Komisch, dabei hast du dich doch damals immer dagegen gewehrt, so bezeichnet zu werden.“ Die Jugendlichen warfen sich irritierte Blicke zu, als das Gespräch sich plötzlich darum drehte, ob sie nun Menschen waren oder nicht. Beide Frauen waren komplett in ihren Streit vertieft und inzwischen war auch nichts mehr von Claudias Würde übriggeblieben. „Mir scheint, eure Mütter hassen sich“, bemerkte Kenton während dieser Beobachtung. Er sagte so etwas nicht leichtfertig, da er derjenige war, der die anderen stets darauf hinwies, dass Hass ein derart bedeutendes Wort war, dass man es nicht unbedacht gebrauchen sollte. Aber im Fall dieser beiden Frauen war es geradezu greifbar. Landis und Frediano nickten zustimmend, beide fügten in Gedanken jeweils ein Genau wie wir uns hinzu. Laut aussprechen wollte es keiner mehr, da Oriana danach stets seufzend mit dem Kopf schüttelte und beiden einen Vortrag hielt, dass sie so etwas nicht sagen sollten. Nolan kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich dachte immer, alle Mütter würden sich gut verstehen.“ „Wie kommst du denn darauf?“, fragte Frediano. Offenbar zufrieden darüber, gefragt zu werden, verschränkte Nolan die Arme vor der Brust und setzte zur Antwort an: „Na, sie haben doch alle etwas gemeinsam, sie sind Mütter und lieben ihre Kinder – zumindest im Idealfall.“ Während Oriana und Kenton über diese Erklärung lächeln mussten, schüttelte Frediano seufzend den Kopf. „Laut dieser Logik müssten auch Landis und ich uns gut verstehen – und das tun wir nachweislich nicht.“ Demonstrativ hob er seine rechte Hand, die noch immer verbunden war, Landis dagegen deutete auf das Pflaster an seiner Stirn. „Ausnahmsweise gebe ich Frediano recht.“ Das enttäuschte Seufzen von Nolan ging in einem neuen Streitthema der beiden Mütter unter: „Also ist es DEIN Sohn, der meinen Frediano immer so zurichtet! Das hätte ich mir ja denken können!“ „Was soll das denn heißen? Mein Sohn ist ein absolut friedfertiger Junge! Es ist DEIN Sohn, der ihn immer provoziert!“ „So ein Unsinn“, brummte Frediano. Landis funkelte ihn wütend an. „Bezeichnest du meine Mutter als Lügnerin!?“ „Mit keinem Wort. Dein Verhalten zwingt sie nur dazu, Partei für dich zu ergreifen und wider besseren Wissens die Wahrheit zu beschönigen. Im Gegensatz zu dir kennt sie Werte wie Loyalität und fällt anderen nicht einfach in den Rücken.“ Das verschlug Landis glattweg die Sprache, was Frediano zu einem zufriedenen Schmunzeln brachte. Keiner der anderen drei traute sich so recht, sich selbst einzumischen und Asterea war damit beschäftigt, Claudias Erziehung die Schuld für Landis' Verhalten gegenüber Frediano zu geben, als plötzlich eine herrische Stimme erklang: „Was geht hier vor sich!?“ Sofort verstummten die beiden Frauen und wandten sich genau wie die Jugendlichen dem Neuankömmling zu, dessen Uniform verriet, dass er gerade als Stadtwache im Dienst war und infolgedessen wohl den Streit vor der Eskalation bewahren wollte. Asterea lächelte erleichtert, als sie ihn erkannte. „Ardy~“ Claudia lächelte und tänzelte Richard entgegen. „Oh, ich wusste gar nicht, dass die Stadtwache so interessante Männer in ihren Reihen hat.“ Sie hob ein wenig die Hand, damit er diese ergreifen und ihr einen Kuss aufhauchen konnte, doch er blickte sie nur desinteressiert an und wandte sich dann Asterea zu. „Was hast du schon wieder gemacht?“ Sie wirkte ein wenig wie ein begossener Pudel, als sie seinen Blick schuldbewusst erwiderte. „Ich habe mich nur mit Claudia unterhalten. Wir kennen uns noch von früher... und so.“ „Wie eine Unterhaltung hörte sich das aber nicht an.“ Leicht beleidigt senkte Claudia wieder die Hand, als sie bemerkte, dass Richard sie wegen Asterea ignorierte. Die wiederum biss sich auf die Unterlippe. „Weißt du eigentlich, was du für ein Vorbild abgibst?“ Er vollführte eine ausholende Handbewegung, die alle anwesenden Jugendlichen einschloss. Beschämt senkte Asterea den Kopf und murmelte eine leise Entschuldigung. Wie so oft kam es Landis vor als wäre sie ebenfalls ein Kind von Richard und nicht seine Ehefrau – besonders als dieser sanft ihren Kopf tätschelte. „Ich bringe dich besser heim.“ Sie nickte und klammerte sich bereits an seinen Arm, während sie mit ihm loslief. Landis zögerte nicht lange und folgte den beiden nach einer kurzen Verabschiedung, Nolan tat es ihm direkt nach. Beide hielten sich in einiger Entfernung zu den beiden Erwachsenen, bis Richard sich von Asterea an der Haustür verabschiedet hatte, um wieder zu seiner Arbeit zurückzukehren. Als die beiden Jungen sich ihm in den Weg stellten, sah er sie fragend an. „Was ist los?“ „Wie kommt es, dass du nur Mama beachtet hast?“, wollte Landis wissen. Er selbst war immer noch von Claudia fasziniert, egal wie abwertend sie zuvor von ihm oder seiner Familie gesprochen hatte. Ihre Eleganz und ihr würdevoller Auftritt zu Beginn war ihm immer noch lebhaft im Gedächtnis. Richard schmunzelte. „Ich dachte mir eigentlich, dass gerade du das verstehen würdest. Weißt du...“ Ehe er fortfuhr, sah er sich aufmerksam um, nur um sicherzugehen, dass ihn niemand belauschte. „Wenn man eine Frau liebt, wird diese für einen die Schönste von allen – da interessiert man sich nicht mehr für die anderen.“ Nolan lächelte verstehend und offenbar entzückt, Landis dagegen geriet bei diesen Worten ins Grübeln. Wenn dem so war und er dennoch so von Claudia beeindruckt war, bedeutete das vielleicht, dass er Oriana gar nicht wirklich liebte? Richard bemerkte diese plötzliche Grübelei und lachte vergnügt. „Hast du das etwa geglaubt? Wie lange kennst du mich schon?“ Nach dieser Frage warfen Nolan und Landis sich einen fragenden Blick zu, ehe sie wieder zu Richard blickten. „Aber warum hast du sie dann nicht beachtet?“ Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe Lady Caulfield bereits mehrmals getroffen – und sie hat mich kein einziges Mal auch nur mit einem Blick gewürdigt. Warum sollte ich es dann heute anders machen? Sie wollte doch ohnehin nur Asterea damit provozieren. Und ich lasse mich nicht gerne benutzen.“ Beiden Jungen entfuhr ein anerkennender Pfiff. „Gar nicht schlecht.“ Das zufriedene Lächeln auf seinem Gesicht, das sie nur selten zu sehen bekamen, gefiel beiden äußerst gut. Besonders als er ihnen auf die Schultern klopfte. „Los, macht euch einen schönen Tag, Jungs – und fangt heute keine Streitereien mehr an.“ Die gespielte Mahnung wirkte überraschend ernst und sorgte dafür, dass beide ihm noch lange hinterhersahen, als er bereits davongelaufen war. „Weißt du...“, begann Nolan nachdenklich. „Ich bin froh, dass unsere Eltern miteinander befreundet waren.“ Sie redeten sonst nie über seine Eltern, weswegen Landis ihn nur schweigend ansah, statt zu fragen, warum er das dachte. Nolan fuhr aber auch ohne Nachhaken fort: „Wir würden uns sonst wahrscheinlich auch hassen und das wäre ganz furchtbar.“ „Ach, mach dir keine Sorgen.“ Landis fühlte sich verpflichtet ihn aufzumuntern. „Selbst wenn unsere Eltern verfeindet gewesen wären, wir wären bestimmt trotzdem Freunde geworden. Wir zwei gehören einfach zusammen, das natürliche Gefüge der Welt würde auseinanderbrechen, wenn wir nicht befreundet wären.“ Grinsend blickte er Nolan an, der das nach einem kurzen fassungslosen Augenblick auch erwiderte. „Du hast recht! Gut, dann lass uns jetzt eine Heldentat verbringen – und meinen Keller von der Ratte befreien!“ Da er bereits voranlief, konnte Landis keinen Widerspruch mehr einlegen, sondern folgte ihm direkt, auch wenn er sich dabei fragte, was ihr Wunsch nach Heldentaten mit einem Kammerjäger-Dasein zu tun hatte. Das vergaß er allerdings direkt wieder, als er zu Nolan aufschloss und bereits mit ihm besprach, wie man eine Ratte am besten einfing. Nolan in gutem Hause -------------------- Die Kavalleristenschüler waren diese Besuche bereits gewohnt. Mindestens einmal im Monat fuhr eine Kutsche in den Ort ein, hielt neben dem Übungsplatz der Kavallerie und blieb dann eine ganze Weile da stehen. Manchmal fuhr sie weiter, manchmal suchte ein livrierter Diener den Ausbilder auf, um diesem etwas zuzuflüstern. Im Anschluss wurde einer der Auszubildenden rausgewunken und dann... Nolan wusste nicht, was dann geschah und Frediano, der schon ein paarmal mit einem dieser Adeligen mitgegangen war, erzählte es ihm nicht. Landis, der noch nie dabeigewesen war, murrte allerdings etwas davon, dass Adelige sich einen Bräutigam für ihre Töchter aussuchten. Da Kavalleristen einen guten Ruf in Király genossen und noch dazu Aussichten auf einen hohen Posten im Königshaus hatten, waren sie natürlich die beste Wahl – und wie Richard immer sagte, war es wichtig, die Jungen so früh wie möglich als Heiratskandidaten auszuwählen, ehe sie sich eine andere Freundin suchten und sich mit dieser jede Menge Verantwortung aufluden. An diesem Tag war es wieder einmal soweit. Mitten während des Trainings fuhr die Kutsche vor und hielt am Rande des Übungsplatzes. Nolan beachtete sie wie üblich nicht weiter und konzentrierte sich darauf, die vorgegebenen Bewegungen zu wiederholen. Eigentlich war Konzentration da schon gar nicht mehr nötig, er beherrschte das alles im Schlaf, aber er hatte einmal gemerkt, dass er wesentlich cooler – das Wort war ihm von Asterea beigebracht worden – aussah, wenn er sich konzentrierte oder zumindest so tat als ob. Und noch dazu hielt es ihn vom Nachgrübeln ab. Erst als dieser Diener in sein Blickfeld trat, unterbrach er sich selbst. Es war als ob er in diesem Moment eine Vorahnung hätte, die sich kurz darauf auch bestätigte, als der Ausbilder ihn zu sich winkte. Dennoch rührte er sich kein bisschen, sondern erwiderte nur den Blick des Mannes als wartete er darauf, dass der Diener tatenlos von dannen zog und ihn zurückließ. Landis stieß ihm seinen Ellbogen in die Rippen. „Los, geh schon. Dann kannst du dir selbst ansehen, was da vor sich geht.“ Zwar war Nolan immer ein äußerst begehrter Kandidat gewesen, doch bislang war er entweder für zu jung oder zu ungeschliffen befunden worden oder Frediano hatte einfach den Vorzug bekommen. Diesmal aber betraf es wirklich ihn und dennoch konnte er sich kaum rühren. Erst auf eine erneute Aufforderung von Landis („Ich werde warten und du erzählst mir dann, wie es war, also geh schon“), setzte er sich in Bewegung. Der Diener musterte Nolan aus der Nähe und nickte dann zufrieden, ehe er ihn weiter mit sich winkte. Der Auszubildende folgte ihm mit einem äußerst unguten Gefühl im Magen. Seine Mutter hatte ihm früher oft von Leuten erzählt, die Kinder entführten, um sie dann zu als Sklaven oder Attentäter zu verkaufen. Er warf einen weiteren Blick zu dem Diener und fragte sich dabei, ob dieser wohl selbst als Kind gekauft worden war oder ob er in der Lage war, so etwas zu tun. Allerdings war dieser Mann einer von der Sorte, bei denen man den Glauben bekam, sie waren schon in dem Alter auf die Welt gekommen und niemals ein Kind gewesen. An der Kutsche angekommen, warf Nolan noch einmal einen Blick zurück als hätte er das Gefühl, dass er nie wieder nach Cherrygrove kommen würde, wenn er nun einstieg. Landis winkte ihm zu, als er das bemerkte, was Nolan den nötigen Mut verlieh, in das Gefährt einzusteigen. Die gepolsterte Sitzbank war überraschend weich und gefiel ihm auf Anhieb, weswegen er im ersten Moment nur damit beschäftigt war, über das Polster zu streichen. Das leise Lachen ihm gegenüber, ließ ihn aufblicken und die Person, die dort saß, neugierig mustern. Es war eine ältere Dame, die ihm auf Anhieb sympathisch war, schon allein weil ihre grünen Augen vor Schalk leuchteten und ihr inzwischen weiß gewordenes Haar kraus geworden war und ihn an seine Großmutter erinnerte. Eine solche Frau würde doch mit Sicherheit keine Kinder – oder Jugendliche, wie in seinem Fall – verkaufen, oder? Gut, dass das Aussehen täuschen konnte, hatte nicht zuletzt Kieran ihm wiederholt und immer wieder erklärt, selbst in seinen späteren Lebensjahren, vermutlich in Anbetracht eines solchen Ereignisses, aber nett aussehende alte Damen konnte Nolan einfach nicht als potentiellen Feind betrachten, vor dem man sich in Acht nehmen sollte. Stattdessen erwartete er jeden Moment, dass sie ihm frische Plätzchen anbieten würde, auch wenn es in der Kutsche nicht im Mindesten danach roch. „Verzeih, dass ich dich einfach so aus deinem Training herausgeholt habe, junger Freund. Dürfte ich deinen Namen erfahren?“ Kieran, so wusste Nolan, hätte die Dame höflich darauf hingewiesen, dass es sich gehörte, sich selbst vorzustellen, wenn man erfahren wollte, wer sein Gegenüber war, aber er selbst kümmerte sich nicht weiter darum: „Ich bin Nolan.“ Die Kutsche setzte sich mit einem heftigen Ruck in Bewegung, fuhr dann jedoch erstaunlich gleichmäßig, wenn er gleichzeitig daran dachte, wie sehr man auf dem Rücken eines trabenden Pferdes durchgeschüttelt werden konnte. „Das freut mich sehr, Nolan“, sagte die Dame. „Mein Name ist Patricia O'Brien.“ „Der Name klingt edel.“ Warum sollte er sich nicht einfach so verhalten, wie er es immer tat? Wenn sie schon Interesse an ihm hatten – warum auch immer – würden sie ihn auch mit seinem echten Charakter noch interessant finden, davon war er überzeugt. Sie lachte amüsiert. „Das sollte er besser auch. Weißt du, warum ich dich mit mir nehme?“ „Landis hat gesagt, die Leute nehmen einen mit, um herauszufinden, ob sie dazu taugen, ihre Töchter zu heiraten.“ „Dieser Landis muss ein intelligenter Junge sein. Aber in diesem Fall geht es nicht darum.“ Nolan rutschte ein Stück näher zur Tür, das Gesicht ein wenig blass. „Ihr werdet mich aber nicht entführen und verkaufen, oder?“ Da sie seinen Gedanken nicht so recht folgen konnte, sah sie ihn nur fassungslos an. „A-aber nein, natürlich nicht. Ganz im Gegenteil, ich wollte dich eigentlich behalten.“ Sein Misstrauen schwand nicht, sondern erhöhte sich sogar noch einmal. „Bitte?“ „Oh, nicht so wie du denkst, Nolan. Ich möchte dich adoptieren. Deine Großeltern haben mir von deinem traurigen Schicksal berichtet, als sie mir Stoffe lieferten.“ So war sie also auf ihn gekommen – aber dennoch fand er, dass sie ihn dann auch anders hätte ansprechen können. Dann hätte er nicht so viel Angst haben müssen. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“ Mit fünfzehn empfand er sich bereits zu alt für eine Adoption und noch dazu hing er inzwischen an seiner Unabhängigkeit, an seinem Zuhause und vor allem an Cherrygrove. Eine Adoption allerdings setzte oft voraus, dass man das alles hinter sich ließ. „Sieh dir erst einmal an, wo du leben würdest, ehe du dich entscheidest.“ Da es nicht schaden konnte und Landis am Ende sicherlich Details erfahren wollte, gab er seufzend nach und lehnte sich wieder ein wenig zurück. Frediano war von seinen Ausflügen auch immer wieder zurückgekehrt, also konnte Nolan das auch, kein Problem, alles bestens, nicht wahr? Der Rest der Fahrt verlief schweigend, was für Nolan ein Gräuel war, weswegen er sich wünschte, Landis hätte mit ihm kommen können. Er wusste nicht, was er mit einer Frau, die er nicht kannte und die ihn wie einen Welpen behalten wollte, reden sollte. Was interessierten Frauen in ihrem Alter? Doch als er schon gar nicht mehr daran glaubte, dass sie ankommen würden, hielt die Kutsche wieder. Er wusste nicht genau, wo sie sich befanden, aber wirklich notwendig war das auch nicht, denn als er aus der Kutsche stieg, entdeckte er eine geradezu riesige Villa in einem nicht minder großen Park, der mit farbenprächtigen Blumen gefüllt war. „Das gehört alles Euch?“ Patricia nickte mit unverhohlenem Stolz. „Mein Großvater hat sich dieses Grundstück mit sehr harter Arbeit verdient. Aber außer mir gib es niemand mehr, der das alles einmal erben könnte.“ „Aber wenn Ihr so viel Geld habt, müsste es dann nicht mindestens einen Nachfahren geben?“ Ihr Stolz wandelte sich in Bitterkeit, offensichtlich war das ein sehr empfindliches Thema für sie. Da er wusste, wie furchtbar einen empfindliche Themen deprimieren konnten, beschloss er, nicht näher darauf einzugehen und lief stattdessen auf die Eingangstür zu, die ihm sofort von einer Dienerin geöffnet wurde. „Natürlich bin ich nicht den ganzen Tag alleine“, sagte Patricia darauf. „Ich habe jede Menge Dienerschaft, die gemeinsam mit mir im Haus lebt.“ „Na, immerhin~ Besser als allein zu sein.“ „So wie du?“ Er blickte sie verständnislos an. Sicher, die meisten Menschen mochten denken, dass er ohne seine Eltern allein war, aber das stimmte so nicht. Immerhin waren da noch Landis, Asterea und Richard und so ziemlich alle anderen Einwohner von Cherrygrove. Er war weder allein noch einsam – und er kannte sehr wohl den Unterschied zwischen diesen beiden Wörtern. „Bei mir ist alles in Ordnung. Ich habe genug Freunde und Ersatzverwandte... sozusagen.“ Immerhin gab es keinen Ersatz für verlorene Verwandte, aber ein besseres Wort wollte ihm trotz seines reichhaltigen Vokabulars einfach nicht einfallen. Wenn er so darüber nachdachte, hatten seine Großeltern es möglicherweise immer darauf abgesehen gehabt, dass er eines Tages von Adeligen adoptiert werden würde und deswegen war er gezwungen worden, all diese Wörter zu lernen. Allerdings gefiel ihm diese Aussicht nicht sonderlich. Nolan begrüßte die Dienerin an der Eingangstür lächelnd, was sie ebenso erwiderte. Die Eingangshalle war riesig, wie er gleich darauf staunend feststellte. Eine geschwungene Treppe führte zu einer Galerie hinauf, mehrere Türen in die unterschiedlichsten Richtungen waren zu sehen. In Nolan erwachte bei diesem Anblick der Wunsch, alles sofort genauestens zu erkunden – bis ihm einfiel, dass Landis nicht bei ihm war. Frediano glaubte, dass Landis einen schlechten Einfluss auf Nolan auswirkte, aber dieser empfand es vollkommen andersherum. Ohne seinen besten Freund fühlte Nolan sich vollkommen lustlos und ohne jeden Elan – Asterea hatte einmal bemerkt, dass dies offenbar ein Anzeichen von Depressionen und die bei ihm kein sonderlich großes Wunder wären – da blieb ihm oftmals nur, sich lieb und nett zu verhalten, um nicht noch Ärger dafür zu bekommen. Patricia lächelte ihm zu und begann damit, ihn herumzuführen. Jeder Raum schien ihm imposanter als der vorige, so dass er gar nicht mehr aus dem Staunen herauskam; der Blick auf den blühenden Park, in dem es sogar ein Wasserbecken gab, faszinierte ihn und das Zimmer, das für ihn bestimmt wäre, war zwar bis auf Bett, Schrank und Tisch vollkommen leer, aber dafür geradezu riesig. Er glaubte, sich schon fast an den Gedanken, dort zu wohnen, gewöhnen zu können. Als der Abend anbrach, führte Patricia ihn in einen Raum, den sie Porträtsaal nannte und der seinem Namen alle Ehre machte. An den Wänden hingen Gemälde, die offenbar sämtliche Vorfahren dieser Familie zeigten. Selbst wenn es erst Patricias Großvater zu verdanken war, dass sie einen gewissen Reichtum angehäuft hatten, so schienen selbst dessen Vorfahren und Geschwister nicht sonderlich arm gewesen zu sein. Patricias Gemälde zeigte sie als junge Frau in den Zwanzigern, sie war für sein Empfinden eine wirklich hübsche Frau gewesen, was sich auch nach all den Jahren immer noch ein wenig in ihrem Gesicht spiegelte. Der Mann neben ihr schien ihr Gatte zu sein und er wirkte wie jemand, den Nolan mit Sicherheit gemocht hätte. Das Bild neben ihrem zeigte eine junge braunhaarige Frau, die ihre Tochter sein musste. Sie wirkte äußerst glücklich, genau wie der schwarzhaarige Mann neben ihr, der Nolans Blick auf sich zog. Etwas an diesem Mann kam ihm seltsam vertraut vor, obwohl er sich sicher war, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. „Wer ist das?“ Er zeigte auf den Mann, worauf sich Patricias Blick verfinsterte. „Das war der Verlobte meiner Tochter. Sein Name war Farran – aber er verschwand vor ihrer Hochzeit, um bei einer anderen sein zu können und brach ihr damit das Herz.“ So glücklich wie die beiden auf dem Bild aussahen, fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, dass dieser Farran das tun könnte. Aber wieder dachte er an Kierans Worte, dass der äußere Eindruck täuschen konnte – und ironischerweise war er selbst mit der ungeahnten Kraft in seinem schmächtigen Körper das beste Beispiel für seine eigenen Warnungen gewesen. „Er brach ihr das Herz“, wiederholte Nolan leise und bedrückt. „Mein armes Mädchen warf sich daraufhin von dem höchsten Turm, meines Hauses...“ Ihr Blick so wie ihre Stimme wurden eiskalt. „Und danach folgte mein Gatte ihr – seitdem bin ich hier allein.“ Bei ihrer Erzählung überkam Nolan ein seltsames Gefühl, das seine Brust zuschnürte. Es erinnerte ihn ein wenig an das Gefühl, das ihn heimsuchte, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte. Nur dass er in diesem Fall nicht im Mindesten wusste, warum gerade ihn das traf. „Das Ironische an der Sache ist“, fuhr Patricia mit belegter Stimme fort, „dass er das Mädchen danach ebenfalls sitzenließ, noch dazu mit einem kleinen Kind.“ „Wie furchtbar...“ „Männer wie Farran sind furchtbare Geschöpfe, die das Leben von Mädchen zerstören, wohin auch immer sie gehen. Ich werde ihm nie vergeben.“ „Würde ich an Eurer Stelle auch nicht“, stimmte er zu. Etwas derart Unmoralisches und Verletzendes, ganz und gar nicht Heldenhaftes, würde er nur vergeben, wenn sich der Täter reuevoll entschuldigen und Besserung geloben würde. Fragte sich nur, ob der Täter das ebenfalls als böse ansah und deswegen überhaupt in Erwägung zog, sich zu ändern. Aber da er diesem Farran wohl ohnehin nie begegnen würde, musste er sich keine Sorgen darum machen. Sollte er ihn aber jemals treffen, so beschloss er, würde er ihm eine ausgedehnte Moralpredigt über das richtige Verhalten Frauen gegenüber halten. „Nun, jetzt kennst du meine Familie“, sagte Patricia schließlich, um das Thema zu wechseln. „Wollen wir essen gehen?“ Nolan nickte freudig und folgte ihr wieder mit knurrendem Magen. Farran und dessen deprimierende Geschichte hatte er fast sofort wieder vergessen. So gut und reichhaltig wie an diesem Tag hatte Nolan schon lange nicht mehr gegessen. Der Koch musste in seinen Augen ein wahrer Zauberer sein – und wieder bedauerte er, dass Landis nicht hatte mitgehen können. Mit Sicherheit hätte es ihm mindestens genausogut, wenn nicht sogar noch besser, geschmeckt. „Nun, mein Lieber, wie sieht es aus?“ Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und blickte ihn neugierig an. „Hast du dich schon entschieden?“ „Für mich gab es nie etwas zu entscheiden“, erwiderte Nolan sofort, auch auf die Gefahr hin, sie zu enttäuschen. „Ich werde Cherrygrove nicht verlassen.“ „Aber wenn ich dir versichere, dass du deine Ausbildung fortsetzen kannst?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Es geht mir gar nicht um die Ausbildung.“ Auch wenn diese ihm viel Vergnügen bereitete, trotz der manchmal anstrengenden Zeiten, besonders wenn es ums Lernen ging. „Cherrygrove ist meine Heimat, die will ich nicht einfach verlassen. Alle dort sind meine Familie und sie werden bestimmt enttäuscht sein, wenn ich gehe.“ Tatsächlich wirkte sie enttäuscht, weswegen er sofort noch etwas hinzufügte: „Aber ich besuche Euch so oft Ihr wollt! Und Ihr könnt auch immer zu mir kommen, wenn Ihr wollt!“ Zu seiner Erleichterung lächelte sie darauf. „Du bist ein interessanter Junge, genau wie deine Großeltern gesagt haben. Aber findest du es wirklich gut, deine Zukunft von all diesen Leuten abhängig zu machen? Wenn du mein Sohn werden würdest, könntest du alles haben, wann immer du wolltest und müsstest dir nie mehr Gedanken um etwas machen.“ „Das klingt langweilig...“, urteilte er. „Was ist das Leben wert, wenn wir alles bekommen, was wir wollen?“ Da sie ihn nur ratlos ansah, wusste er, dass er sich weiter erklären musste: „Das ganze Leben ist voller Entbehrungen und Leid gepflastert – aber nur so können wir das Gute schätzen! Wenn immer alles nur gut wäre und wir alles kriegen würden, könnten wir uns gar nicht mehr freuen, weil wir es ja nicht anders gewohnt wären.“ „Und so etwas weiß du schon in deinem Alter?“ Sie wirkte amüsiert und Nolan hatte nicht wirklich das Gefühl, dass sie ihn ernstnahm. „Mein Vater hat mir das beigebracht...“ Wenn er so darüber nachdachte, hatte Kieran ihm sehr viele Dinge für sein Leben beigebracht und egal wie sehr er von ihm in den letzten Jahren gehasst worden war, ein wenig vermisste er ihn. Richard versuchte zwar, ihm ein Vater zu sein, aber manchmal wünschte er sich dennoch, mit Kieran über manche Dinge sprechen zu können. Auch wenn er und Richard seit ihrer Jugendzeit immer Freunde gewesen waren, so unterschieden sich ihre Erfahrungen und Meinungen doch ein wenig voneinander und durch seine Erziehung fühlte Nolan sich eher zu den Erfahrungen Kierans hingezogen. Er war inzwischen sogar überzeugt, dass sein Vater seine Gründe für die Gewalt gegen ihn gehabt hatte und ihm diese nur verschlossen geblieben waren, weil sie nicht mehr miteinander sprachen. Ihr mitleidvoller Blick ließ ihn den Kopf abwenden, um sie nicht ansehen zu müssen. „Nun, ich kann dich nicht zwingen, bei mir zu bleiben. Wenn du das wünschst, lasse ich dich natürlich zurückbringen.“ „Vielen Dank.“ Er neigte den Oberkörper leicht, um sich vor ihr zu verbeugen, ohne dabei aufzustehen. Sie lächelte wieder. „Keine Ursache. Auch wenn du mein großzügiges Angebot ablehnst, so sollst du doch wissen, dass meine Tür dir jederzeit offensteht. Du kannst gern jederzeit herkommen, wenn du möchtest“ Er bedankte sich noch einmal, so höflich wie er es von seiner Mutter gelernt hatte – immerhin war sie für seine Manieren zuständig gewesen. Patricia nickte noch einmal und aß dann weiter als hätte das Gespräch eben nicht stattgefunden. Gelangweilt sah Nolan auf dem Heimweg aus dem Fenster, aber außer Dunkelheit war nicht sonderlich viel zu sehen. Noch immer hing er mit seinen Gedanken an dem riesigen Haus und dem Treffen mit Patricia. Er wusste selbst, dass ihm eine unvergleichliche Chance entgangen war, aber es gab für ihn einfach keinen Grund, Cherrygrove zu verlassen, selbst wenn er die Ausbildung hätte fortführen können. Er wollte nicht gehen, nicht solange alles so... perfekt war und solange er gute Erinnerungen mit diesem Ort verband. Das Licht einer Laterne lenkte seine Gedanken auf diesen Fleck und er musste nicht erst lange überlegen, um zu wissen, wer dort stehen könnte. Hastig bat er den Fahrer der Kutsche zu halten und sprang hinaus, kaum dass die Räder stillstanden. Er verabschiedete sich freundlich von dem Fahrer und lief dann die letzten Schritte zu dem mit einer Laterne wartenden Landis, der sofort lächelte, als er seinen Freund erkannte. „Und? Wie war es?“ „Wahnsinn~ Du hättest dieses riesige Haus oder den enormen Park sehen sollen!“ Nolan breitete die Arme aus, ohne damit im Mindesten auch nur ansatzweise die Größe davon beschreiben zu können. „Und das Essen erst! Das war richtig lecker, kein Vergleich zu dem, was Tante Asti kocht!“ „Als ob die kochen könnte“, erwiderte Landis schmunzelnd. „Und die Tochter? Wie sah die Tochter aus?“ „Oh... die war schon tot.“ Seine Worte kamen so banal hervor, das Landis nur verwirrt die Augenbrauen heben konnte, so dass Nolan hastig hinzufügte, dass es um eine Adoption und keine Heiratsvermittlung gegangen war. „Und? Wann kannst du umziehen?“ Er wirkte recht interessiert, im Gegensatz zu ihm, so dass es ihm fast schon Leid tat, als er den Kopf schüttelte. „Ich habe abgelehnt.“ „Warum?“, fragte sein Freund fassungslos, sein Mund blieb ihm offen stehen. Nolan überlegte, ihm alles zu erklären, was er zu Patricia gesagt hatte und hinzuzufügen, dass ihm ohne seinen besten Freund, mit dem er Tag und Nacht herumhängen konnte, langweilig geworden wäre, aber er beließ es beim reinen Gedanken. „Ich bin glücklich genug hier.“ Ihm war klar, dass Landis keine Ahnung hatte, wovon er sprach, aber er war die Erklärungen Leid, weswegen er nichts mehr hinzufügte, sondern nur lächelnd mit den Schultern zuckte. „Oh Junge, ich glaube, du weißt dein Glück gar nicht zu schätzen.“ „Du musst gerade reden“, erwiderte Nolan. „Wer von uns hat denn seine tollen Eltern?“ „Oh, DAS sagst du nur, weil sie nicht deine Eltern sind.“ Beide lachten einstimmig und gingen dann gemeinsam weiter ins Dorf hinein. „Kann ich heute bei dir übernachten? Ich glaube, meine Eltern sind ziemlich sauer, dass ich den ganzen Abend hier draußen auf dich gewartet habe.“ „Das musst du nicht erst fragen, Lan. Du kannst jederzeit bei mir übernachten.“ Landis bedankte sich glücklich und begann wie erwartet, nach Details des fremden Anwesens zu fragen, die Nolan ihm auch nur allzugern gab. Doch egal wieviel er erzählte und wie begeistert Landis von alldem war und inständig darum bat, selbst auch mal hingehen zu dürfen, Nolan bereute keine einzige Sekunde, dass er das Angebot abgelehnt hatte. Weder in diesem Moment, noch den Rest seines Lebens. Gefallener Stern ---------------- „So mies gelaunt heute?“ Die Stimme des Wachmanns riss den aus dem Fenster starrenden Richard aus seinen Gedanken. Müde wandte er den Kopf und brauchte einen Moment, um Grady zu erkennen, auch wenn sie bereits seit Jahren Kollegen waren. Das andauernde schlechte Wetter und sein Magenknurren verhinderten allerdings, dass er so einfach einen logischen Schluss ziehen konnte. Grady stemmte einen Arm in die Hüfte und grinste. „Was ist los? Hattest du eine wilde Nacht?“ Die anzüglichen Bemerkungen nervten Richard schon lange nicht mehr. Vielmehr störte es ihn, dass er dabei zu neugierig wurde und seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen. „Nein, hatte ich nicht. Keine Ahnung, wo Asterea schon wieder Unheil stiftet, sie war heute Morgen nicht da – und deswegen gab es nichts zum Frühstück.“ Es lag ihm fern, seiner Frau die alleinige Verantwortung für seine Mahlzeiten zu geben, er hatte lange genug allein gelebt, um selbst zu kochen, aber nach so vielen Jahren war er es nicht mehr gewohnt, allein zu essen, weswegen er auf ein Frühstück verzichtet hatte. Grady runzelte sofort die Stirn. Die einzelne weiße Strähne in seinem ansonsten pechschwarzen Haar ließ einen glauben, dass er oft über grundlegende Dinge des Lebens nachdachte, aber Richard wusste genau, dass er sich die Haare färbte, um interessanter zu wirken – auf ihn wirkte es allerdings nur lächerlich und selbst Asterea hatte immer Probleme damit, sich das Lachen zu verkneifen, wann immer sie ihn sah. „Vielleicht betrügt sie dich ja“, gab Grady schließlich nachdenklich von sich. „Mach dich nicht lächerlich. Das wäre das Letzte, was sie tun würde.“ Asterea klammerte schon richtig an ihm, selbst nach fast zwanzig Ehejahren. Manchmal wachte er tatsächlich auf, nur um festzustellen, dass sie Arme und Beine um ihn geschlungen hatte als fürchtete sie, er würde nachts einfach aufstehen und verschwinden. Von all den Malen, wo sie ihn während der Nachtschicht auf der Wachstation besuchte und dort Stunden mit ihm zubrachte, selbst wenn er sie immer wieder darauf hinwies, dass es unnötig war und sie besser schlafen sollte, ganz zu schweigen. Wieder hatte er bei diesem Gedanken ihre Stimme im Kopf, die ihm lachend erwiderte, dass sie ohne ihn neben sich nicht schlafen könne. „Du bist ganz schön überzeugt von ihr“, bemerkte Grady. „Ich meine, wenn sie total hässlich wäre und kein anderer Mann hier Interesse an ihr hätte, würde ich das noch verstehen, aber bei Asterea? Ich wette mit dir, dass halb Cherrygrove auf sie steht.“ Richard rollte mit den Augen. „Du übertreibst völlig.“ Aber dass zumindest Grady wirklich etwas viel für sie übrig hatte, das war ihm bewusst. Nicht zuletzt, weil Asterea ihm einmal erzählt hatte, dass Grady versuchte, ihr den Hof zu machen – gut, sie hatte es nicht so ausgedrückt, weil sie offenbar nicht verstanden hatte, was dieser Mann von ihr wollte, ihre Naivität war manchmal geradezu zauberhaft, aber sie meinte, dass er versucht hätte, ihr unheimlich nahezukommen. Richard hatte darauf nicht weiter reagiert, ihr nur gesagt, sie solle sich vorsehen und beschlossen, Grady schärfer im Auge zu behalten. Sie waren Kollegen, aber das machte sie nicht zu Freunden, Richard vertraute ihm nur so lange wie er ihn vor sich sehen konnte. „Asterea würde sich nie auf einen anderen Mann einlassen“, setzte Richard dazu. „Also lass das endlich. Ich bin sicher, sie wird nur wieder irgendeinen Schwachsinn anstellen, wie üblich eben.“ Möglicherweise hatte sie spontan beschlossen, in den Bergen nach gefallenen Sternen zu suchen oder im Wald einen verletzten Wolf zu pflegen – er traute ihr alles zu, wenn es um so etwas ging. In all ihren Ehejahren und besonders seit Landis' Verschwinden, tat sie das auch mit schöner Regelmäßigkeit, nur um ein paar Stunden später wieder reumütig vor der Tür zu stehen. Nicht, dass er ihr je deswegen böse gewesen wäre, immerhin wusste er inzwischen, dass sie wieder zurückkam, egal wie lang es dauerte – im Gegensatz zu ihrem Sohn, der selbst nach zwei Jahren nicht den Weg nach Hause gefunden hatte. Was sie tat, wenn sie nicht da war, wusste er nicht. Aber schon seit Jahren begleitete ihn eine nagende Ahnung, vor der er sich hütete, sie auszusprechen. Es war nichts Schlimmes, nichts, was man im Verborgenen tun sollte und worüber man besser Stillschweigen bewahrte. Ihn befiel nur die irrationale Angst, dass sie sich in Staub – Sternenstaub, um genau zu sein – verwandeln würde, sobald er sie mit seinem Verdacht konfrontierte und diesen Zustand wollte er lieber vermeiden. Dieses Mal war es nicht Grady, der ihn aus seinen Gedanken riss, sondern ein Stadtbewohner, der die Tür zur Wachstation aufriss. Richard wollte ihn bereits zurechtweisen, dass man selbst bei einem Notfall nicht so hereinstürmen musste, doch das geschockte Gesicht des Mannes sorgte dafür, dass ihm die Worte im Hals steckenblieben. „Richard! Du musst unbedingt kommen! Es ist Asterea!“ Er stand bereits auf, ein äußerst ungutes, flaues Gefühl in seinem Magen, das ihm verriet, dass etwas ganz Furchtbares geschehen war. Dennoch versuchte er es zu überspielen, indem er schmunzelte. „Was hat sie diesmal angestellt? Hat sie 'nen Drachen angeschleppt?“ Er erwartete keine Antwort und auch kein Lachen, weswegen es ihn nicht weiter verwunderte, dass der Mann ihn einfach nur mit sich winkte und Grady ihnen folgte. Es war lange her, seit er zuletzt gesehen hatte, dass eine ganze Menge sich versammelte, das letzte Mal war der Grund Orianas Hochzeit gewesen und jeder hatte sich gefreut, gelacht und ihr lautstark gratuliert, sogar gesungen worden war für sie. Aber an diesem Tag waren alle still, viel zu still, keiner von ihnen lächelte oder schien auch nur in der Stimmung zu sein, irgendetwas anderes zu tun als wortlos den Kavalleristen anzustarren, der neben seinem Pferd stand, mit einer leblosen Person auf den Armen. Richards Schmunzeln erlosch augenblicklich, als er erst den Kavalleristen – es war Frediano – und dann die Person auf seinen Armen erkannte. Schlagartig schienen sämtliche Farben aus der Welt zu fließen und nur ein monochromes Bild zurückzulassen, vor dessen Hintergrund er wieder Astereas Stimme hörte, wie sie ihm irgendwas erzählte, was ihn nicht interessierte und dabei immer wieder lachte, da sie die Erzählung offenbar lustig fand. Ein Impuls riet ihm, sich umzudrehen und fortzulaufen, wie schon damals, als er vor all dem Leid und dem Tod weggelaufen und geradewegs in die Arme zweier Naturgeister geraten war. Eine von beiden – aber das konnte er damals noch nicht ahnen – sollte später seine Frau werden, die er trotz all seinen gegensätzlichen Worten mehr als alles andere auf der Welt liebte und die nun leblos in den Armen des Kavalleriekommandanten lag. „Asterea...“ Seine eigene Stimme hallte in seinem Inneren nur dumpf wider, dafür war die von Asterea so klar und deutlich als würde sie direkt neben ihm stehen. Wie betäubt ging er auf Frediano zu, dessen Gesicht gefestigt schien als ob er beschlossen hätte, in diesem Moment einfach für alle stark zu sein. Sein Körper streckte von allein die Arme aus, um ihm Asterea abzunehmen – nein! Er weigerte sich, dieses Wesen, das ihm so leicht schien und vollkommen reglos auf die Übergabe reagierte, als Asterea anzusehen! Sie konnte einfach nicht seine geliebte Frau sein, diese war bestimmt gerade irgendwo mal wieder in einer Höhle auf der Flucht vor einem Bären gestrandet oder saß auf einem Baum fest und wartete darauf, dass er vorbeikam, um sie zu retten. Das Wesen, das da nun in seinem Arm lag, sah nur so aus wie sie, ganz bestimmt würde sie später heimkehren und sie würden beide darüber lachen. Zumindest sagt er sich das selbst noch, als seine Knie plötzlich unter ihm nachgaben und er wie in Zeitlupe zu Boden sank, während er sie in seinem Kopf wieder lachen hörte. „Manchmal bist du unmöglich, Ardy.“ Asterea kam nicht zurück. Auch wenn es ihm schwerfiel, so blieb ihm nichts anderes als zu akzeptieren, dass dies eine unumstößliche Tatsache war, dass es sich nicht nur um einen schlechten Traum handelte, aus dem sie ihn mit Kaffee und Rührei wecken würde. Sie war fort und es gab keinerlei Aussicht darauf, sie jemals wieder irgendwo abzuholen, weil sie sich wegen ihres Gutmenschentum in Sackgassen verrannt hatte und nun auf seine Hilfe wartete. Das alles wurde ihm bewusst, während er immer noch auf dem Friedhof stand und ihr Grab anstarrte, auch wenn die Beerdigung schon... eine Weile her war. Er wusste nicht, wie lange, Zeit schien für ihn keine Bedeutung mehr zu haben, es könnten Minuten, Stunden oder auch schon Tage vergangen sein. Ihre Stimme in seinem Kopf war inzwischen verstummt, die Stille darin ließ ihn fast wahnsinnig werden, aber gleichzeitig wusste er, dass dies ein guter und wichtiger Schritt nach vorne war, auch wenn es ihn selbst bestürzte, dass es so schnell nach ihrem Tod geschah. Er wollte sie noch nicht loslassen, wollte nicht, dass sie zu einem Teil seiner Vergangenheit wurde, aber je mehr er versuchte, sich an sie zu klammern desto schneller zerrann die Erinnerung an sie wie Sand, Sternensand, zwischen seinen Fingern. Was geschehen war, wusste er nicht und er wollte es auch gar nicht wissen, wenn er ehrlich war. Aber etwas tief in seinem Inneren ahnte, dass es etwas mit Landis zu tun hatte und Nolan hatte ihm das später sogar indirekt bestätigt. Auf Richards Frage, ob sein Sohn wohl bald wieder heimkehren würde, wenn er hiervon erfuhr, war Nolans Antwort ein einziges, bedrücktes Kopfschütteln gewesen. Das allein reichte Richard, um ihm zu verraten, dass dieses Ereignis im Zusammenhang mit Landis stand, der immer noch lebte – und mehr wollte er auch gar nicht wissen. Er befürchtete, seinen eigenen Sohn zu hassen, wenn er erfahren würde, welche dumme Aktion von ihm zu diesem Ergebnis geführt hatte. Stattdessen wollte er ihn lieber mit offenen Armen willkommen heißen, wenn er zurückkehren würde... falls er zurückkehren würde. „Genau so, wie du es dir gewünscht hättest, Asterea...“ Er lachte humorlos, als er bemerkte, dass er tatsächlich mit ihrem Grabstein sprach. Etwas, was er eigentlich nie hatte tun wollen, weil es ihm schon immer lächerlich vorgekommen war. Schließlich wandte er sich ab, um den Friedhof zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Es wurde langsam Zeit, dass er sich darum kümmerte, wie es nun weiterging... aber erst nachdem er wieder ausgiebig geschlafen und von Asterea geträumt hatte, waren seine Träume doch nun das einzige in seinem Leben, was mit Farbe gefüllt war. Seit Astereas Todestag war für ihn alles grau – und zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass dieser Zustand auch noch viele Jahre anhalten würde. Feindschaft kann man in Not aussetzen ------------------------------------- Es gab wenige Dinge, die Frediano ärgerten. Aber jene, die eindeutig dazugehörten, waren Auseinandersetzungen mit seiner Tante, die in der letzten Zeit immer damit endeten, dass sie ihn aus dem Haus warf – und Landis, der das alles mitbekam. Letzteres kam glücklicherweise nur selten vor, aber genau an diesem Tag, an dem Frediano ohnehin schon mit den Nerven ganz am Boden war, stand dieser Kerl da. Am Liebsten hätte er ihn beiseite gestoßen und wäre dann zu Oriana gegangen, in der Hoffnung, dass er bei ihr übernachten könnte. Er riss sich allerdings zusammen und ging an ihm vorbei, ohne ihn weiter zu beachten, aber Landis schien ihn nicht so einfach vom Haken zu lassen: „Deine Tante ist ziemlich sauer, hm?“ Frediano hielt inne. Ihr Kreischen, aus dem nicht mehr herauszuhören war, was ihr Problem war, und das Knallen der zuschlagenden Tür, klang ihm noch immer in den Ohren. „Was geht dich das an?“ „Gar nichts.“ Landis zuckte mit den Schultern. „Ich dachte nur, ich sollte etwas sagen.“ „Solltest du nicht lieber an Nolans Fersen kleben?“ Normalerweise waren die beiden immer zusammen, es war schon ein regelrechtes Phänomen, als ob keiner ohne den anderen überleben könnte. Deswegen erstaunte es Frediano umso mehr, dass er Landis nun schon den zweiten Tag in Folge ohne dessen besten Freund erblickte. „Nolan ist gerade in Jenkan, bei seinen Großeltern und die wollten nicht, dass ich mitkomme. Wahrscheinlich wollen sie ihm mal wieder ein Mädchen vorstellen, das er heiraten soll.“ Tatsächlich kam es Frediano so vor als ob er bereits etwas in der Art einmal gehört hatte. Wenn er sich richtig entsann, machten Nolans Großeltern sich Sorgen, was aus ihrem Enkel werden sollte und versuchten deswegen, ihn an eine gute Partie zu vermitteln. Als angesehene Stoffhändler verfügten sie über Kontakte zu verschiedenen Adelshäusern, aber Nolan hatte bislang alle Vorschläge abgelehnt. Landis verstand das nicht, soweit Frediano wusste, aber der Kommandentensohn tat das nur zu gut. Geld, Diener und ein großes Haus machten nicht glücklich, das schien Nolan genau zu wissen und deswegen immer wieder sein einfaches Leben und seine Freunde vorzuziehen. „Dann hast du wohl nichts zu tun und dachtest, du könntest mich nerven?“ „Eigentlich nicht.“ Landis neigte den Kopf ein wenig. „Ich bin nur durch Langeweile vorbeigekommen und hab das gesehen.“ „Dann kannst du jetzt ja aus Langeweile weiterlaufen und das hier wieder vergessen.“ Landis wandte den Blick ab. „Und wo willst du jetzt hin? Du kannst nicht zu Ria, sie ist nicht da.“ Frediano zuckte zusammen, als er bemerkte, dass er so schnell durchschaut worden war. Landis fühlte sich offenbar wirklich bestätigt und fuhr fort: „Wir haben Sommerferien, da reist Ria mit ihren Eltern in Király herum. Ich bin vorher an ihrem Haus vorbeigekommen, da sind alle Fensterläden geschlossen.“ Das zerstörte seinen Plan, aber er könnte es immer noch bei- „Ken ist auch nicht da. Seine Eltern fahren im Sommer immer mit ihm und Ren in Tante Yus alte Heimat.“ Ein entnervtes Knurren entfuhr Fredianos Kehle. Als Kommandantensohn könnte er sich immer noch woanders einladen, aber er wusste, dass ihm das nicht gefallen würde und selbst wenn er darum bat, einfach in Ruhe gelassen zu werden, würde das nicht funktionieren, das wusste er bereits aus Erfahrung. „Mich wundert, dass du nicht nach Hause gefahren bist“, sagte Landis. Frediano wandte ihm endlich den Blick zu. „Es geht dich absolut nichts an – aber ich hatte keine Lust, nach New Kinging zu fahren.“ Das war gelogen, aber er würde diesem Jungen mit Sicherheit nicht auf die Nase binden, dass sein Vater keinen Besuch über den Sommer wünschte und seine Mutter wieder einmal zu krank war, um selbst ihren eigenen Sohn zu empfangen. „Warum fährst du denn nicht weg?“, erwiderte er mit einer Gegenfrage, in der Hoffnung, Landis so sehr zu nerven, dass er endlich weggehen würde. Doch er steckte die Hände in die Hosentaschen und antwortete tatsächlich: „Mein Vater reist nicht gerne und meine Mutter meint, sie ist früher so viel herumgekommen, dass sie jetzt lieber zu Hause bleibt. Mir ist es eigentlich ziemlich gleich, Hauptsache kein Unterricht.“ Er schnitt seine übliche Grimasse, von der Frediano inzwischen wusste, dass sie implizierte, dass Landis das Gesagte eigentlich nicht ernst meinte. Vermutlich mochte er den Unterricht also doch. „Was hast du jetzt vor?“, wollte er wissen. Frediano knurrte leise. „Warum fragst du mich dauernd Sachen, die dich nichts angehen?“ „Weil es mich interessiert?“ Verwundert blickte Landis ihn an, als er im Tonfall einer Frage antwortete, es kam Frediano fast so vor als ob ihm wirklich Nolan gegenüberstand. „Ich werde mich wahrscheinlich irgendwo einladen... auch wenn mir das nicht gefällt.“ Es sprach komplett gegen seinen Stolz, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, so wie er es sah. „So ein Unsinn!“ Frediano blinzelte verdutzt über die enthusiastische Erwiderung. „Was?“ „Du kommst einfach mit zu mir.“ Es schien Landis tatsächlich ernst zu sein. „Meinem Vater wirst du bestimmt lieber sein als No und meine Mutter mag ja nur deine Mutter nicht, das geht schon.“ „Hast du vergessen, dass wir uns nicht leiden können?“ „Sei nicht so kleinlich. Ich lade dich immerhin ein und springe über meinen Schatten.“ Diese Worte erklärten Frediano, was mit dem Jungen los war, er wollte Oriana beweisen, dass er großmütig sein konnte und nicht so nachtragend, wie sie es ihm stets vorwarf. Unter anderen Umständen hätte er da nie mitgespielt, aber im Moment war ihm so gut wie alles recht, solange er nicht im Freien schlafen musste oder bei irgendeiner Familie, die ihn nerven würde. Immerhin gab es bei Landis auch noch Richard, den Frediano als recht angenehm im Gedächtnis hatte. „Fein, aber nur weil du darauf bestehst.“ Landis lächelte zufrieden. „Gut, dann komm.“ Enthusiastisch lief er voraus, Frediano schloss sich ihm gleich darauf an. Er war noch nie bei Landis gewesen, weswegen er schon ein wenig neugierig war, wie es bei ihm wohl aussah. So wie er den Jungen kennengelernt hatte, lebte er mit Sicherheit im Chaos, durch das er sich schlau fühlen wollte, weil er darin Dinge fand, nach denen andere eine Ewigkeit suchen würden. „Und das ist echt in Ordnung?“, hakte er lieber noch einmal nach. „Aber natürlich. Meine Eltern sind gewohnt, dass ich ständig jemanden mit nach Hause bringe. Sie werden überrascht sein, dass es dieses Mal du bist, aber das ist schon okay.“ Er warf Frediano ein derart aufrichtiges Lächeln zu, dass selbst dieser für einen Moment vergaß, dass er ihn eigentlich gar nicht mochte. Manchmal besaß Landis doch ein sehr einnehmendes Wesen, das musste selbst Frediano zugeben. Eine Weile schwiegen sie, bis Landis schließlich etwas sagte: „Deine Tante ist ganz schön furchteinflößend.“ „Wenn sie getrunken hat, ja. Aber ist das nicht normal? Nolans Vater war dann doch sicherlich auch so, oder?“ Landis lachte knapp. „Kieran? Oh, der war manchmal auch ziemlich toll. Du hättest ihn sehen sollen, als-“ Sein Lächeln erlosch augenblicklich, für einen kurzen Moment war sein Blick vollkommen leer, doch in der nächsten Sekunde sah er wieder normal aus. „Worüber haben wir gerade gesprochen?“ „Über nichts.“ Fredianos Neugier war zwar geweckt, aber er bekam das Gefühl, dass es besser war, nicht zuviel nachzuhaken. Zur Überraschung des Kommandantensohns riss Landis, bei seinem Zuhause angekommen, einfach die Tür auf und polterte hinein, wobei er ein „Ich bin wieder da!“ ins Haus hineinrief. Frediano folgte ihm und dachte dabei daran, dass sein eigener Vater ihm längst eine heftige Strafe für solch ein Verhalten aufgebrummt hätte. Landis allerdings wurde von Asterea begrüßt, die extra aus der Küche kam. „Na, mein Junge. Wurde es dir draußen zu langweilig?“ „Ein wenig.“ Als er zu Frediano sah, wurde Asterea bewusst, dass dieser auch noch da war. Für einen Augenblick befürchtete der Kommandantensohn, dass sich gleich Abneigung auf ihrem Gesicht spiegeln würde, doch stattdessen lächelte sie. „Hallo, Frediano. Schön, dich zu sehen.“ Wie es die Höflichkeit verlangte, verbeugte er sich kurz vor ihr. „Vielen Dank, dass ich hier sein darf. Uhm, wenn ich darf.“ Er war plötzlich ein wenig verunsichert, aber Asterea nickte. „Natürlich, solange du willst.“ Am Liebsten hätte er sie gefragt, warum sie so nett zu ihm war, wenn sie seine Mutter doch so sehr hasste, aber er sparte sich die Frage, immerhin konnte er spüren, dass es ehrlich gemeint war. „Vielen Dank.“ Er verbeugte sich noch einmal, worauf sie leise lachte. „Es gibt keinen Grund, so förmlich zu sein.“ Sie wandte sich an ihren Sohn. „Das Essen ist noch nicht fertig, bring Frediano doch bitte in dein Zimmer.“ Landis nickte sofort und ging mit ihm nach oben. Es war ein sehr einfaches Haus, wie Frediano erwartet hatte – aber es war auch keine Überraschung, in Cherrygrove lebte jeder in sehr einfachen Verhältnissen, die Frediano auch nicht sonderlich störten. Er hatte inzwischen beschlossen, dass er nach seiner Rückkehr nach New Kinging ebenfalls in ein eher einfaches Haus ziehen würde. Die Villa seiner Familie war ihm schon lange zuwider. Als er in Landis' Zimmer trat, war er sichtlich überrascht. „Es ist... sauber.“ Nirgends lag etwas herum, kein Staub ober Spinnweben waren zu sehen. „Was hast du denn erwartet?“, fragte Landis. „Mehr... Unordnung.“ Er machte eine unsichere Handbewegung, die das gesamte Zimmer einschloss. „Aber es ist überraschend sauber und aufgeräumt.“ „Ja, meine Mutter sagt immer, ich soll mein Zimmer sauber halten, dann würde es auch meiner Seele besser gehen.“ Frediano blickte Landis an, doch er wirkte absolut ernst, offensichtlich glaubte er das tatsächlich. „Du liebst deine Mutter sehr, oder?“ Er bemerkte gar nicht, dass das eine Abschätzung ihrer Aussage war, sondern nickte direkt. „Aber natürlich. Also, früher nicht so sehr, aber inzwischen schon. Sie ist immerhin meine Mutter und sie kümmert sich immer um mich.“ Frediano gab es nicht gern zu, aber er beneidete Landis um seine Eltern. Sie waren immer für ihn da und liebten ihn offenbar, das konnte Frediano von seinen Eltern nicht behaupten. Er zweifelte nicht an der Liebe seiner Mutter, aber an der seines Vaters sehr wohl. Doch statt weiter darüber nachzudenken, trat er an das Bücherregal, das ihn in diesem Zimmer am meisten überraschte. Er hätte nicht erwartet, dass Landis in seiner Freizeit las. Weniger überrascht zeigte er sich von den einzelnen Titeln, die ihm verrieten, dass es sich bei allen Büchern um Abenteuerromane handelte, in denen Helden, Drachen und fremde Länder vorkamen. „Es ist dir ernst damit, ein Held zu werden, was?“ Landis schien ein wenig verlegen, als er sich durch das Haar strich. „Nicht mehr so sehr, aber ich wäre immer noch gerne ein Held.“ „Warum?“ Es interessierte ihn schon lange, aber bislang hatte er nie gefragt. Es war ihm immer lächerlich vorgekommen, diese Frage zu stellen, niemand sollte glauben, dass er sich wirklich damit beschäftigte. Wenn aber schon sonst keiner außer ihnen da war, konnte er das nachholen. „Helden sind toll“, lautete die einfache Form der Antwort. „Sie retten Menschen und beschützen Dörfer und jeder liebt sie. Frauen verehren sie, Kinder sehen zu ihnen auf... das ist doch toll.“ Wenn er so sprach, glaubte Frediano tatsächlich, dass die Idee nicht ganz so idiotisch war und Landis das tatsächlich schaffen könnte, wenn er sich Mühe gab. Allerdings verwarf er diesen Gedanken sofort wieder und Landis wohl ebenso: „Gut, was wollen wir jetzt bis zum Abendessen machen?“ Um nicht zu viel mit Landis sprechen zu müssen, schlug Frediano ein Kartenspiel vor, bei dem erheblich mehr Konzentration benötigt wurde als bei sonstigen Spielen. Zu seiner Überraschung verstand der Junge die Regeln erstaunlich schnell und war tatsächlich eine heftige Herausforderung für ihn. Ohne Nolan schien Landis sogar recht umgänglich zu sein – genau wie umgekehrt. Ein seltsames Phänomen, wie Frediano fand. Schließlich wurde es Zeit für das Abendessen bei dem tatsächlich die ganze Familie anwesend war. Irgendwann musste Richard heimgekommen sein und sich unbemerkt sogar umgezogen haben, immerhin trug er seine Uniform nicht mehr. Es war das erste Mal, dass Frediano ihn in seiner Alltagskleidung sah, aber überraschenderweise war er dennoch von einer respektvollen Aura umgeben, die hauptsächlich durch seinen stets ernsten Blick verursacht wurde. Als er Frediano mit Landis hereinkommen sah, weiteten sich seine Augen allerdings überrascht. „Du bist heute unser Gast?“ „Hat Mama dir das nicht gesagt?“ Asterea stellte die zuletzt hereingebrachte Schüssel ab und lachte verlegen. „Ich kam noch nicht dazu – außerdem hätte Ardy mir das ohnehin nicht geglaubt. Also dachte ich, er soll es lieber selbst sehen.“ „Ist es wirklich-?“ Richard winkte sofort ab, als ahnte er bereits, was Frediano sagen wollte. „Es ist schon in Ordnung. Ich bezweifle, dass du mir erst die Haare vom Kopf frisst und mir dann ein Ohr abkaust, du kannst ruhig bleiben.“ Asterea runzelte missbilligend ihre Stirn. „So wie du über Nolan redest, könnte man meinen, du kannst ihn nicht leiden.“ „Im Moment ist er ja nicht hier“, erwiderte Richard kühl, aber für jeden, der ihn näher kannte – und selbst für Frediano – war in diesem Moment ersichtlich, dass er nicht schlecht über Nolan dachte und nur hin und wieder genervt von dessen Verhalten war, so wie viele andere auch. Landis und Frediano setzten sich an den Tisch, ehe Asterea ihrem Beispiel folgte und sie alle zu essen begannen. Der Junge beschwerte sich während der Ausbildung oft über das schlechte Essen seiner Mutter, deswegen war Frediano positiv überrascht, als er feststellte, dass es ziemlich lecker war und er keinen Grund für die Beschwerde fand. Jedenfalls in diesem Moment nicht, es war auch gut möglich, dass sie nur manchmal schlecht kochte – oder nur manchmal gut. Zumindest an diesem Tag aber schmeckte es besser als das, was seine Tante kochte, wenn sie das denn mal tat. Das Essen verlief schweigend, erst als sie alle fertig waren und den Tisch abgeräumt hatten, aber immer noch beisammen saßen, wurde wieder geredet. „Ist denn irgendwas mit deiner Tante, dass du nicht bei ihr essen konntest?“ Richards Stimme klang nicht im Mindesten neugierig, es war eher eine ruhige Professionalität, die darin mitschwang. Er überlegte, ob er darauf die Wahrheit sagen sollte und entschied sich schließlich dafür: „Sie hat mich vor die Tür gesetzt – wieder einmal.“ Während Richards Miene nach wie vor unergründlich blieb, wandelten sich die von Landis und Asterea; der Junge sah ihn überrascht an, sie dagegen blickte mitleidig. „Armer Frediano“, sagte sie „Wie ungerecht.“ Sowohl er als auch Richard ignorierten sie. „Hast du denn etwas angestellt, was das rechtfertigt?“, hakte die Stadtwache nach. Frediano schüttelte den Kopf. „Nein. Sie hat solche Anfälle öfter mal, wenn sie getrunken hat.“ „Trinkt sie denn viel?“ Das letzte Mal, dass sich jemand so sehr für ihn interessiert hatte, war er bei Oriana gewesen. Ihre Eltern konnten genauso neugierig sein wie Richard, vermutlich hing das mit dem Beruf zusammen. „Das ist unterschiedlich. Manchmal trinkt sie wochenlang nichts und dann scheint sie alles an einem Tag nachholen zu wollen. Sie kommt wohl über ihr gebrochenes Herz nicht hinweg.“ Den vorwurfsvollen Unterton konnte er sich einfach nicht verkneifen, auch wenn er das eigentlich gar nicht wollte. Er gab nicht Richard die Schuld daran, dass sie so geworden war und er fühlte sich glücklicherweise wohl auch nicht beschuldigt. „Nun, solche Dinge passieren wohl“, erwiderte er darauf nur. „Und manche zerbrechen daran, so traurig es ist.“ „Hmmm, muss ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben?“, mischte Asterea sich wieder in die Unterhaltung ein. „Immerhin hat er Allegra wegen mir nicht geheiratet.“ „Unsinn“, erwiderte Richard sofort. „Ich hätte sie auch nicht geheiratet, wenn du nicht gewesen wärst, egal, was sie getan hätte.“ Einen kurzen Moment erlaubte Frediano sich, in Gedanken zu schwelgen, um sich vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn seine Tante und Richard tatsächlich verheiratet wären. Mit diesem Mann als Onkel wäre er sehr zufrieden, aber Landis als Cousin? Andererseits, vielleicht wäre er dann eine angenehmere Person geworden... oder noch schlimmer. Bei seiner Familie, so viel war Frediano inzwischen bewusst geworden, konnte man doch nie wissen. Es musste schon ein regelrechtes Wunder sein, dass er selbst bislang nicht zu einem so arroganten Mistkerl wie seinem Vater geworden war. Ja, Frediano hasste seinen eigenen Vater inzwischen, ungeachtet aller Er-will-nur-dein-Bestes-Aufmunterungen, die Oriana ihm in Bezug auf Dario gab. Das konnte sie eben nur sagen, weil sie ihn nicht – oder nur kaum – kannte. Aber darüber nachzudenken wurde ihm bald zu müßig, immerhin war Richard nicht sein Onkel, würde es auch nie sein und dementsprechend auch Landis nicht sein Cousin. „Sonst verstehst du dich aber gut ihr?“, fragte Richard weiter. Frediano nickte. „Meistens schon. Immerhin ignoriert sie mich oft und solange sie klar ist, kann man auch mit ihr sprechen.“ „Du siehst für dich selbst also keinen Grund, von ihr wegzuziehen?“ „Nicht wirklich. Ich komme immer irgendwo unter, wenn sie mich rauswirft und ansonsten...“ „He, warum ziehst du nicht einfach bei Nolan ein?“, fragte Asterea neugierig. Sowohl Richard als auch Landis warfen ihr einen gleichermaßen verständnislosen Blick zu. „Wie kannst du so etwas nur vorschlagen?“ Sie erwiderte die Blicke. „Huh? Wieso denn?“ Frediano war im ersten Moment selbst ratlos, doch als ihm bewusst wurde, wovon sie sprachen, lachte er leise. „Ich glaube, Nolan ist ganz froh, wenn er allein ist. So hat er mehr... Zeit für sich.“ Und seine Freundinnen, fügte er in Gedanken hinzu, war doch in ganz Cherrygrove bekannt, dass Nolan in geradezu regelmäßigen Abständen eine neue Freundin fand, die er dann, dank seiner fehlenden Eltern, zu sich mit nach Hause nahm. Diese Freiheit würde er mit Sicherheit nicht gern einfach aufgeben, selbst wenn er das nie zugeben würde, um niemanden zu enttäuschen. Asterea schien das nicht zu verstehen, zuckte aber nur mit den Schultern. „Na schön, dann nicht. Aber lasst uns mal wenigstens über angenehmere Dinge sprechen, Kinder, wenn wir schon mal zusammensitzen.“ Der Abend verging, für Frediano äußerst ungewohnt, indem sie über allerlei triviale Dinge plauderten, wie die Ausbildung bei der Kavallerie und ihre Zukunftsaussichten. Auch bei solchen Dingen bemerkte er wieder einmal, wie unterschiedlich er und Landis doch waren. Während der Junge allerlei hochtrabende Pläne gefasst hatte, die ihn zu einem Helden machen sollten, war Fredianos einziges Ziel der Posten des Kommandanten der Kavallerie. Aber auch ihre Familien waren vollkommen unterschiedlich. Während Asterea und Richard sowohl ihm als auch Landis versicherten, dass sie ihre Ziele erreichen könnten, hätte Dario dem Jungen einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf versetzt und seinem Sohn dann mitgeteilt, dass er mit seinen derzeitigen Bemühungen niemals Kommandant werden würde und er sich gefälligst mehr anstrengen sollte. Es war angenehm, mit solchen Leuten den Abend zu verbringen und er stellte fest, dass sie alle nicht so furchtbar waren, wie er gedacht hatte. Ehe er sich versehen hatte, war es bereits spät geworden und er und Landis hatten sich in dessen Zimmer zurückgezogen, um zu schlafen. „Also, du kannst mein Bett haben oder den Boden.“ „Der Boden reicht völlig, danke.“ Obwohl das Haus doch größer war als er gedacht hätte, besaß es kein Gästezimmer, so dass ihm nichts anderes übrig blieb als den Raum mit Landis zu teilen. Aber der Gedanke, in dessen Bett zu schlafen, stieß ihn immer noch ab, er wusste einfach, dass er so kein Auge zukriegen würde. „Gut, Moment.“ Landis öffnete einen Schrank und holte etwas hervor, das nach mehreren Decken aussah, die er geschickt auf dem Boden ausbreitete. „Wenn No hier übernachtet, schläft er inzwischen auch lieber auf dem Boden. Früher haben wir gemeinsam im Bett geschlafen, aber inzwischen haben wir nicht mehr genug Platz darin zusammen.“ Frediano sah zu dem von ihm bislang kaum beachteten Bett hinüber und stellte auch fest, dass es für zwei Personen wesentlich zu klein war. Man müsste schon dicht aneinandergeschmiegt schlafen, um zu verhindern, dass einer hinausfiel. „So, fertig“, verkündete Landis schließlich und trat einen Schritt zurück. „Ich hoffe, du schläfst gut. Auf dem Boden kann es ziemlich ungemütlich werden.“ Frediano blickte auf den Boden und dann wieder zu Landis. Für einen Moment versank er in einer angsteinflößenden Vorstellung, die erklären würde, warum er eingeladen worden war. „Du willst mich nicht im Schlaf umbringen, oder?“ Der Gefragte sah ihn perplex an, er schien über diesen Vorwurf tatsächlich mehr als nur überrascht. Allerdings überwand er diese Phase rasch. „Natürlich nicht.“ Seine Stimme klang empört und gleichzeitig amüsiert als ob er sich nicht entscheiden könnte, was von beidem nun angebracht war. „Ich bringe niemanden um.“ Für einen kurzen Moment, der nur einen Wimpernschlag lang anhielt, wurden seine Augen wieder leer, aber noch ehe Frediano sich Gedanken darüber machen konnte, sprach er bereits lachend weiter: „Auch wenn ich dich nicht mag, denke ich, dass du manchmal Hilfe brauchst, genau wie ich. Und ich würde wollen, dass mir jemand hilft, wenn sonst niemand da ist, selbst wenn es nur du bist.“ Dieses Mal war es Frediano, der sich nicht sicher war, was er denken oder fühlen sollte. Sollte er sich ärgern, dass Landis so geringschätzig von ihm dachte? Oder sollte er erleichtert sein, dass Landis es schaffte, erwachsen zu sein und ihm so einen amüsanten Abend ermöglicht hatte? Schließlich entschied er sich dafür, seine Mundwinkel zu einem leichten Lächeln zu verziehen. „Danke, Landis.“ „Ah, schon gut. Vergiss das nur ja nie. So wie ich mich kenne, werde ich früher oder später bestimmt mal in Schwierigkeiten kommen und brauche dann jemanden, der mich da rausholt.“ „Da gehe ich jede Wette ein. Aber gut, ich werde da sein.“ Auch wenn Frediano in diesem Moment schon wusste, dass es eine äußerst nervige Angelegenheit werden würde. Soviel schuldete er Landis für diesen einen Tag, am nächsten würden sie immerhin wieder Feinde sein – und wenn Frediano so darüber nachdachte, war das auch ganz gut so. Aufgeklärt ---------- Richard liebte diese Tage, an denen es nichts zu tun gab, er frei hatte und seine ganze Zeit damit verbringen konnte, Zeitung zu lesen. Auch wenn lesen der falsche Ausdruck war. Ungewohnt lässig saß er auf dem Sofa, die Beine hochgelegt und den Blick in die Zeitung vertieft, als Schutzschild vor den Ansprüchen seiner Ehefrau oder seines Sohnes – auch wenn erstere derzeit in der Küche beschäftigt war, das Mittagessen zuzubereiten und letzterer gemeinsam mit seinem besten Freund unterwegs war. Richard genoss diese ungewohnte Stille im Haus, doch gerade als er sich wieder einmal darüber freute, flog die Tür auf und jemand kam lautstark hereingetrampelt. Er musste nicht erst lange überlegen, wer das sein könnte, besonders da die beiden durcheinander plappernden Stimmen ihm sehr wohl bekannt vorkamen. Es war auch zu schön, um wahr zu sein. Dennoch hoffte er für einen Moment, dass die beiden schnurstracks entweder in die Küche oder in Landis' Zimmer verschwinden würden – tatsächlich aber spürte er schon kurz darauf, wie jemand ihn durch seine Zeitung hindurch anstarrte und egal wie sehr er es zu ignorieren versuchte, er wusste genau, dass sie nicht einfach weggehen würden. Also ließ er seufzend die Zeitung sinken und sah die beiden Jungen an, die vor ihm standen. „Was wollt ihr?“ Beide warfen sich einen Blick zu, allerdings nicht aus Verlegenheit, sondern nur weil sie sich stumm darauf einigen wollten, wer von ihnen das Wort ergreifen sollte, um ihn mit ihrem synchronen Geplapper nicht zu verwirren – dass er so etwas allein anhand ihrer Blicke sagen konnte, machte selbst ihm Angst. Schließlich einigten sich beide darauf, dass Landis das Gesuch vorbringen sollte: „No und ich waren grad unterwegs und da haben wir ein paar der Mädchen aus der Mädchenschule getroffen.“ Richard spürte bereits, dass ihm der Verlauf des Gesprächs gar nicht gefallen würde, doch er unterbrach seinen Sohn nicht, sondern wartete bemüht geduldig darauf, dass er weitersprach. „Die haben sich darüber unterhalten, dass irgendeines der anderen Mädchen mit irgendeinem der Kavalleristenschüler geschlafen hat.“ Nach diesem Satz wusste Richard ganz bestimmt, dass ihm dieses Gespräch nicht gefallen würde und Landis bestätigte ihm das auch bereits sofort, als er den Kopf neigte, das Gesicht in vollkommener Verwirrung aufgelöst. „Aber was ist so schlimm daran? No und ich schlafen ganz oft miteinander, da ist doch nichts dabei.“ Kalter Schweiß lief Richard über den Rücken, sein Hals wurde schlagartig staubtrocken. „N-nein, das ist so nicht ganz richtig...“ Wieder warfen die beiden Jungen sich einen Blick zu, so dass er sich bemüht fühlte, ausgiebiger zu antworten, ohne zuviel zu sagen: „Die Mädchen meinten damit nicht, dass die beiden im selben Bett geschlafen haben, so wie ihr.“ Doch dass es damit nicht gegeben war, wusste er sofort, als Nolan die Stirn runzelte. „Was meinten sie denn damit? Welche Bedeutung kann es noch haben?“ „Warum habt ihr die Mädchen nicht gefragt?“ Zwar wäre das auch nicht ideal gewesen, denn wer wusste schon, was ein paar heranwachsende Mädchen den beiden erzählen würden, doch wäre er damit immerhin um dieses Gespräch herumgekommen. „Das haben wir!“, ereiferte Landis sich sofort. „Aber sie haben nur gekichert und gesagt, dass wir unsere Eltern fragen sollen. Sollen wir lieber mit Mama reden?“ Richard fluchte innerlich. Mit Asterea konnte er die beiden auch nicht sprechen lassen, er traute seiner Frau zu, dass sie zu viel plaudern würde, auch wenn die beiden Jungen erst acht und neun Jahre alt waren. „Nein, nein, Asterea hat keine Zeit.“ Landis sah wieder Nolan an. „Wollen wir dann mit deinen Eltern reden?“ „Nah, es ist schon kurz vor elf, da haben sie keine Zeit mehr.“ Wieder lief ein Schauer über Richards Rücken. Kieran kannte er bereits seit seiner eigenen Jugend – und dem traute er noch so einiges mehr zu. Würden die Jungen mit einer solchen Frage zu ihm kommen, würde er sie bestimmt ins nächstbeste Bordell schleppen und sie einer der Angestellten dort überlassen, nur um nicht selbst mit ihnen sprechen zu müssen. Wenn er genau darüber nachdachte, konnte er niemandem in Cherrygrove guten Gewissens die Aufklärung dieser beiden überlassen, schon allein weil einer von ihnen sein eigener Sohn war, der ihn alsbald zum Großvater machen könnte, wenn er von der falschen Person aufgeklärt wurde. Nein, er musste das selbst in die Hand nehmen... irgendwie. Er schwang die Beine vom Sofa, legte die Zeitung fein säuberlich beiseite und gab den beiden zu verstehen, dass sie sich hinsetzen sollten, was sie auch sofort taten. Ihre Neugier war offenbar größer als ihr Bewegungsdrang, immerhin saßen sie sonst nicht einmal beim Essen still. „Ich werde euch das erklären, gut, dass ihr zu mir gekommen seid.“ Nolan warf Landis einen Blick zu, der Richard verriet, dass es offenbar die Idee des Schwarzhaarigen gewesen war, zu ihm zu gehen, während Landis wohl nicht sonderlich begeistert davon gewesen war – die Erkenntnis, dass sein eigener Sohn anscheinend nicht viel Vertrauen in ihn hatte, war ein wenig befremdlich, aber Richard ignorierte das vorerst. „Gut, wie fange ich am besten an?“, murmelte er leise, worauf Nolan sich bereits wieder strahlend zu Wort meldete: „Immer am Anfang, Onkel Richard. Das ist am Besten.“ Das half ihm nicht wirklich weiter, dennoch lächelte er dem Jungen knapp zu und holte noch einmal Luft. „Wenn Ältere, Erwachsene vornehmlich, davon sprechen, dass zwei Personen miteinander schlafen, dann meinen sie nicht, dass die zwei wirklich schlafen.“ Verständnislos neigte Nolan den Kopf, es war ihm regelrecht anzusehen, dass er überlegte, was man sonst nachts tun könnte. „Aber was machen sie denn dann? Und warum haben die Mädchen deswegen so gekichert?“ Richard verzog sein Gesicht und verwünschte die Idee des Bürgermeisters, aus dem ehemaligen Waisenhaus eine Mädchenschule zu machen. Gleich darauf überlegte er, ob er das Gespräch mit der Ausrede beenden sollte, dass sie beide noch nicht alt genug für dieses Thema wären, doch er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie einfach die nächstbeste Person aufsuchen würden, um es sich von dieser erklären zu lassen und wie er bereits festgestellt hatte, konnte er das nicht zulassen. „Okay... mhm...“ Erneut zögerte er, während er in seinem Gedächtnis danach kramte, wie er damals aufgeklärt worden war – nur um enttäuscht festzustellen, dass er sein Wissen darüber damals nicht von seinen Eltern, sondern erst viel später im Waisenhaus bekommen hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie amüsiert seine Zimmernachbarn von ihm als Spätzünder gewesen waren. Aber eine solch schonungslose Aufklärung, wie er sie bekommen hatte, konnte er den beiden Jungen, die noch nicht einmal zehn waren, nicht zumuten. Also musste er sich doch selbst etwas einfallen lassen und das war normalerweise nicht gerade seine Stärke. „Ich gehe mal davon aus, dass ihr mit den Unterschieden zwischen Jungs und Mädchen vertraut seid, ja?“ Nolan runzelte seine Stirn. „Mädchen kommandieren einen herum und Jungs machen, was sie sagen? Also, so ist es zumindest bei Ria und Lan immer.“ Landis nickte zustimmend und sah seinen Vater neugierig an. Richard lächelte wieder. „Nein, das meinte ich nicht. Ich meinte körperliche Unterschiede.“ „Ach so~“, entfuhr es beiden synchron, dieses Mal nickten sie beide, worauf er erleichtert durchatmete; immerhin eine Hürde, um die er sich nicht kümmern müsste. „Und ihr wisst auch, wo Babys herkommen?“, fragte Richard weiter. Dieses Mal war es Landis, der das Wort ergriff. „Natürlich~ Kens Mama hat doch vor kurzem erst eines bekommen. Es war in ihrem Bauch, ja?“ Bevor Richard zustimmend konnte, hakte sich bereits Nolan ins Gespräch: „Muss sie das Baby dann nicht vorher erst gegessen haben?“ Er wirkte plötzlich ein wenig besorgt, doch Richard hob bereits beschwichtigend die Hände. „Nein, natürlich hat sie das nicht. Wenn ein Mann und eine Frau nämlich auf diese Art miteinander schlafen... machen sie das Baby erst.“ Im selben Moment hätte er sich am Liebsten auf die Zunge gebissen, Landis und Nolan zogen skeptisch ihre Augenbrauen zusammen. „Wie soll das denn funktionieren?“ Es schien ihm als würde er sich immer tiefer in die Misere reiten, statt so schnell wie möglich wieder aus dieser herauszukommen. Wieder entfuhr ihm ein tiefes Seufzen, in der geringen Hoffnung, dass die beiden Jungen beschließen würden, dass das Thema offenbar zu schwer für sie war und sie nicht weiter nachfragen würden. Doch die neugierigen und gleichzeitig skeptischen Blicke, die nach einer Erklärung für seine vorige Aussage verlangten, verrieten ihm eindeutig, dass er bereits bis zum Hals im Morast steckte und nicht mehr aus eigener Kraft hinausfinden würde. „Also... wenn ein Mann und eine Frau sich sehr lieben, dann... kann es vorkommen, dass...“ Er hielt wieder inne und wünschte sich in diesem Moment, er hätte irgend etwas zu tun, um sich selbst abzulenken und die beiden Jungen mit ihren vor Neugier geweiteten Augen nicht dauernd ansehen zu müssen – der Blick in Richtung Küche half ihm auch nicht sonderlich, war von dort doch nur das eifrige Geschirrklappern zu hören, das verriet, dass Asterea noch immer beschäftigt war. „Also... ihr seid dafür noch zu jung, aber in ein paar Jahren werdet ihr es auch merken, dass es bei Männern manchmal vorkommt, dass sie... an einer bestimmten Stelle ihres Körpers sehr... erregt sein können.“ Überraschend synchron neigten beide die Köpfe auf die jeweils entgegengesetzte Seite des anderen. Richard konnte sich gut vorstellen, dass sie sich fragten, was um aller Welt er damit meinte, doch beließen sie es offenbar dabei, dass sie es in ein paar Jahren selbst merken würden, wofür er spontan allen Naturgeistern dankte, die er kannte. Das Niesen, das aus der Küche erklang, ignorierte er allerdings und konzentrierte sich wieder auf das vor ihm liegende Gespräch. Es war überdeutlich, dass er so etwas sonst mit nie jemandem besprach. Dabei würde er sich selbst nicht einmal als prüde einschätzen – seiner Meinung nach gab es nur keinen Grund, über so etwas mit irgendjemandem außer vielleicht dem eigenen Partner zu sprechen... aber wenn er so zurückdachte, hatte er auch mit Asterea nie wirklich darüber gesprochen. „Und dann?“, hakte Landis nach. „Das kann nicht alles sein, oder?“ „N-nein, natürlich nicht.“ Richard atmete noch einmal tief durch, nun kam der schwierige Teil. „Wenn ein solcher Zustand dann auch bei Frauen eintritt und sie den Mann sehr mag, dann...“ Er überlegte noch einmal, wie er das am besten sagen sollte, ohne gleich zu ordinär zu werden. „... dann kann es sein, dass sie dem Mann erlaubt... nun...“ In seiner Verzweiflung beschloss er einfach, ein Fremdwort zu benutzen, von dem garantiert keiner von beiden je etwas etwas gehört hatte: „Sie erlaubt es dem Mann, sie zu penetrieren.“ Zufrieden über Landis' verwirrten Gesichtsausdruck lehnte er sich zurück – doch die angewiderte Mimik von Nolan sagte ihm, dass dieser überraschenderweise verstanden hatte. „Das ist ja widerlich“, ließ er sich gleich vernehmen. „Und fies. Warum sollte ein Mann eine Frau, die ihn mag, verletzen?“ „Verletzen?“, hakte Landis nach und auch Richard blickte Nolan nun neugierig an. Der Junge setzte eine altkluge Miene auf und hob belehrend den Zeigefinger. „Penetrieren ist ein Fremdwort, das eindringen oder durchdringen bedeutet. Es wird im militärischen Sinne benutzt, wenn man zum Beispiel von einem Pfeil oder Armbrust-Bolzen durchbohrt wurde.“ Stolz warf er sich in die Brust und sonnte sich in der Bewunderung von Landis, während Richard ihn nur verwirrt anstarren konnte. „Woher weißt du das denn?“ „Meine Großmutter zwingt mich, neue Wörter zu lernen“, erklärte Nolan gelangweilt. „Ein paar kann ich mir sogar merken. So wie das. Also, warum sollte ein Mann so etwas tun?“ Sofort richtete sich Landis' Blick wieder auf seinen Vater, der spüren konnte, wie ihm die Röte den Nacken hinaufkroch und er wieder in Schweiß ausbrach. „N-nein, du verstehst da was falsch. Natürlich tut der Mann so etwas nicht. Er... er... dringt anders in die Frau ein. Nicht mit einer Waffe, sondern mit einem Teil seines Körpers. Aber keine Sorge“– er hob sofort beschwichtigend die Hand, als er merkte, dass Nolan bereits wieder so angeekelt wie zuvor aussah – „er tut ihr dafür nicht weh.“ Nolans Zweifel war deutlich auf seinem Gesicht zu sehen. „Aber er muss ihr doch erst einmal eine Wunde zufügen, um das zu schaffen, oder?“ Richard schüttelte mit dem Kopf. „Ganz und gar nicht. Weißt du, Frauen und Männer ergänzen sich körperlich gesehen gut. Frauen sind also von Natur aus... darauf vorbereitet...“ Es war Landis' Gesicht, das sich bei diesen Worten aufhellte. „Wie ein Schlüssel-Schloss-Prinzip!“ „Genau, so ähnlich“, entfuhr es Richard erleichtert. Er entspannte sich wieder ein wenig – bis ihm siedendheiß einfiel, dass er nun noch erklären müsste, was das mit dem Machen von Babys zu tun hätte. Die Jungen dagegen hatten es erst gar nicht vergessen und sahen ihn immer noch erwartungsvoll an. Inzwischen wünschte er sich bereits eine eigene Insel, auf die niemand außer ihm übersetzen dürfte, aber da er eine solche nicht besaß, müsste er weiterhin Rede und Antwort stehen. „Für die genauen Einzelheiten seid ihr noch zu jung“, fuhr er ein wenig schroff fort. „Aber diese Aktion sorgt dafür, dass eine Frau nun... schwanger wird.“ Er verzichtete darauf, sie darüber aufzuklären, dass dies nicht jedes Mal geschah, sollten sie nur glauben, dass es so einfach war, dann würden sie sich vielleicht ein wenig mehr Zeit lassen. „Ooooh~“ Landis neigte den Kopf bereits auf die andere Seite. „Dann wollte diese Schülerin schwanger werden?“ „Nein, daran hat sie mit Sicherheit nicht gedacht“, erwiderte Richard, dankbar dafür, dass weder dieses Mädchen noch ihr Partner eines seiner Kinder war. „Die meisten Leute denken nicht an die Konsequenzen, sondern nur daran, dass es sich... gut anfühlt.“ „Ich finde immer noch, dass es sich widerlich anhört“, erwiderte Nolan mit gerunzelter Stirn. Richard hätte ihm dafür am Liebsten auf die Schulter geklopft, allerdings war er sich auch sicher, dass der Junge in ein paar Jahren schon wieder ganz anders darüber denken würde. Landis nickte bedächtig. „Ich werde das bestimmt nie tun.“ Richard schmunzelte ein wenig. „Nun, irgendwann bestimmt – aber lass dir am Besten noch viele, viele Jahre Zeit damit. Man sollte auch in der Lage sein, die Konsequenzen für sein Handeln zu tragen – und in diesem Fall wären sie sehr weitreichend.“ „Ja, Sir!“, erwiderte beide gleichzeitig und hoben die Hand an ihre Stirn als wollten sie im Sitzen salutieren. Zufrieden betrachtete er die beiden, die ihn nun freudestrahlend ansahen. Er hatte ziemlich gute Arbeit geleistet, fand er selbst zumindest. Die Neugier der Jungen war gestillt, dabei war er keineswegs zu ordinär geworden und er war auch nicht vor Scham gestorben. Sie standen wieder auf und verbeugten sich knapp vor ihm. „Vielen Dank für die Antworten.“ Richard, mit sich selbst und der Welt vollkommen im Reinen, lachte leise. „Keine Ursache. Falls ihr wieder Fragen habt, kommt einfach wieder zu mir.“ In diesem Moment des emotionalen Höhenflugs kam es ihm vor als würde es keine Frage geben, die er den beiden nicht zur allgemeinen Zufriedenheit beantworten könnte. Er wusste noch nicht, wie sehr er sich in dieser Annahme irrte. Früh am Morgen war die Welt für Kieran meist noch in Ordnung. Alkohol gab es aufgrund von Aydeens neuerlichen Bestimmungen erst kurz nach dem Mittagessen und um aufzupassen, dass er das ja einhielt, musste er den ganzen Vormittag gemeinsam mit ihr in der Küche verbringen. Während er seine Zeitung las, ging sie dabei der Hausarbeit nach, einer Tätigkeit, die ihr offensichtlich derart viel Vergnügen bereitete, dass sie ihn bereits einmal böse angesehen hatte, als er nur zu fragen gewagt hatte, ob er mithelfen dürfe. Seitdem beschränkte er sich darauf, seine Zeitung zu lesen und ungeduldig darauf zu warten, dass die von ihr auferlegte Alkoholsperre endlich aufgehoben wurde. An diesem einen Tag aber, war das Ganze doch ein wenig anders. Kurz vor dem Mittagessen spürte er plötzlich, wie sich neugierige Blicke in seine Seite bohrten, die nicht von der Zeitung geschützt war. Neugierig ließ er diese sinken und sah Nolan und Landis vor sich, beide offenbar erpicht darauf, ihn etwas zu fragen. „Was wollt ihr?“, fragte er unfreundlicher als ursprünglich beabsichtigt. Doch keiner der beiden ließ sich davon abschrecken. Stattdessen neigte Nolan den Kopf. „Wir haben eine Frage. Also, eigentlich haben wir die Frage Onkel Richard gestellt, aber er wurde ziemlich blass und meinte, wir sollten – um Gotteswillen – dich fragen und ihn am besten nie wieder auch nur ansprechen.“ Kieran hob eine Augenbraue. Ein solches Verhalten kannte er bei seinem besten Freund gar nicht – was konnte es für eine Frage sein, die ihn so durcheinanderbrachte? „Fein, worum geht es denn?“ Überzeugt davon, dass er über mehr Lebenserfahrung als Richard verfügte, zweifelte er daran, dass es eine Frage war, die er nicht würde beantworten können. „Also“, holte Nolan aus, „wir kamen heute an der Ausbildungsstätte der Kavalleristen vorbei und die haben sich gerade über Bordelle unterhalten. Aber... was ist ein Bordell, Papa?“ Obwohl er nicht hinsah, wusste Kieran genau, dass Aydeens Gesicht gerade sämtliche Farbe verloren hatte, während er nur unbeeindruckt eine Augenbraue hob. „Dafür seid ihr noch zu jung.“ Nolan seufzte enttäuscht. „Ja, das haben die Auszubildenden auch gesagt... Ist es denn etwas Schlimmes?“ Kieran warf einen kurzen Blick zu Aydeen, die demonstrativ die Arbeiten am bevorstehenden Mittagessen wieder aufgenommen hatte, dann beugte er sich verschwörerisch zu den beiden Jungen hinunter und flüsterte: „Hört zu. Wenn ihr aufhört, darüber Fragen zu stellen, bringe ich euch mal in eines, wenn ihr alt genug seid. Verstanden?“ Wie üblich warfen die beiden Jungen sich einen Blick zu als müssten sie sich diesbezüglich erst absprechen, doch wie von ihm erwartet nickten sie beide einstimmig. „Verstanden.“ „Gut. Dann geht wieder spielen.“ Zufrieden mit sich selbst, setzte Kieran sich wieder aufrecht hin und las die Zeitung weiter, während die beiden Jungen wieder davongingen. Erst als eine Weile Ruhe in der Küche geherrscht hatte, schaltete sich Aydeen ein. „Kieran... du hast nicht wirklich vor, die beiden in ein Bordell zu bringen, oder?“ Ihre Stimme verriet, dass sie nicht sicher war, ob sie es glauben oder als lächerlich abtun sollte. Kieran senkte die Zeitung ein wenig, um sie über den Rand hinweg ansehen zu können. „Natürlich nicht – aber ich konnte ihnen in dem Alter auch schlecht erklären, was das eigentlich ist. Die werden das eben Gesagte ohnehin bald wieder vergessen haben, keine Sorge.“ Während Aydeen sich beruhigt erneut dem Mittagessen zuwandte, konzentrierte Kieran sich wieder auf seine Zeitung – aber nicht ohne sich selbst daran zu erinnern, dass er Richard bei nächster Gelegenheit bitten würde, die Kinder mit solchen Fragen nicht mehr zu ihm zu schicken. Nolans finsterstes Kapitel -------------------------- Das Büro des Kommandanten bot allerlei interessante Dinge, die Nolans Aufmerksamkeit immer wieder fortschweifen ließen. Neugierig betrachtete er die kleinen Statuen auf den Regalen, die offenbar Erinnerungsstücke früherer Kommandanten waren; das große Buch in einem Glaskasten, in dem verschiedene Offiziere im Laufe der Jahre zum Ausdruck gebracht hatten, welch Ehre es gewesen war, für die Kavallerie zu kämpfen; der Blick aus dem Fenster, direkt in den Innenhof, wo die Kavalleristen sich zum Training trafen und wo sie im Moment eher damit beschäftigt waren, miteinander zu plaudern; das Bücherregal, in dem allerlei Folianten standen, auf deren Rücken kompliziert aussehende Titel verrieten, dass sie sich mit Strategien befassten. Zuguterletzt fiel Nolans Blick auf Frediano, der ihn mit gewohnt unbewegter Miene beim Befriedigen seiner kindlichen Neugier beobachtete. „Dein Büro ist gigantisch!“, entfuhr es dem begeisterten Kavalleristen. „Es gehört nicht mir“, wehrte Frediano ab. „Mein Vater ist der Kommandant, nicht ich.“ Nolan wurde schlagartig wieder ruhig. „Ah ja, wie geht es deinem Vater eigentlich?“ Dario Caulfield war bereits seit einem Monat nicht mehr bei der Arbeit erschienen, eine Krankheit, die er sich bei einem Kampf im Ausland zugezogen hatte, schien ihm schwer zuzusetzen – zumindest hatte Nolan das so gehört. „Den Umständen entsprechend“, antwortete Frediano kühl. Es war genau das, was der Kavallerist erwartet hatte. Der Kommandantensohn war immer wesentlich emotionsarmer als andere, aber sobald es um seine Familie ging erreichte das eine vollkommen neue Stufe. Er legte offensichtlich nicht viel Wert auf seinen Vater – ironischerweise war das sogar etwas, was Nolan aufgrund seiner eigenen Familiengeschichte vollkommen nachvollziehen konnte und ihm das Gefühl gab, besonders eng mit Frediano verbunden zu sein. Enger sogar als mit Landis. Schwermut überfiel ihn, als er wieder an seinen vermeintlich besten Freund dachte, der vor einem Jahr verschwunden war und seitdem nichts mehr hatte von sich hören lassen. Zwar war er sich sicher, dass Landis noch lebte, aber wie es ihm ging, wo er war und ob er überhaupt noch an sie dachte... Es machte Nolan traurig, daran zu denken, dass Landis sich möglicherweise inzwischen ein neues Leben mit einer neuen Familie und einem neuen besten Freund aufgebaut hatte. Ein Leben, das so glücklich war, dass er nicht einmal mehr an seine Vergangenheit zurückdachte. Hastig rief er sich selbst zur Ordnung. „Und wie geht es Oriana?“ Ein leichtes Lächeln zierte Fredianos Gesicht, als die Rede auf seine Frau kam – wieder eine erwartete Reaktion. „Es geht ihr ziemlich gut. Der Arzt sagte, sie soll sich schonen, aber ansonsten verläuft die Schwangerschaft problemlos.“ „Das ist schön zu hören.“ Er stellte sich vor, wie entsetzt Landis auf diese Nachricht reagieren würde. Beim Gedanken daran spürte er erstaunlich viel Genugtuung, das würde dem Kerl recht geschehen, wenn er sie einfach so vergaß – doch als ihm das bewusst wurde, schämte er sich sofort wieder. Bestimmt gab es irgendeinen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund, der verhinderte, dass Landis zurückkehrte oder sich bei ihnen meldete. Irgendetwas Simples, möglicherweise einen Gedächtnisverlust und keinesfalls eine böse Absicht. „Warum sind wir eigentlich hier?“, fragte Nolan und beschrieb mit seinen Händen einen Bogen, der das Büro einschloss. Er wollte sich von seinen trübseligen Gedanken ablenken, weswegen er beschloss, einfach diese Unterhaltung voranzutreiben. „Während der Abwesenheit meines Vaters, ist Sir Dorugon für die Einheit verantwortlich – aber ich darf das Büro benutzen, wenn es sein muss.“ Das war keine wirkliche Antwort auf seine Frage, weswegen Nolan noch einmal nachhakte. Sein Gegenüber wand sich ein wenig, versuchte offenbar, sich der Antwort zu entziehen und blickte ziellos umher, in der Hoffnung, dass er es ihm nachmachen und etwas finden würde, was ihn seine eigene Frage wieder vergessen ließ. Doch Nolan kannte das nur zu gut von früher. Landis hatte das oft genutzt, um sich vor unangenehmen Antworten zu drücken – inzwischen fiel er aber nicht mehr darauf herein. Frediano war sonst nicht so, weswegen Nolan sich allerlei amüsante Dinge einfallen ließ, die dafür sorgen könnten, dass er sich so verhielt. „Ach komm schon~ Willst du mir deine Liebe gestehen oder was?“ Landis hatte nach dieser Frage stets gelacht und darauf erwidert, dass man so etwas Offensichtliches nicht aussprechen musste, Frediano blickte ihn aber nur verwirrt an. „Was?“ Hastig winkte Nolan ab. „Schon gut, vergiss es. Sag mir lieber endlich, was hier los ist. Was willst du?“ „Es geht um Landis.“ Als ob der andere ihm eine Ohrfeige verpasst hätte, zuckte Nolan zurück. „H-hast du etwas von ihm gehört?“ Ärger wuchs bereits in ihm an, noch bevor er eine Antwort bekommen hatte. Warum meldete Landis sich bei Frediano, den er erwiesenermaßen nicht ausstehen konnte? Warum nicht bei seinen Freunden? Vielleicht hatte er sich aber auch bei Oriana gemeldet, so dass er es mitbekommen hatte – aber warum hörte er als sein bester Freund dann nicht von ihm? Zwischen all dem Ärger spürte er plötzlich aber auch Sorge und diese Gedanken übernahmen alsbald die Oberhand. Vielleicht war Landis etwas geschehen, möglicherweise war er irgendwo in Gefangenschaft, schwer verletzt oder sogar tot... Doch Fredianos Kopfschütteln holte ihn alsbald wieder in die Realität zurück. „Nein, habe ich nicht.“ Er klang fast schon erleichtert als ob Landis für ihn nur ein notwendiges Übel gewesen wäre, mit dem man sich eben befasst hatte, weil es da gewesen war und nun, da es fort war, musste man geradezu froh sein darüber und hoffen, dass es nie wiederkam. „Ich wollte nur etwas wissen und hoffe, dass du es mir beantworten kannst. Oriana sagte, du kennst ihn länger als sie.“ „Richtig. Wir sind seit frühester Kindheit befreundet, Ken und Ria kamen erst später dazu.“ Sie hatten zwar beide schon von klein auf gekannt, da sie im selben Dorf aufgewachsen waren, aber angefreundet hatten sie sich erst einige Jahre später. Er konnte nicht einmal sagen, wie alt er gewesen und wie es dazu gekommen war – irgendwann hatten sie einfach immer Zeit miteinander verbracht, wenn sie konnten. „Dann nehme ich an, dass er dir seine Geheimnisse erzählt hat.“ Unwillkürlich verkrampfte Nolan sich. Der Verlauf des Gesprächs gefiel ihm ganz und gar nicht, er bereitete sich darauf vor, Frediano zurückzuweisen, mit dem Hinweis, dass er nichts verraten würde, was ihm im Vertrauen erzählt worden war. Dann würde er einen kurzen Monolog über Freundschaft und Versprechen halten, sich umdrehen und gehen – genau wie ein echter Held. Ja, so würde er es machen. „Schon gut, ich will nicht, dass du mir alles erzählst“, beruhigte Frediano ihn, der seine Vorbehalte spüren konnte. „Es geht mir nur um eine bestimmte Sache.“ „Und welche?“ Misstrauisch blickte Nolan ihn an, wartete aber dennoch die Frage ab. Frediano atmete noch einmal tief durch, ehe er sich überwand. „Gab es früher irgendetwas... Seltsames an Landis? Etwas, was dafür sorgte, dass andere sich von ihm fernhielten?“ Da fiel ihm sofort etwas ein – doch er antwortete mit einer Gegenfrage: „Warum willst du das wissen?“ Damit schien Frediano nicht gerechnet zu haben. Er stutzte, erwiderte Nolans Blick irritiert, versuchte, sich eine plausible Erklärung einfallen zu lassen, um an die ersehnte Antwort zu kommen. Unbeirrt sah der Kavallerist ihn an, wartete darauf, dass sein Gegenüber endlich die richtigen Worte fand und atmete schon fast erleichtert aus, als das endlich geschah. „In meinen Augen war Landis immer seltsam und anders – ich wollte wissen, ob es einen Zeitpunkt gab, an denen es auch anderen so ergangen war.“ Das klang tatsächlich plausibel genug für Nolan, weswegen er mit geneigtem Kopf antwortete: „Es gab da tatsächlich etwas. Aber es hört sich echt verrückt an.“ Frediano vollführte eine einladende Geste. „Erzähl mir davon.“ Bislang hatte Nolan noch nie jemandem davon erzählt, nicht nur weil er es Landis versprochen hatte, sondern auch weil er es selbst immer noch kaum glauben konnte. Er wusste, dass all das der Wahrheit entsprach, aber es klang selbst für ihn so verrückt, dass er es kaum aussprechen wollte. Außerdem lag das alles weit in seiner Vergangenheit, es war abgeschlossen, gemeinsam mit dem bislang finstersten Kapitel seines gesamten Lebens. Allein an diese Zeit zu denken ließ ihn wieder erschauern, aber vielleicht würde es guttun, das alles endlich zu erzählen, vielleicht würde Frediano ihm sogar glauben – oder sie würden gemeinsam darüber lachen. „Landis besaß als Kind eine äußerst unheimliche Fähigkeit, die dafür sorgte, dass er stets einen gruseligen Eindruck machte, darum wollte früher kaum jemand was mit ihm zu tun haben. Später lernte er, damit umzugehen und es zu verbergen, bis er sie schließlich verlor und glücklicherweise nie zurückbekam. Ich glaube, er erinnert sich nicht einmal mehr daran.“ Er selbst erinnerte sich noch äußerst gut an die ihn durchströmende Erleichterung, als Landis immer weniger darüber gesprochen hatte, bis es schließlich nie wieder zur Erwähnung gekommen war. Vor einigen Jahren hatte Nolan ihn noch einmal scherzhaft darauf angesprochen, aber Landis' verwirrtes Gesicht war Beweis genug gewesen, dass er sich nicht daran erinnern konnte. „Was war das für eine?“, fragte Frediano neugierig. Nolan zögerte einen Moment. Noch konnte er behaupten, einen Scherz gemacht zu haben, er konnte das Kapitel geschlossen lassen, gemeinsam mit seinen Kindheitserinnerungen eingesperrt in irgendeiner finsteren Ecke seines Gedächtnisses. Doch Fredianos erwartungsvoller Blick ließ ihn die Tür zu dieser Ecke doch öffnen. „Landis konnte in seinen Träumen voraussehen wann und wie jemand sterben würde.“ Nolan rechnete mit einem spöttischen Lachen, einem „Ja ja“ als Antwort oder sonst eine negative Reaktion auf diese Worte. Er erwartete, dass Frediano abwinken und das Thema wechseln würde – aber zu seiner Überraschung neigte er ein wenig den Kopf. „Was?“ Vielleicht hatte er ihn nicht verstanden oder glaubte, sich verhört zu haben, doch Nolan war nun ein wenig motivierter und holte zu einer längeren Erklärung aus: „Als Kind begann Landis plötzlich in seinen Träumen den Tod anderer vorherzusehen. Er konnte genau sagen, wann jemand sterben würde und wie, manchmal sogar durch wen, wenn es ein gewaltsamer Tod war.“ Spöttisch hob Frediano eine Augenbraue, doch noch immer lachte er nicht. Stattdessen wirkte sein Gesicht trotz der gehobenen Braue als würde er ihm glauben und bräuchte nur noch Beweise, um die Skepsis zu beseitigen. „Du bist dir sicher?“ „Vollkommen. Am Anfang dachte ich auch, dass er Schwachsinn erzählt oder einfach nur lebhaft träumt oder so was. Aber er sagte einige Todesfälle in Cherrygrove voraus – auch den meiner Mutter.“ Er konnte sich noch lebhaft an Landis' zitternde Unterlippe und die tränennassen Augen erinnern, als er seine Mutter an ihrem letzten Abend gesehen hatte. Sein Freund hatte versucht, sie zu warnen, sie dazu zu bringen, die Nacht nicht zu Hause zu verbringen, doch wie immer hatte sie sanft aber bestimmt abgelehnt – und damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben. Das laute Poltern, als sie die Treppe hinabgestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte, durch das Nolan aus dem Schlaf geschreckt war, war ihm ins Gehirn gebrannt, genau wie ihre Augen, die leblos die Stufen hinaufgestarrt hatten. Manchmal erlebte er diese Nacht erneut, spürte wieder die Müdigkeit, die ihn gegen seinen Willen hatte einschlafen lassen, hörte das Poltern und sah die leeren Augen vor sich, wie sie ihn von unten herauf anstarrten. „Spätestens da wusste ich, dass Landis sich das nicht nur einbildete es war die Wahrheit.“ Nolans Stimme war so eindringlich, dass Frediano gar nicht anders konnte als ihm zu glauben, zumindest ging der Kavallerist davon aus, denn es folgte kein Widerspruch und auch kein weiteres Verlangen nach einem Beweis. „Landis konnte das also, aber was ist geschehen, dass es plötzlich nicht mehr ging?“ Nolan zuckte mit den Schultern. „Ich hab keine Ahnung – aber seine letzte Vision war sein eigener Tod, vielleicht hatte es etwas damit zu tun.“ „Und wie sah der aus?“, fragte Frediano überraschend neugierig. Insgeheim war Nolan froh darüber, das Thema ein wenig umschwenken zu dürfen. Nicht weil er an den Tod seiner Mutter erinnert worden war, sondern weil er gleichzeitig daran denken musste, was danach alles geschehen war und wessen Tod Landis als nächstes vorhergesehen hatte. Eine Vision, die glücklicherweise nie Wahrheit geworden war, doch allein beim Gedanken daran fuhr ein Schauer über seinen Rücken. „Er hat mir nicht viel erzählt. Er sagte, eine blonde Frau hätte ihn irgendwie verletzt, ihn festgebunden und verbluten lassen, während sie ihn gleichzeitig beschimpft hätte, dass er nie hätte geboren werden dürfen und so nen Kram. Er glaubte damals, es wäre seine Mutter gewesen, weil er sie nicht richtig hatte erkennen können.“ Frediano runzelte seine Stirn und in seinem Blick konnte Nolan dieselbe Frage lesen, die ihn damals auch beschäftigt hatte: Warum sollte Asterea so etwas zu ihrem Sohn sagen? Er musste die Frage nicht erst laut stellen, dass Nolan sie beantwortete: „Landis war auch der festen Überzeugung, dass seine Mutter ihn nicht mochte, nein, mehr noch. Er behauptete sogar, sie hätte versucht, ihn umzubringen – aber ein andermal sagte er wiederum, sie hätte ihm das Leben gerettet. Schräg, oder?“ Während er das sagte, verfiel er in Gedanken. All die Jahre hatte Nolan die Geschichten seines Freundes auf dessen lebhafte Fantasie geschoben, wenn er heute darüber nachdachte, war er vielleicht sogar irgendwie krank gewesen. Diese Todesvisionen waren möglicherweise das Ergebnis einer sich im Gehirn befindlichen Krankheit gewesen, was auch seine anderen Geschichten erklärt hätte. Und dass all diese Visionen bis auf zwei Wirklichkeit geworden waren, konnte Nolan sich auch erklären, auch wenn ihm diese Erklärung gar nicht gefiel, weswegen er sie immer wieder fortschob, in der Hoffnung, sie würde nie wieder aus den Tiefen seines eigenen Gehirns auftauchen. Etwas wie Erkenntnis glimmte in Fredianos Augen auf, es schien Nolan, dass er ihm gerade das letzte noch fehlende Stück zu einem wunderschönen Puzzle geliefert hätte. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Kommandantensohns aus. „Warum, denkst du, konnte er so etwas?“ „Ähm... vielleicht war er ja krank?“, wagte Nolan, seinen Verdacht auszusprechen. „Ich meine, verrückt... Vielleicht war irgendwas mit seinem Gehirn, weswegen er Wahnvorstellungen hatte.“ Möglicherweise, nur vielleicht, hatte diese Krankheit etwas damit zu tun, dass Landis an Orianas Hochzeitstag weggelaufen und nie wiedergekommen war. Womöglich war er nicht geheilt gewesen, hatte nichts von alledem vergessen und nur niemanden mehr damit belasten wollen. Eine ungewöhnlich starke Sehnsucht erwachte in Nolan, als er sich mit all diesen Eventualitäten zu befassen versuchte. Er war nicht zum Theoretisieren geboren, es machte ihn wahnsinnig, wenn seine Gedanken sich im Kreis drehten und sich wie ein Hund in den Schwanz zu beißen versuchten. Am Liebsten hätte er Landis bei sich gehabt, um ihn selbst danach zu fragen, aber er war fort, spurlos verschwunden als wäre er einfach vom Erdboden verschluckt worden. Frediano schien ihm schon gar nicht mehr zuzuhören, möglicherweise war die Frage für ihn gar nicht so wichtig gewesen oder er kannte die Antwort schon. Wenn aber letzteres der Fall war, schien er keinerlei Ambitionen zu haben, ihn an diesem Wissen teilhaben zu lassen – was ziemlich unfair war, wie Nolan fand, nachdem er ihm nicht nur Landis' Geheimnis verraten hatte, sondern ihm gegenüber seinen besten Freund sogar als verrückt bezeichnet hatte. „Hast du irgendeine Idee?“, fragte Nolan direkt. Obwohl er sich sicher gewesen war, dass Frediano in Gedanken vertieft war, schreckte dieser nicht einmal auf, als er angesprochen wurde. „Nein, nicht wirklich. Wahrscheinlich hast du recht und Landis war nicht ganz bei Trost. So was soll es geben, wenn die Mutter eine so fragwürdige Vergangenheit hat.“ Nolan sagte darauf nichts. Was Asterea in ihrer Vergangenheit getan hatte, wusste er nicht und es interessierte ihn auch nicht, wenn er ehrlich war. Warum Landis krank gewesen war – wenn es denn der Wahrheit entsprach – war letztendlich auch egal, fand er. Im Moment interessierte ihn mehr, wo er war. Die Erzählungen und Erinnerungen, selbst die Finstersten davon, hatten eine unendlich starke Sehnsucht nach seinem besten Freund in ihm entfacht. Er wollte wieder mit ihm reden, mit ihm trinken gehen, gemeinsam über die Arbeit jammern und die unbeschwerte Kindheit betrauern, die ihnen unweigerlich mit den Jahren entglitten war. Aber vor allem wollte er über die guten alten Zeiten sprechen, ihre schönsten Erinnerungen an früher wieder hervorkramen, um Landis erneut als seinen immer gut gelaunten Freund im Gedächtnis zu behalten. Im Moment war er ihm nämlich vollkommen anders in Erinnerung und dieses Bild weigerte sich hartnäckig, sich verscheuchen zu lassen; Landis, der im Mondlicht noch blasser und kranker als sonst wirkte, am oberen Treppenabsatz, der leblosen Blick hinunter auf den leblosen Körper von dem, was einst Nolans Vater gewesen war, das Messer in der reglosen Brust... Er erschauerte unwillkürlich, trotz des Sonnenlichts war ihm plötzlich kalt. Er wollte nur noch raus aus diesem Büro, die Gedanken auf etwas anderes lenken, seinen Körper betätigen, am besten gar nicht mehr denken, um sich auch nicht mehr zu erinnern. „Wollen wir dann los?“, fragte Frediano plötzlich. Überglücklich, aus seinen Gedanken gerissen zu werden, hätte Nolan ihn am Liebsten umarmt, doch er riss sich zusammen und nickte stattdessen nur. „Ja, gehen wir.“ Als er gemeinsam mit dem Kommandantensohn das Büro verließ, beschloss er, diese Erinnerungen und Gedanken wieder einzusperren, sie zu bündeln und zurück in die Ecke zu stellen, in die sie gehörten, die finsterste Ecke, die sein Gedächtnis finden konnte, denn genau dort gehörte das alles auch hin – und dieses Mal würde er die Tür zu diesem Abschnitt nie wieder öffnen. Chryssabelle ------------ „Worauf warten wir eigentlich?“ Vielleicht kam die Frage ein wenig spät, aber das nur, weil Landis und Nolan oftmals eine ganze Weile vor der Mädchenschule herumstanden und hinüberstarrten. Während Landis einfach nur die moralische Unterstützung von Nolan darstellte, war dieser dabei, die Schülerinnen zu beobachten, um sich seine Favoritin herauszusuchen. Kenton stellte sich hin und wieder dazu, weil er nichts Besseres zu tun hatte, wie er immer sagte – auch wenn das nicht stimmte – und die beiden gleichzeitig vor Ärger bewahren wollte. Obwohl Kenton zugeben musste, dass Nolan nicht mehr oft mit den Mädchen auf dieser Schule, die auch als Internat diente, in Konflikt kam. Sein natürlicher Charme war von ihm inzwischen derart geschliffen worden, dass kaum noch ein Mädchen diesem widerstehen konnte. Sein gutes Aussehen und seine offene und sympathische Art taten ihr Übriges dazu. Seitdem er nicht mehr die Probleme der beiden bereinigen musste, weil sie in keine mehr gerieten, fühlte Kenton sich in der Freundschaft ein wenig überflüssig. Aber je stärker dieses Gefühl wurde desto mehr schien er sich an die beiden zu klammern, ein Verhalten, das ihm selbst unheimlich vorkam, doch er konnte nichts dagegen tun und vernachlässigte sogar seine Studien – nur um so etwas Sinnlosem wie Nolans Brautschau beizuwohnen. Er wiederholte seine Frage, da offenbar keiner ihm zugehört hatte. Beim zweiten Mal wandte Landis sich ihm zu. Um seine Stirn war ein frischer Verband geschlungen, seine rechte Wange war leicht angeschwollen, offenbar war er an diesem Vormittag wieder in eine Prügelei mit Frediano geraten. Seit dieser mit Oriana verlobt war, geschah das fast täglich, egal wie sehr alle anderen zu vermitteln versuchten. Zumindest Kenton war immerhin felsenfest davon überzeugt, dass die beiden gute Freunde abgeben würden, wenn sie es endlich schaffen könnte, sich zusammenzureißen und über ihre Differenzen hinwegzusehen. Aber das war reines Wunschdenken. „Nolan wartet auf Chryssabelle“, antwortete Landis. „Er will mit ihr ausgehen.“ Kenton wusste, wer diese Person war, so ziemlich jeder in Cherrygrove kannte die wunderbare Chryssabelle, die als wunderschön und intelligent bekannt war und laut Oriana bewies, dass schöne Menschen es im Leben wesentlich leichter hatten. Kenton konnte das nicht bestätigen und erwiderte ihr deswegen stets, dass Chryssabelle es leicht hatte, weil sie intelligent und fleißig war, aber jedesmal gab Oriana dann nur ein genervtes Seufzen von sich, das ihm sagen sollte, dass er keine Ahnung vom echten Leben hätte. Sicher, Chryssabelle mochte schön sein, aber er wollte nicht glauben, dass sie die Rabatte beim örtlichen Händler und die Geschenke verschiedener Personen nur deswegen bekam. Zumindest bei ihrem bereits sicheren Platz an der königlichen Eliteakademie von Belldam war er sich allerdings absolut sicher, dass es kein Erfolg war, den sie durch ihre Schönheit errungen hatte. „Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird“, erwiderte Kenton. „Ich bin sicher, dass Chryssabelle mehr Wert auf Intelligenz legt als seine sonstigen Freundinnen.“ Doch Nolan blieb die Selbstsicherheit in Person. Er strich sich durch das Haar und schenkte Kenton sein strahlendstes Lächeln. „Ach, das kriege ich schon hin. Sie wird mir gar nichts abschlagen können und bald schon stehen wir gemeinsam vor dem Traualtar, du wirst schon sehen.“ Kenton griff sich an die Stirn, hinter der wie üblich ein leichtes Pochen eingesetzt hatte. Wann immer er mit den beiden sprach, geschah das über kurz oder lang, manchmal fragte er sich, warum er sich diesem Schmerz überhaupt noch aussetzte – und erschrak jedesmal, wenn ihm keine Begründung dafür einfiel, er aber auch nicht aufhören konnte, seine Zeit mit ihnen zu verbringen, egal wie oft er es sich vornahm. Er erwiderte nichts mehr darauf, schon allein weil Landis plötzlich auf die Eingangstür der Schule zeigte. „Ah, da ist sie!“ Es war eine Weile her, dass Kenton das Mädchen zuletzt gesehen hatte, zumindest aus der Nähe und ohne andere Schülerinnen um sie herum, aber bei ihrem Anblick konnte er verstehen, dass Nolan sie unbedingt für sich gewinnen wollte. Das leicht gewellte blonde Haar, das ihr bis zu den Ellbogen reichte, erinnerte im Sonnenlicht an Gold, die grünen Augen dagegen weckten in Kenton die Assoziation an tiefe Bergseen mit hohem Kupfergehalt – aber ihre gleichgültige Miene holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück und ließ ihn sich fragen, seit wann er so etwas dachte. Nolan ging inzwischen auf Chryssabelle zu, immer noch das Selbstbewusstsein in Person. Direkt vor ihr blieb er wieder stehen, lächelte wie gewohnt so charmant wie es ihm möglich war. „Hallo, Chryssabelle.“ Kenton merkte, wie schwer es ihm fiel, sie nicht direkt mit einem Spitznamen anzusprechen. Immerhin konnte er sich also ein wenig beherrschen, das freute Kenton und ließ ihn glauben, dass seine Lektionen nicht ganz umsonst gewesen waren. Sie musterte Nolan skeptisch. „Ja? Was möchtest du?“ Wieder setzte er sein strahlendstes Lächeln auf, das er in seinem Repertoire fand, ehe er den seiner Meinung nach wohl besten Spruch für Chryssabelle hervorkramte. „Ich beobachte dich schon lange aus der Ferne und fand heute endlich den Mut, dich anzusprechen, um dich zu fragen, ob du mit mir ausgehen möchtest.“ Kenton konnte nicht anders als sich zu fragen, ob das wirklich das Beste war, was Nolan bieten konnte. Gut, ein solcher Satz in Verbindung mit seinem Aussehen und seinem Charme dürfte bei einigen Mädchen Früchte tragen, aber doch sicherlich nicht bei Chryssabelle. Selbst in dem langen Zeitraum in dem sie ihn nur schweigend ansah, schwand seine Selbstsicherheit kein Stück, er schien vollkommen überzeugt von seinem Erfolg und Landis sah ebenfalls aus als wäre er bereit, jederzeit in Jubelschreie auszubrechen. Nur Kenton schien in Chryssabelles Gesicht ablesen zu können, was sie antworten wollte. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem leichten Lächeln. „Erst wenn deine Intelligenz proportional gleich zu deiner Attraktivität verläuft.“ Also wusste sie, dass Nolan nicht unbedingt als intelligent galt. Landis seufzte bereits enttäuscht, während sein Freund nur verwirrt die Stirn runzelte. „Hä?“ Kentons Kopfschmerzen verschlimmerten sich, als er Nolans Antwort hörte. Er musste sich davon abhalten, zu ihm hinüberzugehen und ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf zu verpassen, damit er denselben Schmerz erlitt und sein Denkvermögen vielleicht angespornt wurde. Aber erstens war das nicht Kentons Art und zweitens war Nolan in seinem Leben bereits oft genug von seinem Vater geschlagen worden, da mussten seine Freunde sich dem nicht anschließen. Chryssabelle musste sich offensichtlich davon abhalten, spöttisch zu lachen, als sie ihm antwortete: „Genau deswegen nicht.“ Ohne noch etwas zu sagen, ging sie an ihm vorbei, während Nolan verwirrt und ein wenig geknickt zurückblieb. Er hatte sehr wohl begriffen, dass er einen Korb bekommen hatte, aber der genaue Grund entzog sich seinem Verständnis. Glücklicherweise war Landis direkt da, um ihn zu trösten – denn Kenton musste seine Aufmerksamkeit auf Chryssabelle richten, die vor ihm wieder stehenblieb, um ihn ebenfalls zu mustern. „Ah, du musst Kenton sein.“ „Das ist vollkommen korrekt“, bestätigte er, wenngleich ein wenig verwundert. Dass ihm sein Ruf vorauseilte, war für ihn nicht neu. Aus einem ihm unerfindlichen Grund hatte er bereits als Zehnjähriger Liebesbriefchen von den Schülerinnen dieser Schule erhalten. Zwar hatte er sie pflichtbewusst alle durchgelesen, aber sich nie die Mühe gemacht, einen zu beantworten, auch nicht als er älter geworden war und er weniger Briefe bekam, weil die Interessen und Geschmäcker der Mädchen sich verschoben. Von Chryssabelle war allerdings nie einer dabeigewesen, wenn er sich nicht irrte. „Wäre es dir möglich, mich zu begleiten, falls es in deinen Zeitplan passt?“ „Aber sicher.“ Er fragte nicht einmal, wohin sie eigentlich gehen wollte und schloss sich ihr direkt an. Sie wartete, bis sie beide außerhalb der Hörweite von Nolan und Landis waren, ehe sie Kenton lächelnd ansah. „Du hast gar nicht gefragt, wohin ich gehen möchte.“ „Der Gedanke überkam mich auch gerade. Also, wohin möchtest du?“ Sie wandte das Gesicht ab und kicherte damenhaft hinter vorgehaltenem Handrücken, ehe sie sich erneut zu ihm drehte. „Eigentlich zu keinem besonderen Ort. Ich brauchte nur einen Vorwand, um ein wenig mit dir zusammen zu sein.“ „Wie bitte?“ Chryssabelle verschränkte die Arme vor ihrem Körper. „Ich weiß, dass du dir denken kannst, was ich meine, du giltst nicht umsonst als sehr intelligent.“ „Wissenschaftliche Intelligenz und emotionale Intelligenz unterscheiden sich voneinander“, erwiderte er automatisch. „Die meisten Genies sind sozial gesehen sehr-“ „Oh, ich weiß, ich weiß“, unterbrach sie ihn ungeduldig. „Aber so schätze ich dich nicht ein.“ Er sah sie an, aber sie hielt den Blick nach wie vor stur geradeaus als ob sie sich nicht darum kümmern würde, dass jemand neben ihr herlief. Er konnte nicht leugnen, dass er sich von ihrem Interesse geschmeichelt fühlte und selbst nicht abgeneigt wäre – schon allein wenn er an all die interessanten Gespräche dachte, die er mit ihr führen könnte, wenn sie miteinander ausgingen – aber gleichzeitig fragte er sich, ob er das Nolan antun könnte. Sicher, für ihn war Chryssabelle eher ein weiterer Erfolg auf seiner Liste, während Kenton doch ein wenig mehr in ihr sah, aber nichtsdestotrotz waren sie Freunde und es gab einfach Dinge, die man sich als solche nicht gegenseitig antat. Dennoch war in diesem Moment seine Zunge schneller als sein Gehirn, was ein sehr rarer Zustand war: „Gut, dann lass uns zusammen essen gehen.“ Dem ersten gemeinsamen Essen folgten viele weitere, bei denen Kenton und Chryssabelle über die unterschiedlichsten Dinge diskutierten. Normalerweise kam er nicht dazu, über derlei Dinge mit anderen zu sprechen. Alle, die er in Cherrygrove kannte, waren eher einfach gestrickt und nicht an so etwas interessiert. Nicht, dass es ihn stören würde, er mochte die Einwohner allesamt, aber manchmal sehnte er sich doch danach, über etwas anderes zu sprechen als darüber, wer über wen schlecht geredet hatte, was Nolan und Landis wieder angestellt hatten oder wie die Ernte ausfallen würde – oder ob Hühner wirklich nicht fliegen könnten. Dementsprechend entspannend empfand er die Gespräche mit Chryssabelle, noch dazu genoss er es, in ihrer Nähe zu sein und er fand, dass er nicht übertrieb, wenn er sagte, er sei verliebt in sie. Zwar fehlten ihm die berühmten Schmetterlinge im Bauch, aber er sehnte sich geradezu danach, sie wiederzusehen, wenn er nicht in ihrer Nähe war, er wollte sie in die Arme schließen und für immer mit ihr über alles sprechen, was ihm durch den Kopf ging und die Art, wie sie sich ihm gegenüber verhielt, sagte ihm, dass es ihr genauso ging. Sie passte fast schon zu perfekt zu ihm. Aber eben nur fast. Es dauerte dann auch nicht lange, bis Nolan dahinterkam, dass Kenton regelmäßig mit ihr ausging. Nahm er es beim ersten Hören noch gelassen auf, da er gerade angetrunken war und eine eigene Verabredung in Aussicht hatte, sah es einige Tage später plötzlich ganz anders aus – und so fand Kenton sich vor einem Nolan mit gerunzelter Stirn und vor der Brust verschränkten Armen wieder, der ihn wütend ansah. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du mit Chryssabelle ausgehst, ist das wahr?“ „Ich habe daraus nie ein Geheimnis gemacht“, antwortete er. „Aber du hast auch nie gefragt.“ Die Ausrede war bescheuert, das wusste er selbst, aber Nolan schien sie dennoch zu akzeptieren, denn er nickte bedächtig. „Das ist allerdings wahr.“ Landis, der das Ganze ein wenig abseits beobachtete, seufzte leise, deutete seinen Freund aber auch nicht darauf hin, dass das nur ein Trick gewesen war. „Aber du hättest es auch so mal sagen können“, bemerkte Nolan. „Immerhin sind wir doch Freunde.“ „Da bin ich mir gar nicht so sicher“, brummte Kenton, schüttele dann aber sofort mit dem Kopf. „Ich hätte es dir ja schon noch gesagt, ich kam nur nicht dazu, tut mir Leid.“ „Du weißt doch aber genau, dass ich Interesse an Chryssabelle hatte“, erwiderte Nolan in einem vorwurfsvollen Ton. Kenton seufzte leise. „Nolan, du hast an jedem Mädchen in Cherrygrove Interesse, außer Oriana. Ist das denn fair?“ Tatsächlich nachdenklich geworden, neigte er ein wenig den Kopf. „Na ja, vermutlich nicht... Immerhin bliebe dann ja nur Oriana für dich, Lan und Fredi und das geht auch nicht...“ Zu Kentons Glück kam er nicht einmal auf den Gedanken, dass einer von ihnen seine Freundin oder zukünftige Frau auch in einer anderen Stadt suchen könnte. „Außerdem passt Chryssabelle doch viel besser zu mir als zu dir“, fuhr Kenton fort. „Denk doch nur an all die schwierigen Dinge über die Chryssabelle reden möchte. Philosophie, Geografie, Geschichte, Biologie...“ Das schien zu wirken. Nolan legte die Stirn in Falten. „Darüber will sie sprechen?“ „Stundenlang und sehr ausführlich“, bestätigte Kenton. „Du hättest nicht viel Freude mit ihr.“ Das überzeugte ihn davon, dass es wohl wirklich besser war, wenn er Chryssabelle einfach aufgab. In einem Anfall von Großzügigkeit nickte er zustimmend. „In Ordnung, du darfst weiter mit ihr ausgehen.“ Während Landis leicht schmunzelte, lächelte Kenton ein wenig. „Danke, Nolan.“ Damit schien für seinen Freund das Thema erledigt, denn er wechselte direkt das Thema und kam auf den Unterricht des Vortages zu sprechen. In knappen und dennoch verwirrenden Worten erzählte er Kenton von dem Thema, das sie durchgenommen hatten und dass er nicht alles davon verstanden hatte und deswegen seine Hilfe bräuchte. Kenton stimmte zu, dass er ihm am nächsten Tag Nachhilfe geben könnte, ohne überhaupt wirklich verstanden zu haben, worum es ging. Aber im Großen und Ganzen war das in seinem Fall ohnehin egal, es gab kein Thema, in das er sich nicht irgendwie hineinfinden könnte und viele der Dinge, die man in der Kavalleristenausbildung lernte, waren von ihm längst abgehakt worden. Nolan wollte gerade zu einem weiteren Thema ausholen, als er verstummte und hinter Kenton blickte. Dieser drehte sich ihm und entdeckte Chryssabelle, die ihn abwartend anblickte. „Bist du fertig?“ Er gab ihr zu verstehen, dass er gleich bereit wäre und wandte sich noch einmal Nolan zu. Landis hatte sich inzwischen neben diesen gestellt, er wusste vermutlich, was nun folgen würde. „Tut mir Leid“, sagte Kenton. „Ich weiß, ich habe gesagt, dass wir heute etwas zusammen unternehmen, aber ich habe doch etwas anderes vor.“ Landis schien Einspruch einlegen zu wollen, aber Nolan winkte ab. „Geht schon klar. Amüsier dich. Wir machen einfach irgendwas allein.“ „Danke. Wir sehen uns morgen.“ Kenton winkte ihnen zum Abschied zu und fuhr herum, um Chryssabelle zu begleiten. Sie nickte seinen beiden Freunden nur knapp zu, dann lief sie gemeinsam mit ihm los. Für eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. Das taten sie nicht oft, weswegen Kenton direkt wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. „Stimmt etwas nicht?“ Sie seufzte leise. „Mein Lieber, ich frage mich das schon eine ganze Weile: Warum verbringst du deine Zeit mit diesen beiden... Neandertalern?“ Etwas in Kentons Inneren zog sich schmerzhaft zusammen. „Meinst du Landis und Nolan?“ „Ja, die beiden. Sie sind doch wesentlich unter deinem Niveau, findest du nicht?“ Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, deswegen schwieg er, aber sie nahm das als Anlass, um weiterzusprechen: „Wie hältst du es mit den beiden nur aus? Ich kriege schon Kopfschmerzen, wenn ich nur an sie denke und habe das Gefühl, zu verdummen.“ Er schwieg nach wie vor, hielt den Blick aber ein wenig gesenkt. Er müsste eigentlich widersprechen, für seine Freunde eintreten, das war ihm bewusst, aber er fand einfach keine Worte dafür, denn im Grunde hatte sie ja Recht. Er bekam selbst Kopfschmerzen, wenn er zu lange bei ihnen war und er verzweifelte immer fast, wenn sie seine Erklärungen mal wieder nicht verstanden. Also warum war er so gerne mit ihnen zusammen und fürchtete sogar, einmal überflüssig für sie zu sein? Etwa weil er sich in ihrer Gegenwart intelligenter fühlte als sonst? Weil er sie gerne zurechtwies, wenn sie wieder einmal ihre fehlerhafte Logik zur Schau trugen? Oder vielleicht doch eher, weil...? „Oder tust du es, um heimlich über sie zu lachen? Oh ja, das muss es sein!“ Während sie über ihren für sie äußerst logischen Schluss lächelte, blieb Kenton abrupt stehen. Mit zusammengepressten Lippen wartete er, dass sie ebenfalls stehenblieb und sich ihm fragend zuwandte. „Was ist denn?“ „Du kannst so nicht über die beiden sprechen“, brachte er hervor. „No und Lan sind vielleicht nicht die Intelligentesten und ja, sie tun manchmal Dinge, bei denen ich auch Kopfschmerzen kriege, aber sie haben ein gutes Herz. Sie stehen einem bei, wenn jemand Hilfe braucht – und sie schaffen es auf ihre einzigartige Weise immer, einem zum Lachen zu bringen.“ Und das selbst wenn sie beide deprimiert waren und Kentons eigene Probleme ihm da eher unwichtig erschienen. Sie schafften es stets, ihre eigenen Sorgen zu vergessen und ihn wieder aufzumuntern. Deswegen war er gern bei ihnen. Sie munterten ihn auf, sie standen ihm bei und auch wenn er mit ihnen keine intelligenten Gespräche führen konnte, genoss er die Zeit, die er mit ihnen verbrachte, ohne sich dabei viele Gedanken um das machen zu müssen, was er ihnen sagen würde. Selbst wenn er, aus welchem Grund auch immer, den größten Unsinn redete, der ihm in den Sinn kam, akzeptierten ihn beide nach wie vor und suchten auch von selbst den Kontakt zu ihm. Er musste unwillkürlich lächeln, als er an sie dachte. Chryssabelle runzelte verständnislos die Stirn. „Warum verteidigst du die beiden auch noch?“ „Intelligenz ist nicht alles. Es gibt auch noch andere Werte, die im zwischenmenschlichen Bereich zählen – und die beiden haben mehr als genug davon. Kannst du das denn nicht verstehen?“ „Nicht im Mindesten.“ Sie schüttelte mit dem Kopf – und in diesem Moment spürte Kenton eine sonderbare Art von Schmerz in seiner Brust. Es war heiß und gleichzeitig eiskalt und wollte ihm die Tränen in die Augen treiben. Selbst ohne weitere Erklärung, ohne Recherche, wurde ihm bewusst, dass es dasselbe war, was Landis fühlte, wenn es um Oriana ging – nur, dass Kenton nie gedacht hätte, es selbst einmal spüren zu müssen. „Du verstehst es also nicht?“, fragte er noch einmal tonlos. „Nein“, bestätigte sie. „Stört dich das etwa?“ In diesem Moment tat es das tatsächlich, denn als sie das sagte, fiel ihm auf, dass nicht nur er Nolan und Landis stets etwas zu lehren versuchte, sie hatte ihm im Gegenzug beigebracht, was im Leben wichtig war und wofür man Freunde brauchte. „Tut mir Leid, wir können heute nicht ausgehen.“ „Das dachte ich mir nach deinem Verhalten fast schon“, seufzte sie. „Fein, wenn dir diese beiden geistig Armen wichtiger sind als ich, kann ich dir auch nicht helfen.“ Betont gleichgültig zuckte sie mit den Schultern, auch wenn er an ihrem Gesicht ablesen konnte, dass es sie störte, dass ihm Nolan und Landis wichtiger waren. Offenbar hatte sie auf seine Zustimmung gehofft, als es darum gegangen war, sie zu verunglimpfen. Doch ehe er etwas sagen konnte, ging sie bereits mit großen Schritten weiter. Er folgte ihr nicht, sondern schlug wieder den anderen Weg ein, um Landis und Nolan zu finden. Es gab mit Sicherheit keine bessere Ablenkung von einem gebrochenen Herzen als die beiden. Ihm war klar gewesen, dass Chryssabelle keine sonderlich hohe Meinung von den beiden hatte, aber dass sie nicht verstand, was er – und so ziemlich jeder andere – in ihnen sah und sogar annahm, dass er nur bei ihnen war, um über sie zu lachen, das hätte er nicht erwartet. Natürlich waren Landis und Nolan nicht mehr dort, wo er sie zurückgelassen hatte, aber er wusste, wo er sie suchen musste. Ein wenig außerhalb der Stadt befand sich ein Baum, dessen mächtiger Stamm derart verzweigt war, dass er an eine menschliche Hand erinnerte und genug Platz bot, dass sich mehrere Menschen darauf niederlassen konnten. Landis und Nolan verbrachten ihre Zeit oft dort, wenn sie nichts anderes zu tun hatten und wie erwartet war dies auch an diesem Tag der Fall. Die beiden jungen Männer saßen auf den Ästen und blickten sehnsuchtsvoll in die Entfernung, genau wie jedes Mal, wenn sie dort waren. Kenton mochte diese Blicke an den beiden, er bekam dabei immer das Gefühl, dass ihnen die ganze Welt offenstand und sie alles erreichen könnten, was sie sich vornahmen, sogar ihr Vorhaben, Helden zu werden, so lächerlich er es sonst fand. Seine Schritte verlangsamten sich ein wenig, als er sich dem Baum näherte. Immerhin hatte er zuvor einfach kurzfristig eine Verabredung abgesagt, er könnte es verstehen, wenn sie an diesem Tag nichts mehr von ihm wissen wollten. Doch Nolan lächelte sofort, als er ihn erblickte. „He, Ken! Was ist aus deiner Verabredung geworden?“ „Nun, es lief nicht sonderlich gut.“ Er wollte nicht über das sprechen, was Chryssabelle gesagt hatte und warum es zu einer kurzen Auseinandersetzung mit ihr gekommen war. Und zu seinem Glück fragte auch keiner der beiden nach. Sowohl Nolan als auch Landis lächelten nur verständnisvoll, sie wussten immerhin beide, wie es war, wenn eine Verabredung nicht sonderlich gut lief, egal welcher der Beteiligten schuld daran war. „Dann komm rauf, wir bleiben wohl eine Weile hier.“ Nolan, der auf einem der tieferen Äste saß, beugte sich zu Kenton hinunter und streckte ihm die Hand entgegen, um ihm hochzuhelfen. Er ließ sich nicht lange bitten und ergriff die Hand seines Freundes. Auf dem Baum sitzend, ebenfalls schweigend in die Entfernung starrend, fühlte er sich tatsächlich schon ein wenig besser und es war einer der wenigen Momente, in denen er sich wünschte, dass sich niemals etwas in seinem Leben ändern würde, selbst wenn das bedeutete, niemals seine Ziele zu erreichen. Doch dass er die Zeit nicht anhalten konnte, wurde ihm alsbald bewusst, auch wenn das nicht nur schlechte Seiten hatte. Zwar verlor er im Jahr darauf Landis, der nach Orianas Hochzeit spurlos verschwand, doch schaffte er es, seine Beziehung mit Chryssabelle neu aufleben zu lassen und mittels des Einfluss ihrer Familie und der Caulfields endlich seine langersehnte Karriere als Berater der Königin von Király zu beginnen. Wie er lernte, konnten Freunde auch dafür gut sein, genauso wie sie einen auch enttäuschen konnten. Aber auch in seinem neuen Leben in New Kinging, das so ganz anders als sein altes schien, würde er niemals jenen Moment vergessen, in dem er mit seinen Freunden auf diesem Baum gesessen hatte, nachdem ihm endlich klar geworden war, weswegen ihm die Freundschaft mit ihnen so wichtig war. Rosen haben... was bitte? ------------------------- Kenton empfand es als keine gute Idee. Er wusste genau, dass das alles schlecht enden würde. Aber sein Vater hörte ihm nicht zu, als er die beiden Jungen einfach in sein Zimmer schob, ihnen viel Spaß beim Lernen wünschte und dann lachend in Richtung Wohnzimmer verschwand. Nolan und Landis standen unschuldig lächelnd vor Kenton, aber er ließ sich nicht täuschen. Er wusste genau, welch Schabernack sich hinter ihren Engelsmienen verbarg. Alle drei schwiegen und rührten sich kaum, aber dieser Zustand schien für Nolan bald unerträglich zu werden, denn im nächsten Moment platzte es bereits aus ihm heraus: „Woah, du hast so viele Bücher! Wie cool!“ „Cool?“, fragte Kenton verwirrt. Er kannte dieses Wort nicht, weswegen er lediglich anhand des Tonfalls sagen konnte, dass es wohl Bewunderung ausdrücken sollte. Landis ereiferte sich bereits zu einer Erklärung: „Meine Mama hat uns das Wort beigebracht. Sie meint, sie hat es von einem Ausweltler gelernt und er hat gesagt, es bedeutet so viel wie toll oder großartig.“ „Du meinst Ausländer, oder?“ Hinter Kentons linkem Auge setzte ein sanftes Pochen ein, das ihm verriet, dass er bald Kopfschmerzen bekommen würde. „Mama hat Ausweltler gesagt.“ Das macht keinen Sinn. Aber er sparte sich jedes weitere Wort, immerhin schien Landis absolut sicher, dass seine Mutter sich nicht irrte und schon recht hatte. Außerdem musste er seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf Nolan richten, der sich inzwischen dem Bücherregal genähert hatte, um dieses genauer in Augenschein zu nehmen – was in seinem Fall bedeutete, dass er jedes einzelne Buch anfassen musste. „H-he! Lass die Finger davon!“ Kenton hastete hinüber, um sich zwischen den Jungen und das Bücherregal zu stellen. „Das sind teilweise kostbare Erstausgaben! Die kannst du nicht einfach mit deinen schmutzigen Fingern anfassen!“ Schmollend schob er die Unterlippe vor. „Ich habe meine Hände gewaschen, bevor ich hergekommen bin.“ „Ich will trotzdem nicht, dass du mein Eigentum anfasst!“ Nolan verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und blickte beleidigt zur Seite, dafür konnte Kenton als nächstes die Stimme von Landis hören: „He, Ken, was ist das hier?“ Er wandte ihm den Blick zu und stellte erschrocken fest, dass der Junge dabei war, einen an der Wand hängenden Schaukasten in dem mehrere aufgespießte Schmetterlinge ausgestellt waren, immer wieder mit dem Finger anzustoßen. Kenton rauschte hinüber und zog Landis davon weg. „Lass das! Der Kasten fällt sonst runter und alle Präparate gehen kaputt.“ „Warum hast du tote Schmetterlinge in deinem Zimmer?“, fragte der Junge entsetzt. Kenton dachte über die einfachsten Worte nach, mit denen er erklären könnte, dass er von Schmetterlingen fasziniert war und sie deswegen ständig im Blick haben wollte, man aber lebende Exemplare nicht einsperren konnte. Aber während er noch überlegte, kam Nolan ebenfalls herüber und schüttelte nach einem kurzen Blick den Kopf. „Die sind nicht tot. Das sind Vampir-Schmetterlinge, die fliegen wieder, wenn du die Nadeln aus ihren Herzen entfernst.“ „Wirklich?“, fragte Landis hoffnungsvoll. „Nein!“, erwiderte Kenton gereizt. „Das ist doch Unsinn! Es gibt keine Vampire!“ Nolan wandte sich ihm zu und stemmte die Arme in die Hüften. „Oh doch und wie es die gibt! Mein Vater hat neulich Zeitung gelesen und dabei gemurrt, dass die neue Riege der Händlergilde alles Vampire wären.“ Er begleitete jedes seiner Worte mit einem entschlossenen Nicken, was dafür sorgte, dass Landis leicht blass wurde, weil er ihm offensichtlich glaubte. Kenton dagegen schlug sich die Hand vor die Stirn. „Er meinte damit etwas ganz anderes, er-“ Ihm blieb keine Zeit, zu Ende zu sprechen, denn die beiden waren nun bereits in eine Diskussion darüber vertieft, wie es möglich sein könnte, dass es Vampir-Schmetterlinge gab und ob Vampire im Sonnenlicht glitzerten oder doch eher zu Asche zerfielen und wenn sie glitzerten, warum sie das taten, wenn das doch einfach nur lächerlich war. Das Pochen hinter Kentons Auge hatte sich zu seiner Stirn hochgearbeitet und sich dort in Schmerz verwandelt, der sich bohrend in seinen Kopf vorarbeitete. „Könnt ihr das endlich mal lassen?“ Beide unterbrachen ihre Diskussion und sahen ihn wieder an, sie schienen sich keinerlei Schuld bewusst zu sein. „Also, was müsst ihr lernen?“ Wenn er nicht drum herum kam, könnte er auch versuchen, es schnell hinter sich zu bringen. „Alles“, antwortete Nolan, worauf Kenton am Liebsten zu weinen begonnen hätte, sein Hals kratzte bereits unangenehm. „Wir sind in allem ziemlich schlecht“, bestätigte Landis. „Der Unterricht ist viel zu schwer und die Lehrer haben was gegen uns.“ „Ich weiß gar nicht, warum.“ Nolan wirkte nachdenklich. „Wir haben Herrn Barnes von einer aufdringlichen Katze befreit und Frau Layken eine geschenkt.“ „Na ja, vielleicht hätten wir uns denken sollen, dass Herr Barnes die Katze mochte und wir hätten Frau Layken glauben sollen, als sie uns sagte, sie wäre allergisch.“ Kenton versuchte, tief durchzuatmen, um sich wieder zu beruhigen, aber Nolan ließ ihm gar nicht erst die Gelegenheit, denn er fuhr direkt fort: „Oder Frau Celcius, die sich an den Dornen der Rosen gestochen hat, die wir ihr geschenkt haben...“ Er wollte sich selbst aufhalten, sich bremsen, aber die Worte kamen schneller über seine Lippen als ihm lieb war: „Rosen haben keine Dornen, sie haben Stacheln.“ Beide Jungen blickten ihn an als ob sie glaubten, er hätte den Verstand verloren, weswegen er fortfuhr: „Es ist ein typischer Volksirrglauben, dass Rosen Dornen haben, aber botanisch gesehen sind es Stacheln. Sie sind ein stechender Vorsprung an der Sprossachse. Sie sind Emergenzen, aber keine ungebildeten Organe, weswegen sie so unregelmäßig auf den Stielen verteilt sind.“ Die beiden Jungen schwiegen eine ganze Weile, aber ganz offensichtlich glaubten sie ihm nicht, vermutlich hatten sie nicht einmal verstanden, was er da eben gesagt hatte. „Aber... was haben dann Kakteen?“, fragte Landis verwirrt. „Die haben Dornen“, antwortete Kenton sofort. „Dabei handelt es sich um ungebildete Sprossachsen, Blätter, Nebenblätter oder Wurzeln, sie sitzen also an der Stelle eines Organs.“ Wieder schwiegen die beiden Jungen, was Kenton für einen Beweis von Respekt und Ehrfurcht hielt, doch im nächsten Moment schnaubte Nolan bereits spöttisch. „Du spinnst doch. Rosen haben Stacheln, hat man sowas schon mal gehört?“ Kenton spürte einen schmerzhaften Druck auf seinen Ohren. Er deutete auf den Tisch. „Setzt euch, beide. Holt eure Bücher raus.“ Nolan befolgte den Befehl sofort, Landis dagegen ließ sich von Kenton den Weg ins Bad erklären. Mit nur einem der beiden Jungen im Zimmer schien sofort Ruhe einzukehren, jedenfalls schaffte Nolan es, ruhig sitzenzubleiben und sich Kentons Erklärungen anzuhören. Erst als Landis nach einer scheinbaren Ewigkeit wieder zurückkehrte, fiel ihm auf, wie lange er eigentlich weggeblieben war. Er hob den Kopf, um Landis zu fragen, wo er so lange geblieben war – und erstarrte. Der Junge kaute auf einem Apfel und reichte Nolan auch einen solchen und noch einige andere Sachen, die dieser sofort verspeiste als hätte er seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. „W-wo hast du das alles her?“, fragte Kenton. Sein Kiefer schmerzte inzwischen als ob er entzündet wäre. Landis schluckte das hinunter, was er gerade im Mund hatte, ehe er antwortete: „Das Schloss an eurer Vorratskammer ist echt mies. Ich brauchte nur drei Sekunden, um es zu knacken.“ Kenton konnte ihn über diesen Grad an Unverschämtheit nur sprachlos ansehen, weswegen er sich zu einer Erklärung berufen fühlte: „Dein Vater hat gesagt, wir sollen uns wie zu Hause fühlen und wir essen eben gern, wenn wir zu Hause sind – deswegen sagt mein Papa immer, dass ich rausgehen soll, um zu spielen, selbst wenn es regnet.“ „Nein, besonders wenn es regnet“, korrigierte Nolan ihn. Kenton entfuhr ein leises Wimmern, aber im nächsten Moment hörte er bereits die fassungslose Stimme seiner Mutter, die quer durch das Haus fragte, wer für das Plündern der Vorratskammer verantwortlich wäre. Er konnte hören, wie sein Vater lachte, da er noch glaubte, sie würde einen Scherz machen, während Landis und Nolan unbeirrt weiteraßen. Seufzend legte er sich die Hand an die Stirn. „Ich habe gewusst, dass das nicht gut enden würde...“ „Und kommt ja nicht auf die Idee, eure Blagen noch einmal bei uns abzuladen!“, grollte Faren. Kaum hatten er und Yuina herausgefunden, wer für die Plünderung der Kammer verantwortlich war, hatte er die beiden Jungen gepackt und sie zu Richards Haus geschleppt, wo die Väter der beiden gerade in einem Gespräch vertieft gewesen waren. Richard beugte ein wenig den Oberkörper vor. „Es tut mir Leid, das wird nie wieder vorkommen.“ „Wir werden sicherstellen, dass sie bestraft werden“, versicherte Kieran mit unbewegter Miene. Die beiden Jungen wurden augenblicklich blass und blickten auf den Boden. Aber Faren schien damit zufrieden zu sein. „Das will ich doch hoffen.“ Damit verabschiedete er sich ungewohnt missgelaunt von den anderen. Richard stemmte die Arme in die Hüften. „Ich bin sehr enttäuscht von euch, Jungs. So haben wir euch nicht erzogen, ihr könnt nicht einfach-“ „Er ist weg“, unterbrach Kieran ihn. Richard atmete erleichtert auf. „Endlich. Okay, Jungs, geht spielen oder sonst was.“ Während die beiden sich freudig ansahen, räusperte Asterea sich, die bislang untätig in der Tür zur Küche gestanden und das alles beobachtet hatte. „Wolltet ihr sie nicht für ihr Verhalten bestrafen?“ Sie empfand die Situation, dass Richard und Kieran einmal die guten und nachsichtigen Väter verkörperten wohl als derart ungewohnt, dass sie automatisch die andere Position einnahm. „Ich für meinen Teil bin froh darüber, dass sie einmal Farens Vorratskammer geleert haben und nicht meine“, erwiderte Kieran. „Ich sehe keinen Grund, sie zu bestrafen.“ „Geht mir genauso“, stimmte Richard zu. Asterea schüttelte seufzend mit dem Kopf. „Ich werde euch beide nie verstehen.“ „Das können wir dir zurückgeben“, erwiderte ihr Mann, ehe er sich wieder an die beiden Jungen wandte. „Habt ihr denn wenigstens etwas gelernt?“ Landis nickte sofort. „Oh ja! Ken hat uns beigebracht, dass Rosen keine Dornen, sondern Stacheln haben!“ „Und Kakteen dafür Dornen“, stimmte Nolan zu. Entgegen ihrer Skepsis zu Beginn, waren sie inzwischen überein gekommen, dass es doch wahr sein könnte, immerhin hatte er auch mit den nicht fliegenden Hühnern recht gehabt – und keiner von ihnen hatte seine ausführliche Erklärung verstanden, was für sie ebenfalls noch ein Grund war, ihm zu glauben. Solange ihnen also nicht das Gegenteil bewiesen wurde, würden sie das weiterhin glauben. Richard blickte fragend zu Kieran. „Ist das wahr?“ Nolans Vater, der einst ein Händler gewesen war und deswegen ebenfalls einiges an Wissen angehäuft hatte, nickte. „Ja. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die beiden Sachen immer durcheinandergebracht, aber Rosen haben tatsächlich Stacheln.“ „Oh, verstehe.“ Die beiden Jungen hoben nur die Hände zum Abschiedsgruß und gingen dann zur Treppe hinüber, um in Landis' Zimmer zu gehen. Während sie die Stufen hinaufgingen, neigte Landis besorgt den Kopf. „Ich frage mich, ob es Kenton gutgeht.“ „Ja, als wir gingen, sah er nicht sonderlich gut aus...“ In diesem Moment wusste noch keiner der beiden, dass Kenton von ihrem Besuch und ihrer nervigen Art derart überfordert gewesen war, dass er die nächsten fünf Tage mit Fieber im Bett liegen und sie beide an jedem einzelnen Tag verwünschen würde. Wahrheit oder Pflicht? ---------------------- Es war ungewöhnlich. Frediano konnte es auch im ersten Moment gar nicht glauben und blinzelte deswegen, nur um sicher zu gehen. Aber Landis, der sich locker gegen die Hauswand lehnte, war immer noch da. Normalerweise war er bereits längst zu Hause, wenn Frediano sich endlich dazu entschied, ebenfalls das Trainingsgelände zu verlassen, immerhin war es dann bereits dunkel und der nächste Tag nicht mehr allzuweit entfernt. Aber an diesem Tag war er tatsächlich noch da und starrte mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht in die Dunkelheit hinaus. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, wollte er an dem Wartenden vorbeigehen, blieb allerdings stehen, als er von Landis angesprochen wurde: „Guten Abend, Frediano.“ Reflexartig setzte er zu einer Erwiderung an. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht-“ – er stutzte – „Wie hast du mich genannt?“ Landis blickte ihn unbewegt lächelnd an. „Na Frediano. So heißt du doch.“ „Ja, das ist richtig.“ Aber es war ungewohnt, immerhin wurde er von ihm sonst eher als Fredi oder Fredi-Idiot bezeichnet – und das waren nur die harmlosen Namen, die ihm gerade einfielen. „Na siehst du?“ Frediano runzelte die Stirn über Landis' seltsames Verhalten und wollte gerade weitergehen, als ihn die Stimme des anderen noch einmal innehalten ließ: „He, hast du nicht Lust, mit uns was trinken zu gehen, Frediano?“ Er sah Landis wieder an, suchte in seinem Gesicht nach dem erwarteten Spott, fand aber nur immer noch dessen ehrliches Lächeln. „Wen meinst du mit uns?“ „No, Ken und mich natürlich“, kam die prompte Antwort. „Ich lade dich auch ein, ausnahmsweise. Mein Vater hat mir ziemlich viel Geld gegeben, damit ich lange wegbleibe.“ „Warum sollte er das tun?“ Nicht, dass Frediano nicht verstand, dass man Landis lieber weit weg von sich haben wollte, kam es ihm bei Richard doch unpassend vor. Sein Gegenüber zuckte allerdings nur mit den Schultern. „Ich denke lieber nicht zu lange darüber nach. Also komm, wie sieht es aus?“ So sehr es ihm auch widerstrebte, seine Zeit mit Landis zu verbringen, so sehr wollte er auch nicht zu seiner Tante nach Hause. Und wenn Landis im angetrunkenen Zustand – der Alkohol war inzwischen deutlich riechbar – so erträglich war, würde der Abend möglicherweise nicht allzu schlimm werden. Deswegen stimmte er nach kurzem Nachdenken schließlich zu, worauf Landis sich sogar zu freuen schien. „Yay, dann komm!“ Yay? Doch statt nachzuhaken oder Landis zu fragen, warum er hier auf ihn gewartet zu haben schien, folgte Frediano ihm lieber hastig. Es war das erste Mal, dass Frediano sich in der kleinen Taverne von Cherrygrove aufhielt und auch das erste Mal, dass er ein Bier trank, weswegen es erwartungsgemäß auch nicht lange dauerte, bis er ebenfalls angetrunken war, genau wie die anderen drei Anwesenden. Ungewöhnlich war für ihn besonders, Kenton in einem solchen Zustand zu sehen, der ihm sogar das ein oder andere Lächeln entlockte, das man sonst nicht zu Gesicht bekam. Er war auch der einzige in der Runde, der kein Bier, sondern Rotwein trank, was, wie Frediano fand, auch wesentlich besser zu ihm passte. Landis und Nolan waren überraschend ruhig und recht vernünftig, ein angenehmer Nebeneffekt, wenn man ihn fragte – zumindest bis Landis plötzlich zu schmunzeln begann. „Okay, wenn wir dann schon alle beisammen sind, wird es dann mal Zeit für ein Spiel.“ „Ein Spiel?“, hakte Frediano nach, während Nolan bereits begeistert nickte und Kenton entnervt seufzte. „Jap. Es heißt Wahrheit oder Pflicht. Kennst du das?“ So viel zu 'vernünftig'... Frediano nickte trotz seines Gedanken ergeben. Bislang war er stets um so etwas herumgekommen, aber er hatte davon gehört, wenngleich er das Spiel eigentlich als recht kindisch empfand, weswegen es ihn umso mehr verwunderte, dass Kenton noch nicht aufgestanden war, um zu gehen – und mit Sicherheit war er von Landis nur deswegen eingeladen worden. „Du darfst anfangen, Frediano.“ Das passte allerdings nicht dazu, weswegen er erst einmal fragend blinzelte, aber Landis lächelte immer noch, weswegen er innerlich seufzend die Schultern zuckte. Wenn er schon nicht drum herum kam, konnte er es auch schnell hinter sich bringen. „Soll ich mit dir anfangen? Gut, dann... Wahrheit oder Pflicht?“ „Wahrheit.“ „Hast du mich nur wegen diesem Spiel eingeladen?“ Zu seiner Überraschung schüttelte Landis mit dem Kopf. „Uh-uh. Ich dachte, es wäre mal ganz lustig, wenn du auch dabei wärst und du dich nicht allein langweilen musst.“ Frediano warf einen Blick zu Kenton, der zustimmend nickte. „Das ist richtig. Als die Rede auf dich kam, sprang er plötzlich auf, meinte, er kann es nicht ertragen, zu wissen, dass du dich den Rest des Abends langweilen wirst und stürmte hinaus.“ „Wir dachten noch, er macht einen Witz und kommt gleich wieder“, fügte Nolan hinzu. „Aber dann kam er mit dir zurück.“ Also meinte Landis es wohl doch ehrlich... und dieses Spiel war etwas, das sie öfter spielten, so routiniert wie Nolan bereits wirkte, als er auf Landis' Frage mit „Pflicht“ antwortete. Der Auftragsteller sah sich einen Moment um und deutete dann auf einen Tisch, der mit einigen jungen Frauen besetzt war, die höchstwahrscheinlich aus der ansässigen Mädchenschule stammten. Zwar trugen sie abends und an diesem Ort natürlich keine Uniform, aber Frediano glaubte, sie bereits tagsüber einmal gesehen zu haben – und da waren sie in Uniformen unterwegs gewesen. „Geh mal da rüber und frage sie, ob sie Interesse an einer weiteren Runde haben, wenn ja, gibst du ihnen eine aus.“ Diese Anweisung begleitete Landis damit, dass er Nolan etwas Geld in die Hand drückte, das selbst in Fredianos Augen überraschend viel war. Nolan erwiderte allerdings nichts darauf und ging tatsächlich zu dem Tisch hinüber, wo er sich ohne jegliche Berührungsängste in das laufende Gespräch einklinkte. Die im ersten Moment abweisenden Gesichter der Frauen wurden bald herzlicher, nachdem sie Nolan gemustert hatten. Es war also nicht nur ein Gerücht, dass er bei erstaunlich vielen Frauen in Cherrygrove gut ankam. Landis schmunzelte zufrieden. „Läuft wohl wieder gut für ihn.“ „Du weißt doch, wie das ist“, meinte Kenton. „Er lächelt, sagt irgendwas in seinem charmantesten Tonfall und sofort liegen ihm alle zu Füßen. Deswegen lasse ich meine Schwester nie allein mit ihm.“ „Ich glaube nicht, dass er Renea zu nahe kommen würde“, erwiderte Landis, doch Kenton ließ das nicht gelten: „Es ist für mich schon schlimm genug, dass er sie Ren nennt.“ Frediano sagte nichts dazu, schon allein, weil er Landis hätte zustimmen müssen und so tief würde er sich nicht sinken lassen. Dementsprechend froh war er, dass Nolan gleich darauf mit einem glücklichen Lächeln wieder an den Tisch zurückkehrte. „Ich hab nachher eine Verabredung.“ „Glückwunsch“, kam es von Landis, während Kenton nur einen Schluck aus seinem Glas nahm und Frediano sich fragte, ob es nicht viel zu spät für eine Verabredung werden würde, wenn er sich jetzt noch zu ihnen setzte, obwohl es schon nach zehn Uhr war. „Gut, Kenton, du bist dran“, sagte Nolan gut gelaunt – und in dem Moment fiel Frediano auf, dass es bei ihnen wohl üblich war, im angetrunkenen oder betrunkenen Zustand jeden mit vollständigem Namen anzusprechen statt wie üblich mit Abkürzungen oder Kosenamen, was er durchaus bemerkenswert fand. Kenton machte nur eine kurze Handbewegung, aber Nolan schien genau zu wissen, was das bedeuten sollte, denn er stellte seine Frage, ohne dass der andere erst Wahrheit sagen musste: „Ich hab da drüben grad die interessante Geschichte aufgeschnappt, dass du mit Chryssabelle ausgehst. Was läuft da zwischen euch?“ Frediano war sich sicher, dass ein nüchterner Kenton lediglich die Stirn gerunzelt und erwidert hätte, dass es niemanden außer sie beide etwas anginge, aber im angetrunkenen Zustand kroch ihm tatsächlich die Röte den Nacken hinauf, worauf deutlich sichtbar rote Flecken an seinem Hals entstanden. Er schien bemüht, eine neutrale Mimik zu bewahren, schaffte es aber nicht und wirkte so eher dezent verlegen. „Nichts weiter. Wir sind nur ein paar Mal miteinander ausgegangen.“ Nolan seufzte. „Als ich mit ihr ausgehen wollte, meinte sie so 'Erst wenn deine Intelligenz proportional gleich zu deiner Attraktivität verläuft' und ich so 'Hä' und sie so 'Genau deswegen nicht'. Das war echt seltsam.“ Kenton griff sich an die Stirn, die vermutlich genau wie die von Frediano zu schmerzen begonnen hatte, lediglich Landis klopfte seinem besten Freund ermutigend auf die Schulter. „Also seid ihr wirklich nur ausgegangen?“, hakte Nolan nach. „Ist das nicht gegen die Spielregeln?“, mischte Frediano sich ein, allerdings war es erstaunlicherweise Kenton, der den Kopf schüttelte. „Nein, wir haben die Regeln ein wenig angepasst. Eine Folgefrage, die sich aus der Antwort auf die vorige Frage ergibt, darf noch in derselben Runde gestellt werden. Leider.“ Er seufzte schwer und wandte sich an Nolan. „Da du ohnehin nicht locker lassen wirst: Wir sind nicht nur ausgegangen. Aber mehr erfährst du von mir nicht.“ Ein Teil seiner Vernunft war wohl doch noch geblieben, aber Nolan schien sich bereits damit zufrieden zu geben und lehnte sich grinsend zurück. Kenton warf Frediano einen Blick zu und dieser erwiderte ihn automatisch mit einer Kopfbewegung zu Landis hin, zum Zeichen, dass er gut darauf verzichten konnte, an die Reihe zu kommen – und glücklicherweise verstand Kenton das auch und stellte Landis die Frage, die der Junge sofort mit „Wahrheit“ beantwortete. „Macht es dir und Nolan Spaß, mich so zu quälen?“ Landis überlegte einen Moment ernsthaft und neigte dann den Kopf. „Wir wollen nur an deinem Leben teilhaben – und von allein erzählst du ja nichts.“ Ein Augenrollen war die einzige Erwiderung, die von Kenton kam, vermutlich hatten sie dieses Gespräch schon öfter geführt, weswegen er an diesem Punkt einfach aufgab – so dass Landis sich nun an Frediano wenden konnte: „Wahrheit oder Pflicht?“ Er kam nicht drum herum. „Wahrheit.“ Wer wüsste schon, was Landis einfallen würde, wenn er ihm etwas auftragen sollte – dummerweise hatte er auch nicht mit der Frage gerechnet, die er nun bekam: „Bist du noch Jungfrau?“ Da Nolan ihn genauso gespannt anblickte wie Landis, blickte er hilfesuchend zu Kenton, doch dieser winkte ab. „Regeln sind Regeln, du musst die Frage beantworten.“ In nüchternem Zustand wäre er einfach aufgestanden und gegangen, aber im Moment fühlte er sich eher wie eine Maus in einer Falle. Schließlich konnte er sich aber doch zu einer Antwort durchringen und nickte. „Ja...“ „Dann hast du nicht mit Ria geschlafen?“, versicherte Nolan sich, worauf Frediano noch einmal nickte – und dann irritiert feststellte, dass der Fragende in die Tasche griff und etwas Geld hervorholte, das er Landis reichte. „Du hast die Wette gewonnen.“ Zufrieden zählte Landis die Münzen durch. „Tja und du wolltest mir nicht glauben.“ Frediano spürte, wie seine Ohren heiß zu werden begannen. „W-wieso wettet ihr um so etwas?“ „Oh, ich wollte Wahrheit nehmen“, meinte Landis, „gut mitgedacht, Frediano. Wir wollten ja eigentlich nicht darum wetten, aber Ria sagte, ihr hättet nicht miteinander geschlafen, worauf Nolan meinte, dass sie das nur gesagt hat, damit ich nicht wütend auf dich werde – und dann haben wir uns so lange gestritten, bis es zu einer Wette wurde.“ Er lächelte nach dieser Erklärung – und zum ersten Mal verstand Frediano, was andere Dorfbewohner meinten, wenn sie sagten, man könne Landis nicht lange böse sein, wenn er lächelte. In diesem Moment beruhigte nämlich selbst er sich wieder. „Ich verstehe. Tja, dann bist du wohl dran.“ Landis wollte sich gerade enthusiastisch an Nolan wenden, als dieser plötzlich aufstand. „Ich muss los. Wir machen ein andermal weiter.“ „Schon?“, fragte Landis deutlich enttäuscht und warf einen Blick zu den jungen Frauen hinüber, die inzwischen ihren Tisch verlassen hatten. Lediglich eine stand noch da und winkte Nolan auffordernd zu sich. Als er das sah, wurde ihm offenbar bewusst, dass er kaum verlangen konnte, dass sein Freund blieb, deswegen sah er ihn betrübt lächelnd an. „Geht klar. Viel Spaß.“ Frediano glaubte fast, die gesamte Traurigkeit hinter diesen Worten spüren zu können und musste schlucken, doch Nolan ignorierte es entweder oder bemerkte es selbst nicht, denn nach einer kurzen Verabschiedung war er gemeinsam mit der jungen Frau bereits verschwunden. Kenton nahm derweil noch einen letzten Schluck aus seinem Glas und stand dann wortlos auf. Da Frediano davon ausging, dass er nur am Tresen noch mehr Wein holen wollte, kümmerte er sich nicht weiter darum, sondern sah automatisch wieder zu Landis, der bedrückt auf den Tisch blickte. Von dem gerade eben noch so zufriedenen Jungen war nichts mehr zu sehen. Die drückende Atmosphäre störte den angetrunkenen Frediano, weswegen er das entstandene Schweigen brach: „Warum hast du ihm nicht gesagt, dass du nicht willst, dass er geht?“ Landis hob nicht einmal den Kopf. „Es reicht, wenn ich deprimiert bin, ich sollte ihm seinen Spaß gönnen. Außerdem enden die Abende meist so, ich bin das gewohnt.“ „Eure Abende enden damit, dass du mit Kenton zurückbleibst?“ Nun hob Landis doch den Kopf, aber er lachte dabei humorlos. „Mit Kenton? Nein, ganz allein.“ Frediano warf einen Blick umher, um Kenton ausfindig zu machen und Landis damit zu demonstrieren, dass es zumindest an diesem Abend nicht so war – aber er konnte den jungen Mann nicht finden. „Das ist so eine Eigenart von Kenton“, erklärte Landis. „Wenn er betrunken ist, wird er müde und dann steht er auf und geht einfach nach Hause, ohne sich zu verabschieden. Ich glaube, er weiß dann gar nicht mehr so genau, dass er eigentlich mit Begleitern unterwegs war.“ Aus seinen Worten sprach in diesem Moment so viel Traurigkeit, dass selbst Frediano für einen kurzen Augenblick Mitleid mit ihm bekam. Aber wirklich nur für den Bruchteil einer Sekunde, immerhin war er davon überzeugt, dass dieser Junge kein Mitleid benötigte oder gar Wert darauf legte. Schweigend trank Landis sein Glas leer, was Frediano ihm unwillkürlich nachmachte, nur um dann zeitgleich mit ihm aufzustehen. „Ich begleite dich nach Hause“, erwiderte er auf Landis' fragenden Blick. Eigentlich erwartete er eine empörte Abfuhr, aber der Junge nickte lediglich und verließ gemeinsam mit Frediano die Taverne. Er schwankte dabei ein wenig, hielt sich aber gut, während dem Kommandantensohn der Alkoholspiegel gar nicht anzumerken war, solange man sich nicht mit ihm unterhielt. Die ersten Schritte brachten sie schweigend hinter sich, doch dann brach Landis die Stille: „Wahrheit oder Pflicht?“ „Spielen wir denn immer noch?“ Landis hob belehrend den Zeigefinger. „Das Spiel endet erst, wenn alle Spieler eingeschlafen sind.“ Gleichgültig zuckte Frediano mit den Schultern, immerhin waren sie jetzt auch unter sich, da würde es ihm weniger ausmachen, hoffte er. „Fein, Wahrheit.“ „Hasst du mich?“ Die Frage kam so naiv, so unschuldig herüber, dass Frediano einen kurzen Augenblick brauchte, um sie wirklich zu begreifen und bearbeiten zu können – und dann brauchte er eine Weile, um über die Antwort nachzudenken. Nüchtern hätte er auf diese Frage mit einem kühlen „Ja“ geantwortet, aber in seinem jetzigen Zustand machte er sich tatsächlich ernsthaft Gedanken darum. Es gab keinen logischen Grund, Landis zu hassen und zumindest betrunken schien er ganz angenehm zu sein, zumindest bislang. „Ich denke nicht“, antwortete er schließlich. „Ich kann nur nicht viel mit deiner Denkweise anfangen – und ich war immer ein wenig neidisch auf dich.“ Landis musste keine weitere Frage stellen, Frediano wusste auch so, dass er wissen wollte, weswegen. „Als ich nach Cherrygrove kam, hatte ich gar nichts. Keine Freunde; niemand, der mich liebt und meine Familie hatte mich gerade erst zu einer Frau abgeschoben, die mich so wenig mochte wie ich sie. Und dann sah ich dich. Wusstest du, dass du die allererste Person außer meiner Tante warst, die ich in Cherrygrove gesehen habe? Nein, natürlich nicht.“ Er verfiel einen Moment ins Schweigen, als er sich an den braunhaarigen Jungen zurückerinnerte, der damals gerade mit seinem Vater an seinem Fenster vorbeigelaufen war. Er wusste einfach, rein aus dem Bauch heraus, dass sie Vater und Sohn sein mussten. Das Gesicht des Jungen war unglücklich gewesen, er wirkte wie ein begossener Pudel, so dass Frediano sofort wusste, dass er etwas angestellt hatte und dabei erwischt worden war. Während er die beiden beobachtete, hatte er sich vorgestellt, wie sein Vater, Dario, ihn bestrafen würde, auch wenn er die genaue Tat nicht kannte. Doch plötzlich war der fremde Vater stehengeblieben, um sich zu seinem Sohn hinunterzuknien. Auf die Entfernung und durch das Fenster hindurch, war es Frediano nicht möglich gewesen, zu hören, worüber sie sprachen, doch als der Vater sich wieder erhob, fuhr er seinem Sohn liebevoll durch das Haar, worauf der Junge wieder glücklich lächelte und sie ihren Weg fortsetzen konnten. Er lächelte unmerklich. „Ich war so neidisch in diesem Moment. Und dann fand ich ja heraus, dass du Freunde hast... und dann wurde es nur noch schlimmer.“ „A-aber wir haben dich doch in unseren Kreis aufgenommen, es gab keinen Grund mehr, neidisch zu sein!“, protestierte Landis sofort und stürzte vor lauter Übereifer fast über seine eigenen Füße. Frediano verhinderte den Sturz, musste dann aber damit leben, dass Landis den Arm um seine Schulter gelegt hatte, damit so etwas nicht noch einmal geschah. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwer es ist, sich in euren Kreis zu integrieren. Ich meine, ihr alle kennt euch, seit ihr klein wart, ich dagegen bin ein nachträglich dazugekommener Eindringling gewesen – und den Eindruck vermittelt ihr mir selbst heute noch manchmal.“ Landis murmelte eine Entschuldigung, aber Frediano schüttelte nur mit dem Kopf. Er war längst fertig mit diesem Thema, aber es war mal eine sehr interessante Erfahrung, es laut auszusprechen. „Und weil ich neidisch bin auf alles, was du hast und ich nicht, hasse ich dich... denke ich zumindest. Also, im Moment ist es eher so, dass ich es nicht verstehe und sich dieses fehlende Verständnis in Hass ausdrückt... war das verständlich?“ „Also ich habe es verstanden.“ Frediano nickte zufrieden, obwohl das eigentlich ein Thema war, über das er nie mit Landis hatte sprechen wollen, es war etwas, das er nie hätte erfahren dürfen. Aber nun war es zu spät und er konnte nur noch hoffen, dass Landis sich am nächsten Tag an nichts erinnern könnte. „Ich bin dran. Also, Wahrheit oder Pflicht?“ Landis überlegte nicht lange. „Wahrheit!“ „Wen liebst du mehr? Nolan oder Oriana?“ Die Frage interessierte Frediano schon lange, ungefähr seit er das erste Mal mit Oriana ins Gespräch gekommen war. Damals, an jenem Regentag an dem Landis sie wegen Nolan einfach stehengelassen hatte. Es überraschte Frediano nicht, dass Landis über diese Frage ein wenig nachdenken musste. „Na ja... Nolan ist mein bester Freund, fast schon so etwas wie mein Bruder und ich bin... glücklich, wenn ich bei ihm bin, als ob er etwas hat, das mir fehlt. Aber Oriana gibt mir Kraft, Zuversicht, bei ihr fühle ich mich als wäre ich zu Hause angekommen und wenn sie in meinen Armen liegt ist es als ob die gesamte Welt nur für uns stillsteht.“ Seine Augen glitzerten auf eine eigentümliche Art und Weise, Frediano auch von sich selbst kannte, wenn es um Oriana ging. Es gab keinen Zweifel, die Gefühle des Jungen waren echt. „Deswegen bin ich einerseits froh und gleichzeitig unglücklich, dass sie sich für dich entschieden hat. Du wirst ihr immerhin nie wehtun, oder?“ „Niemals“, antwortete Frediano sofort und das direkt vom Grunde seines Herzens. Allein der Gedanke, dass er Oriana mutwillig verletzen könnte, ließ Frediano vor sich selbst erschrecken. Nein, er hatte längst geschworen, sich gut um sie zu kümmern, solange er lebte. Landis lächelte, wieder dieses traurige Lächeln, das er zuvor Nolan geschenkt hatte. „Ich wusste es. Und das ist auch gut so... Aber solltest du ihr jemals wehtun, dann werde ich da sein, verstanden?“ „Klar und deutlich.“ Daran zweifelte Frediano auch nicht im Mindesten und fast schon empfand er erneut Mitleid für Landis, da er ja immerhin nicht vorhatte, seine Verlobte – der Gedanke kam ihm immer noch seltsam und unwirklich vor – zu verletzen. „Wahrheit oder Pflicht?“ Landis' Stimme holte ihn aus seinen Tagträumen, die normalerweise immer begannen, wenn er von Oriana als seiner Verlobten dachte. Zur Abwechslung entschied Frediano sich einmal für Letzteres, worauf Landis zu grinsen begann. „Oh, das wird lustig. Weißt du, ich hab schon mit Oriana geschlafen.“ „Ich weiß“, erwiderte Frediano trocken, immerhin hatte Nolan es ihm einmal ungefragt erzählt. „Aber was hat das mit dem Spiel zu tun?“ „Lass mich doch ausreden. Also, es gibt da etwas, das Oriana geradezu in deinen Händen schmelzen lässt, wenn du es tust. Deine Pflicht wird es sein, das auszuprobieren, wenn ihr endlich ernstmacht.“ „Ist das nicht bescheuert? Du kannst doch gar nicht nachprüfen, ob ich es tue.“ Es sei denn, Landis würde ihn ab sofort immer verfolgen und auch Mittel und Wege finden, ihn selbst in versperrten Räumen zu beobachten – das würde er seinem Rivalen sogar durchaus zutrauen. Aber Landis lachte auf diese Erwiderung leise. „Oh, ich weiß, dass du es tun wirst. Immerhin ist es eine Herausforderung von mir und du kannst es nicht mit deinem Stolz vereinbaren, sie sausen zu lassen.“ Er gab es zwar nur ungern zu, aber da hatte sein Rivale recht. „Fein, und was ist es?“ Landis zog seinen Kopf ein wenig näher zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Frediano sofort wieder rot werden ließ. „W-was? Ernsthaft?“ Sein Rivale ließ ihn wieder los und nickte. „Vertrau mir, du wirst es nicht bereuen.“ Ihm zu vertrauen fiel ihm schwer, aber vielleicht war das ausnahmsweise kein Trick von ihm, immerhin war er gerade betrunken – und es hieß doch immer, dass Betrunkene und Kinder immer die Wahrheit sagten. „Warum rede ich mit dir überhaupt über so etwas?“, fragte Frediano seufzend. „Na, weil du betrunken bist.“ Der Kommandantensohn überlegte einen Moment. „Hmm, das macht Sinn.“ Vor dem Haus von Landis' Eltern blieben sie schließlich wieder stehen. Er löste sich von Frediano und stützte sich stattdessen gegen die Wand. „Also, denk dran, es auszuprobieren. Wenn du es getan hast, spielen wir weiter, ja?“ Frediano nickte lediglich und half ihm dann, die Tür zu öffnen. Landis bedankte sich leise lachend. „Oh und gute Nacht. War sehr unterhaltsam, hoffentlich hattest du auch ein wenig Spaß.“ „Es war jedenfalls nicht langweilig. Gute Nacht, Landis.“ Er wartete, bis sein Rivale die Tür wieder geschlossen hatte, ehe er sich auf den Weg zum Haus seiner Tante machte. Der Abend war wirklich nicht langweilig gewesen und zu einem gewissen Grad sogar amüsant und lehrreich. Zwar wusste er nicht, ob und wieviel er davon in Gedächtnis behalten würde, aber etwas davon würde auf jeden Fall in seiner Erinnerung verankert bleiben und ihm auch in Zukunft öfter helfen, sich zu beruhigen, sobald er wieder Hass auf Landis verspürte: Sein trauriges Lächeln, als Nolan ging, so wie der Klang seiner Stimme, als er gestand, dass viele Abende damit endeten, dass er allein blieb. All das würde Frediano sich für immer merken, das wusste er bereits, bevor er den Großteil des Rests am nächsten Morgen tatsächlich vergessen hatte. Unter Kirschbäumen ------------------ Oriana Helton war oft unzufrieden und das schon als Kind. Dabei gab es nichts, worüber sie klagen könnte. Ihre Eltern verbrachten viel Zeit mit ihr und brachten ihr so viel Liebe entgegen, wie man sich nur wünschen konnte. Ihr Vater war der Kommandant der Stadtwache von Cherrygrove, dementsprechend gut gestellt war ihre Familie, es gab nichts, worauf sie verzichten musste. Wollte sie ein neues Spielzeug, bekam sie es, wollte sie lernen, wie man kämpfte, besorgte man ihr den besten Trainer, den man auftreiben konnte, wollte sie verreisen, wurde gepackt und alles in die Wege geleitet. Das einzige, was ihr nicht gekauft werden konnte, waren Freunde. Sie besuchte die Mädchenschule in Cherrygrove, wie jedes andere auch, aber während ihre Mitschülerinnen sich nach dem Unterricht trafen, um miteinander zu spielen, kehrte Oriana allein nach Hause zurück, um zu lesen. Es war nicht so, dass sie nicht versucht hätte, Freundschaften zu schließen. Sie hatte mit anderen Mädchen gesprochen, versucht, sympathisch zu sein und als das nicht funktionieren wollte, war sie zu Geschenken übergegangen, Essbarem, Spielzeug, Bücher, aber nichts davon hatte funktioniert. Die anderen Mädchen betrachteten sie weiterhin als... seltsam. Sie sagten, es sei nicht normal, dass Mädchen gerne lesen. Es sei nicht normal, dass Mädchen gern mit Holzschwertern spielten. Es sei nicht normal, dass sie Kampfkunst lernen wollten. Sie sagten, Oriana sei ein Junge, dem man nur einredete, dass er ein Mädchen wäre. Natürlich glaubte sie das nicht, Jungen waren anders als sie, nicht zuletzt körperlich. Aber das änderte nichts daran, dass alle anderen es glaubten und zu kichern begannen, wann immer Oriana ihnen zu nahe kam. Deswegen versuchte sie es inzwischen nicht mehr, saß lieber zu Hause und las. Jeden Tag, an ihrem Fenster, ohne hinauszusehen. Wenn ihr Blick hinausging, sie all die spielenden Kinder sah, erwachte in ihr nur wieder die Sehnsucht nach Freunden, mit denen sie all ihre Reichtümer teilen konnte, die sie so nahmen wie sie war und nicht hinter ihrem Rücken über sie sprachen. Sie war gerade einmal acht Jahre alt, als sie nach eingehendem Studium eines Fachbuches davon überzeugt war, erste Anzeichen einer Depressionen zu zeigen. Aber natürlich redete sie darüber mit niemandem, sie war immerhin noch ein Kind und selbst davon überzeugt, dass sich das wieder legen würde. Seitdem las sie solche Bücher nicht mehr, sondern bevorzugte es, sich wieder der Belletristik zuzuwenden. Natürlich las sie keine Bücher, die für Erwachsene geeignet waren, egal wieviel Übung sie bereits hatte, so dass ihr selbst schwierige Wörter keine Probleme mehr machten, waren ihr jene ein wenig zu kompliziert und zu trocken. Einmal hatte sie versucht ein solches zu lesen, aber es war ihr vorgekommen als ob Erwachsene keine Fantasie mehr haben dürften, eine schreckliche Vorstellung für sie, also las sie lieber wieder Märchenbücher. Sie liebte Märchen. Die Vorstellung, dass ein Prinz auf einem weißen Pferd sie eines Tages retten würde, erfüllte sie mit einem wohltuenden Gefühl – bis sie sich vorstellte, dass ihre Mitschülerinnen ihr sagen würden, dass sie eher der Prinz wäre. Aber daneben gab es auch Märchen über Hexen, die wundersame Dinge erschufen; Naturgeister, die im Einklang mit den Elementen standen und kleine Wunder vollbrachten; Charon, der Wächter der Toten, der angeblich ungezogene Kinder zu sich holte – wobei sie sich fragte, warum er nicht endlich ihre Mitschülerinnen abholte – und dabei immerzu unheimlich lächelte und dann das schönste Märchen in Orianas Augen: Der Freundschaftsbund. Eine Geschichte über den Lebenswächter Fileon, der sich mit einem Menschen anfreundete und sogar ein Stück seiner Seele opferte, damit sie sich in jedem Leben wiederbegegnen würden. Oriana liebte dieses Märchen, liebte, dass beide über die Unterschiede des jeweils anderen hinwegsahen und Freunde wurden, sie liebte es so sehr, dass sie manchmal weinte, wenn sie es wieder einmal las. Jedes Mal weckte es wieder diese unheimliche Sehnsucht nach Freunden in ihrem Inneren, ein Schmerz, der, wie sie glaubte, wohl nie vergehen würde. Und just an einem Frühlingstag, an dem sie zum ungezählten Male dieses Märchen las, konnte sie von draußen aufgeregte Schreie hören. Normalerweise geschah in Cherrygrove nie etwas Ungewöhnliches, es war ein verträumtes kleines Dorf, fast schon eine Kleinstadt, in der jeder jeden kannte und ihn freundlich grüßte, wenn man ihn unterwegs traf. Besonders im Frühling, wenn die Kirschbäume ihre rosa Blüten trugen und in jedem Betrachter Friedfertigkeit weckten. Davon war an diesem Tag aber nichts zu sehen. Einige Hühner rannten gackernd durch die Straßen, verfolgt von zwei Jungen, die sie entweder jagten oder versuchten, sie wieder einzufangen, ganz sicher war sie sich nicht. Aber einer von beiden schrie immer wieder „Mission abbrechen! Mission abbrechen!“. Wenige Meter hinter den beiden folgte ein wütender Mann, der wohl der Besitzer der Hühner war und wüste Beschimpfungen über die beiden Jungen ausstieß. Oriana folgte diesem seltsamen Anblick mit den Augen, ehe sie schließlich beschloss, das Buch beiseite zu legen und hinauszugehen. Als sie aus dem Haus trat, schien bereits wieder Ruhe in das Städtchen eingekehrt zu sein, für einen Moment glaubte sie, sich das nur eingebildet zu haben, aber statt wieder hineinzugehen, folgte sie ihrem Gefühl, das sie anwies, in eine bestimmte Richtung zu laufen. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sie an einer Wiese ankam, die bereits von Kirschblüten bedeckt war – und dort fand sie die beiden Jungen von zuvor. Aus der Nähe betrachtet – was bedeutete, dass sie sich hinter einem Baum versteckte, um sie zu beobachten – wusste sie auch, wer die beiden waren. Der schwarzhaarige Junge, der ein Pflaster auf seiner Wange trug, war Nolan, der Sohn eines Händlers namens Kieran, der mit ihren Eltern befreundet war. Nichtsdestotrotz fand Oriana diesen Mann unheimlich, er lächelte oder lachte nie und sprach auch nur selten. Seine Frau Aydeen dagegen war eine warmherzige Person, der man selbst in einen verwunschenen Wald folgen würde, falls sie einen mit einem Lächeln hineinzulocken versuchte. Der andere Junge, der sich die braunen Strähnen aus der Stirn strich und trotz des warmen Wetters einen gelben Stoffschal trug, war Landis, der Sohn einer Stadtwache namens Richard. Dieser war nicht nur ein Untergebener ihres Vaters, sondern auch ein Freund ihrer Eltern und Kieran. Auf den ersten Blick wirkte er auch ein wenig wie dieser unheimliche Mann, aber Oriana hatte Richard bereits lächeln gesehen und lachen gehört und sie spürte auch, dass er keineswegs bedrohlich war, dafür strahlte er Sicherheit aus, in seiner Gegenwart geschah einem bestimmt niemals etwas. Seine Frau Asterea war nicht nur hübsch, sie war ungewöhnlich und sie redete und lachte gern als ob es für sie nur die Sonnenseite des Lebens geben würde. Oriana mochte sie sehr. Aber mit den beiden Jungen hatte sie normalerweise nicht viel zu tun. Sie besuchten die allgemeine Schule in Cherrygrove, hatten daher auch weniger Unterricht als sie an der elitären Mädchenschule und waren bekannt dafür, Unfrieden im Dorf zu stiften, weswegen sie von ihren Eltern angewiesen worden war, sich nicht von den beiden in irgendetwas verwickeln zu lassen... was auch immer sie damit meinten. Im Moment konnte sie die beiden nur weiterhin beobachten, während Landis laut seufzte. „Das war ein Reinfall, No.“ „Ja, ich geb's ja zu.“ Ein wenig verlegen kratzte Nolan sich am Nacken. „Aber ich konnte ja nicht wissen, dass Hühner nicht fliegen können. Ich dachte, dieser Kenton würde lügen.“ „Warum hätte er das tun sollen?“, fragte Landis ehrlich verwundert. Diesmal verschränkte Nolan die Arme vor seinem Körper und neigte den Kopf. Sein Blick ging ein wenig gedankenverloren nach oben. „Ich weiß nicht. Vielleicht weil er was dagegen hat, dass wir Helden werden wollen. Vielleicht ist Kenton ja eifersüchtig. Ah!“ Plötzlich schlug er sich mit der Faust auf seine andere Handfläche. „Genau! Wir sollten uns mit Kenton anfreunden!“ Landis runzelte skeptisch die Stirn. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“ „Aber klar doch! Er ist bestimmt nur verbittert, weil er die ganze Zeit im Haus herumsitzt und diese Bücher liest. Wir könnten ihn...“ Er hielt plötzlich inne und blickte in Orianas Richtung – was wohl daran lag, dass sie unwillkürlich zu kichern begonnen hatte. Doch kaum bemerkte sie das, hielt sie sich hastig den Mund zu und hoffte, dass Nolan beschloss, sich das nur eingebildet zu haben. Das tat er zwar nicht, aber er wandte sich fast schon panisch wieder seinem Freund zu. „Lan! Der Baum lacht mich aus!“ Landis zuckte zusammen und blickte mit vor Angst geweiteten Augen zu dem Baum hinüber. „W-was? Vielleicht ist er von einem Geist besessen?“ „Mann, Lan, lass die Schauergeschichten. D-das macht mir Angst!“ Die beiden gerieten in eine Diskussion darüber, ob Bäume lachen könnten oder ob es Geistern möglich war, Besitz von ihnen zu ergreifen – und wenn ja, was das bringen sollte. Seufzend kam Oriana hinter dem Baum hervor, worauf das Gespräch der beiden Jungen sofort erstarb. Nolan atmete erleichtert auf. „Es ist nur Ria.“ „Oriana“, erwiderte sie ein wenig pikiert. „Hast du gelacht?“ Landis wollte anscheinend auf Nummer sicher gehen, was das Kichern anging. Sie nickte schüchtern, erwartete, dass beide sich im nächsten Moment von ihr abwenden würden deswegen, aber stattdessen grinste Nolan. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Ich dachte, der Baum würde lachen. Das wäre ganz schön gruselig, wenn es so gewesen wäre, meinst du nicht?“ Sie nickte noch einmal, wartete immer noch darauf, dass die beiden lachend weggingen, aber keiner von ihnen machte Anstalten dazu, weswegen sie sich traute, noch etwas zu fragen: „Was hattet ihr mit den Hühnern vor?“ Nolan freute sich sichtlich über diese Frage, sein Gesicht begann förmlich zu strahlen. „Lan und ich haben uns darüber unterhalten, warum Hühner nicht einfach über den Zaun fliegen und abhauen, da kam dieser Kenton vorbei und meinte, dass wir total dumm wären, weil Hühner gar nicht fliegen können. Wir wollten ihm das Gegenteil beweisen, aber...“ Oriana kannte auch Kenton. Sein Vater Faren war ebenfalls ein Untergebener ihres Vaters, ein sehr geselliger und lustiger Mann, der genau wie Asterea gern redete und lachte, Oriana hatte ihn bislang nie ernsthaft gesehen. Kentons Mutter Yuina dagegen war das krasse Gegenteil, die Ärztin von Cherrygrove war stets ernst, mit einem Blick behaftet, der jede Lüge aufzudecken schien, aber ihre Untersuchungen und Behandlungen zeigten, wie sanftmütig sie eigentlich war. Kenton kam ganz nach seiner Mutter, er war stets ernst, neigte nicht zu Scherzen und lernte sehr viel. Er war bereits zehn und Oriana wusste, dass einige ihrer Mitschülerinnen hin und wieder über ihn sprachen und ihm kichernd Liebesbriefchen schrieben. Oriana glaubte aber nicht, dass er diese mit großem Interesse las. Nolan vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Hühner können wirklich nicht fliegen. Wer hätte das gedacht?“ Sie überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass Kenton es doch gesagt hatte, beließ es aber bei einem „Hm“. Nicht zuletzt deswegen, weil im nächsten Augenblick bereits eine wütende Stimme erklang, die Nolans Namen rief. Für den Bruchteil einer Sekunde erlosch das Grinsen des Jungen komplett und als es wiederkehrte, wirkte es gekünstelt und gequält. „Er hat es meinem Vater erzählt. Ich muss dann mal los.“ Oriana schien, dass Landis nach seinem Handgelenk greifen wollte, es sich dann aber anders überlegte und lediglich bedrückt nickte. „Das wird schon.“ Nolan verabschiedete sich von seinem Freund und auch von Oriana, mit einer Miene, die aussah als ob er gerade dabei wäre, seine eigene Beerdigung aufzusuchen, obwohl Oriana sich nicht vorstellen konnte, dass Aydeen zuließ, dass Kieran ihrem Sohn etwas antat. Sie sah ihm lange hinterher, bis er nicht mehr zu erkennen war, dann blickte sie zu Landis, der immer noch in die Richtung sah, in der sein Freund verschwunden war. Er sah traurig aus als ob er wirklich befürchtete, dass er Nolan erst wieder auf dessen Beerdigung sehen würde. Aber Orianas Aufmerksamkeit galt bereits etwas anderem. Sie konnte ihren Blick nicht mehr von dem Fleck auf dem Schal abwenden, er stand für sie derart unangenehm heraus, dass es ihr unmöglich war, ihn zu ignorieren. Als Landis bemerkte, dass sie ihn nach wie vor ansah, wandte er sich ihr zu. „Ist alles okay?“ „Uhm... d-da...“ Ohne weitere Worte deutete sie auf den Fleck. Er sah irritiert hinunter und seufzte leise. „Oh Mann, Mama dreht mir den Hals um, wenn sie das sieht...“ Nun wirkte auch er als ob er kurz vor dem Tod stand, was Oriana nicht mitansehen konnte. Sie streckte ihm die Hand entgegen und fühlte sich plötzlich wesentlich selbstsicherer. „Gibst du ihn mir? Ich kriege den Fleck bestimmt raus.“ Normalerweise tat sie lieber Dinge, die eher den Hobbys von Jungen entsprachen, aber ihre Mutter hatte ihr in einem Anfall von Umsichtigkeit auch tägliche Belange des Haushalts nähergebracht. Er zögerte einen Moment, griff dann aber nach dem Schal und löste diesen, um ihn ihr zu reichen. Sie winkte ihn mit sich zur Wasserpumpe des Dorfes, die um diese Zeit vollkommen verlassen war. Aufmerksam beobachtete er, wie sie den Fleck nass machte, sich dann auf eine nahegelegene Bank setzte und damit begann, ihn sauberzumachen. Landis saß die ganze Zeit neben ihr und schwieg. Ein Zustand, der ihr unerträglich schien, weswegen sie schließlich etwas fragte: „Warum trägst du eigentlich diesen Schal?“ Scheinbar unwillkürlich hob er die Hand und legte diese auf seinen Nacken. Er schien damit nicht Verlegenheit ausdrücken zu wollen, es sah eher so aus als wollte er damit etwas verdecken. „Uhm... i-ich mag ihn.“ Sie wandte ihm den Blick zu, worauf er tatsächlich ein wenig verlegen zu werden schien. „Hast du da etwas im Nacken, was niemand sehen soll?“ Ertappt zuckte er zusammen. „I-ist das so klar?“ „Ein wenig.“ Er ließ die Hand wieder sinken und beugte sich so, dass sie einen Blick auf seinen Nacken werfen konnte, was mit Sicherheit ein Zeichen war, dass er ihr vertraute, obwohl sie nie wirklich miteinander gesprochen hatten. Sie entdeckte, kaum sichtbar unter seinem Nackenhaar, ein rotes Feuermal, das waagerecht über seine Haut verlief, aber kurz vor dem Hals endete, so dass es nicht direkt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. „Woher hast du das?“ Er richtete sich wieder auf. „Das hatte ich schon immer. Papa meinte, Mama wäre fast ohnmächtig geworden, als sie das nach meiner Geburt sah. Dabei ist es gar nicht so schlimm, sagt er.“ „Ist es auch nicht“, beruhigte Oriana ihn. „Man sieht es kaum.“ Landis lächelte erleichtert. „Ich trage den Schal trotzdem, damit nicht jeder es sofort sieht. Nolans Vater meinte, in manchen Orten gilt so ein Mal als schlechtes Omen – und Mama scheint immer traurig zu sein, wenn sie es sieht.“ Bedrückt sah er ein wenig zur Seite. Für einen kurze Moment konnte sie spüren, dass etwas ihn außerordentlich traurig machte, ein Gefühl, das in etwa ihrer eigenen Traurigkeit entsprach, wenn sie allein war. Aber sie fragte ihn nicht danach, sie hatte das Gefühl, es würde sie nichts angehen. Schließlich reichte sie ihm seinen Schal, der inzwischen sauber war. „Hier, bitte.“ „Danke, Ria!“, rief er glücklich aus und legte ihn sich sofort wieder um. Kaum hatte er ihn wieder umgebunden, kehrte seine Selbstsicherheit, die er sonst zur Schau trug, zurück. „Musst du jetzt nicht zu deinen Freundinnen zurück? Die warten bestimmt schon auf dich.“ Sie senkte bedrückt den Kopf. „Ich habe gar keine Freundinnen.“ Warum sie ihm das erzählte, wusste sie nicht, vielleicht weil sie seine Traurigkeit und damit kurzzeitig eine Verbundenheit zu ihm hatte spüren können. Was genau sie darauf als Reaktion erwartet hatte, wusste sie ebenfalls nicht, aber mit Sicherheit nicht das, was dann wirklich kam. Landis ergriff ihre Hand, damit sie wieder den Blick hob. Er lächelte enthusiastisch, so sehr, dass sie ein wenig rot wurde. „Dann lass uns Freunde sein!“ „Bist du sicher?“ „Natürlich! Jeder braucht Freunde, mit denen man gute Erinnerungen sammeln kann oder die einem helfen können, wenn man in der Klemme steckt.“ Er bemerkte ihre Verwirrung offensichtlich, deswegen setzte er noch etwas hinzu: „Jeder bekommt mal Probleme und braucht dann Freunde. Oder wenn man traurig ist, braucht man auch Freunde. Oh und wenn man glücklich ist, braucht man auch Freunde, um das Glück zu teilen, damit man sich doppelt so sehr freuen kann. Das hat No gesagt.“ Bei diesen Worten konnte Oriana nicht anders als zu lächeln. „Ja, du hast recht.“ Sie dachte wieder an die Märchen zurück, die sie so gern las – und sah plötzlich Landis in der Rolle ihres Prinzen, es fehlte nur noch das weiße Pferd auf dem er angeritten kommen würde. Gut, er war kein echter Prinz, nicht einmal annähernd, aber ihr schien, er wäre zu ihrer Rettung gekommen, genau im richtigen Moment, auch wenn er eigentlich immer nebenan gewesen war. „Dann wollen wir Freunde sein?“, fragte sie leise. Er nickte zustimmend und hielt dabei immer noch ihre Hand. „Ich werde bei dir sein und wenn ich mal nicht da bin, werde ich immer zu dir eilen, wenn du Hilfe brauchst, genau wie ein Held es tun sollte. Du musst dann nicht einmal nach mir rufen, ich werde wissen, dass du mich brauchst.“ Bevor sie wusste, was sie tat, schlang sie plötzlich die Arme um ihn. „Danke, Landis.“ Sie spürte, wie sein Gesicht heiß zu werden begann und musste darüber ein wenig lächeln. „Weißt du was, Landis?“ Sie war sich nicht sicher, wo dieser Gedanke herkam, aber er erschien ihr völlig logisch und richtig. „Wenn wir erwachsen sind, will ich dich heiraten.“ In Märchen heirateten die Prinzen immerhin auch ihre Prinzessinnen und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Also wäre es doch nur richtig, wenn sie das auch taten – und zu ihrer Erleichterung stimmte Landis zu. „Klar doch.“ Lächelnd schloss sie ihre Augen und schmiegte sich dichter an den Jungen, der ihr in diesem Moment wie eine willkommene Zuflucht vor der Einsamkeit schien. Das Summen neben ihr sorgte dafür, dass sie ihre Augen wieder öffnete und gerade noch beobachten konnte, wie eine Blüte des Kirschbaums neben der Bank, direkt vor ihrem Gesicht herunterschwebte. Ihr Blick zur Seite zeigte ihr, dass Landis neben ihr saß – und auch, dass seit diesem Ereignis aus ihrer Erinnerung inzwischen sechs Jahre vergangen waren. Wie so oft saßen sie gemeinsam auf der Bank neben der Wasserpumpe, die für sie eine enorme Bedeutung gewonnen hatte. Jedes Mal schloss sie die Augen, um sich an diesen einen Tag zurückzuerinnern, während Landis leise ein Lied summte, das sie nicht kannte. Sie genoss diese Momente, denn sie schaffte es nicht oft, allein mit ihm zu sein. Normalerweise war er nämlich nie allein – und der Grund dafür kam in diesem Moment bereits auch die Straße entlang. Allerdings wirkte er zu beschäftigt, um die auf der Bank Sitzenden auch nur zu beachten. Zu Orianas Verwunderung trug Nolan ein Huhn auf den Armen. Neben ihm lief Kenton, der immer wieder den Kopf schüttelte und auch keinen Sinn für die Personen auf der Bank hatte. „Du kannst einem Huhn nicht das Fliegen beibringen. Die Flügel sind zu verkrüppelt dafür, ihr Körperbau zu gedrungen und nicht aerodynamisch genug – und dieses Huhn wäre ohnehin zu alt.“ „Ach was“, erwiderte Nolan. „Hühner haben Flügel, also müssen sie auch fliegen können – und Kiki ist nicht alt.“ „Du hast dem Huhn einen Namen gegeben?“, fragte Kenton perplex. Nolan warf ihm einen verwunderten Blick zu als hätte er gerade das Offensichtlichste der Welt in Frage gestellt. „Natürlich hab ich ihr einen Namen gegeben. Ich mag sie immerhin und sie mich auch.“ Tatsächlich schien es dem Huhn in Nolans Armen gut zu gefallen, es atmete ruhig und hielt die Augen geschlossen, also fühlte es sich nicht im Mindesten bedroht. Kenton schlug sich in einer verzweifelten Geste die Hand vor das Gesicht. „Oh Mann... Nolan, du bist echt unmöglich.“ Die beiden liefen weiter, wobei sie nicht darüber zu diskutieren aufhörten, warum Hühner denn nicht fliegen können sollten und verschwanden aus dem Blickfeld des auf der Bank sitzenden Paares. „Das war seltsam“, urteilte Oriana. Landis neigte den Kopf. „Oh ja. Das Huhn sieht gar nicht aus wie eine Kiki.“ Lachend wandte sie sich ihm zu „Ja, das auch. Willst du ihm nicht hinterher?“ Zu ihrer Freude schüttelte er mit dem Kopf. „Nein, heute bin ich mit dir unterwegs.“ Manchmal konnte er wirklich so umsichtig sein, bedauerlich, dass er es nicht immer war. „Erinnerst du dich noch daran, als wir das erste Mal hier saßen?“, fragte sie neugierig. Er blickte nach oben, schien sich aber nicht erst erinnern zu müssen, sondern dachte lediglich lächelnd daran zurück. „Oh ja. Das war der Tag an dem wir Kenton beweisen wollten, dass Hühner fliegen können – und an dem wir das erste Mal wirklich miteinander sprachen.“ Sie nickte und darauf fuhr er fort: „Und der Tag, an dem wir versprachen uns zu heiraten.“ Es freute sie, dass er sich ebenfalls noch daran erinnerte. „Aber wusstest du damals, was ich meinte?“ „Nicht wirklich.“ Er lachte verlegen. „Aber kurz davor war ja eine andere Hochzeit in der Stadt gewesen, eine große Feier mit viel Essen – ich dachte, du meintest, du willst mit mir auch ein solches Fest veranstalten und wie könnte ich etwas dagegen haben?“ Es war typisch für ihn, deswegen ärgerte es sie auch nicht, sondern brachte sie nur dazu, weiter zu lächeln. „Inzwischen weißt du es ja aber hoffentlich besser“ „Natürlich. Spätestens nachdem mein Vater es mir erklärt hat. Er war ein wenig entsetzt, als ich ihm sagte, dass ich heiraten will und ich ihn fragte, wie lange ich noch warten muss, bis ich es darf.“ Oriana lachte leise, als sie sich Richards Gesichtsausdruck nach dieser Frage vorstellte. Mit Sicherheit hatte er wieder einmal befürchtet, dass sein Sohn zu schnell erwachsen werden würde. „Weißt du eigentlich, dass jedes Paar, das sich unter den Kirschbäumen in Cherrygrove versprochen hat zu heiraten, am Ende glücklich wurde?“ Als sie ihm dieses Versprechen abgerungen hatte, war es ihr selbst nicht bewusst gewesen. Erst einige Jahre später war es ihr von ihrer Mutter erzählt worden und sie hatte sofort an ihr Versprechen mit Landis denken müssen. Er neigte den Kopf ein wenig, eine Geste, die zeigte, wie sehr ihm etwas gefiel, was aber nicht durch ein Lächeln oder durch Worte ausgedrückt werden konnte. „Dann haben wir ja eine gute Zukunft vor uns.“ „Es sieht ganz danach aus.“ Zu diesem Zeitpunkt wusste noch keiner von beiden, dass Fredianos Werben bald Früchte tragen und Oriana ihr Versprechen gegenüber Landis brechen würde, um zumindest für sieben Jahre eine glückliche Ehe führen zu können. Ein bisschen Magie ------------------ Dario Caulfield war genervt und das zeigte er auch durchaus deutlich. Seit sie von zu Hause aufgebrochen waren, hatte sich seine Miene kein Stück geändert. Missmutig blickte er durch die Gegend und fuhr sich immer wieder mit der Hand durch den schwarzen Bart, während Claudia ihren Sohn auf allerlei Dinge hinwies, die er durch das Fenster ihrer Kutsche am Wegesrand sehen konnte. Frediano genoss diesen Ausflug, immerhin unternahmen sie nicht oft etwas gemeinsam, da konnte selbst die gedrückte Stimmung seines Vaters nichts daran ändern. Aber Claudia schien davon doch äußerst abgelenkt zu sein. Immer wieder ging ihr Blick zu Dario hinüber und immer mal wieder öffnete sie den Mund, als ob sie etwas dazu sagen wollte, entschied sich dann aber doch anders und blickte wieder hinaus. Als Fußmarsch wäre es ein weiter Weg zu dem See gewesen, an dem die Kutsche schließlich hielt, aber wenn man die Strecke fuhr, dauerte es weniger als eine Stunde. Frediano wünschte sich, dass sie öfter dorthin fahren würden, er war gerne an diesem See, aber sein Vater war meist beschäftigt, seine Mutter krank – und allein wollte er auch nicht fahren. Er fürchtete sich nicht, immerhin war er davon überzeugt, dass es keine Gefahr auf dieser Welt geben könnte, die ihm körperlich schaden würde, aber er befürchtete, dass es langweilig sein könnte oder einfach nicht dasselbe. Möglicherweise war es gar nicht der See, den er so sehr mochte, sondern die Zeit, die er gemeinsam mit seinen Eltern dort verbrachte. Selbst wenn Dario schlecht gelaunt war, wie so häufig, wenn sie zusammen unterwegs waren, es war schon ein fester Bestandteil ihrer Ausflüge geworden. Als die Kutsche hielt, verließ Dario sie als erstes, um danach seiner Frau und im Anschluss seinem Sohn aus dem Gefährt zu helfen. Sein Blick ging missmutig umher, wie jedesmal, wenn ihm wieder einfiel, dass es an diesem See absolut nichts Interessantes zu sehen gab und er nicht einmal der Arbeit nachgehen könnte, so weit weg von seinem Büro. „Liebster.“ Claudias Stimme durchbrach das eingetretene Schweigen. „Sei nicht so mürrisch. Es wird dir bestimmt noch gefallen.“ Ihre sanfte Zurechtweisung ihres Mannes sorgte dafür, dass dieser sie für einen Moment nur unverwandt ansah. Frediano hätte dafür bereits eine Rüge bekommen, aber bei Claudia ließ er es durchgehen, denn statt etwas darauf zu erwidern, wandte er einfach nur wieder den Blick ab und zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“ Es war Frediano schon oft aufgefallen, aber in diesem Moment wieder einmal verstärkt: Dario war wesentlich weniger streng gegenüber Claudia als er es sonst war, egal bei wem. Den Hausmädchen war das ebenfalls aufgefallen, sie kicherten hinter vorgehaltenen Händen darüber und diskutierten, was Claudia wohl hinter verschlossenen Türen alles tat, um Dario derart an der kurzen Leine zu halten. Aber Frediano wusste es besser. Es war nichts, was sie tat, wenn sie allein mit ihrem Mann war, nein, im Gegenteil, sie machte es ganz offen vor allen anderen Leuten, vor jedem, der hinsah – aber kaum einer von ihnen schien das zu bemerken. Dabei war es so offensichtlich, fand er zumindest. Wenn sie etwas von Dario wollte und er ihr in die Augen sah, murmelte sie etwas, ganz leicht, kaum wahrnehmbar, bewegte sie dann ihre Lippen, worauf ihre blauen Iriden noch strahlender als sonst erschienen. Wenn sie dann wieder verstummte und ihre Augen zur Normalität zurückkehrten, tat Dario alles, was sie wollte, ohne dass es ihm wohl bewusst war. Frediano wusste nicht, was es war, das sie tat oder wie sie es tat und nicht einmal warum. Aber er vermied es auch, sie danach zu fragen, denn in seinem bislang nicht sonderlich langen oder aufregenden Leben von elf Jahren hatte er bereits mehrmals schmerzhaft gelernt, dass zu viele Fragen Konsequenzen nach sich zogen – vor allem wenn sie der falschen Person gestellt wurden. Claudia lief gemeinsam mit Dario los, Frediano blickte ihnen hinterher. Egal wie er es drehte und wendete, selbst wenn er die beiden so beobachtete, kam es ihm nicht so vor als wären sie eine Familie. Obwohl Claudia nach Darios Arm gegriffen hatte, lief dieser einen Schritt entfernt von ihr, es war fast schon grotesk, wie sie versuchte, den Eindruck eines Liebespaares aufrecht zu halten, während er die Distanz wahren wollte. Mit langsamen Schritten folgte er ihnen und lief nach kurzer Zeit bereits neben ihnen. Claudia wandte ihm den Kopf zu und lächelte, aber sie bot ihm nicht die Hand an. Möglicherweise aus bloßer Gedankenlosigkeit oder weil sie ihn für zu alt dafür befand, aber für Frediano war es ein deutliches Zeichen, dass sie ihn zumindest nicht im Moment als Teil ihrer Familie sah. Direkt am See angekommen, hielten sie schließlich wieder inne. Dario riss sich mit einer ruckartigen Bewegung wieder los und ging einige Schritte in eine andere Richtung davon. „Was ist los mit ihm?“, fragte Frediano. Die Abweisung seines Vaters war er schon lange gewöhnt, sie schmerzte nicht mehr, aber dass er dasselbe auch mit Claudia tat, war neu. Oder es fiel ihm das erste Mal an diesem Tag auf. Sie sah ihrem Mann fast schon ein wenig traurig hinterher. „Oh, ich weiß auch nicht. Vielleicht betrauert er noch den Tod von Lady Deirdre. Sie hat ja immerhin sehr... eng mit ihm zusammengearbeitet.“ Ihr Blick wurde augenblicklich finster, als sie an diese Frau dachte. Frediano erinnerte sich an Lady Deirdre als eine freundliche Kavalleristin und Vizekommandantin der Kavallerie. Sie und Dario hatten oft gemeinsam Überstunden gemacht, wenngleich einige der anderen Kavalleristen hinter vorgehaltenen Händen tuschelten, dass die beiden eine Affäre gehabt hätten – Frediano bekam viel von diesen geflüsterten Geschichten mit, allein dadurch, dass er aufmerksam beobachtete, ohne dass er dabei bemerkt wurde. Vor wenigen Wochen aber war Lady Deirdre tot aufgefunden worden. Viel hatte Frediano nicht über die Umstände ihres Todes erfahren, aber es war als Selbstmord klassifiziert worden, obwohl kein Abschiedsbrief zu finden gewesen war. Dafür erinnerte er sich deutlich an die Reaktion seiner Mutter auf dieser Nachricht, sie war nicht im Mindesten überrascht gewesen, eher zufrieden. Aber sein daraus folgender Schluss, dass sie damit irgendwie in Verbindung stand, wollte ihm gar nicht gefallen, deswegen verwarf er den Gedanken rasch wieder. „Er wird sich schon wieder beruhigen“, versicherte Frediano ihr, worauf sie zustimmend nickte. „Ja, das glaube ich auch, mein Lieber.“ Claudia lächelte ihm zu und blickte dann genau wie Dario, der mehrere Schritte entfernt wieder stehengeblieben war, auf den See hinaus. Die Wasseroberfläche war vollkommen glatt, nichts sorgte dafür, dass sie sich kräuselte oder Wellen schlug. Ein Anblick, der für Frediano unheimlich beruhigend war, aber seinem Vater sicherlich bald zu langweilig werden würde, so dass er in die Kutsche zurückkehren und darauf warten würde, dass auch die anderen beiden folgten. Claudia seufzte leise und hob ein wenig die Hand, um mit dieser auf das Wasser zu deuten. Bunte Funken begannen von ihren Fingern zu sprühen, zu einer unhörbaren Melodie in der Luft zu tanzen und dann im See zu verschwinden – aber nicht für lange, denn im nächsten Moment begann das Wasser an dieser Stelle zu brodeln und eine Fontäne schoss in die Höhe. Claudia vollführte eine Handbewegung, worauf sich die Säule zu biegen begann, so dass sie wie ein Bogen auf der Wasseroberfläche ruhte, die abspringenden Tropfen reflektierten das Sonnenlicht, worauf sich ein intensiver Regenbogen bildete, der direkt über der Wasserrundung thronte als sei er die exakte Kopie von dieser. Dario betrachtete das mit großem Interesse, Fredianos Aufmerksamkeit dagegen galt Claudia, deren Lächeln erloschen war, ihr Gesicht verriet, dass es ihr einiges an Anstrengung abverlangte, diesen Zauber aufrechtzuhalten. Ja, es musste ein Zauber sein, davon war er absolut überzeugt, selbst wenn sie es nie aussprach und er sie natürlich nie danach fragen würde. Die Fähigkeit, zu zaubern, war gar nicht so unbekannt in Király, wenngleich nur die wenigsten davon Gebrauch machten. Es galt als anstrengend und wenn man nicht über magisches Blut verfügte, war es ein fast aussichtsloses Unterfangen, brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Als Claudia schließlich erschöpft ihre Hand sinken ließ, verschwand die Wasserfontäne, während der Regenbogen nur langsam verblasste. Aber sie hatte ihr Ziel offensichtlich erreicht, denn Darios Interesse an dem See war wieder geweckt. Frediano hörte, wie er aufgeregt zu murmeln begann, wie er es immer tat, wenn er etwas besonders Tolles beobachtet hatte, aber wie eh und je war für Außenstehende – besonders auf diese Entfernung – nichts zu verstehen. Claudia dagegen lächelte ihrem Sohn zu. „Na, habe ich das nicht wieder fein hingekriegt?“ Er war versucht, sie endlich zu fragen, wie sie das tat, aber stattdessen nickte er nur und folgte ihr dann zu Dario hinüber, der ihnen dieses Mal nicht auswich. Der Kommandant war immer noch von dem Schauspiel fasziniert und wie Frediano wusste, würde das auch den Rest des Tages anhalten, selbst wenn sie später wenige Schritte entfernt ihr Mittagessen zu sich nahmen, würde sich Darios Gesprächsthema nur darum drehen. Aber das störte Frediano nicht. Immerhin waren sie alle zusammen, so selten wie das auch vorkam und außer ihnen gab es nur noch den Kutscher, der sich allerdings nicht um sie scherte. Sie waren in diesem Moment eine Familie – und er ahnte noch nicht, dass es der letzte Ausflug dieser Art sein würde, bevor man ihn nach Cherrygrove abschob, einen Ort, den er bislang nur vom Hörensagen kannte. Somit konnte er diesen Ausflug in aller Ruhe genießen und sich wie so oft nur im Inneren fragen, was mit seiner Familie eigentlich nicht stimmte. Die Sorgen eines Vaters ----------------------- „Die Tests sind alle negativ – außer der hier, der ist positiv.“ Richard seufzte schwer, während er noch einmal die Ergebnisse durchging und sie dann nacheinander Kieran reichte, der ihm gegenübersaß und wie üblich seinen Tee trank. Wenn Richard so darüber nachdachte, hatte er seinen besten Freund noch nie Alkohol trinken sehen – obwohl Aydeen behauptete, dass er zu Hause nur noch trank –, nicht einmal in einer Taverne wie jener, in der sie sich an diesem Tag befanden. Stattdessen trank er immer diesen Tee, noch dazu mit äußerst seltsamen Kräutern, die Richard nicht im Ansatz kannte und deren Geruch ihm Übelkeit bereitete und er ließ nie jemanden davon probieren. Wenn er so darüber nachdachte, wusste er ziemlich wenig über seinen besten Freund, selbst die Gründe, warum er entlassen worden war, blieben ihm nach wie vor ein Rätsel. Aber im Moment war er mit anderen Dingen beschäftigt, weswegen er sich keine Gedanken darum machen konnte. Kieran betrachtete die Blätter eingehend, ehe er nickte. „Sieht aus als wäre dein Sohn vollkommen gesund – und in der Lage zu sprechen. Das sollte dich freuen.“ Richard nickte bedächtig. „Das tut es auch. Aber es macht mir Sorgen, dass er dennoch nicht spricht und auch kaum auf irgendwas reagiert. Er hat noch nicht einmal gelächelt. Yuina meinte, er könnte irgendeine... psychische Erkrankung haben.“ Deswegen hatte er Landis doch allen möglichen Tests unterziehen lassen, ihn sogar zu einem Arzt in New Kinging gebracht und für einen kurzen Moment mit dem Gedanken gespielt, seine Verachtung hinunterzuschlucken, so bitter sie auch sein mochte und Albert, der immerhin Wissenschaftler im medizinischen und magischen Bereich war, um eine Untersuchung zu bitten. Doch stattdessen hatte er sich auf die von Yuina empfohlenen Experten beschränkt, Landis zu jedem einzelnen gebracht und an diesem Tag hatte er die zusammengefassten Ergebnisse für alles bekommen. Dennoch fühlte er sich nicht sonderlich erleichtert. Er stieß ein schweres Seufzen aus, aber das Gewicht, das auf seine Brust drückte, wurde einfach nicht leichter. Früher hatte er nicht einmal gedacht, dass er überhaupt Vater werden wollte und hier saß er nun und machte sich Sorgen darüber, dass sein Sohn krank sein könnte. „Hat er denn noch nie etwas gesagt?“, fragte Kieran. „Nicht ein Wort. Und wie gesagt, er lächelt nie und manchmal habe ich das Gefühl, dass er nicht einmal weiß, dass es noch jemanden außer ihm gibt.“ Sein Blick ging geradewegs ins Leere, während er wieder nachzudenken begann. Er erinnerte sich an die zahlreichen Gelegenheiten, zu denen er versucht hatte, Landis in ein Spiel zu verwickeln, ihm etwas vorzulesen oder auch nur mit ihm zu schimpfen, aber kein einziges Mal war eine Reaktion gekommen, was ihm ziemlich zu schaffen machte und ihn ratlos zurückließ. Zu seiner Verwirrung trug auch seine Frau Asterea bei, die das alles nicht im Mindesten zu kümmern schien, nein, es kam ihm sogar so vor als ob sie ganz froh darüber wäre, dass Landis sich so absolut nicht am Leben der Personen um ihn herum beteiligte. Einmal hatte Richard sie darauf angesprochen, in der Hoffnung, seine Sorge mit jemandem teilen zu können, aber sie hatte ihn unwirsch darauf hingewiesen, dass Kinder manchmal eben seltsam waren und er sich schon wieder einkriegen würde, deswegen wäre es unnötig von ihm, einen solchen Terz zu veranstalten, danach war sie geradezu beleidigt aus dem Haus gerauscht und war bis zum nächsten Tag nicht zurückgekehrt. Danach hatte er sie nicht mehr darauf angesprochen, denn er spürte, auch ohne dass sie es aussprach, dass etwas sie schwer belastete. Schon seit der Geburt von Landis war sie vollkommen verändert, aber damals war es noch möglich gewesen, das auf postnatale Depressionen zurückzuführen, wie Yuina ihm erklärt hatte. Aber das war inzwischen fünf Jahre her und dürfte nicht mehr zutreffen. Kierans Stimme riss ihn plötzlich aus den Gedanken, erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass er unbewusst angefangen hatte, auf seinen Fingernägeln zu kauen. Hastig senkte er die Hand und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Kieran. „Wirklich ungewöhnlich für ein Kind“, bemerkte sein Freund. „Aber ich denke wirklich, dass du dir keine Sorgen machen musst und du dir deswegen keine Gedanken machen solltest.“ „Wieso sagst du das?“, klagte Richard. „Du weißt doch gar nicht, wie das ist, Nolan ist immerhin vollkommen normal.“ Das rechte Auge Kierans zuckte nervös, als er den Namen Nolan erwähnte. „Genau dieser hat mir versichert, dass Landis normal ist.“ Richard hielt in seinem weiteren Klagen inne und neigte verwirrt den Kopf. „Was?“ „Hast du das denn noch gar nicht mitbekommen?“ In Kierans Stimme schwang ein tadelnder Unterton mit, der Richard gar nicht gefallen wollte, aber er konnte sich gerade noch davon abhalten, eine bissige Bemerkung bezüglich ihrer unterschiedlichen Arbeitssituationen von sich zu geben, die erklären würde, weswegen er weniger mitbekam. Einen Streit mit seinem besten Freund und einzigem wirklichen Verbündeten, konnte er sich im Moment aber nicht leisten – aber er war auch ansonsten nicht sonderlich erpicht darauf. „Dein Sohn spielt jeden Tag mit Nolan“, erklärte Kieran mit einem leicht verärgerten Unterton in der Stimme. „Gut, er spricht vielleicht wirklich nicht oder ändert mal seine Mimik, aber er reagiert zumindest auf andere und interagiert sogar mit ihnen. Deswegen denke ich, dass du dir keine Gedanken machen musst.“ Es war ungewohnt für Richard, seinen Freund einmal so... gereizt zu erleben, deswegen wagte er nicht einmal im Mindesten, zu widersprechen. „Ist das wirklich so?“ „Nolan sagt, er fand ihn am Anfang ein wenig unheimlich... aber inzwischen verstehen sie sich wohl sogar ohne Worte recht gut.“ Kieran unterstrich die Worte mit einem Schulterzucken, ehe er die Tasse hob, um etwas zu trinken. Kaum hatte er das getan, schwand das bedrohliche Gefühl wieder, das von ihm ausgegangen war, so dass auch Richard sich wieder entspannen konnte. Er wunderte sich nicht mehr darüber, dafür kannte er seinen Freund und dieses Verhalten bereits lange genug, er vermutete einfach, dass der Tee half, ihn zu entspannen und zu beruhigen, wie auch immer das funktionieren könnte. Richard mochte keinen Tee, Asterea hatte vieles versucht, um ihn diesem schmackhaft zu machen, aber er verzichtete dennoch gerne darauf – und falls er doch einmal Tee trinken wollte, dann auch nur, wenn sich darin Alkohol befand und ihm selbst kalt war und er keine andere Möglichkeit fand, sich aufzuwärmen. Richard senkte den Blick und starrte in sein leeres Glas hinein, auf dessen Boden sich noch ein letzter kläglicher Rest Schaum befand, dennoch spielte er nicht einmal mit dem Gedanken, sich noch ein weiteres Bier zu bestellen, stattdessen sehnte er sich plötzlich danach, nach Hause zu gehen, sich ins Bett zu legen und so lange zu schlafen, bis die Probleme vorbeigezogen waren. Das passte normalerweise nicht zu ihm, aber im Moment fühlte er sich derart hilflos, dass er nicht wusste, was er sonst noch machen sollte. „Glaubst du, er wird irgendwann einmal etwas sagen?“ Kieran schmunzelte leicht. „Vermutlich sogar früher als du denkst, mach dir keine Gedanken mehr.“ Die Worte gingen ihm nicht aus dem Sinn. Selbst als er zu Hause angekommen war, hörte er sie noch immer so deutlich als würde Kieran neben ihm herlaufen und sie immer aufs Neue wiederholen. Deswegen fiel ihm im ersten Moment auch nicht auf, dass es überraschend ruhig in seinem Haus war. Normalerweise kam ihm Asterea bereits freudestrahlend entgegen und begrüßte ihn herzlich, aber an diesem Tag wartete er vergeblich darauf. Aus dem Wohnzimmer war noch Licht zu sehen, weswegen er dort hineinlugte. Auf dem Tisch war die Laterne zu sehen, die das Licht verbreitete, aber die Person, der es eigentlich zugute kommen sollte, lag auf dem Sofa – und schlief. Asterea ließ sich nicht einmal stören, als Richard neben sie trat, um sicherzugehen, ob sie wirklich schlief oder nur so tat als ob. Sie verzog für einen kurzen Moment das Gesicht wegen des entstandenen Luftzugs, aber wachte dennoch nicht auf. Lächelnd wandte er sich ab, um das Schlafzimmer aufzusuchen. Nicht, um ins Bett zu gehen und sie dort liegen zu lassen, damit sie am nächsten Tag neben einer Erkältung auch noch Nackenschmerzen bekommen würde, sondern weil er sich erst einmal selbst umziehen wollte, ehe er Asterea ins Bett brachte, so würde er sie am wenigsten in ihrem Schlaf stören. Doch nach wenigen Schritten aus dem Wohnzimmer hinaus, blieb er wieder stehen. Landis stand auf der letzten Treppenstufe von unten, er trug bereits seinen Pyjama, der ihm wie üblich ein wenig zu groß zu sein schien, aber Yuina hatte ihm versichert, dass er noch hineinwachsen würde, wenn Richard ein wenig Geduld zeigte. In der letzten Zeit schien sie doch reichlich genervt von seiner ewigen Sorge zu sein, so dass sie ihm sogar einmal ein Beruhigungsmittel mitgegeben hatte, das sie, nach eigener Aussage, eigentlich nur panischen Müttern gab. Als er Landis so vor sich sah, musste er wieder an die Untersuchungsergebnisse und auch an Kierans Worte denken. Er versuchte, ein wenig optimistisch, statt verzweifelt an die Sache heranzugehen und beugte sich mit einem Lächeln vor. „Kannst du nicht schlafen, Landis?“ Er erwartete keine Antwort, nicht einmal eine richtige Reaktion auf seine Frage, weswegen er am Liebsten fast schon laut gejubelt hätte, als Landis den Kopf ein wenig neigte und dabei ein entschuldigendes Lächeln aufsetzte. Sein Glück schien allerdings geradezu perfekt, als sein Sohn den Mund öffnete und im nächsten Moment tatsächlich etwas sagte: „Ich wollte warten, bis du wieder da bist.“ Richards Kopf war für einen Moment wie leergefegt, Glück durchströmte ihn in einer Intensität, die er nur selten so verspürte, aber gleichzeitig kam auch die Furcht daher, die ihm einflüsterte, dass er sich das eben nur eingebildet hatte, dass Landis nichts gesagt hatte und möglicherweise gerade nicht einmal vor ihm stand. Das galt es zu überprüfen. „Du hast auf mich gewartet?“, hakte er nach. Landis nickte lächelnd. „Es ist komisch, wenn nicht alle da sind.“ Gut, also hatte er sich das Sprechen an sich nicht eingebildet, vielleicht aber Landis' Anwesenheit an sich. Um sicherzugehen trat er deswegen auf ihn zu und schloss ihn in die Arme – und erneut spürte er eine Woge von Glück durch seinen Körper rauschen, als er feststellte, dass Landis tatsächlich hier war und es sich deswegen nicht um eine Einbildung oder einen Wunschtraum handelte. Mein Sohn ist normal... Was auch immer der Grund für sein bisheriges Verhalten gewesen war, Richard hoffte, dass er sich fortan gesund und weniger besorgniserregend entwickelte, damit er sich nie wieder so viele Gedanken um seinen Sohn machen müsste – zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht einmal ahnen, was Landis ihm in der Zukunft für Kummer bereiten würde oder wie viele graue Haare er noch wegen ihm bekommen sollte. In diesem Moment lag das alles noch in einer fernen Zukunft, um die er sich vorerst keine Gedanken machen müsste, so dass er sich wieder von Landis löste. „Soll ich dich vielleicht zuerst ins Bett bringen?“ Der Junge nickte begeistert über diesen Vorschlag und schlang dann seine Arme um Richards Hals, damit er ihn auf die Arme nahm und in sein Bett brachte. Dort fand Asterea die beiden am nächsten Morgen, nachdem sie mit einem steifen Nacken erwacht und sich verwundert auf die Suche nach ihrem Mann gemacht hatte von dem sie es nicht kannte, einfach auf dem Sofa zurückgelassen zu werden. Sie musste lächeln, als sie Richard und Landis aneinandergeschmiegt, aber nicht zugedeckt, auf dem Bett entdeckte, beide mit einem durchaus zufriedenen Ausdruck auf den Gesichtern als würden sie etwas Schönes träumen. So konnte sie nicht einmal böse darüber sein, dass Richard sie einfach auf dem Sofa liegengelassen hatte und für den Moment war auch ihr Argwohn gegenüber Landis vollkommen verschwunden. Stattdessen fuhr sie herum, um in die Küche zu gehen und dort das Frühstück vorzubereiten, damit die beiden ihr während des Essens erzählen könnten, was in der letzten Nacht nur geschehen war. Willkommen zu Hause ------------------- Der Wagen ruckelte heftig, als der Fahrer sich entschloss, den befestigten Weg zu verlassen. Kieran hob nicht einmal den Kopf, er war es bereits gewohnt, dass seine Mitfahrgelegenheiten es vorzogen, abseits der offiziellen Routen zu reisen. Er fragte nicht, weswegen und sie berechneten ihm keinerlei Kosten für diese Mitnahme. Aus Gründen, die ihm selbst nicht wirklich bewusst waren, warf er immer wieder einen Blick in den Jutebeutel, den er auf seinen Reisen stets mit sich führte, um den Inhalt zu überprüfen. Es waren drei rote Äpfel – Dipaloma, die Lieblingssorte des kleinen Nolan –, ein kunstvoll verzierter Fächer – Aydeen hing diese gern als Wandschmuck aus – und eine Flasche Wein, die normalerweise geradezu unerschwinglich für ihn wäre, ihm aber als Geschenk des Auftraggebers zusätzlich zur finanziellen Entlohnung mitgegeben worden war. Dabei war der Dämon kaum eine Herausforderung. Er war in Gestalt einer Katze erschienen, die Schnelligkeit und die hervorragenden Reflexe waren die einzig wirklich schlimmen Attribute dieses Wesens gewesen. Nichts, was er nicht kontern könnte, besonders da der Dämon nicht sonderlich intelligent gewesen war, so dass er lediglich die Laufbahn seines Gegners abschätzen und dann einen gezielten Bolzen hatte feuern müssen. Dementsprechend fand er die Belohnung viel zu hoch, aber er war auf dieses Geld angewiesen – und noch dazu bedeutete es, dass er so schnell nicht mehr von seiner kleinen Familie fort müsste. Er lächelte unwillkürlich, während er an Aydeen und Nolan dachte und auch daran, sie bald wiederzusehen. Sie waren keine Familie im traditionellen Sinne, sicherlich, aber Kieran war vollauf damit zufrieden, denn allein der Gedanke daran, dass andere sie als solche sahen, machte ihn glücklich. Irgendwie erbärmlich. Ich habe mir eine falsche Frau und einen falschen Sohn gesucht und bezeichne das jetzt wirklich als Verwandtschaft... Aber ob falsch oder nicht, er konnte kaum leugnen, dass er sich inzwischen selbst als Vater sah und diese beiden als seine... Familie. Sich von ihnen zu trennen, wenn er zu einem neuen Auftrag aufbrach, wurde mit jedem Mal schwerer für ihn. Es kam ihm vor als würde er Nolans Fortschritte in seiner Entwicklung verpassen und das gefiel ihm nicht, auch wenn er ihn ursprünglich nur aufgenommen hatte, um ihn zu einem Lazarus auszubilden. Doch je mehr Zeit er mit dem fröhlichen Jungen verbrachte, umso mehr geriet sein Entschluss ins Wanken. Und Aydeen wäre sicher auch nicht sehr glücklich darüber... Sie liebte ihn ebenfalls wie einen eigenen Sohn und wollte nur das Beste für ihn, wie eine echte Mutter eben. Wir sind eben eine Familie... Den Rest der Fahrt hing er weiterhin seinen Gedanken nach, bis der Wagen in der Nähe von Cherrygrove endlich wieder anhielt. Kieran bedankte und verabschiedete sich von dem Fahrer und machte sich dann auf dem Weg zu seinem Haus. In der Woche seiner Abwesenheit hatte sich nichts Großartiges verändert, was ihn ein wenig erleichterte, weil es ihm wieder zeigte, dass er sich lediglich einbildete, jahrelang fort zu sein, während er im Auftrag der Gilde Dämonen jagte. Die Bewohner, die ihm begegneten, begrüßten ihn freundlich, wenn auch oberflächlich, da er ohnehin eher selten etwas mit ihnen zu tun hatte. Es genügte ihm, mit seiner kleinen Familie und auch seinen wenigen Freunden Kontakt zu halten. Von letzteren sah er im Moment niemanden, er nahm an, dass sie entweder gerade zu Hause oder allesamt auf der Wachstation bei der Arbeit waren. Bei seinem Haus angekommen, atmete er erst einmal tief durch, ehe er das Gebäude betrat. Der bekannte und vertraute Geruch, der ihm sagte, dass er zu Hause angekommen war, hieß ihn willkommen und umgab ihn sofort wie ein schützender Kokon. Allein deswegen liebte er seine kleine Familie, denn früher hatte er nie einen Ort gekannt, den er als seine Heimat bezeichnen könnte – aber nun gab es dieses Haus und Aydeen und Kieran. Er folgte den Geräuschen, die auf das Aufeinanderschichten von Holzklötzen hinwies und wurde von diesen in das kleine Wohnzimmer geführt. Im Türrahmen stehend, beobachtete er Nolan, der auf dem Boden kniete und hochkonzentriert mit den Klötzen spielte, um seine noch mangelnde Feinmotorik eines Dreijährigen auszugleichen. Aydeen saß ihm gegenüber und lächelte sanft, während sie ihn beobachtete. Sie hob als erstes den Blick und als sie Kieran entdeckte, glaubte dieser, ein freudiges Glitzern in ihren Augen wahrnehmen zu können, was ihn ebenfalls lächeln ließ. Sie sprach ihn allerdings nicht an, sondern blickte erneut zu Nolan. „Sieh mal, wer wieder da ist.“ Er musste sich offensichtlich nicht erst fragen, wovon sie wohl sprechen könnte, er sprang sofort auf und lief auf Kieran zu. „Papa!“ Eigentlich legte er keinen großen Wert auf körperliche Nähe oder Berührungen jeder Art, aber wenn Nolan so freudestrahlend auf ihn zugerannt kam, konnte auch Kieran nicht anders: Er ging in die Knie und schloss den Jungen in seine Arme. „Endlich bist du wieder da“, sagte der Junge freudestrahlend, während er sich an ihn schmiegte. Kieran löste sich vorsichtig wieder von ihm. „Hast du mich vermisst?“ „Aber natürlich“, antwortete Nolan mit dem selbstverständlichen Ton eines Kindes, das glaubte, die gesamte Welt zu kennen. „Hast du mir etwas mitgebracht?“ Kieran griff in seinen Beutel und zog die drei Äpfel hervor, worauf Nolans gespannte Mimik sich in eine vor Freude übersprühende verwandelte. „Dipaloma-Äpfel!“ Er nahm ihm die Früchte sofort ab und betrachtete sie in seinen Händen, als wären sie kostbare Juwelen, die ihm den Reichtum bis ans Ende seines Lebens garantieren würden. Kieran hatte sich lange gefragt, warum Nolan so begeistert von diesen eher durchschnittlichen Äpfeln war, aber dann war ihm schnell der Einfall gekommen, dass er nicht unschuldig daran war – und zwar wegen der folgenden Worte: „Denk daran, wenn du sie gegessen hast, die Kerne zu vergraben und dir etwas zu wünschen. Wenn die Kerne keimen, wird dein Wunsch wahr.“ Nolan nickte begeistert und war bereits in seine eigene Gedankenwelt vertieft, weswegen Kieran aufstand und sich nun Aydeen gegenübersah. Sie lächelte so sanft und geradezu beruhigend, einer der Gründe, warum Kieran so gern bei ihr war. Egal wie vielen Schrecken er sich gegenübersah, wenn er seine Aufträge erfüllte, sobald er Aydeens Lächeln sah, verblasste all das und ließ sein Inneres friedlich und ruhig werden. „Es ist schön, dass du wieder da bist“, sagte sie mit dieser liebevollen Stimme, die einfach jeden in ihren Bann schlagen musste. „Ja, ich bin auch froh“, sagte er seufzend und blickte ihr weiterhin in die gütigen Augen, die ihn bereits vergessen ließen, weswegen er überhaupt fortgewesen war. Sie neigte lächelnd den Kopf und sagte die schönsten Worte, die er jemals gehört hatte: „Willkommen zu Hause, Kieran.“ Vom Fortgehen und Bleiben ------------------------- Mit einem trotzigen Gesichtsausdruck saß der Junge vor dem aufgewühlten Erdhügel, der lediglich mit einem ungeschickt behauenen Stein, der darauf lag, verriet, dass er kein gewöhnliches Stück Erde war, sondern als improvisiertes Grab diente. Auf dem schmutzigen Gesicht des Jungen waren Spuren von Tränen zu erkennen, sie hatten den Dreck abgewaschen und einen deutlich sichtbaren, fast schon zu hellen weißen Streifen hinterlassen. Er weinte nun nicht mehr, die Tränen waren versiegt, während er das Grab wieder zugeschaufelt hatte, aber noch immer weigerte er sich regelrecht, aufzustehen und diese Stelle zu verlassen. Stur starrte er auf den Stein als hoffte er, was da begraben war, würde wieder hervorkriechen und zu ihm zurückkehren, auch wenn er wusste, dass dieser Gedanke lächerlich war. Das hielt allerdings nicht lange an, da sich plötzlich ein braunhaariger Mann neben ihn setzte. Der Junge hob nur kurz den Kopf, erkannte den Mann als seinen Vater und blickte dann wieder auf das Grab. „Oh Richard“, seufzte der Mann, dessen Name Roland lautete. „Bist du immer noch hier?“ „Siehst du doch“, erwiderte Richard trotzig und wandte demonstrativ den Kopf in die andere Richtung, damit er seinen Vater nicht einmal aus den Augenwinkeln sehen müsste. Nachdenklich fuhr sich Roland mit der Hand durch den Bart, der gerade im Wachsen begriffen war und endlich Kinn und Wangen mit einem Flaum statt Stoppeln überzog, so dass es angenehm war, darüber zu streichen. „Du trauerst also immer noch?“ Richard presste die Lippen aufeinander, statt zu antworten, wenn es doch ohnehin offensichtlich war. Aber da Roland nichts mehr sagte und ihm das Schweigen zu drückend wurde, entschied er sich schließlich doch das Erstbeste zu erwidern, das ihm einfiel: „Er war mein Hund und mein bester Freund. Ich kann Calum nicht einfach allein lassen!“ Er schwieg einen Moment, ehe er leise schnaubte und murmelnd hinzufügte: „Auch wenn er mich alleingelassen hat.“ Diese Worte ließen Roland sanft lächeln. „Du hast das Gefühl, dass er dich alleingelassen hat?“ Nun wandte Richard sich ihm endlich wieder zu, das Gesicht vor Wut und Trauer verzerrt. „Natürlich hat er das! Immerhin ist er fortgegangen! Ohne mich!“ Seine Worte unterstrich er mit wedelnden Handbewegungen, die vermutlich symbolisieren sollten, dass sein Hund in den Himmel gegangen war, so wie seine Mutter es ihm erzählt hatte. Roland überlegte, was er ihm nun erzählen sollte, was nicht einfach war. Maria, Richards Mutter, hatte ihm bereits gesagt, dass Calum sehr müde gewesen war und nun lange schlafen musste und der beste Ort dafür der Himmel war, wo sie beide sich eines Tages wiedersehen würden. Offenbar funktionierte das allerdings nicht bei Richard, der immer noch wütend auf seinen Freund war, der ihn einfach verlassen hatte. Also musste er es anders angehen: „Du weißt doch, dass jeder einmal stirbt, oder?“ „Ja“, brummte Richard unversöhnlich. „Weißt du, sterben ist wie ein sehr langes Fortgehen, nach dem man sich nicht wiedersieht. Vermutlich nicht einmal im Himmel.“ Sein Sohn sah ihn an, als wollte er ihn fragen, ob diese ganze Sache wirklich sein Ernst sei, weswegen er lieber fortfuhr: „Aber eigentlich ist dieser Jemand nicht wirklich fort. Er bleibt immer bei uns. Hier“ – er berührte Richards Stirn und legte die Hand dann auf sein Herz – „und hier.“ Endlich schwand der Ärger vom Gesicht seines Sohnes, damit ausreichend Platz für den verwirrten Ausdruck entstand. Genau die Reaktion, die Roland sich erhofft hatte. „Calum bleibt immer in deiner Erinnerung und in deinem Herzen. Auch wenn er fortgeht, wirst du dich an ihn erinnern können und dann wird es sein als wäre er wieder bei dir.“ Misstrauen flackerte in Richards Augen, die gerunzelte Stirn zeigte, dass er noch nicht so recht wusste, ob er seinem Vater wirklich glauben sollte. Aber schließlich entschied er sich offenbar dazu, es einfach mal auszuprobieren und schloss die Augen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis er plötzlich zu lächeln begann und die vor Begeisterung strahlenden Augen wieder öffnete. „Es funktioniert tatsächlich!“ In diesem Moment war Roland froh, dass Richard in seinem jungen Alter noch leicht zu beeinflussen und fantasievoll war, so dass dieser Ratschlag sofort den gewünschten Erfolg erzielt hatte. Maria wäre vor Besorgnis gestorben, wenn Richard tagelang hier draußen gesessen wäre. Roland stand wieder auf. „Also komm, lass uns gehen. Deine Mutter wartet schon auf uns – und deine Schwester auch.“ Bei der Erwähnung dieser beiden, sprang Richard auch sofort wieder auf seine Füße. „Dann sollten wir besser schnell gehen! Sonst weint Kathreen wieder!“ Roland nickte zustimmend, aber dennoch wandte sein Sohn sich noch einmal dem Grab zu. Er legte eine Hand auf sein Herz und neigte den Oberkörper leicht nach vorne. „Mach es gut, Calum.“ Dann folgte er Roland geradezu fröhlich zur Stadt zurück und selbst der Erwachsene und eigentlich Vernünftige der beiden glaubte in diesem Moment, den Umriss Calums zu sehen, der neben Richard herlief als wäre er nie wirklich fortgegangen. Viele Jahre später war Richard nicht mehr sonderlich von dieser Theorie seines Vaters überzeugt. Im Gegenteil sogar. Die Erinnerungen an die Verstorbenen – zu denen nun auch Kieran gehörte – waren schmerzhaft und stachen in seiner Brust statt ihn in warme, tröstende Umarmungen zu hüllen. Ungewöhnlich deprimiert saß er auf dem Sofa seines Wohnzimmers und starrte auf die Zeitung, die auf seinem Schoß lag, ohne auch nur zu registrieren, was überhaupt darin stand. Im Haus herrschte Stille, da Landis bei Nolan war, dabei war dies das erste Mal, dass Richard eine Ablenkung durch die beiden der Leere seiner Gedanken vorgezogen hätte. Es war diese Zeit seines Lebens, dieser Tag, an dem er wirklich zu schätzen lernte, wie wertvoll es war, jemanden an seiner Seite zu haben, statt aus Furcht vor weiteren Verlusten jeden von sich fernzuhalten. Asterea kam mit überraschend ernster Miene herein, setzte sich ungefragt neben ihn und reichte ihm eine Tasse mit Tee, die sie mit sich trug. Sie sagte nichts, was er nicht von ihr gewohnt war und obwohl er kurz zuvor noch dankbar für jede Art von Lärm gewesen wäre, war er nun froh, dass sie schwieg. Er nahm ihr die Tasse ab und bedankte sich mit einem knappen Nicken, dann sah er wieder auf die Zeitung hinab. Er nahm keinen Schluck aus der Tasse, sondern ließ sich lediglich von dem Inhalt wärmen, während er das Gefäß in den Händen hielt. Asterea schmiegte sich an ihn und so verbrachten sie beide den Rest des Tages damit stumm nach Trost zu suchen und schweigend diesen zu spenden und langsam – nur schleichend – hörten die Erinnerungen wieder auf zu stechen und kehrten mit den warmen Umarmungen zurück, die Richard bereits sein ganzes Leben begleitet hatten und es auch weiterhin tun würden. Niemals allein -------------- Es war einfach unmöglich, Ruhe zu finden, so kam es ihm vor. Selbst wenn er die Augen schloss und zu schlafen versuchte, hörte er ständig Stimmen, fühlte wie ihm körperlose Wesen an den Schultern packten, um ihm etwas ins Ohr zu schreien, wie sie ihm mit knochigen Fingern in die Seite stachen, um ihn zu quälen und niemals zur Ruhe kommen zu lassen. Eine Flucht schien ihm aussichtslos, egal wie sehr er zu rennen versuchte, er schaffte es nicht, sich von der Stelle zu bewegen oder diesen Wesen zu entkommen. Schließlich gelang es ihnen sogar, ihn am Arm zu packen, ihn zurückzuziehen und sogar seinen Namen zu rufen, sie kreischten diesen geradewegs in sein Ohr, ohne dass er es schaffte, sich dagegen zu wehren, egal wie heftig er das versuchte. „Nun wach endlich auf, Nolan!“ Schlagartig riss er die Augen auf – und befand sich nicht mehr in einer von Monstern bevölkerten Dunkelheit, sondern mitten in seinem gut beleuchteten Klassenzimmer, wo er von seinen neugierigen Mitschülern betrachtet wurde. Sein Lehrer, Sir Ceanan, hatte die Hand auf seine Schulter gelegt, er blickte ein wenig genervt, was dazu führte, dass die Narbe über seinem rechten Auge merkwürdig zu zucken schien. Nolan musste sich davon abhalten, sie anzustarren und seinen Blick auf die Nase des Mannes zu konzentrieren. „Warum schläfst du eigentlich immer im Unterricht ein?“, beklagte Ceanan sich. „Ist er denn wirklich so langweilig?“ Kollektives Kopfschütteln antwortete ihm darauf, aber Nolan sammelte erst seine Gedanken, ehe er selbst dazu kam, etwas zu sagen: „Nein, natürlich nicht. Ich komme nur zu Hause nicht viel zum Schlafen.“ Die Neugier wandte sich wieder Nolan zu, jeder wollte wissen, warum er so wenig Schlaf fand, aber er sagte nichts mehr, genausowenig wie Ceanan noch etwas fragte und stattdessen lieber wieder zu seinem Platz vor der Klasse zurückkehrte, um den Unterricht fortzusetzen. Das enttäuschte Raunen ging durch alle Anwesenden, aber keiner von ihnen sagte noch etwas dazu. Erst als Ceanan wieder an der Tafel stand, mit dem Rücken zur Klasse, spürte Nolan erneut, wie etwas in seine Seite stach. Er wandte den Blick nicht in jene Richtung, da er ohnehin wusste, wer da versuchte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber zumindest an diesem Tag wollte Nolan erst einmal keinen Ärger mehr mit Ceanan haben. Die Person neben ihm gab allerdings nicht auf und versuchte es nun sogar mit „He, No!“, als ob er tatsächlich glaubte, dass sein Freund das Stechen nicht bemerken würde. Nolan ignorierte ihn entschlossen – aber das half offenbar nicht. Ceanan hielt nicht einmal beim Schreiben an die Tafel inne. „Landis, Nolan, ihr werdet nach der Stunde dableiben und saubermachen. Ihr anderen macht bis dahin noch ein wenig Müll, klar?“ Das war etwas, das sich kaum einer zweimal sagen und Nolan genervt seufzen ließ. Immerhin ließ Landis ihn den Rest der Zeit in Ruhe – jedenfalls bis sie dann schließlich das Klassenzimmer saubermachen mussten. „Warum ignorierst du mich denn während des Unterrichts?“, fragte Landis geradezu vorwurfsvoll, während er den Papiermüll aufsammelte, der von den anderen Schülern hinterlassen worden war. Nolan presste die Lippen aufeinander. Das Gefühl des nassen Schwamms in seiner Hand mit dem er die Tafel säuberte, zehrte an diesem Tag an seinen Nerven, so wie alles andere, da er zu wenig geschlafen hatte und weswegen er zuerst nicht antworten wollte, weil er genau wusste, dass es ihm direkt aus der Hand gleiten würde. Doch da er wusste, dass Landis nicht eher nachlassen würde, antwortete er schließlich doch noch und wandte sich dafür von der Tafel ab: „Weil dann immer so etwas passiert! Du spielst verrückt und ich muss es dann mit dir ausbaden!“ Sein Freund hielt inne und sah ihn mit einem Blick an, den Nolan nur zu gut kannte: Er verriet, dass er keine Ahnung hatte, wovon der andere eigentlich sprach. „Bislang hat es dich auch nicht gestört.“ „Bislang hatte ich meinen Vater, der sich daran störte“, erwiderte Nolan unbeeindruckt. Anfangs hatte er sich erleichtert gefühlt über Kierans Tod – aber je mehr Zeit verging, desto mehr bemerkte er, wie sein Vater von Sorgen geplagt worden sein musste, die nun langsam auf ihn übergingen und seinen Rücken zu krümmen versuchten. Er machte sich Gedanken über seine Zukunft, über seine Kontakte, viele Sachen, über die er zuvor niemals auch nur im Ansatz nachgedacht hatte. Aber sie führten ihn allesamt zu dem Schluss, dass es nicht weitergehen konnte wie bisher. Er musste etwas ändern – selbst wenn das bedeutete, dass er seinen besten Freund... Nein, er wollte den Gedanken nicht beenden, denn allein zu denken, dass er und Landis keine Freunde mehr sein könnten, schnürte seine Kehle zusammen. Ohne seine Eltern und ohne Landis wäre er vollkommen allein, auch wenn da noch alle anderen Einwohner von Cherrygrove waren, niemand stand ihm so nahe wie sein bester Freund. „Ich dachte, ohne Onkel Kieran wärst du all diese Sorgen endlich los“, bemerkte Landis seufzend und ging in die Knie, um etwas unter einem Tisch hervorzuholen und Nolan nicht einmal anzusehen. „Bin ich jetzt auch deiner Meinung nach ein schlechter Einfluss?“ Seine Stimme klang ein wenig brüchig als wäre er kurz davor zu weinen und konzentrierte sich deswegen auf den Papiermüll. „Nein, natürlich nicht!“, erwiderte Nolan hitzig, nur um gleich darauf wieder ein wenig kleinlaut zu werden. „Zumindest nicht wirklich. Aber du musst doch zugeben, dass du gern für Stress sorgst, oder? Und das aus Langeweile, oder?“ „Langeweile würde ich es nicht nennen...“ Aber mehr konnte Landis dazu auch nicht sagen, denn offenbar wusste er auch nicht, weswegen er das eigentlich immer tat. Laut Richard war es eine fehlerhafte Aufmerksamkeitsspanne, aber Yuina erwiderte stets, dass Landis ein gesunder junger Teenager war – und dass es sich dabei um sein größtes Problem handelte. „Soll das heißen, du willst mir jetzt sagen, dass wir keine Freunde mehr sein können?“ Als der andere das so aussprach, glaubte Nolan, von einer Faust in den Magen getroffen zu werden, die ihm gleichzeitig jeglichen Sauerstoff aus den Lungen presste. „Nein!“, widersprach er atemlos und fast schon eine Nuance zu hoch. „Sicher nicht! Aber... solltest du nicht vielleicht auch mal nachdenken? Über alles?“ Den leeren Blick seines Freundes kannte er ebenfalls, aber so ganz wusste er noch immer nicht, was dieser bedeutete. In solchen Momenten kam es ihm immer vor als würde Landis sich an etwas erinnern, das er eigentlich gar nicht mehr wissen wollte. Im nächsten Augenblick blinzelte er allerdings bereits wieder. „Ja, ich werde mal darüber nachdenken. Aber was mich mehr interessiert...“ Er neigte den Kopf und sah Nolan traurig an. „Seit wann hast du solche Albträume?“ „Du hast es mitbekommen?“ Landis stemmte die Hände in die Hüften und vergaß nun endgültig den Papiermüll. „Natürlich habe ich das! Wir sind beste Freunde! Ich habe deine Augenringe bemerkt, dass du im Unterricht immer öfter einschläfst und dass du dann sehr unruhig träumst.“ Nolan seufzte leise und erzählte ihm von den Dämonen, die er in seinen Träumen immer wieder sah, die ihn verfolgten und deren Anwesenheit er sogar im wachen Zustand zu spüren glaubte. Landis lauschte dem verstehend und kam dann wie gewohnt zu einer Antwort: „Du solltest die nächste Zeit bei uns bleiben! Mama und Papa freuen sich bestimmt!“ Er wollte widersprechen, aber Landis ließ ihm keine Gelegenheit dazu: „Wir räumen jetzt schnell zusammen weiter auf und dann gehen wir zu mir. Da geht es dir dann bestimmt bald besser.“ Mit ein wenig Überzeugungskraft brachte er Nolan dazu, gemeinsam mit ihm weiter sauberzumachen und schließlich die Schule zu verlassen, damit sie zu ihm, Asterea und Richard gehen konnten. „Du wirst bestimmt gut schlafen bei uns“, erklärte Landis. „Ich weiß nicht warum, aber ich habe immer das Gefühl, dass unser Haus wesentlich geschützter ist als sonst eines, meinst du nicht auch?“ „Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht“, meinte Nolan, „aber es könnte schon sein. Mein Vater meinte immer, dass Tante Asti irgendwie ganz anders ist als alle anderen Menschen...“ Während er weiter mit Landis redete, spürte er, wie ein Gewicht von ihm abfiel und ihn befreite. Es war lange her, seit sie zuletzt so unbeschwert miteinander gesprochen hatten, es war ihm regelrecht vorgekommen als hätten sie sich voneinander entfernt – und nun waren sie sich wieder so nah wie zuvor, was ihn mit einer angenehmen Ruhe erfüllte. Jedenfalls bis er plötzlich etwas hinter sich spürte. Er hielt inne und fuhr herum, aber dort war nichts zu sehen. Weder etwas Gefährliches noch etwas Unbedenkliches. Aber das Gefühl, dass etwas da war und lauerte, ließ ihn einfach nicht los. „Alles okay?“, fragte Landis. Nolan wandte sich von dem Etwas ab und wieder seinem Freund zu. „Ah, es ist nichts, lass uns weitergehen, ja? Ich habe Hunger.“ „Dann schraub die Erwartungen nicht zu hoch“, riet Landis ihm lachend. „Meine Mutter kocht immerhin nicht sonderlich gut.“ „Also da würde ich dir widersprechen. Ich erinnere mich nur an...“ Weiter plaudernd setzten sie ihren Weg fort, so bemerkte keiner von ihnen den Lichtblitz hinter ihnen, der das Etwas, das Nolan aufgelauert hatte, mit einem Streich vernichtete. Die ebenfalls unsichtbare Gestalt, die einem Geist glich, blickte Nolan hinterher und wäre es einem möglich gewesen, dieses Wesen zu sehen, hätte er durchaus erkannt, dass es Kieran glich, der vor wenigen Monaten erst verstorben und offenbar nicht in der Lage war, seinen Sohn allein zu lassen. Aber da es niemandem möglich war, erkannte auch niemand diesen Umstand und genausowenig sah jemand, wie Kieran Nolan und Landis folgte, um weiterhin ein Auge auf seinen Sohn zu haben, solange es sein musste. Erinnerungen im Winter ---------------------- Normalerweise war Cherrygrove im Winter kein sonderlich schöner Anblick. Die kleine Stadt, fast eher ein Dorf, lag in einer Umgebung, in der es eigentlich nur selten schneite. Im Winter wurde es zwar kalt, die kahlen Äste der Kirschbäume, die dem Ort zu seinem Namen verholfen hatten, ragten wie unheimliche schwarze Finger in den grauen Himmel als versuchten sie diesen um Hilfe anzuflehen, aber es schneite nicht. Oriana wusste sogar, dass Landis als Kind im Winter oft Angst vor dem Baum verspürt hatte, der direkt vor seinem damaligen Fenster stand. Es sah tatsächlich so aus als würde er seinen Ast in Richtung der Scheibe strecken und die Finger beugen als würde er ein williges Opfer mit knorrigen Gelenken herauslocken wollen. Blieb nur noch die Frage, was er danach mit dem Betroffenen tun würde... Doch der Gedanke entfloh Oriana rasch, da er von ihrer Glückseligkeit verscheucht wurde. In ihrem derzeitigen Zustand spürte sie nicht einmal die Kälte, die sich trotz ihres Mantels und ihrer Handschuhe an ihr festzuklammern versuchte und damit auch erfolgreich wäre, wenn ihre aufgeregten Gedanken sich nicht um gänzlich andere Themen drehen würden und ihr damit die Temperaturen egal sein ließen. Warum sie nach dem Hören dieser Nachricht zuerst den Weg zu dem Baum hinter Landis' altem Haus gesucht hatte, war ihr unerklärlich, aber sie stellte erfreut fest, dass er ihr zum ersten Mal weniger bedrohlich als früher erschien – und auch weniger bedrückend. Es lag, davon war sie überzeugt, teilweise daran, dass sie erwachsen geworden war und sich nun nicht mehr von Schatten einschüchtern ließ, da sie gelernt hatte, dass sich in ihnen nichts Gefährliches versteckte. Zum anderen lag es aber auch an dem, was sie soeben erfahren hatte und das erklärte, woher ihr Unwohlsein der letzten Wochen rührte. Es stimmte sie glücklich, vergnügt wie ein kleines Kind beinahe und ließ sie die Vergangenheit erstmals mit einem zufriedenen Lächeln und ohne das drückende Gefühl von Reue betrachten. Sie wandte den Blick erst von diesem Baum ab, als sie hörte, sie jemand ihren Namen rief. Frediano kam mit vor Sorgen zerfurchtem Gesicht auf sie zugelaufen. Er wäre liebend gern bei ihrer Untersuchung dabeigewesen, wie sie wusste, aber dringendere Angelegenheiten, verbunden mit ihrer Bitte, sich lieber um die Arbeit zu kümmern als um sie, hatten ihn schließlich doch dazu gebracht, sich mit der Kavalleristenschule und deren Problemen zu beschäftigen. In Wahrheit hatte sie nur Angst vor dem Ergebnis der Untersuchung gehabt und es erst einmal selbst hören wollen, um sich dann zu überlegen, ob und wie sie es ihm mitteilen wollte. Er zeigte es nie, aber sie wusste, dass er doch reichlich sensibel war und das war einer der Gründe, warum sie ihn so sehr liebte und ihn geheiratet hatte. Auch wenn sie wider Erwarten eine gute Nachricht bekommen hatte, war sie froh darum, allein gewesen zu sein. Immerhin war ihr dadurch die Möglichkeit gegeben, ihm die frohe Mitteilung nun zu überbringen und zu beobachten, wie seine besorgte Miene endlich wieder verschwand. Als er bei ihr stehenblieb, nahm er hastig ihre Hand in seine. Mit einem Lächeln erinnerte sie sich daran, wie er zu Beginn immer leicht errötet war, wenn sie es wie selbstverständlich bei ihm getan hatte. Inzwischen war er ihre Nähe nicht nur gewöhnt, er suchte sogar nach ihr und das machte sie glücklich – denn welche Frau mochte es schon, wenn der eigene, geliebte Ehemann sich von ihr fernhielt? „Was hat sie gesagt?“, fragte er atemlos, offenbar nicht im Mindesten erstaunt oder verärgert darüber, dass er sie vor Landis' Haus fand. „Was ist mit dir?“ Vor dem Besuch bei ihrer Ärztin hatten sie nicht darüber gesprochen, aber Oriana wusste, dass Frediano in Sorge gewesen war, dass ihr etwas Schlimmes fehlen könnte. Wann immer seine Zeit es zugelassen hatte, war er dabei gewesen, Fachbücher zur Rate zu ziehen oder mit dem Arztsohn Kenton darüber zu sprechen und dabei war – trotz Kentons Beruhigung – seine Furcht immer größer und größer geworden, wie ein ungewisser Schatten, wenn man diesen zu lang und mit zu viel Fantasie betrachtete. Oriana sah ihm direkt in die Augen, was ihn zumindest ein wenig ruhiger werden ließ. Sein Atem, der aufgrund der Kälte in weißen Wolken austrat, wurde regelmäßiger, aber sein blasses Gesicht bekam keinerlei zusätzliche Farbe. Er weckte ihr Mitleid, weswegen sie die Antwort nicht mehr länger hinauszögerte: „Sie hat mir gratuliert.“ Doch das schien Frediano nichts zu sagen, er blickte zwar nicht mehr besorgt, dafür aber verwirrt, er wusste ganz offenbar nicht, warum eine Ärztin einer Patientin gratulieren sollte, wollte ihr das aber auch nicht verraten, sondern auf ihre Ergänzung warten – und dass er auf eine solche hoffte, konnte sie im kaum merklichen Zucken seiner Mundwinkel sehen. Wann genau ihr bewusst geworden war, was all seine kleinen Gestiken bedeuten sollten, wusste sie nicht, aber dafür erinnerte sie sich noch genau an die schelmische Freude, die sie in diesem Moment durchflutet hatte. Es war einer jener Augenblicke gewesen, der sie zu der Entscheidung geführt hatte, ihn heiraten zu wollen und nicht Landis. Und auch im Anbetracht des Verschwindens ihres Jugendfreundes im Anschluss, bereute sie ihre Wahl nicht, denn sie war glücklich mit Frediano und sie verstand ihn auch ohne Worte – und so sagte er ihr mehr, als es Landis je möglich gewesen war. Mit einem Lächeln zog sie seinen Oberkörper ein wenig zu ihr herunter, damit sie ihm ins Ohr flüstern konnte, worin die gute Nachricht bestand. Es machte sie viel zu verlegen, es ihm direkt ins Gesicht zu sagen, auch wenn das so gar nicht zu ihr passen wollte. Sie konnte hören, wie er erschrocken die Luft einsog, sie fürchtete sogar, ihn falsch eingeschätzt zu haben, dass er sich gar nicht freuen würde über diese Nachricht. Doch ehe der Pessimismus Einzug in ihr Gefühlsleben halten konnte, umarmte Frediano sie bereits und drückte sie sacht an sich. „Das ist ja wunderbar“, hauchte er, in einem Tonfall, den sie noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Sie legte ebenfalls die Arme um ihn und hob den Kopf ein wenig, um die ersten Schneeflocken seit Jahren zu betrachten, die gerade vom stahlgrauen Himmel fielen. Lächelnd beschloss sie innerlich, dass Schneetage nun die besonderen Tage von ihr und Frediano sein sollten – denn immerhin hatten sie beide an einem solchen erfahren, dass sie Eltern werden würden. Kierans perfektes Ende ---------------------- Eigentlich war er glücklich. Eigentlich. Sein größter Wunsch war ihm erfüllt worden, die Lazari waren von ihrem verfluchten Los befreit und er durfte weiterhin die Welt, die er mitsamt ihren Einwohnern, egal wie verdorben manche von ihnen doch sein mochten, lieben gelernt hatte, beschützen. Zwar gab es nach wie vor Lazari, die gegen Dämonen kämpften, welche es schafften, durch sein Netz zu schlüpfen, aber keiner von ihnen verwandelte sich mehr selbst in einen solchen, keiner musste mehr in Verzweiflung versinken, weil er den Drang zu töten in sich spürte, ehe er selbst getötet werden konnte. Alles war gut. Wenn da nicht dieses nagende Gefühl in seinem Inneren gewesen wäre, das er bislang nicht wirklich gekannt hatte, ihn nun aber wahnsinnig zu machen drohte. So langsam verstand er, wie es Nolan und Landis in ihrer Kindheit ergangen sein musste und er bedauerte sogar schon, Nolan so oft zurechtgewiesen zu haben. Das Gefühl ließ sich mit einem einfachen Wort zusammenfassen: Langeweile. Abgesehen von den inzwischen selten vorbeikommenden Dämonen, gab es in der Seelenwüste nicht viel zu tun und Besuch bekam er selbstredend auch nicht an diesem unwirtlichen Ort. Also saß er zumeist die ganze Zeit auf einem der kunstvoll geformten, zerklüfteten Felsen und starrte in die Entfernung. Außer weiterer dieser Felsen gab es nur noch einen grünlichen, mit Sternen übersäten Himmel und grünen Sand, so weit das Auge reichte. Jeder Stern stand für eine andere Welt, die mit diesem Ort verknüpft war und jedes Sandkorn für eine andere Seele. Seine Welt lud nur Sünder hier ab, während gute Seelen wiedergeboren wurden – aber ob andere Wächter ebenfalls so verfuhren, konnte er nicht sagen, er kannte keinen von ihnen, denn sie kamen nicht hier vorbei und er dachte nicht daran, seinen Posten zu verlassen. Außer es käme ein absoluter Notfall herein, dem er seine Aufmerksamkeit widmen müsste. So war er aber seiner Langeweile ausgesetzt, die nur durch das seltene Vorbeiziehen eines riesigen Wurms unterbrochen wurde. Das Wesen beachtete ihn nie, es tauchte lediglich aus den Tiefen des Sandes auf, wobei es diesen verschlang und versank fast sofort wieder darin, als hätte es nicht mit einem Beobachter gerechnet, von dem es aber nicht gesehen werden wollte. Er hatte dieses Ungetüm auf den Namen Seelenverschlinger getauft und fragte sich oft, wo es eigentlich herkam und was es hier wollte, wenn es schon nicht gefährlich erschien. Aber er bekam keine Antwort darauf, immerhin gab es außer ihm niemandem an diesem Ort. Doch gerade als er sich wieder einmal in einer besonders tiefen Phase der Langeweile befand und er sogar mit dem Gedanken spielte, die Sandkörner zu zählen, fühlte er plötzlich die Anwesenheit einer weiteren Person bei sich. Er wandte dem unerwarteten Besuch den Blick zu und entdeckte eine jung aussehende Frau mit grünem Haar, das zu einem Pferdeschwanz hochgebunden war und nicht länger als bis zu ihren Schultern reichte. Ihre blauen Augen erwiderten seinen Blick durch eine rot gerahmte Brille hindurch. Sie lächelte aufrichtig freundlich und das war es, das ihn trotz ihrer überraschend starken Aura, nicht defensiv sein ließ. Nichts an ihr deutete darauf hin, dass sie ein Feind wäre, ob nun offen oder verborgen. „Du musst Kieran sein“, eröffnete sie das Gespräch ohne jede Begrüßung im Vorfeld. Er nickte schweigend, worauf sie fortfuhr: „Mein Name ist Tuulikka. Ich gehe nicht davon aus, dass du mich kennst.“ Dennoch blickte sie ihn hoffnungsvoll an, so als erwartete sie trotz ihrer Worte eine Reaktion von ihm, doch er konnte sie nur enttäuschen: „Das ist richtig, ich kenne dich nicht. Deswegen wundert es mich, dass du mich zu kennen scheinst.“ Ihr Lächeln riss nicht ab und wandelte sich um keine einzige Nuance, fast so als wäre sie damit geboren worden. „Ich brauche deine Hilfe. Es gibt, nicht weit entfernt von hier, eine Welt, in der sich eine Katastrophe anbahnt. Ein Gott der Unterwelt versucht, sie zu zerstören.“ In einem ersten Impuls wollte er bereits seine Hilfe anbieten, besann sich dann aber wieder auf seine eigentliche Aufgabe. „Warum sollte mich das kümmern? Es ist nicht diese Welt.“ Für einen kurzen, geradezu flüchtigen Augenblick, runzelte sie die Stirn, offensichtlich erbost über so viel Sturheit, aber ihre Züge glätteten sich sofort wieder – ihr Lächeln schwand dabei nicht. „Wenn jene Welt erst einmal zerstört ist, wird diese hier nicht lange danach folgen.“ Normalerweise, sofern er ruhig geblieben wäre, hätte er nun gefragt, wie sie sich da so sicher sein könnte, woher sie das wissen wolle – aber die Sorge, dass seiner geliebten Welt, in der seine Familie lebte, etwas geschehen könnte, wühlte ihn derart auf, dass er gar nicht lange genug darüber nachdenken konnte, um seine Skepsis zum Ausdruck zu bringen. „Um welche Welt handelt es sich?“ Es hatte nicht lange gedauert, seinen Aufenthaltsort zu wechseln, immerhin war das Tor wirklich nicht weit entfernt und Kieran konnte sich gut vorstellen, dass die Zerstörung der Welt dahinter Energie freisetzen würde, die problemlos bis zu seiner alten Heimat reichen und diese mit in den Abgrund ziehen könnte. Deswegen war es gut, dass er der Bitte nachgegeben hatte, worauf Tuulikka wieder verschwunden war – zwar fühlte er sich immer noch beobachtet, aber es war immerhin gut möglich, dass er einfach nicht allein war, an diesem Ort war es immer schwer zu sagen. Mit einigem Erstaunen stellte er fest, dass die Sterne an diesem Ort der Seelenwüste anders standen und sich dadurch auch das Licht vollkommen änderte. Hier war der Himmel nicht mehr nur grünlich, sondern ging sanft ins Blaue über, was die Sandkörner ihm gleichtaten. Er fragte sich, ob er noch mehr derartige Veränderungen vorfinden würde, sollte er sich entschließen, noch weiter durch die Wüste zu reisen. Doch statt diesem Gedanken weiter nachzugehen, betrachtete er schließlich das Tor eingehender. Es sah nicht so aus wie jenes, das in seine Welt führte, stellte er fest. Dieses hier besaß keinerlei Rundungen, es war eckig und verfügte sogar über eine zweiflügelige Tür, die leicht geöffnet war. Jenseits davon erklang laute, schrammende Musik, die ihn sich wundern ließ, über was für einen Geschmack diese Menschen nur verfügten, aber darunter, wesentlich leiser, konnte er auch das Spiel einer Geige hören, ein Instrument, das er auch aus seiner Welt kannte und ihn wieder beruhigte. Je länger er lauschte desto mehr variierten die Geräusche, irgendwann konnte er Menschen sprechen hören, erst ganz wenige und dann rasch immer mehr, bis die Stimmen, die in einer fremden Sprache redeten, zu einem melodischen Miteinander verschmolzen, das ihn erahnen ließ, wie viele Einwohner diese Welt haben mochte. Auch wenn er kein Wort von dem verstand, was gesagt wurde, so spürte er doch all die Hoffnungen, Wünsche und Träume dieser Menschen – und das bestärkte ihn darin, diese Welt auch um ihretwillen zu beschützen und sich nicht nur auf die Nebenwirkungen für seine Heimat zu beschränken. Ein lautes Knirschen hinter ihm, ließ ihn herumfahren und die andere Person gleichzeitig innehalten. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein normaler Mensch, aber die machtvolle Aura, die ihn umgab, sich wellenförmig bewegte und dabei immer wieder für einen kurzen Moment sichtbar wurde, verrieten Kieran sofort, dass es sich hierbei um den Gott handelte, von dem Tuulikka ihm berichtet hatte. „Was tust du hier?“ Die Stimme des Gottes besaß einen unnatürlichen Widerhall, der unzählige Goldschmuck, den er um den Hals und an den Ohren trug, gab dagegen keinerlei Geräusch von sich, egal wie oft er geschüttelt wurde. „Wie konntest du die Welt verlassen?“ „Ich gehöre nicht zu dieser“, antwortete Kieran und deutete dabei mit dem Daumen über seine Schulter. „Aber ich bin dennoch hier, um zu verhindern, dass du ihr schadest.“ Die honigfarbenen Augen des Gottes verengten sich zu Schlitzen, durch die er seinen Gegenüber gefährlich musterte. „Und warum solltest du das tun?“ Natürlich hätte Kieran ihm nun von seinen Beweggründen erzählen können, von der Sorge, dass seiner Heimat etwas zustoßen würde, wenn er sich einfach abwandte, aber stattdessen zuckte er mit den Schultern. „Ich sehe es einfach nicht gern, wenn Leute mit Macht auf anderen herumtrampeln und sie grundlos aus dem Leben reißen.“ Der Gott schnaubte. „Grundlos? Ich bin Bolontiku, der Gott der Unterwelt, ich habe ein Recht darauf, all diese Sünder zur Rechenschaft zu ziehen!“ „Nein, hast du nicht“, erwiderte Kieran immer noch ruhig. „Niemand hat ein Recht darauf, Menschen auszulöschen, nur weil sie sich nicht an deine Moralvorstellungen halten. Du kannst wütend auf sie sein, du kannst sie angemessen bestrafen – aber sie zu töten geht zu weit.“ Er zögerte einen kurzen Moment, überlegte, ob er wirklich fortfahren sollte, aber da Bolontiku keine Anstalten machte, selbst etwas zu tun, tat er es tatsächlich: „Der Tod eines jeden Menschen, egal wie furchtbar er zu Lebzeiten gewesen sein mag, birgt Trauer in sich, die zu Verzweiflung, Verbitterung und Wut führt. Indem du einen tötest, der es deiner Meinung nach verdient hat, schaffst du weitere Menschen, die es dann ebenfalls verdienen und kreierst eine Spirale der Tränen, der Gewalt und des Todes.“ Am liebsten hätte er, genau wie Asterea, sich selbst dafür auf die Schulter geklopft, denn diese Ansprache verdiente es seiner Meinung nach auch – aber Bolontiku ließ sich nicht davon beeindrucken. „Deswegen zerstöre ich gleich die gesamte Welt und lasse andere eine neue Zivilisation aufbauen.“ Kierans Körper begann augenblicklich zu zittern, als er das hörte. Er ballte die Hände zu Fäusten, um das Zittern ein wenig unter Kontrolle zu halten. „Du nimmst also in Kauf, all die Unschuldigen gleich mitzuopfern? Du akzeptierst diesen Kollateralschaden?!“ „Kein Mensch ist wirklich unschuldig – sie alle haben den Tod verdient.“ In diesem Moment zerriss Kierans gespannter Geduldsfaden. Zahlreiche Ketten rissen Löcher in die vorherrschende Realität, um in diese Ebene zu kommen und Bolontiku zu umfassen, bis dieser sich nicht mehr rühren konnte. „Ich kann das nicht zulassen!“, rief Kieran mit zitternder Stimme aus. „Deine Vorgehensweise ist unverzeihlich! Deswegen werde ich-“ Ihm blieb keine Zeit, den Satz zu vollenden, denn mit einem gewaltigen Knall zersprangen alle Ketten auf einmal, so dass Bolontiku wieder frei war. Die Überreste verwandelten sich in weißen Staub, der von einem nicht spürbaren Wind fortgetragen wurde. Kieran konnte ihn nur perplex anstarren, bekam aber sofort von Bolontiku eine Erklärung dazu: „Ich sagte doch, dass ich ein Gott bin. Kein Sterblicher... oder sonstiges Wesen wie du... kann mich aufhalten oder gar besiegen.“ „Das werden wir sehen“, erwiderte Kieran und ließ ein Schwert aus violettem Kristall in seiner Hand erscheinen. „Ich habe schon gegen ganz andere Dinge gekämpft und war siegreich.“ Er würde zwar seine stärkste Technik nicht einsetzen können, aber auch ohne diese sollte seine Entschlossenheit in der Lage sein, die Machtdifferenz zu überwinden. Er ließ seinen Gedanken gar keinen Platz, ins Negative zu driften, denn er hatte keine Wahl, er musste gewinnen. Bolontiku schmunzelte nur amüsiert und gab ihm ein Zeichen, anzufangen – etwas, das Kieran sich nicht zweimal sagen ließ. In einer Geschwindigkeit, der kein menschliches Augen folgen könnte, stürmte er mit erhobenem Schwert auf den Gott zu. Bolontiku hob die Hand, um eine Barriere aufzubauen, doch im selben Moment bekam die Realität wieder Risse, Pfeile flogen aus allen Richtungen durch diese Lücken und schossen direkt auf den Gott zu. Noch ehe er getroffen werden konnte, verschwand er, nur um wenige Meter von diesem Regen entfernt wieder aufzutauchen. Doch gerade als er dazu eine hochmütige Bemerkung machen wollte, tauchte Kieran direkt vor ihm auf. Bolontiku wich gerade noch aus, aber sein Angreifer ließ sich davon nicht stören. Stattdessen beschwor er einen Speer, der von einem weißen Schimmer umgeben war und stach damit in Bolontikus Richtung. Die Waffe prallte an einem hellen Schutzschild ab, das aus zahlreichen Waben bestand, die den Gott vollständig einhüllten. Kieran hatte damit gerechnet, weswegen es ihn nicht überraschte. Noch einmal stieß er den Speer in das Schutzschild, was zu einem amüsierten Grinsen von Bolontiku führte – das allerdings rasch wieder verschwand, als die Barriere einzufrieren begann. Kieran ließ den Speer wieder verschwinden und mit einem einzigen, entschlossenen Hieb, des Kristallschwerts schaffte er es, den Schild zu zerstören. Im selben Moment, in dem es klirrend zerbrach, schleuderte Bolontiku ihn ohne jede Berührung direkt gegen den nächsten Felsen. Schmerzen fuhren durch seinen Oberkörper, in einer Intensität, die er seit seinem Tod, sterbend am Fuß der Treppe seines Hauses, nicht mehr gespürt hatte. Benommen sank er zu Boden, direkt in den Sand, der ihm zuzuflüstern schien, dass es schon in Ordnung wäre, einfach aufzugeben. Doch seine Entschlossenheit holte ihn wieder auf die Füße zurück und ließ ihn die Benommenheit abschütteln. Bolontiku schenkte ihm dafür einen anerkennenden Blick, hob aber dennoch seine Hand, die von einer unheilvollen grauen Flamme umgeben war. „Deine Hartnäckigkeit, für diese fremde Welt zu kämpfen, bringt dir meine Bewunderung ein – aber du wirst nicht mehr von hier wegkommen, um es jemandem zu erzählen.“ Mit diesen Worten warf er Kieran die Flamme entgegen, im Flug nahm sie die Form eines Falken an und wuchs in rasender Geschwindigkeit auf das Zehnfache seiner Größe an. Während er beobachtete, wie das Wesen auf ihn zuschoss, beschwor er einen Fächer in seiner Hand. Er breitete ihn vor sich aus, so dass das Muster mit den rosa Kirschblüten gut sichtbar wurde – und zu Bolontikus Überraschung entfaltete sich gleichzeitig ein Zauber, der die Flamme daran scheitern ließ, Kieran zu erreichen. Doch in dem Moment, als er sich wieder sicher glaubte und das Schild verschwinden ließ, tauchte der Schwanz eines riesigen Skorpions aus dem Sand auf – und ehe Kieran es sich versah, spürte er bereits ein schmerzhaftes Brennen in der Brust, als der Stachel sich in seinen Körper bohrte. Aus Reflex atmete er ruckartig tief ein, nur um zu spüren, wie sich das Brennen verschlimmerte und sich auf seine Lungen auszuweiten begann. Mit wachsender Panik versuchte er, diese wieder unter Kontrolle zu bringen, sich zu beruhigen, um die Situation einzuschätzen und entsprechend handeln zu können. Doch noch ehe er seine Gedanken überhaupt sammeln konnte, schleuderte der Skorpionsschwanz ihn bereits wieder von sich, direkt in das nächste Felsgebilde hinein, das unter dem Aufprall zusammenbrach. Sein Glück verhinderte, dass er von dem herabstützenden Geröll begraben wurde, aber der Schmerz in seiner Brust versuchte dennoch, ihn zu lähmen und breitete sich langsam in seinem ganzen Körper aus. Mühevoll hob er den Kopf. Bolontiku lächelte sichtlich zufrieden mit sich selbst, ehe er sich umdrehte, um Kieran zurückzulassen und die vor ihm liegende Welt zu zerstören, so wie er es geplant hatte. „Du kannst in den letzten Minuten deines Lebens zusehen, wie ich diese Welt vernichte, nur damit du vor deinem Tod noch lernst, wie unsinnig es war, gegen mich anzutreten.“ Bolontiku entfernte sich von ihm und mit jedem Schritt, den er tat, wuchs die Verzweiflung in Kierans Inneren. Er würde sich nicht mehr in einen Dämon verwandeln können, das war durch Nolans Wunsch unmöglich geworden, aber jedes bisschen Kummer und Gram vergrößerte die Schmerzen und verringerte seine Bewegungsfreiheit. Um dem zu entgehen, versuchte er, wieder aufzustehen, aber seine Beine gaben sofort wieder unter ihm nach. Doch noch immer weigerte er sich, der Verzweiflung nachzugeben und so versuchte er, sich mit den Armen vorwärtszubewegen, auch wenn der Sand ihm nicht genug Halt dafür bot. Er musste es einfach schaffen, Bolontiku aufzuhalten! Er hatte keine Wahl! Und in diesem Moment, in dem er das dachte, erschien eine weitere Waffe neben ihm. Es war der Meteorhammer, den er nur äußerst ungern benutzte, die zwei Kugeln, die mit einer langen Kette miteinander verbunden waren, kamen ihm oft zu gefährlich und schwer einzuschätzen vor. Aber sie waren erschienen, um ihn, ohne jede fremde Hilfe, wieder auf die Beine zu holen, indem sie sich um einen seiner Arme schlang und wieder auf die Füße stellte. Seine Knie wollten zwar wieder unter ihm nachgeben, aber er schaffte es dennoch, dieses Mal stehenzubleiben. Der Meteorhammer verschwand, so als wüsste er genau, dass Kieran mit ihm nicht kämpfen und schon gar nicht den entscheidenden Schlag durchführen wollte. Stattdessen materialisierte sich eine überraschend simpel aussehende Armbrust in seinen Händen, die keinen Hauch von Magie verstrahlte und von keinerlei Aura umgeben war. Aber genau diese Waffe war es, die Kieran am meisten am Herzen lag. Er legte an und zielte auf Bolontiku. Seine Magie begann aktiv zu werden, sich mit dem Bolzen zu verbinden und als er diesen dann abschoss, wurde er von einer Kette begleitet, die auf ihrem Flug leise klirrte. Bolontiku fuhr, von diesem Geräusch alarmiert, herum, aber er schaffte es nicht mehr rechtzeitig, um die Bedrohung abzuwehren. Der Bolzen schlug in seine Brust ein, die Kette verlängerte sich augenblicklich und schlang sich um den gesamten Körper des Gottes, um ihn bewegungsunfähig zu machen. Er versuchte, sich zu befreien, aber jede Kette, die er zu sprengen schaffte, wurde direkt von zwei neuen ersetzt. „W-wie kann das sein?“ Kieran ließ die Armbrust wieder sinken. „Meine Entschlossenheit kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, Menschen zu beschützen. Selbst wenn ich diese nicht einmal kenne.“ Bolontiku knurrte und versuchte weiterhin, sich zu befreien. „Ich werde dich nicht töten“, fuhr Kieran fort. „Auch du hast den Tod nicht verdient. Aber ich werde dich in eine Gestalt zwingen, in der du die nächsten Jahrhunderte niemandem mehr etwas antun werden kannst. Ich tue das nicht, um dich zu bestrafen, ich wünsche mir nur, dass du die Welt, die du bestrafen wolltest, beobachtest, um sie lieben zu lernen.“ Schon im nächsten Moment leuchteten die Ketten in einem gleißenden Licht auf und dann hielt Kieran einen gläsernen Würfel in seiner Hand, in dessen Inneren ganz undeutlich etwas zu sitzen schien. Er lächelte ein wenig. „Ich wünsche dir eine schöne Erkenntnis.“ Seine Worte waren noch nicht gänzlich verklungen, dann warf er den Würfel in die Welt hinein und schloss die Türen, die sofort von einer Kette umschlungen und mit einem schweren Schloss versehen wurde. „Du hast es wirklich geschafft.“ Kieran, der gedankenverloren, aber mit einem guten Gefühl auf die Tür gesehen hatte, fuhr erschrocken herum, als diese Stimme hinter ihm erklang. Es war kein Mensch und auch nichts menschenartiges, das er da sah, stattdessen war es eine Schlange, die ihn beobachtete. Abgesehen von ihrer Größe – von der Länge wäre sie so groß wie er gewesen, wenn sie sich ausgestreckt hätte – gab es nichts Außergewöhnliches an ihr und ihren smaragdgrünen Schuppen. Aber die weißen Flügel auf ihrem Rücken, die an jene eines Schwans erinnerten, waren durchaus bemerkenswert, wie er sagen musste. „Wer bist du?“, fragte Kieran, in Erwartung, noch einen Feind vor sich zu haben. „Mein Name ist Kukulkan“, antwortete die Schlange, ohne den Mund zu öffnen. „Ich bin ein Gott der Auferstehung und der Reinkarnation. Ich bin nicht dein Feind, im Gegenteil, ich bin gekommen, um dir zu danken, dass du meine Welt gerettet hast.“ Damit neigte die Schlange ihren Körper, so dass es aussah als würde sie sich wirklich vor ihm verneigen. „Leider war ich nicht in der Lage, selbst gegen Bolontiku anzutreten. Deswegen bin ich umso glücklicher, dass es noch Menschen anderer Welten gibt, denen so viel an Gerechtigkeit liegt.“ Kieran sagte darauf nichts, sondern wartete, was Kukulkan noch hinzuzufügen hätte. Es war nicht so, dass er glaubte, dass der Gott falsch lag – die Worte machten ihn nur verlegen, denn wie oft bekam man schon von einem solchen Wesen so etwas gesagt? „Im Gegenzug für deine Hilfe möchte ich dir einen Wunsch erfüllen.“ Kieran wollte abwinken, erwidern, dass er keine Gegenleistung bräuchte – doch dann fiel ihm tatsächlich etwas ein, das er sich mehr als alles andere wünschte. „Egal was für einen Wunsch?“ Ob es ein schlauer Wunsch gewesen war, konnte er nicht sagen. Für ihn war es sehr gut gewesen. Er war nicht mehr einsam, nicht mehr gelangweilt – aber ob sie sich damit ebenfalls abfinden konnte, auf immer und ewig nur bei ihm zu sein, in dieser Seelenwüste, das wusste er nicht. Aber gerade als er wieder einmal in derartige Gedanken und Selbstvorwürfe abzudriften begann, spürte er plötzlich, wie sie ihre Hand auf seine legte. Er hob den Blick und sah direkt in ihre gütigen, grünen Augen. Er musste dem Drang widerstehen, die andere Hand zu heben, um ihr eine Strähne des langen schwarzen Haares aus dem Gesicht zu streichen und dabei auch ihre Wange zu berühren. „Du grübelst schon wieder“, sagte sie mit sanfter Stimme, jener, die er so lange vermisst hatte. „Du musst dir wirklich keine Gedanken machen. Bei dir zu sein, ist auch alles, was ich je wollte. Du hast dir nicht nur deinen, sondern auch meinen Wunsch erfüllt.“ „Aydeen...“ Er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte, alles in ihm war so fassungslos von ihren Worten, dass er einfach keine eigene finden konnte. Direkt nach seinem Wunsch war ihm bewusst geworden, dass sie es möglicherweise als falsch hätte ansehen und ihn dafür verfluchen könnte. Aber stattdessen sagte sie ihm so etwas, das sein Innerstes klingen ließ wie nie etwas zuvor. Sie lächelte beruhigend und strich ihm über die Wange. „Bei dir zu sein, ist für mich das höchste Glück der Welt, egal wo wir sind, selbst an diesem Ort.“ Er errötete ein wenig, als er ihr Lächeln erwiderte. „Danke, Aydeen.“ Zufrieden darüber, ihn beruhigt zu haben, sah sie wieder zu den Sternen hinauf und rutschte ein wenig näher zu Kieran, damit sie ihren Kopf auf seine Schulter legen konnte. Wie selbstverständlich – und inzwischen wusste er, dass das auch in Ordnung war – legte er einen Arm um ihre Schulter und blickte gemeinsam mit ihr den Sternen entgegen, in dem sicheren Wissen, dass sie beide in diesem Moment die glücklichsten Wesen in der Seelenwüste waren. Zugbekanntschaft ---------------- Er bekam nicht viel mit, wenn er unterwegs war. Nein, er gehörte nicht zu jenen Jugendlichen, die laute, dröhnende Musik über ihre Kopfhörer laufen ließen und gleichzeitig alle um sie herum beschallten; er trug kein Musikgerät mit sich. Er las auch nicht, während er lief und ließ sich deswegen immer beinahe von einer Bahn oder einem Bus überfahren, weil der anstehende Plottwist spannender als sein Überleben im öffentlichen Straßenverkehr war; er trug kein Buch mit sich. Stattdessen galt sein Blick immer der Zeitung, die er kurz zuvor am Kiosk erstand. Hochkonzentriert starrte er auf die Kreuzworträtsel und löste diese, jeden Morgen, während er auf dem Weg zum College war. Dabei schaffte er es, ohne aufzublicken, gegen nichts zu stoßen und auch kein einziges Mal seine Station zu verpassen. Allerdings bekam er trotz aller Umsicht nicht mit, dass eine Station nachdem er eingestiegen war, auch stets eine junge blonde Frau einstieg, die sich auffällig in seiner Nähe hielt und ihn immerzu begeistert betrachtete. Oder aber es interessierte ihn nicht weiter, da konnte man sich nicht sicher sein, wenn man ihn nur beobachtete. Doch eines Tages, nach drei Monaten in denen er die Frau beständig ignoriert hatte, beschloss diese, die Initiative zu ergreifen, indem sie ihn einfach ansprach: „Hallo~.“ Es dauerte mehrere Versuche, bis er schließlich den Kopf hob und sie ansah. Er stutzte einen kurzen Moment, als er ihre Augen sah, ließ sich dann aber nicht weiter beirren. „Hallo“, gab er unfreundlich zurück, in der Hoffnung, dass sie ihn in Ruhe lassen würde. Doch sie war nicht gewillt, einfach so aufzugeben. „Ich sehe dich reichlich häufig in dieser Bahn.“ „Ja?“, erwiderte er ohne jede Begeisterung. „Vielleicht sollte ich dann mit einer anderen fahren.“ „Bloß nicht!“, erwiderte sie hitzig, mit vor Panik hochgezogenen Augenbrauen. Die anderen Fahrgäste blickten interessiert zu ihnen herüber, aber keiner von ihnen sah so aus als würde er eingreifen wollen, sollte etwas geschehen. Peinlich berührt, schrumpfte sie ein wenig in sich zusammen und erklärte mit gesenkter Stimme: „Ich habe auch so schon ewig gebraucht, um dich zu finden. Es würde ja noch länger dauern, wenn du jetzt deine Tagesplanung änderst.“ Er runzelte die Stirn, was er nicht oft tat. „Stalkst du mich etwa?“ „So würde ich das nicht nennen. Ich habe dich nur sehr aufmerksam beobachtet und meinen Tagesablauf deinem abgepasst, um in deiner Nähe zu sein.“ Sie schenkte ihm einen verliebten Blick, den er aber nicht wirklich zu schätzen wusste. „Das klingt verrückt...“ „Im Sinne von süß?“, hakte sie hoffnungsvoll nach. „Im Sinne von Ich-besorge-mir-eine-einstweilige-Verfügung“, antwortete er trocken. Ihre Mundwinkel sanken augenblicklich nach unten, ihre Augen füllten sich mit Tränen, was in seinem Inneren ein wenig Mitleid hervorbrachte. Er seufzte schwer. „Okay, das ist eigentlich gegen meine Prinzipien, weil ich weiß, dass es das Stalking nur verschlimmern könnte, aber wir können ja mal zusammen einen Kaffee trinken oder so etwas.“ Schlagartig strahlte sie wieder, wenngleich ihre Augen noch immer feucht waren. „Wirklich?“ „Ja. Aber danach will ich, dass du mich in Ruhe lässt. Ich habe keine Zeit für Freundinnen... und auch keine Lust darauf – besonders wenn sie mich ohnehin nur stalken wollen.“ „Du wirst es nicht bereuen“, versprach sie ihm strahlend. „Versprochen, Richard!“ Er hob eine Augenbraue. „Du kennst sogar meinen Namen? Darf ich dann auch deinen wissen? Das wäre nur fair, oder? Und ich bin immerhin kein so guter Stalker.“ „Natürlich!“, sagte sie rasch. „Ich bin Asterea.“ „Was für ein ungewöhnlicher Name“, kommentierte er. „Aber er passt zu dir.“ Das konnte er bereits nach den wenigen Sätzen sagen, die sie miteinander getauscht hatten. „Ich glaube, ich will gar nicht so genau wissen, was du damit meinst“, erwiderte sie und zog dabei eine kleine Karte hervor, die er als Visitenkarte identifizieren konnte. „Hier. Wenn du mal Zeit für den Kaffee hast, kannst du mich jederzeit erreichen.“ Er nahm ihr die Karte ab und steckte sie ein, während er ihr noch einmal versicherte, dass er sie auf jeden Fall anrufen würde und das schon bald. Sie lächelte. „Ja, ich weiß, dass du das tun wirst.“ Damit fuhr sie herum und verließ die Bahn, dabei war er überzeugt, dass sie an dieser Station sonst nie ausstieg – aber da sie vermutlich ohnehin nirgends hinmusste, kümmerte ihn das vorerst nicht weiter. Er blickte ihr hinterher, während sie aus seinem Blickfeld verschwand und aus irgendeinem Grund glaubte er plötzlich, dass er sie kennen müsste und das nicht nur aus der Bahn. Möglicherweise sollte er sie tatsächlich anrufen, nur um festzustellen, ob dieses Gefühl irgendeine Grundlage besaß, selbst wenn er damit ihr Stalkerdasein bestärken würde. Und vielleicht war sie auch nicht so verrückt, wie er bislang glaubte. Aber das würde er ein andermal herausfinden müssen. Vorerst konzentrierten sich seine Gedanken wieder auf seine bevorstehenden Vorlesungen – aber da ahnte er auch noch nicht, dass er gerade seinem Schicksal begegnet war. Bekämpfer der Furcht -------------------- Das Gerücht existierte schon lange, viel zu lange, wenn man ihn fragte. Inzwischen warf es nicht nur ein schlechtes Licht auf seinen besten Freund, sondern sogar auf ihn selbst. Es hieß, er würde seinen Posten ausnutzen, um einen Verbrecher zu decken, der ein unschuldiges Kind misshandelte. Was das betroffene Kind dazu zu sagen hatte, interessierte dabei allerdings keinen, außer ihn. Er glaubte nicht daran, dass sein Freund seinem Sohn etwas antun würde, aber nachdem dieser an diesem Tag erneut schwere Verletzungen erlitten hatte, fühlte er sich wieder dazu berufen, etwas zu tun – und das tat er, indem er seinen besten Freund während der Nachtschicht zu sich rief, um mit ihm darüber zu sprechen. Unwillig lehnte Kieran mit dem Rücken gegen die Wand, die Arme vor der Brust verschränkt, sein linker Fuß tippte dabei immer wieder auf den Boden, derart nervös hatte Richard ihn noch nie erlebt, weswegen ihn dieses Verhalten verwunderte und ihn gleichzeitig besorgt sein ließ. Vielleicht war doch mehr an den Geschichten dran, als er glauben wollte. „Du weißt, worum es geht?“, begann Richard die Unterhaltung. Kieran ließ die Mundwinkel weiter nach unten sinken. „Ich kann es mir denken. In letzter Zeit hast du immer nur Zeit für mich, wenn es um dieses eine Thema geht.“ Er klang nicht verbittert, es war vielmehr eine sachliche Feststellung – aber eine, die Richard nicht auf sich sitzen lassen konnte. „Bitte? Du bist doch derjenige, der sich immer mehr zurückgezogen hat. Seit... dieser Sache mit Blythe, wenn ich mich richtig erinnere.“ Kierans Augenbrauen zuckten, aber er erwiderte nichts darauf, sondern kam wieder auf das Ursprungsthema zurück: „Was ist es diesmal? Glaubst du jetzt auch, dass ich Nolan das alles antue?“ „Nein.“ Richard schüttelte mit dem Kopf. „Das könnte ich nie glauben, dafür kenne ich dich schon viel zu lange.“ Wieder zuckten Kierans Mundwinkel, aber diesmal schien es, als wäre es ein Lächeln, das er zwanghaft unterdrücken musste. „Dennoch muss ich mit dir darüber reden. Weißt du, woher seine Verletzungen kommen?“ „Und wenn?“, fragte Kieran, ehe er die Lippen aufeinanderpresste. „Was würde das ändern?“ „Du könntest damit deine Unschuld beweisen.“ Es war Richard unverständlich, dass sein bester Freund offensichtlich nicht verstand, was hier für ihn auf dem Spiel stand. Es ging nicht nur um seine Glaubwürdigkeit und die Frage, ob er ein Verbrecher war oder nicht, sondern auch um Nolan. Sobald sich die Hinweise häufen würden, dass er ihm etwas antat – und es gab bereits verflucht viele davon – bestand die Gefahr, dass die Königsfamilie sich einmischte und den Jungen einfach an seine Großeltern übergeben würde. Kieran konnte das unmöglich wollen – oder? „Und wenn ich gar nicht unschuldig bin?“ Er blickte Richard herausfordernd an und reckte das Kinn. „Vielleicht bin ich es ja wirklich, der ihm das antut. Und? Willst du mich jetzt festnehmen?“ Richard hätte am Liebsten gelacht, um zu zeigen, für wie lächerlich er das befand, aber es blieb ihm regelrecht im Hals stecken. „Ich glaube das nicht.“ Frustriert ließ Kieran die Arme sinken und trat von der Wand weg. „Weißt du, wie egal mir das ist, ob du das nicht glaubst? Es ist die Wahrheit, du kannst von mir aus Nolan fragen und er wird dir dieses Mal die richtige Version erzählen. Ich weiß ohnehin nicht, warum er gelogen hat.“ Die Worte stachen mehr in Richards Inneren, als er je geglaubt hätte. Zu hören, wie sein bester Freund, den er immer zu kennen geglaubt hatte, eine solch ungeheuerliche Tat zugab, ohne jegliche Emotion in der Stimme, lag ihm schwer im Magen. „Das bist doch nicht du...“ Mit einem Schrei fuhr Kieran herum und rammte seine Faust gegen die Wand. All seine Wut und Frustration, etwas, das man nie oft an ihm gesehen hatte, schien sich damit zu entladen. Er ließ den Arm nicht sinken, sondern ließ die Faust weiterhin gegen die Wand gestützt, als würde er sich damit aufrecht zu halten versuchen. Doch sein Kopf war gesenkt, er blickte auf den Boden, doch Richard war davon überzeugt, dass er dort etwas anderes sah, als die alten, abgetretenen Holzdielen, die schon viele Wachen, Bürger, Zeugen, Verdächtige und Straftäter hatte kommen und gehen sehen – und für einen kurzen Moment wünschte er sich, zu wissen, was in Kierans Vorstellung dort war. Doch dieser Augenblick endete rasch, als sein Freund weitersprach: „Das bin nicht ich? Ha! Du hast keine Ahnung, wer... oder was ich wirklich bin.“ Wieder schaffte er es, nicht im Mindesten vorwurfsvoll zu klingen, aber auch nicht verständnisvoll oder gar darauf erpicht, zu einer Erklärung auszuholen. „Ich muss das nicht wissen“, erwiderte Richard ruhig. „Du bist Kieran, das reicht doch vollkommen. Und deswegen weiß ich auch, dass du so etwas nie tun würdest.“ Nach diesen Worten herrschte angespannte Stille. Keiner von ihnen sagte etwas oder bewegte sich auch nur, es schien als würden sie beide darauf warten, dass der jeweils andere den Anfang machte. Doch plötzlich lachte Kieran humorlos. „Dir kann ich auch absolut nichts vormachen, oder?“ Erleichterung überkam Richard bei diesen Worten. Also war er die ganze Zeit im Recht gewesen und sein Freund hatte nichts mit dieser Sache zu tun. Aber das erklärte noch nicht... „Was ist dann mit Nolan geschehen? Woher stammen seine Verletzungen?“ Denn dass es sie gab, daran bestand kein Zweifel, er selbst hatte sie gesehen, ohne eine Erklärung dafür zu erfahren. Kieran musste die Antwort kennen, doch er schwieg, während er immer noch auf den Boden starrte. Richard ging einige Schritte näher, blieb aber eine halbe Armlänge von ihm entfernt stehen. „Ich bin kein Händler“, sagte Kieran schließlich leise. Diese Offenbarung überraschte Richard nicht weiter, immerhin hatte sein Freund nie wirklich den Eindruck gemacht, als könnte er irgendjemandem etwas verkaufen, nicht einmal, wenn der Kunde dieses Produkt unbedingt benötigt hätte, um sein Leben zu retten. „Was bist du dann?“, fragte er neugierig. „Ich bin ein Jäger“, antwortete Kieran nach kurzem Zögern. „Mein ganzes Leben lang habe ich die Furcht selbst bekämpft, das, was in der Dunkelheit lauert und Menschen frisst. Ich bin einer von denen, die dafür sorgten, dass die Welt so sicher ist, wie ihr es glaubt.“ Richard spürte, wie schwer es ihm fiel, darüber zu sprechen und gleichzeitig war es mit jedem Wort so, als ob ein Damm brechen würde, den er bislang mühevoll am Leben erhalten hatte. Er wirkte nicht glücklich darüber, endlich darüber sprechen zu können, aber doch deutlich erleichtert. So sehr er sich für seinen Freund darüber freute, so wenig verstand er ihn. „Was meinst du damit? Was hast du bekämpft?“ Statt einer Antwort, griff Kieran ihn mit seiner freien Hand am Handgelenk – und im selben Moment veränderte sich alles um ihn herum. Die Umgebung wurde schlagartig schwarz, nichts von der ihm so bekannten Wachstation war noch zu sehen, dafür erschienen nach und nach sich bewegende Bilder, die allesamt einen jungen Kieran im Fokus hatten. Es fiel Richard schwer, sich bei all diesen Bildern zu konzentrieren, aber einige konnte er dennoch klar erkennen und diese schockierten ihn umso mehr. Sie alle zeigten Kieran, wie er tatsächlich gegen Monster kämpfte, die nicht selten doppelt oder dreifach so groß waren wie er. Jeden einzelnen Kampf bestritt er allein, mit einem Gesichtsausdruck, der Gleichgültigkeit ausdrückte, als wären ihm selbst die zahlreichen Verletzungen, die er dabei erlitt, vollkommen egal. Ungeachtet der Tatsache, dass Richard schon allein beim Zusehen zusammenzuckte, wann immer Kieran von einer Klinge, einer Klaue oder einem feurigen Atem getroffen oder gegen eine Wand geschleudert wurde. Doch aus jedem einzelnen Kampf kam er siegreich hervor, mit einem Gesicht, das nicht den Stolz über diese Tat, aber dafür grimmige Entschlossenheit ausdrückte. „Ich habe so oft Menschen sterben sehen, die mir nahestanden“, murmelte er. Die Bilder um sie herum änderten sich. Statt eines gegen Monster kämpfenden Kierans, konnte er diesen nun immer neben einem leblosen Menschenkörper sitzen sehen, das Gesicht gesenkt, aber es war dennoch deutlich sichtbar, dass er weinte, da Tränen auf den Boden tropften. Die stumme Verzweiflung, zu groß, um sich in Worten oder Gesten ausdrücken zu lassen, war in diesem Moment für Richard derart heftig greifbar, dass er am Liebsten ebenfalls in Tränen ausgebrochen wäre, nur um seinem Freund zu zeigen, dass er mit ihm fühlte. „Und du hast das alles... immer allein ertragen“, hauchte Richard fassungslos. „Ich hatte keine Wahl“, erklärte Kieran. „Hätte einer von euch von der allgegenwärtigen Existenz von Dämonen erfahren, hättet ihr euch nie wieder sicher gefühlt. Und gerade bei dir... gerade dich wollte ich davor schützen, damit du nicht mehr an deine Heimat denken musst.“ Richard konnte sich nicht erinnern, jemals so gerührt gewesen zu sein. Kieran hatte all diese Qualen durchlitten, einsam in den Schatten gegen die größte Angst der Menschen gekämpft und nie ein Wort darüber verloren, war nie verzweifelt – und das alles für ihn. Natürlich nicht für ihn allein, aber Richard zweifelte nicht daran, dass er einer der Hauptgründe gewesen war und plötzlich glaubte er auch zu wissen, dass Kieran diese Mission angenommen hatte, als er selbst nach Blythes Tod im Kerker gewesen war. Kieran hatte wegen ihm damit angefangen und dann auch wegen allen anderen weitergemacht. Noch nie zuvor, so glaubte er jedenfalls, hatte jemand ein solches Opfer für ihn erbracht. Die Bilder verblassten und wurden durch neue ersetzt, die dieses Mal einen älteren Kieran und auch Nolan zeigten. Die ablaufenden Szenen zeigten, dass der Junge keineswegs von seinem Vater verletzt worden war, sondern von Dämonen, wann immer er nachts mit auf die Jagd gekommen war. „Nolan ist noch nicht erwacht“, fuhr Kieran mit seiner Erklärung fort. „Deswegen haben die Dämonen es besonders auf ihn abgesehen, denn sie wollen ihn dazu bringen, zu einem Jäger zu werden, genau wie ich es bin.“ „Warum hast du ihn dann überhaupt mit dir genommen? Warum hast du ihn dieser Gefahr ausgesetzt?“ Auf einmal verschwanden wieder alle Bilder, dafür war Nolan als kleiner Junge plötzlich auf jedem einzelnen zu seinen, wie er fröhlich etwas verkundete: „Dieser Dämon wollte vielleicht nur Freunde haben. Ohne Freunde ist man einsam und dann ist man frustriert und kann ganz schnell gemein werden. Aber wenn die Helden ihm ihre Freundschaft angeboten hätten, wäre er vielleicht ein lieber Dämon gewesen.“ Richard musste unwillkürlich lächeln. Es war der fröhliche, kleine Nolan, den sie alle kannten und damals geliebt hatten – und der im Laufe des Aufwachsens kaum etwas davon zu verlieren schien, egal wie viel er von seiner Naivität ablegen musste. Schon einen Wimpernschlag später waren auch diese Bilder wieder ausgetauscht, dieses Mal durch Kieran, der von einer kaum zu erkennenden Person in einem dunklen Raum stand und mit seinem Gegenüber sprach: „Deswegen bin ich hier. Man sagt, du wärst ein Naturgeist, der Leben spendet. Ich brauche deine Kraft, um Breaker am Leben zu erhalten, damit Memoria mir hilft, Nolans Erinnerung zu beeinflussen. Er muss mich hassen und verachten, auch wenn es die Dämonen sind, die ihm schaden, damit er diesen nichts nachträgt, damit er ihnen als Lazarus besser helfen kann als ich es jemals gekonnt hätte.“ Und damit ergab plötzlich alles einen Sinn, wie Richard fand. Um Nolan zu einem Jäger – oder Lazarus, wie er in seiner Erinnerung gesagt hatte – zu machen, der Frieden mit den Dämonen schließen konnte, statt sie zu töten, musste er all dies durchmachen. Den Untergang seines Rufs, den Tod von Nolans Liebe zu seinem Vater, Emotionslosigkeit, nur um den Plan nicht zu gefährden. Richard musste tief durchatmen, als er das alles begriff und zu verarbeiten versuchte – und wenn ihn das schon so sehr traf, wie musste es dann erst Kieran selbst gehen? „Ich habe diesen Weg gewählt“, murmelte sein Freund. „Ich war mir im Klaren darüber, dass ich leiden müsste, dass es nicht leicht werden würde. Aber ich tue es, um eine bessere Welt zu erschaffen, eine, in der die Menschen nicht mehr in Furcht leben müssen, in der auch Dämonen nicht mehr wüten müssen, weil sie dann endlich glücklich sind...“ Eine Utopie, schoss es Richard durch den Kopf, doch er sprach dies nicht aus, denn er spürte, wie wichtig Kieran dieses Thema war, wie sehr es sein Leben ausmachte und er hatte nicht das Herz und auch nicht das Recht dazu, es ihm schlechtzureden. Kieran ließ sein Handgelenk wieder los und schlagartig befanden sie sich zurück in der Wachstation, die sie vermutlich nicht einmal verlassen hatten, jedenfalls wenn er sich nicht vollkommen täuschte. Endlich löste er sich auch wieder von der Wand und wandte sich Richard zu, sein Gesicht nun nicht mehr vollkommen ausdruckslos, dafür deutlich gezeichnet von den Qualen, die er jeden Tag auf's Neue durchlitt. „Jetzt weißt du die Wahrheit“, sagte er. „Aber du darfst es nie jemandem erzählen!“ Er zog die Brauen zusammen, worauf Richard nicht einmal zögern konnte, er nickte einfach hastig. „Ja, natürlich, ich werde es niemandem erzählen, keine Sorge.“ Kieran atmete erleichtert auf. „Danke.“ Er schwieg einen kurzen Moment, scheinbar, um sich zu beruhigen und seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Einen Augenblick später war die Gleichgültigkeit auf seinem Gesicht zurückgekehrt. „Stört dich... nichts von dem, was ich dir erzählt habe?“ Richard neigte den Kopf. „Warum sollte es? Was mich angeht... bist du ein Held. Nicht jeder würde so viel opfern, um Dämonen zu bekämpfen und Menschen zu schützen, die dich möglicherweise nicht einmal mögen.“ Kieran wandte den Blick ab und es schien Richard fast, als wäre er verlegen, was er seit Jahren nicht mehr bei seinem Freund gesehen hatte. Doch schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich muss gehen. Nolan ist schon viel zu lange allein zu Hause.“ „Bist du sicher, dass du einfach so gehen willst? Würde mich nicht wundern, wenn irgendeiner der Stadtbewohner dir vielleicht wegen den Gerüchten grollt.“ „Das ist in Ordnung“, erwiderte Kieran, während er zur Tür ging und diese öffnete. „Immerhin bin ich schon lange tot.“ Ehe Richard etwas erwidern konnte, hatte er bereits das Gebäude verlassen und Richard allein zurückgelassen. Wie betäubt blickte er auf die geschlossene Tür, mit dem unguten Gefühl in seinem Inneren, dass er seinen besten Freund soeben das letzte Mal gesehen hatte. In dieser Nacht starb Kieran. Es war kein aufgebrachter Mob, der zur Selbstjustiz gegriffen hatte und auch kein Dämon, dem er sein Ableben zu verdanken hatte. Er war in seinem eigenen Haus umgekommen, nachdem er zuerst erstochen worden und dann die Treppe hinabgefallen war. Jene Treppe, der auch Aydeen damals zum Opfer gefallen war – nur dass es sich in Kierans Fall nicht um einen Unfall gehandelt hatte. Die genauen Umstände waren selbst zu seiner Beerdigung noch nicht geklärt, aber – sehr zu Richards Leidwesen – gingen viele Stadtbewohner davon aus, dass es Nolans Tat war, um sich für die erlittenen Qualen zu rächen und zu verhindern, dass es in Zukunft so weitergehen würde. Nolan selbst behauptete, ein Einbrecher wäre dafür verantwortlich, ungeachtet der Tatsache, dass man keinerlei Beweise hatte finden können. Richard wusste nicht, was er denken oder glauben sollte, für ihn wäre es sogar durchaus vorstellbar, dass es einer dieser Dämonen gewesen war, gegen die Kieran eigentlich gekämpft hatte. Doch wie er es ihm versprochen hatte, schwieg er darüber, selbst gegenüber Asterea, die immerhin auch genug Geheimnisse vor ihm zu verbergen schien. Aber er beschäftigte sich auch viel mehr mit Selbstvorwürfen, in denen er sich regelrecht ertränkte. Wenn er in jener Nacht nur Kieran gefolgt wäre, wenn er dessen Haus aufgesucht hätte, um sicherzugehen, ob alles in Ordnung war, wenn er sich nicht von Asterea hätte aufhalten lassen... Aber als die von Nolan freigelassene Taube eilig davonflatterte, um Kierans Seele zu Charon zu tragen, verwarf er diesen Gedanken wieder. Mit Sicherheit würde sein Freund nicht wollen, dass er sich diese Vorwürfe machte. Also tat er das zumindest vorerst auch nicht mehr, sondern blickte dem Vogel hinterher. Dabei lächelte er ein wenig und bedankte sich innerlich bei Kieran für dessen überragende Arbeit, obwohl er derartig viel hatte leiden müssen. Er würde, in seiner Erinnerung, für immer sein bester Freund und Bekämpfer der Furcht bleiben, ein Held, der in den Schatten gekämpft hatte, um die Welt für jeden zu einem besseren Ort zu machen. Richard legte eine Hand auf sein Herz und seufzte innerlich. Vielen Dank, Kieran... für alles. Hoffentlich findest du nun die Ruhe, die du im Leben nie haben konntest. Was niemand weiß... ------------------- Es war wirklich „still“. Das war nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, dass sie beide sich ganz allein in einem Schlafsaal befanden, der eigentlich für mehr als das zehnfache gedacht war. Deswegen konnte es nachts reichlich unheimlich werden, besonders wenn der Wind, wie in dieser Nacht heulend um das Waisenhaus strich und dabei immer wieder die Äste der nahestehenden Bäume gegen Fenster und Fassade drückte, wobei knarrende Geräusche entstanden, die auf ungute Weise zur Atmosphäre beitrugen. Dies war wohl der Hauptgrund, weswegen Richard und Kieran mitten in der Nacht beschlossen, sich einfach ein Bett zu teilen, so dass sie ihre Furcht nicht allein ertragen mussten. Eng aneinandergeschmiegt – anders war das gemeinsame Liegen in diesen kleinen Betten ja nicht möglich – war die Angst schon wesentlich leichter zu ertragen. Als jemand, der sonst nicht sonderlich viel Wert auf körperliche Nähe legte, war es doch äußerst angenehm für Kieran, in Richards Armen zu liegen und dessen ruhigem Herzschlag zu lauschen. Allerdings war er nach wie vor noch zu unregelmäßig, so dass Kieran wusste, dass sein Freund noch nicht schlief. Er fragte sich, ob er etwas sagen sollte, wusste gleichzeitig aber auch nicht, ob er damit nicht vielleicht nur eine unangenehme Situation für sie beide beschwören würde. Ihm selbst war das ganze schon ein wenig unangenehm – aber nur, weil es sich gut anfühlte, so nah bei ihm zu sein. Nach all den Gesprächen, die er bei den Mädchen mitbekommen hatte, war das, was er zu empfinden glaubte, zwar süß, aber hauptsächlich deswegen, weil es so unmoralisch war. Und eigentlich wollte er gar nicht unmoralisch sein oder gar Richard in diese ganze Sache hineinziehen. Aber andererseits... Unwillkürlich entfuhr ihm ein leises Seufzen, das auch von seinem Freund nicht unbemerkt blieb. „Was ist los?“, fragte Richard. „Kannst du nicht schlafen?“ „So wenig wie du.“ „Das ist wahr.“ Er gab ein leises, spöttisches Lachen von sich. „Aber wie soll man in einer solchen Nacht auch schlafen?“ Kieran runzelte die Stirn und fragte sich dabei, ob er von dem Sturm draußen sprach oder der Tatsache, dass sie beide in einem Bett schliefen. Natürlich stellte er diese Frage nicht laut, denn eigentlich wollte er auch keine Antwort darauf. Diese hätte nämlich schmerzhaft deutlich gezeigt, dass er der einzige war, der sich mit solchen Gefühlen auseinandersetzen musste. Es war ja nun nicht so, dass er das erst seit dieser Nacht spürte, nein. Schon seit Richard ihm nach seiner Ankunft in Cherrygrove das Leben gerettet hatte, indem er ihn aus dem Eis zog, war da dieses tiefe Gefühl von Vertrautheit gewesen, der geradezu innige Wunsch, mehr als nur ein Fremder für diesen mutigen Jungen zu sein. Inzwischen waren sie beste Freunde, aber selbst das schien ihm nicht wirklich genug – zumindest nicht in dieser Nacht, als das Gefühl wieder einmal übermächtig war. „Bist du eigentlich immer so... kuschelbedürftig?“, fragte Richard plötzlich. Offenbar hatte er bemerkt, dass Kieran sich unwillkürlich stärker an ihn geklammert hatte. „Falls ja, muss ich mir wirklich überlegen, ob wir das noch einmal machen.“ Kieran nuschelte eine Entschuldigung, ehe er wieder ein wenig lockerließ, obwohl Richard das auch nicht zu gefallen schien. „Nein, ich glaube, du hast das falsch verstanden. Ich meinte das eher im positiven Sinne, denn mich stört das nicht.“ „W-was?“ Kieran wurde schlagartig ein wenig rot. „Sollte es dich nicht nicht stören?“ Richard zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber ich kümmere mich selten um etwas, das ich sollte... das weißt du doch eigentlich. Verwirrt dich das hier alles so sehr?“ „Ein wenig... vielleicht.“ Er konnte schlecht zugeben, dass es ihm eigentlich reichlich gut gefiel – und dass es gerade das war, das ihn eigentlich verwirrte. Es war unmoralisch, dass es ihm gefiel und das war nicht gut. Am Liebsten hätte er sich einfach unter seine Decke verkrochen, aber mit Richard neben sich, traute er sich nicht wirklich, das zu tun – schon allein, weil das hätte zweideutig sein können. Andererseits wusste er aber auch nicht so recht, was er sonst tun sollte, da die Nervosität in seinem Inneren gerade Überhand nahm und ihn sicher nicht schlafen lassen würde. Natürlich musste Richard – sehr zu Kierans Verzweiflung – das sofort bemerken. „Was ist los?“ „Ich fürchte, ich bin menschliche Nähe nicht gewohnt“, presste Kieran hervor. Besonders nicht, wenn ich einer Person nahe bin, für die ich derart viel empfinde. Richard erwiderte darauf nichts, aber es schien, als würde er über eine passende Antwort nachdenken – oder über etwas, das ihnen helfen könnte, die Situation zu überwinden. Kieran wiederum wünschte sich, nur für diesen Moment, mutiger zu sein, als er eigentlich war. Tapfer genug, um einfach die Gelegenheit zu ergreifen und... Er unterbrach sich in seinen eigenen Gedanken, als Richard sich bewegte. Einen flüchtigen Augenblick lang fürchtete er, dass sein Freund aufstehen und wieder in sein eigenes Bett wechseln würde, weswegen er sich automatisch fester an ihn klammerte. Doch Richard machte keine Anstalten, aufzustehen, stattdessen positionierte er sich nur so, dass er sanft Kierans Haar küssen konnte, was dessen Herz fast stillstehen ließ. „Meine Schwester hat das immer beruhigt“, erklärte Richard. „In jeder Sturmnacht kam sie in mein Bett und ich musste sie dann aufs Haar küssen, damit sie schlafen konnte.“ Kieran hätte am Liebsten geseufzt, da ihm diese Worte sagten, dass er ihn lediglich wie einen Bruder sah. Natürlich war dies etwas, wofür er sich überaus glücklich wähnte – aber insgeheim wünschte er sich eben doch weiterhin mehr. Aber das durfte niemand wissen, nicht einmal Richard. „Fühlst du dich nun besser?“, fragte er fürsorglich. Natürlich tat er das nicht, aber er wusste auch, dass es nichts bringen würde, es zu sagen, außer mehr Sorgen für seinen besten Freund, deswegen nickte er zustimmend. „Viel besser, danke.“ „Dann versuch jetzt zu schlafen“, meinte Richard müde. Die Worte klangen so endgültig, dass Kieran nichts mehr zu sagen wusste und deswegen schwieg, während er trotz der immer noch in seinem Inneren schwelenden Nervosität einzuschlafen versuchte. Seine Gefühle für Richard waren etwas, das nie jemand wissen dürfte, nicht einmal derjenige, den es betraf. Aber es war auch unwichtig. Er selbst brauchte keine Beziehung, ihm genügte die Freundschaft, die emotionale Nähe zu Richard – und deswegen würde er alles in seiner Macht stehende tun, um ihn zu beschützen, auch wenn das in diesem Moment noch nicht viel war. Aber egal, wie wenig er konnte oder wie schwach er war, er würde alles einsetzen, um Richard zu beschützen, sogar sein eigenes Leben, wenn es sein musste. Doch vorerst sank er erst einmal wider Erwarten in einen tiefen Schlaf, der frei von jedem Traum blieb. Manchmal wandelt sich Freundschaft eben --------------------------------------- Urlaub war mit Sicherheit das beste, was es für Nolan in einem ansonsten eifrigen Arbeitsjahr geben konnte. Besonders, wenn man diesen Urlaub in Gladshem verbringen konnte, dem Ort, an dem sich das ganze Jahr über Künstler der verschiedensten Richtungen aufhielten – und an dem es in jedem Sommer ein farbenfrohes Fest gab, zu dem das Leben und die Kunst gefeiert wurde. Er liebte diese Feier und versuchte deswegen stets, seinen Urlaub in diesen Zeitraum zu legen. Glücklicherweise war Frediano gütig genug, um ihm diesen Wunsch immer zu erfüllen – dass sie miteinander befreundet waren, half sicherlich ebenfalls. So konnte Nolan auch in diesem Jahr wieder einmal über das Fest schlendern. Über die Straßen gespannte bunte Girlanden wehten leicht im Wind, so dass es aussah, als würden sie gern mit zu der Musik tanzen, die vom Hauptplatz aus durch die gesamte Stadt zu klingen schien. Parallel zur Straße waren Seile gespannt, an denen leuchtende Lampions hingen, die sich die allergrößte Mühe gaben, die Dunkelheit mit ihrem warmen, gelblichen Leuchten zu vertreiben. Was sie nicht schafften, wurde von den Beleuchtungen der einzelnen Stände übernommen, an denen man allerlei Dinge kaufen konnte, es fing bei Souvenirs an und erstreckte sich dann über all jene Kunstgegenstände, die von Bewohnern und Besuchern der Stadt angefertigt worden waren. Wie jedes Jahr hielt er wieder am selben Stand inne, an dem Bilder und Bücher ausgestellt waren. Eine junge, rothaarige Frau hütete den Stand, saß aber weiter hinten in einer Ecke auf einem Stuhl und war darin vertieft, eine lange Pergamentrollen mit Worten zu füllen. Sie wirkte derart in das Schreiben versunken, dass Nolan es nicht übers Herz brachte, sie zu unterbrechen, auch wenn ihn interessiert hätte, wo der Mann geblieben war, den er die letzten Jahre hier angetroffen und mit dem er sich immer nett unterhalten hatte. So lief er allerdings direkt weiter, um zum Hauptplatz zu kommen, von wo aus nicht nur die Musik erklang, sondern auch der Geruch von Essen hergeweht wurde; für ihn eine der wichtigsten Stationen, wann immer er die Feier besuchte. Neben den Buden, an denen man Essen bekommen konnte, gab es in der Mitte des Platzes eine Tanzfläche – die um einen großen Brunnen herum aufgebaut worden war – auf der ein halbes Dutzend Paare in großzügiger rot-weißer Trachtenkleidung, die bei jeder Bewegung hinter ihnen wehte, tanzte. Nolan lächelte ein wenig, als er die Tanzenden beobachtete und dabei feststellte, dass neben einigen älteren Leuten auch viele junge Paare dabei waren, die offenbar an dieser Tradition interessiert waren und auch ihren Spaß bei dieser Sache hatten. Unwillkürlich musste er an seinen ersten Besuch dieses Festes denken und auch, wie sehr er sich schon bei diesem gewünscht hatte, nicht allein hier zu sein. Es musste ja nun nicht eine Frau sein, seit er Kavallerist war, blieb ihm ohnehin nicht mehr viel zu Zeit für Beziehungen, nein, vielmehr wünschte er sich, gemeinsam mit Landis ein solch großes Fest besuchen zu können. Auch in Cherrygrove war gefeiert worden, als sie noch Kinder gewesen waren, aber niemals so groß wie in dieser Stadt und er war davon überzeugt, dass es seinem Freund ebenfalls gefallen würde. Er seufzte innerlich bei diesem Gedanken. Konnte man jemanden, der einem vor zwei Jahren ins Gesicht gesagt hatte, dass er einen hasste, wirklich noch als Freund bezeichnen? Wann immer er dieses Erlebnis in seinem Kopf Revue passieren ließ, kam es ihm vor, als wären Landis' Worte eine verzweifelte Lüge gewesen – aber vielleicht redete er sich das nur ein, um sich selbst davon abzuhalten, seinen besten Freund nicht mehr zu mögen. Er wollte weiterhin auf seine Rückkehr, auf ein Wiedersehen, hoffen und auch auf eine Aussprache, egal, was zwischen ihnen vorgefallen war und das ging nur, wenn er sich immer wieder ins Gedächtnis rief, wie nah sie beide sich seit ihrer Kindheit gestanden hatten. Nah genug, dass nicht einmal Frauen je zwischen sie gekommen waren... jedenfalls nicht ernsthaft. Schließlich wandte er sich von den Tänzern ab und ging lieber an eine der Buden, um endlich zu essen. Wie jedes Jahr gab es eine reichhaltige Auswahl, das sich über verschiedenes Fleisch, Fisch – beides in allerlei Variationen – gebackene Teigwaren und auch Nudeln erstreckte, alles selbstverständlich frisch zubereitet. Nolan entschied sich für eine Bude, die Nudeln anbot und grüßte den gut gelaunten Verkäufer. „Eine Portion Curry-Nudeln“, antwortete er auf die Frage, was es sein dürfte. Der Verkäufer nickte verstehend und machte sich sofort an die Zubereitung. Nolan wiederum drehte sich zur Seite und sah sich um, als hoffte er tatsächlich, irgendjemanden zu entdecken, den er kannte. Allerdings erkannte er bald, dass all jene Personen gerade in New Kinging oder in Cherrygrove waren – und Personen aus Jenkan besuchten keine derartigen Feste. Landis hatte diese Leute nicht umsonst immer als Spießer bezeichnet. Während er wieder in Gedanken zu versinken drohte, hörte er hastige Schritte hinter seinem Rücken, die an der Bude innehielten. „He“, sagte der Neuankömmling kurzatmig. „Eine Portion Curry-Nudeln, bitte.“ Die Stimme kam Nolan allzu gut bekannt vor, aber er verwarf diesen Gedanken, ohne sich umzudrehen, weil er überzeugt war, dass seine Ohren ihm nur einen Streich spielten und er enttäuscht sein würde, wenn er sich umdrehte und dort nicht Landis vorfand. „Kommt sofort“, erwiderte der Verkäufer. „Aber Kumpel, du siehst echt nicht gut aus. Probleme?“ Der andere schnaubte. „Frauen eben...“ Das brachte den Mann hinter der Theke zum Lachen. „Ich weiß, was du meinst. Die können einem echt auf die Nerven gehen und sie wissen auch nie, was sie selbst wollen.“ Der Fremde stimmte ihm zu, lachte dabei zwar nicht, aber an seiner Stimme war deutlich hörbar, dass er gerade lächelte – und Nolan wusste gleichzeitig, dass es kein echtes Lächeln war, ohne hinzusehen. Um sich davon zu überzeugen, dass es wirklich nicht Landis war, drehte Nolan sich um – und hielt wie elektrisiert inne, als es tatsächlich sein bester Freund war, den er gerade vor sich sah und der ihn im Moment nicht weiter beachtete, weil er hungrig zu den kochenden Nudeln hinüberstarrte. Das gab Nolan die Gelegenheit, den anderen zu betrachten und dabei erschrocken festzustellen, dass Landis überraschend dünn geworden war. Noch dazu war er blass und Nolan hoffte, dass es nur in diesem Moment so war und er nicht ähnlich wie damals als Kind wieder angefangen hatte, diese furchtbaren Albträume zu haben. Diese Erinnerung ließ unzählige Emotionen in seinem Inneren hochkochen, die fast dafür gesorgt hätten, dass er ihn einfach aus dem Nichts heraus umarmt und ihn damit vermutlich zu Tode erschrocken hätte. Seine Ausbildung gab ihm aber die Möglichkeit, sich zu beherrschen – emotionale Ausbrüche in einem Kampf konnten immerhin tödlich enden – und seinen Gegenüber weiterhin nur anzusehen und darauf zu warten, dass dieser endlich den Blick von den Kochtöpfen nehmen würde. Und tatsächlich bemerkte er offenbar, dass er angestarrt wurde, denn schon einen kurzen Moment später, wandte er Nolan den Blick zu – und erstarrte ebenfalls, die Lippen aufeinandergepresst. Schweigend starrten sie sich mehrere Sekunden lang nur an und Nolan las deutlich in Landis' Augen, dass er sich nicht sicher war, ob das, was er sah, wirklich da war oder nur eine Einbildung. Deswegen beschloss Nolan, ihm zu bestätigen, dass er anwesend war: „He, Lan. Wie geht’s?“ Immer noch ungläubig streckte Landis nun den Arm aus und klopfte ihm auf die Schulter, was ihn wirklich zu überzeugen schien. „He, No...“ „Ah, kennt ihr euch?“, fragte der Verkäufer, während er beiden eine Schüssel mit dampfenden Nudeln hinstellte. „Zahlt ihr dann vielleicht zusammen?“ Landis wollte widersprechen, aber Nolan schnitt ihm das Wort ab und zog mehrere Münzen hervor, die er auf den Tresen legte: „Klar, ich übernehme das.“ Der Verkäufer lächelte zufrieden, bedankte sich und wandte sich dann anderen Kunden zu. Landis senkte den Kopf und begann zu essen – und so wie er aussah und sich dabei beeilte, störte Nolan ihn lieber nicht dabei und aß ebenfalls. Erst als seine Schüssel zur Hälfte geleert war, aß er wieder langsamer und Nolan ergriff die Gelegenheit, das Gespräch zu beginnen: „Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“ Nachdenklich runzelte Landis die Stirn, seine sich bewegenden Lippen zeigten, dass er tatsächlich dabei war, etwas zu zählen und so lange wie er brauchte, hoffte Nolan, dass es sich dabei höchstens um Stunden handelte. „Seit gestern Morgen“, antwortete er schließlich. „Heute bin ich zu spät aufgestanden und als Strafe gab es kein Frühstück.“ „Was war gestern mit Mittag- und Abendessen?“, hakte Nolan nach, er konnte nicht verstehen, wie Landis überhaupt noch fähig war, sich auf den Beinen zu halten. „Ausgefallen, weil ich zu tun hatte“, lautete die knappe Antwort. „Ist wohl ziemlich anstrengend, so mit einer Ehefrau und einer Familie.“ Es war einfach ins Blaue geraten und dennoch versetzte Nolan allein der Gedanke an diese Möglichkeit einen Stich in der Brust – einen jener Art, den er sonst nur hatte, wenn er hatte erkennen müssen, dass die von ihm Angebetete kein Interesse an ihm besaß oder bereits anderweitig vergeben war. Dementsprechend erleichtert war Nolan, als Landis amüsiert schmunzelte und den Kopf schüttelte. „Ich bin doch nicht verheiratet, meine Güte. Dafür hänge ich wohl auch noch zu sehr an meiner Vergangenheit.“ Er sagte nichts weiter und blickte stattdessen wieder auf seine Schüssel hinunter, in der inzwischen der Boden zu sehen war. Nolan ging allerdings auch ohne jedes weitere Wort automatisch davon aus, dass er Oriana meinte und das versetzte ihm einen weiteren Stich. Um das allerdings erst einmal zu vergessen, nahm er sich die Freiheit noch eine Portion für Landis zu bestellen, was dieser mit leuchtenden Augen zur Kenntnis nahm. „Was tust du jetzt eigentlich?“, fragte Nolan. „Wie lebst du so?“ Landis' Gesicht verdüsterte sich sofort. „Na ja, ich mache mal dies und mal das... und im Allgemeinen nicht viel. Ich lebe mit ziemlich vielen Frauen zusammen, das ist anstrengend genug.“ Er seufzte tief und schob sich einige Nudeln in den Mund. In Nolan weckte diese Antwort derweil einige Fragen und die wichtigste davon war: „Du lebst aber nicht in einem Bordell, oder?“ Schlagartig brach Landis in ein geradezu hysterisches Gelächter aus, das rasch in Husten mündete, als er sich an seinen Nudeln verschluckte. Nolan klopfte ihm auf den Rücken, bis es wieder zu einem Lachen wurde. „Was war das denn für eine Frage, No?“ „Na ja...“ Er entschied sich, die weniger ernste Alternative für eine Antwort zu wählen: „Würdest du in einem leben, hätte ich dich unbedingt zu Hause besuchen müssen.“ „Da fällt mir ein, dass dein Vater uns versprochen hatte, mal in eines mitzunehmen“, erwiderte Landis, nachdem er darüber wieder nur hatte lachen können. „Schade, dass daraus nie was geworden ist.“ „Ja“, sagte Nolan mit einem gequälten Lächeln, als er wieder an jene Nacht zurückdachte. Aber zu seinem Glück wechselte Landis bereits wieder das Thema: „Nun, wie auch immer, ich lebe jedenfalls nicht in einem solchen. Wäre aber vielleicht weniger nervig. Wie ist es mit dir?“ „Oh, ich bin Kavallerist – auf Urlaub. Nichts Außergewöhnliches also.“ Landis nickte verstehend. „Ja, das dachte ich mir eigentlich... Na ja, solange es dir Spaß macht...“ Damit hatte sein Beruf nun wirklich weniger zu tun, aber es stand Nolan nicht der Sinn danach, darüber zu sprechen. „Es muss Schicksal sein, dass wir uns heute getroffen haben.“ Landis schmunzelte wieder. „Warum? Hast du heute erkannt, dass du unsterblich in mich verliebt bist?“ „Vielleicht“, antwortete Nolan und zwinkerte ihm zu, aber die leise Stimme in seinem Inneren, die ihm zuflüsterte, wie wahr das doch wäre, ließ sich nicht davon überzeugen, dass er es nicht ernst meinte. „Eigentlich jedoch wollte ich immer mal dieses Fest mit dir besuchen, weil ich immer dachte, dass es dir gefallen könnte.“ In Landis' darauf folgendem Lächeln war deutlich Freude zu erkennen, die ohne jedes Wort verriet, wie glücklich er darüber war, dass sein bester Freund immer noch derart wohlwollend an ihn dachte. „Wenn du satt bist – he, ich bestell dir auch noch eine dritte Portion, wenn du willst – müssen wir uns unbedingt genauer umsehen.“ Landis lächelte ihn glücklich an und nickte, ehe er sich wieder auf seine Nudeln konzentrierte. Es waren insgesamt vier Portionen, die Landis benötigte, um endlich satt zu sein, aber Nolan störte sich nicht weiter daran. Stattdessen freute er sich darüber, dass während des Essens endlich wieder Farbe in das Gesicht seines Freundes zurückkehrte. Dabei achtete er auch sorgsam darauf, nicht noch einmal das Thema anzusprechen, was Landis im Moment tat oder bislang getan hatte, da es ihn äußerst unglücklich zu machen schien und Nolan ihn nicht so sehen wollte. Nein, im Gegenteil, er wollte ihn so glücklich wie möglich machen, auch wenn er nur eingeschränkte Mittel er dafür zur Verfügung hatte. So blass und unglücklich er zu Beginn ausgesehen hatte, so sehr kehrte auch der alte Landis wieder zurück, während sie weiter das Fest besichtigten. Die grünen Augen seines Freundes glühten voll kindlicher Freude über all das, was es zu entdecken gab, selbst wenn es sich dabei nur um ein Bild handelte, dessen Sinn sich Nolan nicht einmal ansatzweise erschloss. Je weiter die Nacht voranschritt, desto deutlicher kristallisierte sich Landis' altes Ich heraus, wie Nolan wohlwollend zur Kenntnis nahm. Zur gleichen Zeit merkte er aber auch immer deutlicher, dass die leise Stimme im Recht war und er sich nichts vormachen musste. Es war etwas, das er eigentlich schon vor so vielen Jahren erkannt, aber nie wirklich hatte wahrnehmen wollen und immer von ihm bereut worden war. Aber nun, in dieser Nacht, würde er die Gelegenheit nicht einfach so vorbeigehen lassen. Zum Abschluss des Festrundgangs beschloss Nolan ihm den Ort zu zeigen, an dem er sich am Ende immer hinsetzte, um sich erst einmal auszuruhen, ehe er ins Gasthaus zurückkehrte. Drei Treppen führten zu zu einer erhöhten Plattform, die auf der nahegelegenen Klippe lag. Dort oben stand neben einem kleinen Turm, der ein helles Licht aussendete, eine Bank, von der aus man über das angrenzende Meer aus Gras blicken konnte. Es war nicht dasselbe, als würde man einen echten Ozean bewundern, dessen Wasser im Mondlicht glitzerte, aber sobald der Wind die Grashalme zum Tanzen aufforderte, ähnelte das entstehende Rauschen durchaus dem des Meeres. Nolan saß gern an diesem Ort, um dem Rauschen und der leisen Musik vom Hauptplatz zu lauschen und dabei die entfernten Lichtpunkte anderer Städte am Horizont zu betrachten, wie sie nach und nach erloschen und ihm damit verrieten, dass es Zeit wurde, selbst ins Bett zu gehen. „Es ist schön hier“, sagte Landis, während er nun, auf der Bank sitzend, ebenfalls all das betrachtete. „Du hattest schon immer ein Händchen für solche Orte.“ „Jedem sein Talent, was?“ Nolan lachte wieder, aber Landis reagierte darauf nicht. „Lan, kann ich dich was fragen?“ „Versuch's einfach, dann werden wir es erfahren.“ Diese Erwiderung ließ Nolan unwillkürlich schmunzeln. „Wen hast du in der ganze Zeit am meisten vermisst?“ Es mochte eine kindische Frage sein, aber es interessierte ihn wirklich und von dieser Antwort würde abhängen, wie er weiter vorgehen sollte. Landis blickte schweigend in die Entfernung, aber es war deutlich, dass er nicht nachdachte, mit Sicherheit wusste er die Antwort bereits, war sich aber nicht sicher, ob er sie einfach so aussprechen sollte. Das konnte einiges bedeuten, wie Nolan wusste, da blieb ihm nur die Hoffnung, dass sie positiv für ihn ausfallen würde. „Wenn ich ehrlich sein soll“, begann Landis langsam, als fürchtete er die Reaktion des anderen, „dann warst das du... niemand sonst.“ Unwillkürlich griff er sich an die Brust, als würde sie schmerzen, ähnlich wie die von Nolan in den letzten Jahren. Aber nun wurde der Schmerz von einem unendlich wohltuenden Gefühl abgelöst. Selbst wenn das nur eine Lüge von Landis war, für ihn war es in diesem Moment genug – und er fühlte sich derart gut, dass er sich unbedingt bewegen musste. Er stand wieder auf und zog den verblüfften Landis dabei mit sich. Kaum standen sie beide, begann Nolan auch direkt zu der Musik zu tanzen und seinen Freund dabei mitzuziehen. „W-was soll das?!“, zischte er verlegen und hielt dabei den Blick gesenkt. „Du weißt doch, dass ich nicht tanzen kann!“ Nolan lachte amüsiert, während er sich gleichzeitig auf die Führung konzentrierte und dabei überrascht feststellte, dass er noch mehr beherrschte, als er gedacht hätte. „Ja, ich weiß. Du hast den Tanzunterricht während der Ausbildung immer geschwänzt. Ria war stets wütend auf dich.“ Die Erwähnung des Namens sorgte ausnahmsweise nicht zu einer Verdüsterung von Landis' Gesicht. „Ja, daran erinnere ich mich auch.“ Konzentriert starrte er auf seine Füße hinab, damit er nicht Nolan aus Versehen auf die Zehen treten würde, denn seine Bewegungen waren weitaus weniger grazil als die seines Tanzpartners. „Aber ich habe auch absolut kein Rhythmusgefühl, das wäre also nur verschwendete Zeit gewesen.“ „Aber alle Kavalleristen müssen tanzen können“, erwiderte Nolan amüsiert. „Und so schlimm ist es doch gar nicht, oder?“ Landis erwiderte murmelnd etwas, das kaum zu verstehen war. Mit jeder Bewegungen schienen seine Tanzschritte ein wenig besser zu werden, was nicht zuletzt – wie Nolan vermutete – an seiner überragenden Führung lag. Als das Lied schließlich endete, blieben sie beide stehen, trennten sich aber nicht voneinander, sondern umarmten sich, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. „Ich habe dich so sehr... vermisst“, murmelte Landis, das Gesicht gegen seine Schulter gedrückt. „Jeden... einzelnen... Tag...“ „Mir ging es genauso“, erwiderte Nolan, der noch vor gut zehn Jahren nie geglaubt hätte, so einmal mit Landis zu sprechen. „Und in all den Jahren wollte ich dir immer sagen, dass...“ Doch Landis schnitt ihm das Wort ab, indem er sich plötzlich von ihm losriss und ihm den Rücken zuwandte. „Nein, das geht alles nicht, nicht heute Nacht... ich muss wieder fort und du kannst nicht mitgehen. Dass ich überhaupt mit dir spreche, wird mir sicher Ärger einbringen.“ Nolan wollte ihn fragen, mit wem er diesen bekommen würde und warum es ihm, wenn ihn das alles so unglücklich machte, nicht möglich war, das alles einfach hinter sich zu lassen. Er wollte ihm anbieten, ihm zu helfen – aber er sagte nichts. Es war nicht das erste Mal, dass Landis einen Ton anschlug, der direkt verriet, dass es keinen Platz für Widerspruch gab und selbst nach all den Jahren erkannte er diesen noch allzu gut. Dagegen zu argumentieren war sinnlos, so sehr Nolan diese Erkenntnis auch schmerzte. „Wirst du irgendwann wieder zurückkommen?“ „Ich hoffe es“, antwortete Landis leise. Nolan wollte diese schlagartig angespannte Atmosphäre nicht hinnehmen und atmete tief durch. „Gut, das werde ich akzeptieren müssen... dafür kenne ich dich zu gut. Aber ich will dir etwas sagen, das dich vielleicht dazu bewegen wird, wirklich wieder zurückzukommen.“ Landis drehte sich nicht zu ihm und wartete darauf, was es noch zu sagen gab. Nolan trat auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und näherte sich mit den Lippen seinem Ohr, um ihm lächelnd etwas zuzuflüstern: „Ich liebe dich, Landis.“ Als Nolan am nächsten Morgen in seinem Zimmer im Gasthaus erwachte, war er nicht sicher, ob seine Begegnung mit Landis nicht nur Teil eines Traums gewesen war. Sicher, es hatte sich echt angefühlt und er glaubte auch immer noch die Lippen seines Freundes auf seinen eigenen zu spüren, als Erwiderung auf das Geständnis. Aber vielleicht – er hielt das für gut möglich – hatte er sich auch nur betrunken, war dann ins Bett gefallen und das alles nur sehr lebhaft geträumt. Vielleicht wäre es auch besser, wenn er diese Möglichkeit als Tatsache akzeptieren würde, dann hielte sich die Enttäuschung in Grenzen, wenn er irgendwann die Wahrheit erfuhr. Immerhin blieb der obligatorische Kater danach aus, was ihm dabei half, seine Tasche zu packen und sich dann auf den Heimweg zu machen. Doch als er an der Rezeption vorbeikam, wurde er von einer Angestellten aufgehalten: „Sir Nolan! Ich habe hier eine Nachricht für Sie!“ Verwundert trat er an die Rezeption und ließ sich erklären, dass früh am Morgen jemand vorbeigekommen war, um einen Brief zu hinterlassen. Nolan konnte sich allerdings nicht vorstellen, wer das gewesen sein könnte, außer vielleicht... Mit einem strahlenden Lächeln überreichte sie ihm schließlich den Brief, ehe sie sich von ihm verabschiedete und nebenbei erwähnte, dass sie sich – wieder einmal – freuen würde, wenn er erneut bei ihnen zu Gast sein wollte. Er bedankte sich und verließ das Gasthaus. Erst als er in der Kutsche saß, die ihn zurück nach New Kinging bringen sollte, öffnete er den Umschlag und zog den Brief heraus. Es war keine ausschweifend geschriebene Nachricht, nur wenige Zeilen, aber er erkannte die Handschrift sofort und allein das verriet ihm, dass die Ereignisse der letzten Nacht nicht nur ein Traum gewesen waren. Eine erleichternde Erkenntnis, die ihn wieder einfacher Luft holen ließ. Deswegen konnte er diese Nachricht nur immer und immer wieder lesen und sie langsam verinnerlichen. Ich verspreche dir, dass ich eines Tages zurückkommen werde und dass dann alles besser werden wird. Warte bitte so lange auf mich, auch wenn das vielleicht zu viel verlangt ist und ich dir nicht einmal sagen kann, wann es soweit sein wird. Ich liebe dich, Nolan. Landis Süßes für die Süßen ------------------- Es war einer der seltenen Tage an denen Claudia Caulfield sich ausnahmsweise einmal gesund fühlte. Ihre Brust stach nicht, wenn sie einatmete; ihr Kopf drohte nicht zu explodieren und ihre Knie gaben nicht unter ihr nach, als sie sich aufzurichten versuchte. Das feierte sie damit, dass sie das Fenster öffnete und sich streckte, während sie die frische Luft tief einatmete. Dabei ignorierte sie, dass der noch kühle Frühlingswind ihr silbernes Haar zerzauste und damit jegliche Bemühungen, es mit der Bürste zu zähmen, wieder zunichte machte. Da sie aber nicht vorhatte, fortzugehen, kümmerte sie das nicht weiter, als sie schließlich ihr Zimmer verließ und sich auf die Suche nach ihrem Sohn Frediano machte. Ein Tag, den sie nicht im Bett verbrachte, wollte sie unbedingt mit ihm verbringen, damit er sich nicht weiter zurückgesetzt fühlen musste. Seit vielen Jahren schon litt sie unter einer Krankheit, die sie immer wieder für mehrere Tage ans Bett fesselte und sie regelrecht in ein Delirium versetzte, so dass sie nicht mitbekam, was um sie herum vorging. Wenn sie manchmal wieder daraus erwachte, fürchtete sie sogar, dass ihr Mann in ihrer Abwesenheit Dinge getan hätte, um sie endgültig loszuwerden. Kein Arzt kannte eine Heilung, es gab nichts, was man dagegen tun konnte, außer das Unabwendbare weiter hinauszuzögern. Es ärgerte Claudia, versetzte sie in einen geradezu rauschartigen Wutzustand, dass sie selbst auch keine Heilmöglichkeit fand und nicht einmal jemanden kannte, der ihr weiterhelfen könnte. Die einzige Alternative, die ihr einfiel war, ihren Stolz hinunterzuschlucken und die Sternennymphe um Hilfe zu bitten – aber eher würde sie sich die Zunge abbeißen, daher kam das auch nicht in Frage. Allein der Gedanke an diese nervige Blondine, die dauernd ihre mangelnde Musikalität und blatante Dummheit zur Schau stellen musste, ließ ihr Blut wieder kochen. Aber all diese finsteren Gedanken verflogen sofort, als sie in das Zimmer trat, in dem Frediano den Großteil des Tages mit seinem Kindermädchen verbrachte. Es war ein riesiger Raum im Anwesen, der mit allerlei Spielzeug gefüllt war. Dario verbrachte nicht viel Zeit mit seinem Sohn, dafür bekam er umso mehr Dinge geschenkt, die ihm die Zeit vertreiben und ihn vergessen lassen sollten, wie unglücklich er eigentlich war – und es tat Claudia in der Seele weh, dass sie auch nicht helfen konnte, ihn sich besser fühlen zu lassen, weil sie auch nur selten Zeit für ihn fand. Zumindest konnte sie sich auf Amy verlassen, die gute Seele, die jeden Nachmittag nach Fredianos Unterricht mit ihm verbrachte – und die an diesem Tag ungewöhnlich blass aussah. Ihre Haut war geradezu aschfahl, so als stünde sie mit einem Fuß bereits im Grab und wüsste das nur noch nicht. Ihr dunkelblondes, sonst so wunderbar lebendiges Haar, das wie immer zu einem Zopf gebunden war, fiel kraftlos herab. Noch dazu hustete sie mehrmals, während Claudia sie beobachtete und dabei von keinem der beiden bemerkt wurde. Sie saß gemeinsam mit Frediano an einem Tisch gegenüber der Tür, direkt am Fenster und hatte sichtlich Mühe, sich aufrecht zu halten. Ausgehend von ihren Worten, mit denen sie ihm leise etwas erklärte, konnte Claudia schließen, dass sie gerade Hausaufgaben machten. Frediano hielt im Schreiben inne und blickte zu ihr. „Geht es noch? Wenn nicht, kannst du auch nach Hause gehen, Amy.“ „Nein, nein“, sagte sie und bemühte sich, zu lächeln. „Es wird bestimmt bald besser.“ „Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“ Claudia ging näher, bis sie bei Frediano angekommen war und ihm eine Hand auf die Schulter legen konnte. „Wir brauchen Sie noch eine Weile, Amy, vielleicht sollten Sie sich lieber zu Hause ausruhen. Ich könnte mich heute um ihn kümmern.“ Fredianos Augen leuchteten bei dieser Aussicht freudig auf, was sie mit einiges an Zufriedenheit erfüllte, immerhin liebte er sie also noch, obwohl sie so selten Zeit für ihn fand. „Ist das wirklich in Ordnung?“, fragte Amy, sah dabei aber ihren kleinen Schützling an, der sofort nickte, nicht, um sie loszuwerden, sondern vielmehr aus Sorge um sie. „Mach dir keine Gedanken um mich“, sagte er. „Ruhe dich lieber ein wenig aus.“ Mit einem sanften Lächeln verabschiedete sie sich von ihm, dann tat sie dasselbe bei Claudia, begleitet von einem respektvollen Knicks und ging dann hinaus, immer noch leise hustend. Selbst als die Tür sich hinter schloss und sie sich langsam entfernte, konnte man ihr verklingendes Husten auf dem Gang hören. Claudia wartete ab, bis es vollständig verstummt war, dann sah sie Frediano an. „Ist sie schon lange krank?“ Frediano blickte ein wenig zur Seite, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass er nachdachte und dabei in seinen Erinnerungen kramte – wo er schließlich die Antwort auf ihre Frage fand: „Seit etwa zwei Monaten. Anfangs war es noch nicht so schlimm, aber inzwischen ist es sehr besorgniserregend.“ Er seufzte leise. „Ich habe ihr schon oft gesagt, dass sie sich lieber ausruhen soll, nachdem der Arzt nichts finden konnte. Aber sie meinte, sie kann mich nicht allein lassen.“ Nach diesen Worten verzog er das Gesicht ein wenig. „Ist es meine Schuld, dass es ihr so schlecht geht?“ Sie fand es geradezu überwältigend, wie gutmütig und mitfühlend Frediano war und fragte sich, von welcher Seite der Familie er das wohl haben mochte. Von ihrer sicherlich nicht – und auch wenn sie Darios Eltern nicht kannte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass einer von diesen auch nur einen Hauch von Empathie in sich getragen hatte. Mit einem beruhigenden Lächeln strich sie ihm durch das weiße Haar. „Keine Sorge, mein Lieber, es ist nicht deine Schuld. Manchmal werden... Menschen einfach krank.“ Sie bemühte sich, dieses eine Wort nicht besonders zu betonen. Bislang wusste niemand aus ihrer Familie davon, dass sie eine Hexe war und das sollte auch so bleiben. Frediano atmete erleichtert auf. „Dann bin ich auch bei dir nicht Schuld daran?“ Sofort hielt sie inne, ihre Hand lag noch immer auf seinem Kopf. „Dachtest du das etwa?“ Er blickte zu Boden und nuschelte eine Bestätigung. Dabei klang und wirkte er derart traurig, dass Claudia leicht in die Knie gehen und ihn umarmen musste, was er damit quittierte, dass er seine Arme um sie schlang und sich schutzsuchend an sie drückte. „Du bist nicht schuld“, sagte sie leise. „Glaub mir, du bist einer der wenigen Gründen, warum es mir überhaupt gut geht – und Amy denkt sicher genauso.“ Sie war seit seinem sechsten Lebensjahr sein Kindermädchen – davor war er in einer Tagesstätte betreut worden, ehe Dario es aus unerfindlichen Gründen für besser gehalten hatte, ihn zu Hause unterrichten und auch betreuen zu lassen – und in all dieser Zeit hatte sie Frediano sehr in ihr Herz geschlossen, das wusste Claudia. Selbst an ihren freien Tagen kam Amy, wenn sie konnte; sie kam früher, wenn sie musste und sie blieb auch länger, wenn Frediano es erforderte. Einerseits schmerzte es Claudia, dass sie ihren Sohn immer an Amy weitergeben musste, wenn er mehr Aufmerksamkeit, zum Beispiel wegen einer Krankheit, benötigte. Aber gleichzeitig fühlte sie sich auch beruhigt, denn sie wusste, dass er bei Amy in guten Händen war und das war viel wert. Schließlich löste sie sich wieder von Frediano. „Willst du deine Hausaufgaben nicht lieber vergessen? Wir könnten heute viel Spaß zusammen haben~. Genau, lass uns erst einmal etwas Leckeres essen gehen!“ „Aber ich habe doch schon gegessen“, erwiderte er, da er es gewohnt war, auf feste Regeln zu achten, die ihm von seinem Vater eingebläut worden waren. „Aber nicht so etwas Gutes wie das, wohin ich dich einladen werde – du darfst es Dario eben nicht erzählen.“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Er lächelte ein wenig unsicher, fast schon furchtsam, immerhin war er nicht gut darin, gegen Regeln zu verstoßen und das auch noch für sich zu behalten, aber dennoch nickte er und stand auf. Doch noch ehe er sich richtig in Bewegung setzte, steckte er die Hände in die Taschen seiner Hose und kramte rasch mehrere bunt eingewickelte Bonbons hervor, die er auf den Tisch legte. Im ersten Moment ging Claudia davon aus, dass es sich dabei um Geschenke von Amy handelte, aber sie wusste genau, dass das Kindermädchen so etwas nicht tun würde und der Grund lag nahe. „Von wem hast du die?“, fragte Claudia. Frediano betrachtete die Bonbons abweisend. „Lady Deirdre schenkt sie mir immer, wenn wir uns sehen. Es ist unhöflich, ihr zu sagen, dass ich keine Süßigkeiten mag, deswegen nehme ich sie an.“ Allein der Name dieser Person brachte Claudias Blut zum Kochen. Lady Deirdre war die Vizekommandantin der Kavallerie – aber sicherlich nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern vielmehr, weil sie eine sehr enge Bindung zu Dario besaß. Claudia wusste davon, aber sie konnte nichts dagegen tun, ohne nicht ihren Mann bloßzustellen und damit ihre Ehe zu zerstören und das war nun wirklich das letzte, was sie wollte. „Hast du noch mehr davon?“, fragte Claudia. „Nein, ich habe sie immer Amy gegeben, weil sie Süßigkeiten mag.“ Sie nickte verstehend, beschloss dann aber, erst einmal nicht weiter darüber nachzudenken – auch wenn sie bereits einen finsteren Verdacht in ihrem Inneren hegte – und lächelte Frediano an: „Lass uns jetzt einen schönen Tag haben, ja?“ Claudia verbrachte den gesamten Nachmittag mit Frediano. Nicht in dem schillernden Viertel, in dem die Reichen und Adeligen verkehrten, sondern in einem Restaurant auf der Hauptstraße in dem hauptsächlich Reisende oder Händler einkehrten, die keinen von ihnen kannten und in dem es leckere Mahlzeiten gab, die einen sättigten, zu einem Preis für den man nicht gerade all seinen Besitz verkaufen musste. Frediano erzählte dabei nur von Dingen, die er während des Heimunterrichts oder mit Amy erlebt hatte und nicht zum ersten Mal bemerkte Claudia, dass es Freunde waren, die ihrem Sohn fehlten, er aber nicht einfach so bekommen konnte. Am Abend kehrten sie rechtzeitig wieder zum Dinner nach Hause zurück, so dass Dario nichts von dem Regelverstoß erfuhr. Erst spät in der Nacht, als alle im Haus bereits schliefen, kehrte Claudia in Fredianos Spielzimmer zurück, um die Bonbons näher in Augenschein zu nehmen. Sie lagen immer noch dort, wo Frediano sie zurückgelassen hatte, so dass sie nicht einmal das Licht entfachen musste, um sie wiederzufinden. Kaum hielt sie die Süßigkeiten in der Hand, schauderte sie. Die feine Magie, die sie umgab und stets aktiv war, verriet ihr selbst bei diesem geringen Kontakt, dass eine gefährliche, eine giftige, Substanz in diesen Bonbons enthalten war. Nicht genug, um jemanden direkt zu töten – so etwas würde auch Misstrauen erwecken – aber über einen längeren Zeitraum hinweg eingenommen, würde man langsam wie an einer Krankheit dahinsichen; Amy war das beste Beispiel dafür. Also war es doch Fredianos Schuld gewesen, dass sein Kindermädchen nun derart krank war – aber es war nicht in seiner Absicht gelegen und deswegen würde sie ihm auch nichts davon sagen und stattdessen die eigentlich Schuldige dafür die Konsequenzen tragen zu lassen. Mit einem wütenden Knurren fuhr sie herum und nur kurze Zeit später klopfte sie, eingehüllt in einen schwarzen Umhang, gegen Deirdres Haustür. Es dauerte nicht lange, bis ihr geöffnet wurde. Um diese späte Uhrzeit trug Deirdre ihre Uniform, in der Claudia sie sonst sah, nicht, aber der dunkelblaue Morgenmantel aus Seide schmiegte sich ähnlich an ihre grotesk dünne Figur, an der Darios Frau absolut nichts Interessantes entdecken konnte; das dunkelbraune Haar fiel ausnahmsweise offen über ihre Schultern, statt anständig hochfrisiert zu sein. Das Lächeln auf ihren Lippen, das sie getragen hatte, als die Tür geöffnet worden war, erfror augenblicklich, als sie erkannte, dass es sich bei ihrem unerwarteten Besuch um niemanden handelte, der ihr freundlich gesinnt war. Sie öffnete ihren Mund, doch noch ehe ein Wort diesen verlassen konnte, hatte Claudia ihre rechte Hand um Deirdres Hals gelegt und führte sie stumm wieder ins Haus zurück. Erst als die Tür geschlossen war, brach Claudia das Schweigen wieder: „Ich habe deine Spielchen langsam satt!“ Gespielt schockiert riss Deirdre die Augenbrauen hoch. „Was meint Ihr damit, Lady Caulfield?“ „Komm mir nicht damit!“ Sie löste ihre Hand vom Hals der Konkurrentin, holte die Bonbons hervor und schleuderte ihr diese entgegen. „Ich weiß, dass du vorhattest, meinen Sohn zu vergiften!“ Deirdre wurde blass und blickte auf die Süßigkeiten hinab. Die farbenprächtigen Verpackungen hatten sich gelöst, die Bonbons an sich waren zersplittert und knirschten leise, als Claudia zuguterletzt noch auf sie trat. „Ich habe keine Ahnung, was du damit bezwecken wolltest“, fuhr sie düster fort. „Aber niemand – absolut niemand – vergreift sich ungestraft an meiner Familie!“ Deirdres Mundwinkel zuckten, aber ihre Augen verrieten, dass sie zu viel Furcht verspürte, um etwas erwidern zu können oder vielleicht sogar nur über eine passende Antwort nachdenken zu können. „Ich habe dir schon viel zu lange alles nachgesehen“, sagte Claudia. „Es wird Zeit, dass ich dir zeige, was ich von dem halte, was du tust.“ Sie starrte Deirdre direkt an, ihre blauen Augen begannen zu leuchten und in diesem Moment wurde der Blick der Vizekommandantin leer. „Du wirst dein gesamtes Gift selbst zu dir nehmen“, sprach Claudia deutlich, ein Widerhall in der Stimme, dem erfahrungsgemäß – in Kombination mit ihren Augen – niemand widerstehen konnte. Deirdre bildete da keine Ausnahme, sie deutete ein Nicken an, sagte jedoch nichts mehr. Stattdessen ging sie in die Knie und begann damit, die Bonbon-Splitter aufzusammeln und sich diese in den Mund zu stecken. Claudias Augen hörten auf zu leuchten, im selben Moment spürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust, der ihr verriet, dass sie zu viel ihrer Kraft eingesetzt hatte. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Haus wieder, damit Deirdre sich von ihr nicht gestört fühlen könnte – und erlaubte sich draußen, mit einem Keuchen gegen die nächstgelegene Wand zu sinken. Sie griff sich an die noch immer schmerzende Brust, die ihr das Atmen erschwerte. Wie tief bin ich nur gesunken? Aber immerhin hatte sie sich endlich um dieses Problem gekümmert, nun würde hoffentlich niemand mehr versuchen, ihren Sohn töten zu wollen – oder ihre Ehe zu zerstören. Langsam, sich weiterhin an Wänden abstützend, machte sie sich wieder auf dem Weg nach Hause, um sich von dieser Anstrengung zu erholen. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie schließlich in Fredianos Zimmer schlich. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie feststellte, dass er tief schlief und dabei sein Kissen umarmte. Sie setzte sich auf die Kante seines Bettes und strich ihm vorsichtig über das Haar. Er quittierte das mit einem glücklichen Lächeln, was sie zufrieden seufzen ließ. Sie beugte sich zu ihm hinunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe, der ihn nicht weckte. „Ich schwöre dir, Frediano“, murmelte sie kaum hörbar, „ich werde alles tun, um dich zu beschützen. Solange ich lebe, wird dir niemand je etwas antun.“ Seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte. Also strich sie ihm noch einmal durch das Haar und stand dann auf, um selbst ins Bett zu gehen. Am nächsten Morgen würde man Deirdre tot in ihrem Haus auffinden und es nach einigem Nachforschen als Selbstmord deklarieren. Nicht lange danach sollte auch Amy sterben – und Frediano daraufhin gegen Claudias Willen nach Cherrygrove geschickt werden. Aber von all dem ahnte sie noch nichts, als sie müde in ihr Bett sank und einschlief, noch ehe ihr Kopf das Kissen berührt hatte. Familie ------- Manchmal beneidete Asterea ihren Mann regelrecht. Er arbeitete und daher war er oft nicht zu Hause, was ihm durchaus recht war – und was sie auch gern hin und wieder hätte erleben dürfen. Besonders in der Ferienzeit, wenn Nolan verreist und Landis deswegen den ganzen Tag zu Hause war, wünschte sie sich, einfach irgendwohin gehen zu können, eine Ausrede dafür zu besitzen. Aber da sie keine solche hatte, musste sie sich selbst beim Kochen, wie an diesem Tag, mit seinem gelangweiltem Starren abgeben. Anfangs hatte sie versucht, ihn in den Kochprozess einzubeziehen, aber er hatte sich entweder derart ungeschickt angestellt oder aber ein so großes Chaos veranstaltet, dass sie ihn gebeten hatte, ihr nie mehr zu helfen, es sei denn, sie würde ihn darum auf Knien anflehen. Das hielt ihn aber dennoch nicht davon ab, sie immer zu beobachten, auch heute, während sie den Teig vor sich zu möglichst gleichmäßigen Brötchen formte. „Willst du nicht vielleicht lieber draußen spielen?“, fragte sie schließlich. Er schob die Unterlippe ein wenig vor. „Nerve ich dich etwa?“ Sie haderte mit sich, ob sie ihm das bestätigen sollte, aber schließlich entschied ihr erst kürzlich erwachter Mutterinstinkt, dass sie lieber etwas anderes sagen sollte: „Nein, aber es muss doch furchtbar langweilig sein für dich.“ „Draußen ist es auch langweilig. Nolan ist bei seinen Großeltern in Jenkan.“ Er machte eine kurze Pause. „Und Ria ist mit ihren Großeltern verreist. Keiner hat Zeit für mich.“ Er seufzte leise, enttäuscht und auch einsam – beides Dinge, bei denen Asterea ihm nicht mehr böse sein konnte, dass er sie derart mit seinem Starren nervte. Sie glaubte, er würde ihr gleich verraten, dass er sich furchtbar einsam ohne all seine Freunde fühlte, aber stattdessen überraschte sie mit einer vollkommen anderen Frage: „Warum habe ich keine Großeltern?“ Das Thema war derart heikel, dass Asterea beschloss, den Teig erst einmal sich selbst zu überlassen und sich neben Landis zu setzen, um auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Er blickte sie abwartend an, während sie überlegte, was genau sie ihm eigentlich sagen sollte. Die Geschichte von Richards Eltern war schnell erklärt, aber sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie ein Naturgeist war und deswegen nicht einmal Erzeuger hatte. Deswegen entschied sie sich, mit Richards Familie anzufangen. Bislang hatten sie noch nie mit Landis über dieses Thema gesprochen, aber da er auch selbst erst seit kurzem auf seine Umwelt reagierte, war es von keinem der beiden bislang als notwendig erachtet worden. „Die Eltern und die Schwester deines Vaters sind vor vielen Jahren bei einem... Brand in ihrer Heimat umgekommen.“ Sie beschloss, die Wahrheit ein wenig zu beschönigen, mit seinen acht Jahren musste er immerhin noch nicht über alles Furchteinflößende in dieser Welt Bescheid wissen. „Die gesamte Stadt wurde damals zerstört und so kam Richard auch hier nach Cherrygrove.“ Er blickte sie abwartend an, aber etwas in seinen Augen verriet ihr immerhin, dass er das verstanden hatte und sich merken würde. Nun wartete er aber auf die Geschichte ihrer Familie und sie wusste nicht so recht, was sie erzählen sollte. Also beschloss sie, einfach zu improvisieren. „Na ja, weißt du... ich erinnere mich nicht an meine Eltern. Sie sind gestorben, als ich noch viel jünger war als du jetzt. Meine Schwestern haben mich aufgezogen.“ Das war nicht vollkommen gelogen, immerhin bestand der Großteil ihres Lebens aus der Zeit, die sie gemeinsam mit den anderen Nymphen verbracht hatte. Kreios, ihr Schöpfer, nahm da nur einen sehr geringen Teil ein. „Meine Großeltern sind also alle tot“, fasste Landis monoton zusammen. „Wie blöd.“ Sein letzter Satz klang derart süß, dass sie sich das Kichern verkneifen musste, um ihn nicht aus Versehen zu beleidigen. Lieber versuchte sie, ihn aufzumuntern: „Aber du hast doch uns. Reicht das nicht?“ Auch wenn sie sich ihm gegenüber nicht immer sonderlich nett oder vorteilhaft verhalten hatte und sich durchaus im Klaren war, dass er das ebenfalls anführen würde. Aber stattdessen verzog er die Lippen ein wenig. „Doch, natürlich. Aber ihr seid erwachsen – und habt auch nicht immer Zeit für mich oder wollt mit mir spielen. Das ist okay. Onkel Kieran sagt, Erwachsene haben wichtige Dinge zu tun, damit wir Kinder ein schönes Leben haben können. Aber Großeltern sind da eben wieder was ganz anderes, das hat Tante Aydeen gesagt.“ Das konnte Asterea weder bestätigen noch verleugnen, sie kannte sich nicht mit Familien aus, aber sie war davon überzeugt, dass Aydeen schon wusste, wovon sie redete. Angestrengt nachdenkend runzelte er die Stirn. „Großeltern sind auch ganz anders. Ich habe versucht, mich mit denen von Nolan und Oriana, äh, gutzustellen, aber keiner von denen mag mich.“ Schmollend stieß er Luft durch seine geschlossenen Lippen und pustete damit eine Strähne aus seiner Stirn. Sie musste ihm bei nächster Gelegenheit unbedingt wieder das Haar schneiden. „Großeltern sind viel komplizierter als Eltern“, schloss er. „Deswegen will ich eigene Großeltern.“ In einer tröstenden Geste legte sie ihm eine Hand auf den Arm. „Es tut mir wirklich Leid, Schatz.“ Allerdings verstand sie immer noch nicht, warum er unbedingt Großeltern haben wollte. Immerhin wusste sie aus sicherer Quelle, dass Nolan seine nicht sonderlich gut leiden konnte – und Oriana sah ihre nur einmal im Jahr, wenn überhaupt. Um herauszufinden, was genau ihn bewegte, außer vielleicht Langeweile, fragte sie ihn einfach direkt, was er sich von eigenen Großeltern erhoffte und zu ihrer großen Freude antwortete er sogar: „Wenn ich welche hätte, wüsste ich, wie sehr No seine mag. Ich glaube, er mag sie mehr als mich, auch wenn er immer über sie schimpft – und dass er deswegen irgendwann ganz bei ihnen bleiben wird.“ „Oh Lan...“ Ergriffen legte sie eine Hand auf ihr Herz. Die einzige Sorge ihres Sohnes war also, dass sein bester Freund ihn irgendwann nicht mehr genug mögen könnte, um wieder nach Cherrygrove zurückzukehren. Das erleichterte sie ziemlich, denn sie hatte bereits angefangen, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, dass sie ihm auch keine Großeltern bieten konnte. Um ihn weiter zu trösten, zog sie ihn ihre Arme und strich ihm beruhigend über den Rücken. „Hör zu, Lan. Familie ist immer anders, als Freunde. Man liebt beide auf ihre ganz eigene Art und Weise, das kann man einfach nicht erklären. Deswegen musst du dich auch nicht mit Nos Großeltern vergleichen.“ Landis erwiderte die Umarmung nur verhalten. „Dann heißt das... ihr werdet mich auch nicht allein lassen? Du und Papa?“ „Natürlich nicht“, antwortete Asterea lächelnd. „Wie kommst du denn auf diese Idee?“ „Nolans Großeltern haben gesagt, ich wäre ein so missratener Bursche, dass es sie nicht wundern würde, wenn ihr beide mich irgendwann im Wald aussetzt.“ Sie musste zugeben, dass es sie sehr überraschte und auch verärgerte, dass Aydeens Eltern es sich herausnahmen, ihrem Sohn so etwas zu sagen. Sicher, Landis mochte sich nicht immer von seiner besten Seite zeigen, manchmal war er sehr anstrengend und besonders wenn er mit Nolan zusammen war, vergaß er auch gern jegliche Erziehung und Zurückhaltung – aber das war kein Grund, ihm so etwas ins Gesicht zu sagen, vor allem, wenn Richard sich sehr über die inzwischen eingezogene Normalität seines Sohnes freute. „Das würden wir nie tun“, versprach sie ihm, worauf seine Umarmung inniger wurde. „Dein Vater und ich lieben dich sehr, Landis.“ Und zum ersten Mal, als sie das sagte, konnte sie ihren eigenen Worten Glauben schenken und spüren, dass ihr Herz ihn wirklich als Teil von ihr akzeptiert hatte. Schon allein dafür, dass der Rest der Welt ihn anscheinend nicht leiden mochte. Kein Mensch – oder halber Naturgeist in diesem Falle – hatte es verdient, derart verachtet und dann nicht einmal von seiner eigenen Mutter geliebt zu werden. „Wann immer du uns brauchst, werden wir da sein“, versprach Asterea ihm. „Dafür gibt es immerhin die Familie. Sie fängt dich auf, wenn niemand anderes dich halten kann.“ Zumindest waren das all ihre Beobachtungen in den letzten Jahrhunderten gewesen, zusammen mit ihren Erfahrungen, die sie mit ihren Schwestern gemacht hatte. „Danke, Mama“, murmelte er leise in die Umarmung hinein. Damit war die Atmosphäre plötzlich wesentlich friedvoller und Asterea fühlte sich wesentlich erleichterter. „Willst du mir dann jetzt beim Kochen helfen?“ Er löste sich wieder ein wenig von ihr und runzelte die Stirn. „Dafür musst du mich aber erst auf Knien anflehen.“ Mit einem amüsierten Lachen ließ sie ihn los, stand von ihrem Stuhl auf und ging vor ihm auf die Knie, die Hände vor der Brust gefaltet. „Oh, mein bester und tapferster Landis, bitte hilf einer Frau in Not und backe gemeinsam mit mir Brötchen~! Ohne dich ist es unmöglich zu schaffen!“ Trotz des zuvor noch so ernsten Themas, setzte er nun gespielt nachdenkliches Gesicht auf, während er sich den Finger an das Kinn legte. Doch schließlich nickte er großmütig. „Wenn Ihr mich so bittet, Gnädigste, kann ich kaum ablehnen. Ich werde Euch helfen!“ Lachend erhob sie sich wieder und schloss ihn noch einmal in die Arme, ehe sie ihm alles reichte, was er dafür benötigte und sich dann gemeinsam mit ihm an die Arbeit machte. Als Landis Stunden später erschöpft ins Bett fiel und friedlich schlief, fühlte Asterea wieder, wie sie jemand anstarrte – aber dieses Mal handelte es sich um den Blick von Richard. Er stand vor der Arbeitsfläche, Arme und Oberkörper darauf gebeugt, während sie einige Schritte entfernt stand. „Was ist denn?“, fragte sie verlegen, während sie sich weiter darauf zu konzentrieren versuchte, die Küche sauberzumachen. Dieses Mal hatte Landis wesentlich weniger Chaos hinterlassen, aber durch die gegen Schluss entstandene Wasserschlacht zwischen den beiden – die von Asterea initiiert worden war – war die Küche einem Schlachtfeld nicht mehr fern gewesen. Inzwischen war sie aber fast mit dem Säubern fertig, so dass sie Richards Blick überhaupt erst bemerkte. „Ich habe nur gerade nachgedacht“, sagte er mit überraschend sanfter Stimmer, die sie, so glaubte sie jedenfalls, noch nie von ihm gehört hatte. „Und worüber?“ Er lächelte ein wenig. „Darüber, dass ich das Gefühl habe, dass du und Landis euch heute sehr viel näher gekommen sein müsst.“ Diese Beobachtung zauberte ein stolzes Lächeln auf ihr Gesicht. „Ja, das ist richtig. Wir hatten heute ein sehr emotionales Gespräch zwischen Mutter und Sohn und stehen uns jetzt sehr nahe.“ „Das freut mich.“ So wie er das sagte, wusste Asterea sofort, wie viel es ihm bedeutet hatte, dass sie und Landis sich näherkommen würden, wohl nicht zuletzt, weil er viel Wert auf ein inniges Familienleben legte, jedenfalls soweit es auch seine Gefühle zuließen. „Dann freut es mich auch“, sagte sie lächelnd. Schließlich löste er sich von der Arbeitsfläche, ging zu Asterea hinüber und legte die Arme um sie. „Lass die Küche für heute mal Küche sein, ja?“, flüsterte er. „Lass uns lieber schlafen gehen.“ Bei einer solchen Aufforderung, die viel zu selten von ihm kam, wie sie fand, konnte sie nicht widerstehen. Sie ließ das Tuch einfach an Ort und Stelle liegen, löschte das Licht und ging dann gemeinsam mit ihm aus der Küche hinaus. Damit lag der Raum, in dem an diesem Tag so viel geschehen und der von Lachen erfüllt gewesen war, im Dunkeln und vollkommen still. Unangenehm... für dich oder für mich? ------------------------------------- Landis war oft nervös, das wusste jeder inzwischen. Aber das änderte nichts daran, dass er an diesem Tag ganz besonders nervös schien. Immer wieder tippte er mit den Füßen auf den Boden oder lief einige Schritte, nur um dann wieder an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren und wenn er mal still stand, dann wippte er mit dem Oberkörper in alle möglichen Richtungen. Nur seine Arme, die er an seinen Körper gepresst hielt, waren wirklich still. „Was ist eigentlich los mit dir?“, fragte Nolan schließlich, als er es nicht mehr aushielt. „Hat Tante Asti dir zu viel Zucker zum Frühstück gegeben?“ Landis zuckte zusammen und sah zu ihm hinüber, ihm war noch nicht einmal aufgefallen, dass Nolan bei ihm stand. „Was? Nein, kein Zucker. Ich habe nur etwas beschlossen und das muss ich heute umsetzen.“ Auch wenn die Sache sehr ungewöhnlich war, jedenfalls wusste er bislang noch von niemandem, der so etwas schon einmal getan hatte, aber er glaubte geradewegs, zu platzen, wenn er es noch länger mit sich herumtragen würde. Also musste er das Risiko in Kauf nehmen, getötet zu werden, nur um endlich sein Gewissen zu erleichtern. Er konnte nur hoffen, dass die Person, für die seine Worte gedacht waren, ein wenig vernünftig war... nur ein wenig. Im Koma lebte es sich mit Sicherheit besser, als... nun ja, tot. „Auf wen wartest du denn?“, fragte Nolan. „Du weißt schon, dass du hier nicht vor der Mädchenschule stehst, sondern vor unserer Ausbildungsstätte?“ „Ja, genau da wollte ich auch hin“, antwortete Landis, dem man die Ungeduld über Nolans Fragerei inzwischen deutlich anmerkte, ein weiteres Indiz dafür, wie nervös er war, denn normalerweise störte er sich nicht daran. Sein Freund sagte nichts mehr und entschied sich stattdessen, darauf zu warten, dass sich zeigen würde, weswegen Landis derart unruhig war. Allzu lange konnte es immerhin nicht mehr dauern, wie er glaubte. Tatsächlich trat Frediano wenig später aus dem Gebäude. Er war stets der erste, der dort ankam und der letzte, der es verließ, da er als Kommandantensohn am meisten zu beweisen und gleichzeitig auch zu verlieren hatte. Als er sich eine schneeweiße Strähne aus der Stirn wischte, nahm Landis' Nervosität noch einmal zu, aber es gab kein Zurück mehr. Er atmete tief durch und ging dann entschlossen auf Frediano zu, auch wenn dessen blaue Augen, die ihn natürlich längst erblickt hatten, ihm zu raten schienen, sich bloß von ihm fernzuhalten. „Was willst du?“, fragte er genervt, als er erkannte, dass er Landis nicht würde ausweichen können. Dieser atmete erneut tief durch und legte eine Hand auf sein Herz. „Ich bin hier, weil ich dir etwas ganz Wichtiges sagen muss. Etwas, das einfach nicht mehr warten kann.“ „Ach ja?“ Frediano klang derart lustlos, dass er nicht einmal selbst verstand, warum er nicht einfach weiterging. „Sag bloß, es ist etwas, das du mir gestern nicht gesagt hast, als du mich wieder einmal als letzten Volltrottel bezeichnet hast, der es nicht einmal wert wäre, sich in deiner Nähe aufzuhalten?“ Landis presste die Lippen aufeinander, allerdings nur für einen kurzen Moment, dann neigte er ein wenig verlegen den Kopf. „Das meinte ich doch nicht so... also, ich denke immer noch, dass du ein Volltrottel bist, aber das ist okay, denn ich bin auch einer!“ Frediano kniff die Augen zusammen. „Es ist schön, dass du eine Selbsterkenntnis hattest, aber was willst du jetzt eigentlich von mir? Oder bist du nur gekommen, um mich zu nerven? Das wäre ja nichts Neues.“ Landis knurrte leise, aber mehr aus Frustration als aus richtiger Wut. „Wenn du mir mal zuhören würdest, könnte ich es dir sagen!“ Frediano seufzte ergeben und wartete schweigend darauf, dass sein Gegenüber ihm eine weitere Beleidigung gegen den Kopf knallen würde – aber mit dem, was dann wirklich kam, hatte er nicht gerechnet. „Ich bin inzwischen ganz oft in mich gegangen – im übertragenen Sinne, ist ja klar – und da habe ich eines ganz deutlich erkannt.“ Er machte eine kurze Pause, verschränkte dabei die Arme vor dem Körper und nickte wissend. „Ich hasse dich nicht, uh-uh.“ Das erstaunte ihn nun doch, weswegen Frediano eine Augenbraue hob, allerdings sagte er nichts, genausowenig wie Nolan, der nur wenige Schritte entfernt stand und genauso ratlos über Sinn und Zweck von Landis' Ansprache schien. Dieser atmete noch einmal tief durch, ehe er schließlich mit etwas Unglaublichem herausplatzte: „Ich liebe dich!“ Frediano war sich ziemlich sicher, dass er sich verhört hatte. „Wie bitte?“ „Ich bin mir ganz sicher“, bestätigte Landis und nahm sogar Fredianos Hände in seine, während sich sein erhitztes Gesicht dem seines Gegenübers näherte, was dieser damit erwiderte, dass er den Oberkörper ein wenig zurückbeugte. „Immer, wenn ich an dich denke, bin ich ganz aufgeregt und ich will dauernd dein Haar berühren und ich kann es nicht ausstehen, wenn du mit irgendwem außer mir sprichst. Wahrscheinlich verwickele ich dich deswegen dauernd in diese Auseinandersetzungen, damit du mir Beachtung schenkst!“ Frediano warf einen überraschten Blick zu Nolan hinüber, der so geschockt wirkte, wie er sich selbst fühlte. Dann sah er wieder Landis an und schüttelte leicht den Kopf. „Du veralberst mich gerade, oder? Das ist ein neuer Streich von dir.“ Innerlich flehte er Landis an, ihm genau das zu bestätigen, aber er erntete eine Enttäuschung, als dieser, immer noch vollkommen ernst, den Kopf schüttelte. „Ich meine es so, wie ich sage. Ich liebe dich, Frediano Caulfield.“ Nolan sog hörbar die Luft ein und auch für den Angesprochenen war die Nennung seines vollen Namens ein Zeichen dafür, dass Landis es wirklich und wahrhaftig und vollkommen ernst meinte. Aber ihm fiel absolut keine passende Erwiderung auf dieses ungeheuerliche Geständnis ein. „Also?“, fragte sein Gegenüber lächelnd, der offenbar auf eine Erwiderung bestand – und so wie er strahlte, wünschte er sich eine positive. „Was sagst du?“ „Du willst darauf wirklich eine Antwort?“ Landis nickte und blickte ihn erwartungsvoll an, seine grünen Augen glitzerten regelrecht. „Gut, ich werde dir sagen, was ich davon halte“, sagte Frediano lächelnd. Ehe der andere reagieren konnte, löste er eine seiner Hände von ihm – und verpasste ihm einen heftigen Faustschlag ins Gesicht. Mit einem dumpfen Schmerzensschrei ließ Landis ihn wieder los, taumelte rückwärts und stürzte dann zu Boden, während er sich die blutende Nase hielt. Den leisen Schmerz in seiner eigenen Hand ignorierte er für diesen Anblick nur allzu gern. „Lass dir das eine Lehre sein, derart eigenartige Dinge zu Leuten zu sagen, du Idiot.“ Mit diesen Worten fuhr er herum und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen – immerhin war er davon überzeugt, dass Nolan sich schon um den Verletzten kümmern würde. Am Abend, nachdem er den Spott von Nolan („Du kannst ja noch froh sein, dass er dich nicht verprügelt hat“), Yuina („Kinder sollten endlich lernen, nicht alles auszusprechen, was sie als fixen Gedanken haben“) und sogar seines eigenen Vaters („Das hast du nun davon, dass du auf deine Mutter hörtest“) ertragen hatte, beschloss Landis, nach dem Abendessen noch einmal hinauszugehen, um in der Kühle der Abenddämmerung darüber nachzudenken, was er wohl falsch gemacht hatte. Die ganze Sache musste Frediano überrascht haben, das verstand er gut. Er selbst war immerhin auch erst vor kurzem zu dieser Erkenntnis gekommen, nachdem seine Mutter ihm nach einem erneuten Eifersuchtsanfall scherzhaft mitgeteilt hatte, dass er vielleicht nicht auf Frediano, sondern auf Oriana eifersüchtig wäre. Nach kurzem Nachdenken war ihm bewusst geworden, dass er diesen seltsamen Stich auch spürte, wann immer Frediano mit jemandem sprach, der nicht Oriana war. Dazu kamen noch die blauen Augen, die er so sehr mochte, weil sie so unglaublich intensiv waren und das schneeweiße Haar, das er unbedingt anfassen wollte – obwohl er wusste, dass es keineswegs kalt war, wie er früher vielleicht aufgrund der Farbe geglaubt hätte. Alles in allem und je länger er seine Gefühle analysierte, kam er einfach zu dem Schluss, dass er nicht wollte, dass Frediano jemanden außer ihm beachtete – und da war ihm auch negative Beachtung durchaus recht, Hauptsache, er bekam sie – und dass er bei ihm sein wollte, nein, dass er bei ihm sein musste und ihm dies auch vor langer Zeit einmal versprochen hatte. Doch damals waren seine Gefühle unschuldig gewesen, das wusste er ganz sicher, inzwischen war daraus aber mehr geworden. Er wollte ihm so nah wie möglich sein, so nah wie er bislang nur Oriana gekommen war, unter allen Umständen. Damit, davon war er überzeugt, würde er es schaffen, aus Frediano wieder die Person zu machen, die er in seinen Gedanken einmal gewesen war und auch eigentlich sein sollte. Aber wie könnte er Frediano davon überzeugen? Gerade, als er sich diese Frage stellte, konnte er dessen Stimme hören, laut und deutlich: „Ich hab dich ziemlich erwischt, was?“ Im ersten Augenblick glaubte Landis, sich das wegen seiner Gedanken nur eingebildet zu haben, doch als er sich umsah, entdeckte er tatsächlich Frediano, der mit dem Rücken gegen einen Kirschbaum lehnte. Das letzte Licht des Tages fiel dabei auf ihn und gab seinem Haar einen rötlichen Schimmer, was ihn für einen kurzen Moment derart faszinierte, dass er nichts sagen und es einfach nur anstarren konnte. Doch als er sich wieder ins Gedächtnis rief, dass er bereits angesprochen worden war, kehrte seine Konzentration zum Thema zurück. Automatisch griff Landis sich an die Nase, auf der Yuina einen Gipsverband angebracht hatte, dann wanderten seine Finger zu seinen Augen weiter, die begonnen hatten, sich blau zu verfärben. Eine vollkommen normale Reaktion, wie die Ärztin ihm versichert hatte, aber das half ihm nicht gegen die damit einhergehenden Schmerzen. „Du hast mir nur die Nase gebrochen“, erwiderte Landis, als wäre es gar nichts. „Das wird schneller heilen, als du denkst. Losgeworden bist du mich damit jedenfalls nicht.“ „Das dachte ich mir schon. Du warst ja schon immer recht dickköpfig und noch dazu unzerstörbar.“ „Was willst du denn?“, fragte Landis. „Willst du dich über mich lustig machen? Oder mich noch einmal schlagen? Ich hab noch mehr Knochen, die du mir brechen kannst.“ „Nein, deswegen bin ich nicht hier.“ Frediano löste sich von dem Baum und lief einige Schritte, ohne Landis anzusehen, dabei blickte er nachdenklich auf den Boden. „Etwas, was du vorhin gesagt hast, hat mir zu denken gegeben.“ Während er eine Pause machte, horchte Landis neugierig auf. Er hatte ihn mit seinen Worten erreicht – das war schon ein Erfolg für sich – und nun interessierte ihn, wie genau. Was, von dem, was er erwähnt hatte, war bei Frediano angekommen, um etwas in seinem Inneren anzusprechen? „Du sagtest, du willst mein Haar anfassen“, sagte Frediano nachdenklich. „Aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht verstehe, habe ich das Gefühl, dass du das schon einmal getan hast... vor vielen Jahren. Ich kann mich nicht entsinnen, wann oder warum... aber ich habe den Eindruck, dass es da... Dinge in meinem Inneren gibt, die ich selbst nicht verstehe.“ „Ich weiß jedenfalls, dass es nicht kalt ist“, bekräftigte Landis, was ihm von Frediano allerdings nur einen verwirrten Blick einbrachte, da dieser den Zusammenhang nicht verstand. „Aber das ist auch nebensächlich“, sagte er dann seufzend, da keine weitere Erklärung folgte und der andere ihn nur strahlend ansah. „Ich glaube irgendwie auch, mich zu erinnern, dass ich irgendwann einmal sehr viel von dir gehalten und dich sehr gemocht habe.“ Freudig erregt griff Landis noch einmal nach seinen Händen. „Genau so geht es mir auch! Dasselbe Gefühl habe ich auch! Genau wie jenes, dass wir zusammen sein müssen! Für immer und ewig!“ Diesmal versuchte Frediano gar nicht, sich aus dem Griff zu befreien. „So weit würde ich nicht gehen... aber vielleicht... ist wirklich etwas dran. Nur vielleicht.“ Offenbar hatte er sich wirklich Gedanken um diese ganze Sache gemacht, es hatte nur einen Anstoß gebraucht, genau wie für Landis, aber er wirkte noch genauso verwirrt wie dieser zu Beginn. „Vielleicht hasse ich dich ja nur so sehr, weil ich das Gefühl habe, dass du mich irgendwann einmal enttäuscht hast... zumindest scheint es für mich so...“ Frediano runzelte die Stirn, während er all das sagte und am Liebsten hätte Landis ihm durch das Haar gestrichen und ihn dann umarmt, nur damit er nicht mehr so blickte und stattdessen ebenfalls lächelte. „Ich werde dich ab sofort nie mehr enttäuschen“, versicherte er Frediano hastig und mit allem Enthusiasmus, den er aufbringen konnte – was reichlich viel war. „Nie, nie, nie wieder! Wir werden bestimmt ein ganz tolles Paar sein!“ „Mach dich nicht lächerlich!“, erwiderte der andere unwirsch, ohne sich aus dem Griff zu befreien. „Wir können nicht zusammen sein.“ Landis blinzelte überrascht. „Was? Aber...“ Er war noch nicht in vielen Beziehungen gewesen – und wenn, dann nur mit Oriana – aber bislang hatte er noch nie davon gehört, dass es zu solchen Problemen kommen könnte. Möglicherweise wäre es doch eine gute Idee, mehr kitschige Liebesromane zu lesen. „Ich bin der Sohn des Kommandanten der Kavallerie“, erklärte Frediano weiter. „Mein Vater wird mich umbringen, wenn ich auch nur in Erwägung ziehen würde, mit einem Jungen zusammen zu sein.“ „Also meine Eltern sagen immer, ich soll meinem Herzen folgen“, erwiderte Landis fast schon schmollend, als ihm aber auch gleich schon eine Idee kam: „Vielleicht sollten meine Eltern mal mit deinen reden?“ In seinen Augen war das immer noch ein Allheilmittel, die Eltern sprachen mit anderen Eltern und alles wurde gut, weil sie sich untereinander verstanden und logisch denken konnten. Aber Frediano schien das anders zu sehen. Schnaubend löste er sich ruckartig aus Landis' Griff. „Lass das endlich. Ich habe auch nie gesagt, dass ich mit dir zusammen sein will, oder? Hör zu, ich habe einige Verpflichtungen, die ein einfacher Junge von dem Land wohl nicht einmal kennt, aber ich bin der einzige Caulfield-Erbe, man erwartet von mir Kinder.“ „Wir könnten welche adoptieren!“, brach es aus Landis hervor, das Glitzern seiner Augen intensivierte sich in einer Art und Weise, die an Fanatismus grenzte. Er wollte erneut nach Frediano Handgelenken greifen, doch sein Gegenüber wich einen Schritt zurück, um dem zu entgehen. „Langsam wirst du mir wirklich unheimlich...“ Landis seufzte leise, das Glitzern schwand augenblicklich. „Dasselbe hat Ria auch schon mal zu mir gesagt. Ich glaube, ich liebe einfach zu heftig... oder so. Das muss ich von meiner Mutter haben.“ Manchmal wirkte Richard immerhin ebenfalls sehr schockiert, wenn er sich Astereas Liebesbekundungen ausgesetzt sah. Doch gleichzeitig schien es auch diese Leidenschaft zu sein, die ihn erst von seiner Ehefrau überzeugt hatte. Für ihn selbst war das vielleicht aber wirklich nur hinderlich. Verlegen kratzte Landis sich am Hinterkopf. „Tut mir Leid, ich bin echt seltsam manchmal.“ „Das hast du gut erkannt“, stimmte Frediano mit einem Schmunzeln zu, dann legte er seine Hand auf seine Stirn. „Dass du dein Geständnis vorhin vor Nolan gemacht hast, wird auch noch sehr unangenehm werden.“ „Unangenehm...“, wiederholte Landis gedehnt. „Für dich oder für mich?“ „Für uns beide, du Idiot.“ Trotz der Worte klang er nicht sonderlich wütend, eher tadelnd, als würde er nur das Beste für seinen Gesprächspartner wollen. „Aber für mich vermutlich mehr als für dich. Ich denke, du solltest vielleicht noch einmal mehr darüber nachdenken... was ich auch tun werde.“ „Ich habe schon lange genug darüber nachgedacht“, brachte er wieder schmollend hervor, beruhigte sich aber direkt wieder, als Frediano ihm, entgegen seiner sonstigen Art, durch das Haar strich. „Nun sei nicht so ungeduldig“, sagte er dabei. „Keiner von uns sollte etwas Unbedachtes tun, egal wie verliebt wir sind... was nicht heißen soll, dass ich verliebt bin.“ Allerdings wurde er tatsächlich rot, als er das hinzufügte, weswegen Landis ihm das nicht so ganz glauben konnte. Aber er sagte auch nichts mehr, um Frediano nicht weiter zu verärgern. Es würde immerhin nichts bringen, wenn er das tat. „Wenn wir beide uns sicher sind, dann können wir auch zusammen sein – und wenn mein Vater endlich mal tot ist.“ Den letzten Halbsatz sagte er schmunzelnd, um – wie Landis glaubte – den Eindruck zu erwecken, dass er es nicht ernst meinte, obwohl er das durchaus tat. Landis schnaubte unzufrieden, da es keinesfalls die Antwort war, die er erwartet hatte. In Gedanken war er viele Reaktionen durchgegangen, angefangen von einem humorlosen Lachen, über bewusstlos-prügeln und direkt-totschlagen, bis zu einem tränenreichen Geständnis vor dem Sonnenuntergang an dessen Ende sie sich ewige Liebe schwören würden. So wie es allerdings bisher lief, hätte er vielleicht doch eher Nolan Gefühle gestehen sollen, dieser hätte sicherlich eher wie gewünscht reagiert. Aber zumindest den Sonnenuntergang hatte er nun schon einmal. „Fein, wenn du meinst“, sagte Landis resignierend, „aber bevor wir einfach so auseinandergehen...“ Er ging einen Schritt auf Frediano zu, zog sein Gesicht vorsichtig zu seinem herunter – und küsste ihn. Nach diesem Ereignis zogen fast zehn Jahre ins Land, in denen die Ereignisse sich sehr zu Landis' Unzufriedenheit entwickelten. Frediano heiratete Oriana, so wie sein Vater es sich zuletzt gewünscht hatte, und er bekam sogar eine Tochter mit ihr, ehe Dario Caulfield plötzlich einer unbekannten Krankheit erlag. Die letzten beiden Nachrichten bekam Landis allerdings nur über Umwege mit, denn zu diesem Zeitpunkt hatte er Cherrygrove und all seine Freunde schon längst verlassen. Doch egal wie lange er seiner Vergangenheit fernblieb, nie veränderte sich etwas an seinen Gefühlen, nie ließ der brennende Schmerz in seiner Brust nach, der sich nach Orianas Verkündung der Verlobung dort eingenistet hatte. Es war nicht Oriana, um die er trauerte, auch wenn sie und alle anderen es glaubten, es war vielmehr Frediano, der ihn dermaßen enttäuscht hatte und nicht einmal Mann genug gewesen war, um ihm persönlich zu sagen, dass er nicht mit ihm zusammen sein wollte oder konnte, egal wie viel Zeit da gewesen war, um sich über Gefühle klar zu werden. Nein, stattdessen hatte er einfach die Hintertür gewählt, Oriana einen Antrag gemacht und kein Wort diesbezüglich mit ihm gewechselt. Dieser Gedanke war es, der Landis' Wut anfachte, seine Liebe in Hass zu verwandeln versuchte und dabei nicht sonderlich erfolgreich war. Er konnte seine Gefühle nicht einfach verleugnen und mehr als alles andere, wünschte er sich, Frediano wiederzusehen, nur einmal. Er wollte mit ihm sprechen, ihn fragen, warum er derart gehandelt hatte – und ob sich seit dem Tod seines Vaters nun vielleicht doch etwas zu seinen Gunsten geändert hatte. Nach diesen zehn Jahren erfüllte sich sein Wunsch endlich, denn sein Weg führte ihn nach New Kinging, wo Frediano den Posten als Kommandant angetreten hatte. Vielleicht war es eine dumme Idee, ausgerechnet jemanden mit Rang und Namen eine unmoralische Beziehung aufzudrängen – so fühlte er sich jedenfalls – aber seine Gefühle waren stärker als jede Vernunft oder Logik. Mit wild schlagendem Herzen, das ihm die Brust zu zerreißen drohte, stand er gemeinsam mit Dawn vor der Tür der Kommandantur. Nolan stand im offenen Türrahmen und bedeutete ihm, hineinzugehen, in den Raum, der von Fredianos Geruch und seiner ganzen Anwesenheit erfüllt war, weil er seit Jahren jeden einzelnen Tag darin verbrachte. Allein der Geruch war schon fast genug, um ihn direkt um den Verstand zu bringen. Dennoch schaffte er es, sich zusammenzureißen und einzutreten. Er spürte, dass Frediano wütend war und ihn eigentlich nicht an diesem Ort sehen wollte, doch in den blauen Augen sah er etwas anderes; ein erleichtertes helles Glitzern, das ihm verriet, dass auch Frediano ihn vermisst hatte. Es war kaum wahrnehmbar und vielleicht bildete er es sich auch nur ein, weil er sich wünschte, dass der andere an ihn gedacht und selbst seine Rückkehr ersehnt hatte. Aber keiner von ihnen sagte etwas, ehe Nolan die Tür schloss. Kaum war er draußen, schien die Wut zu schwinden und den Raum zu verlassen, als wäre sie auf Nolan konzentriert gewesen und auf niemanden sonst, so dass er sie mit sich nahm, als er ging. Frediano seufzte leise, es klang fast schon erleichtert und ließ Landis wieder tief durchatmen. Möglicherweise war es doch keine Einbildung und der andere freute sich genauso sehr wie er selbst. „Dir ist bewusst, dass die ganze Situation ziemlich unangenehm ist, oder?“, fragte Frediano, während ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Landis lächelte ebenfalls. „Unangenehm... für dich oder für mich?“ Glaube an mich -------------- Mit einem genervten Seufzen griff Richard sich an die Stirn. „Das ist doch nicht zu fassen.“ Im Gegensatz zu ihm ließ Asterea ihre Hand wieder sinken. Es war offensichtlich, dass er nicht an dem besonders hell glitzernden Zwillingsstern am Nachthimmel interessiert war und das, obwohl sie ihn extra dafür aus dem Haus geholt hatte. Sie sagte nichts und gab auch nicht zu verstehen, dass sie von seiner Reaktion ein wenig enttäuscht war, stattdessen wartete sie darauf, dass er sich erklärte, was er auch sofort tat: „Ich werde dich bald heiraten und du glaubst tatsächlich an so etwas wie himmlische Zeichen, das ist nicht zu fassen.“ Sie schwieg weiterhin, ohne jede Änderung ihrer Mimik, während sie sich darüber wunderte, wie er auf himmlisches Zeichen kam, da es immerhin genau das war, wie sie diese Sterne hatte bezeichnen wollen. „Das war es doch, was du mir sagen wolltest, oder?“, fragte er. „Du wolltest mir diesen Zwillingsstern zeigen, mir erklären, wie neu er ist und dass es bedeuten muss, dass der Himmel unsere Verbindung absegnet, dass es ein Zeichen ist.“ Es erstaunte sie, im positiven Sinne, dass er ihre Gedanken im Vorfeld erraten hatte und auch das war für sie ein Zeichen, dass sie zusammengehörten. Aber da sie wusste, dass er es nicht so sehen und eher darüber lachen würde, sagte sie nichts, sondern lächelte nur sacht. Er ließ sich davon nicht abbringen, einfach weiterzusprechen: „Aber das ist doch unsinnig. Die Leute warten immer auf irgendwelche Zeichen oder die Liebe, die ihnen den Weg weisen soll. Was ist denn so wichtig an Zeichen? Warum kann man sich nicht einfach selbst entscheiden und auch dazu stehen?“ „Glaubst du denn absolut nicht an Vorsehung?“ Als eine Person, die sich nicht selten von Sternen durch ihr Leben leiten ließ, fiel es Asterea schwer, zu verstehen, dass es auch noch Leute gab, die das vollkommen ablehnten, weswegen sie extra nachhaken musste. „Absolut nicht“, antwortete er bestimmt, wirkte dann aber plötzlich nachdenklich. „Früher habe ich das mal, aber dann wurde mein Leben ja auf den Kopf gestellt – und ich will nicht glauben, dass das Vorsehung gewesen war, sonst müsste ich die dafür verantwortliche Person hassen.“ Ihr erster Impuls riet ihr, ihn davon überzeugen zu wollen, dass Schicksal eine gute Sache war, dass es ihn nach Cherrygrove geführt hatte, dass er so zu allem gekommen war, was er nun liebte, nachdem ihm alles zuvor genommen worden war. Aber dann dachte sie sich, dass es ihn erstens nur nerven, zweitens nicht im Mindesten interessieren würde und drittens war es vollkommen in Ordnung. Wenn er so leben wollte – und das tat er ganz offensichtlich gut – dann gab es keinen Grund, weswegen sie etwas dagegen sagen sollte. „War das jetzt alles, weswegen wir hier rausgekommen sind?“, fragte er, als sie schwieg. „Mir wird langsam kalt.“ „Andere Paare beobachten gern nachts die Sterne.“ Dabei holte sie mit dem Arm aus und deutete in eine unbestimmte Richtung, in der sie Joshua und Bellinda vermutete, die um diese Zeit gern draußen saßen und in den Himmel starrten. Richard lachte spöttisch. „Wenn du eine romantische Beziehung haben willst, solltest du vielleicht versuchen, Joshua zu umgarnen. Bei mir bist du da an der falschen Adresse – und das weißt du auch.“ Das wusste sie sogar sehr genau. Richard war kein Beziehungsmensch, er war lieber allein – und umso mehr erstaunte es sie immer noch, dass er sich darauf eingelassen hatte, sie zu heiraten. Sicher, vielleicht lag es einzig an ihrer Schwangerschaft und seinem Wunsch, diesem ungewollten Kind dennoch ein guter Vater zu sein, aber das erklärte nicht, warum er sie zuvor hatte bei sich wohnen lassen und sogar besorgt um sie gewesen war. Seine gewollte Einsamkeit musste für viel Langweile sorgen, sein Leben zäh vorüberziehen lassen, aber es störte ihn nicht und deswegen sah Asterea auch hier keinen Grund, etwas dagegen zu unternehmen. Sie wollte ihn nicht ändern, sie wollte einfach nur, dass er glücklich war – und das am besten in Verbindung mit ihr, immerhin könnte sie dafür sorgen, dass sein Leben so ruhig und friedlich bleiben würde, wie er es sich wünschte. Aber dennoch gab es da etwas, das ihr Sorgen bereitete. Eine Person, die so verschlossen war, besaß nicht viele Freunde. Eine Person, die an nichts glaubte, konnte sich an nichts klammern, wenn sie in einer hoffnungslosen Situation war. Aber war das denn überhaupt so? „Gut, du glaubst an nichts, so viel weiß ich... aber was tust du denn dann, wenn dein Leben nicht nach Plan verläuft?“ Fast hätte sie Wie im Moment hinzugefügt, biss sich aber noch rechtzeitig auf die Zunge, damit er nicht wieder die perfekte Vorlage für seine Vorwürfe bekam. Mit verschränkten Armen sah er sie abschätzend an, als überlegte er gerade, weswegen sie ihm all diese Fragen stellte, sie hoffte allerdings dennoch, dass er einfach antworten und ihr Verhalten auf ihren verdrehten Charakter schieben würde, wie er es gern tat, wenn er nicht mehr weiterwusste. „Ich verfluche die ganze Welt“, antwortete er schließlich. „Funktioniert für mich.“ Manchmal waren seine Antworten wirklich frustrierend für sie. „Okay, okay. Aber wenn du in einer gefährlichen und hoffnungslosen Situation bist, was tust du dann? Sie wusste, dass er bereits mehrmals in seinem Leben in solchen gewesen war, erwähnte das aber nicht extra, weil er es nicht wusste – und das sollte auch so bleiben. Mit dieser Frage schaffte sie es tatsächlich, ihm ein Lächeln zu entlocken, auch wenn ihr die darauf folgende Antwort nicht mehr ganz so gut gefiel: „Ich warte darauf, dass Kieran mir zur Hilfe eilt. Das tut er immer, weißt du?“ Das wusste sie nur zu gut, aber ihr war nicht klar, was sie davon halten sollte. Richard sah es vielleicht nicht, aber ihr fiel durchaus der Blick auf, mit dem Kieran ihren – inzwischen – Verlobten nicht selten musterte. Gerade wollte sie ihn darauf hinweisen, dass er einfach mal davon ausgehen sollte, dass Kieran nicht kommen könnte, weil er verhindert wäre, da sprach er bereits weiter: „Aber nehmen wir mal an, Kieran hätte etwas verdammt Wichtiges zu tun oder wäre sonstwie verhindert, dann gehe ich stark davon aus, dass die Sternennymphe kommen würde, um mich zu retten.“ Damit hatte sie nicht gerechnet, weswegen sie sich keine Mühe geben musste, ihn überrascht anzusehen. „Die Sternennymphe?“ „Du weißt genau, wen ich meine“, sagte er und blickte sie dabei derart bedeutungsvoll an, dass sie bereits glaubte, er hätte sie durchschaut – doch ehe sie anfangen konnte, sich zu verteidigen oder alles abzustreiten, sprach er bereits weiter: „Immerhin hast du denselben Namen wie sie und dein Geburtstag fällt sogar auf das Sternenfest. Bislang hat sie mich nur einmal gerettet, aber ich habe so das Gefühl, dass sie es immer wieder tun würde, wenn es sein muss.“ Ihr Herz schlug augenblicklich schneller, ihre Wangen erhitzten sich und im Moment war sie froh darum, dass er sie nicht sehen konnte, da sie das durchaus hätte verraten können. „Du glaubst also an sie?“ Was sie durchaus verwunderte, nachdem er sonst immer abstritt, an irgendetwas zu glauben, aber vielleicht hatte sie seine Argumentation nur nicht weit genug verfolgt. „Nein. Glauben ist nicht gleichbedeutend mit wissen... und ich weiß, dass sie mir wieder helfen würde, selbst wenn ich es nicht will.“ Was sie ohnehin nie verstanden hatte, schon damals nicht. Wie konnte jemand nur sagen, dass er nicht gerettet werden wollte? Besonders, wenn man noch sein ganzes Leben vor sich hatte. Aber diesen Gedanken beiseite gelassen, freute es sie, dass er so sehr auf sie vertraute, an sie glaubte und davon überzeugt war, dass sie – oder besser: die Sternennymphe – ihn retten würde, wenn er wirklich Hilfe benötigte. Es erfüllte sie mit einem warmen, wohltuenden Gefühl, das ihr Innerstes angenehm ruhig sein ließ, so wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sein auf ihr ruhender Blick zog sie allerdings alsbald wieder aus diesem beruhigenden Teich, in dem sie vollkommen sein konnte. Sie neigte den Kopf und erwiderte ihn irritiert. „Was ist denn?“ „Du hast mich noch nicht gefragt, was ich tun würde, wenn ich in einer Situation wäre, in der es nichts zu bemängeln gibt, weil einfach alles gut ist.“ Da dies nicht im Mindesten das Thema gewesen war, verstand sie nicht, warum er das nun anmerkte. Doch statt ihn das zu fragen, zuckte sie mit den Schultern und beugte sich seinem Vorschlag: „Gut, was würdest du in einer solchen Situation tun?“ Er lächelte und sie stellte erfreut fest, dass es ein anderes Lächeln war als jenes, das er nutzte, wenn es um Kieran ging. Nicht, dass dieses weniger ehrlich gewesen wäre, aber es war irgendwie... liebevoller, wärmer. Sie glaubte, dass er ihr ein anderes Lächeln schenkte als jedem anderen und selbst wenn sie sich damit selbst eine Illusion auferlegt hätte, wollte sie daran festhalten. Er legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie so ein wenig näher zu sich, damit er leiser sprechen konnte, als vorher: „Wenn alles gut wäre, so wie jetzt, würde ich mich an dich wenden und dir dafür danken, dass du es erst so gut hast werden lassen.“ Wieder erhitzte sich ihr Gesicht, als er ihr so etwas sagte, ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie war sich fast sicher, jeden Moment vor Glück einfach ohnmächtig werden zu können. Richard sagte selten solche Dinge zu ihr, eigentlich nie, und machte ihr viel lieber Vorwürfe, dass sie ihn in einige unangenehme Situationen befördern würde. Dass er ihr nun das sagte, wenngleich nur flüsternd, kam ihr daher wie ein wunderbares Geschenk vor und die Freude darüber ließ ihre Augen noch mehr glitzern als sonst, wenn sie ihn ansah. Doch ehe sie in diesem Gefühl völlig aufgehen konnte, strich er ihr über die Wange und runzelte dann die Stirn. „Wir sollten wieder reingehen, Yuina sagte, du solltest dich nicht überanstrengen. Dann setzen wir uns zusammen hin und trinken einen Tee. Das wird dem Kind sicher auch guttun.“ Unwillkürlich legte sie ihre Hände auf ihren Bauch, der bislang lediglich eine leichte Wölbung aufwies, sie aber immer wieder zum Lächeln brachte. „Ja, lass uns wieder reingehen. Eine Tasse Tee wäre jetzt wirklich gut.“ Sie hatte inzwischen ohnehin genug erfahren und war mehr als nur glücklich über das, woraus die Informationen bestanden. Er glaubte an sie, daran, dass sie als Sternennymphe kommen würde, um ihn zu retten, wenn er ihre Hilfe benötigte, aber genauso glaubte er daran, dass sie dafür verantwortlich war, dass sein Leben sich dem Besseren zuwandte. Er liebte sie und war ihr dankbar. Und auch, wenn er es nicht gesagt hatte, so hatte sie zwischen seinen Worten noch mehr gehört: Er machte sie für sein Glück verantwortlich, er würde sich auch jederzeit an sie wenden, wenn er besorgt war oder er sich tatsächlich einmal fürchten würde, was vermutlich nie vorkam. Er vertraute darauf, dass sie ihn stützen würde und dieses Wissen erfüllte ihr Herz und ließ jeden einzelnen Schritt so leicht vonstatten gehen, als ob sie tanzen würde, gemeinsam mit Richard, dessen Arm noch immer auf ihrer Schulter ruhte und auf dessen Gesicht ebenfalls ein zufriedenes Lächeln zu sehen war. Alles war gut – und sie beide fanden es perfekt. Alles für ein Lachen -------------------- Hochkonzentriert starrte Nolan auf die Zeitung, hinter der Kieran sich am Frühstückstisch zu verstecken schien. Er nahm nicht wahr, was auf den Seiten stand, die er sehen konnte, sondern wartete stattdessen auf eine gewisse Reaktion, die allerdings, sehr zu seiner Enttäuschung, ausblieb. Kieran senkte die Zeitung ein wenig, um ihm über den oberen Rand hinweg einen skeptischen Blick zukommen zu lassen. „Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Warst du schon bei den Witzen?“, fragte Nolan mit vorgeschobener Unterlippe. Er war an diesem Morgen extra früher aufgestanden, um zuerst an die Zeitung zu kommen und die entsprechende Seite zu lesen, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich lustig war – und das war sie an diesem Tag, mehr als je zuvor, wie er fand. Er hoffte nur, dass Kieran es genauso sah. Doch dieser enttäuschte ihn prompt. „Ja, war ich. Willst du die Seite haben?“ „Fandest du sie denn gar nicht lustig?“, erwiderte Nolan mit einer Gegenfrage. „Es ist wohl nicht mein Humor.“ Kieran zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Warum ist das so wichtig?“ „Ist es nicht.“ Aber dennoch konnte Nolan nicht verhindern, dass er enttäuscht klang. Statt noch etwas zu sagen, wandte er sich lieber wieder seinem Frühstück zu und wie er erwartet hatte, hob Kieran die Zeitung wieder, um sich erneut vollends auf diese zu konzentrieren. Entsprechend gedrückt war Nolans Stimmung, als er sich später mit Landis auf dem Hügel traf, der als ihr Hauptquartier fungierte. Die Knie angezogen, die Arme darauf abgelegt, um sein Kinn mit den Händen abzustützen, grübelte er nach wie vor über sein derzeitiges Ziel nach. Landis saß eine ganze Weile nur da und beobachtete seinen Freund dabei, bis er schließlich das Wort ergriff: „Hat es nicht funktioniert, No?“ „Nicht im Mindesten. Er hat nicht mal geschmunzelt.“ Das konnte er zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber die Wahrscheinlichkeit war gering, wenn er seinen Vater richtig einschätzte. „Erinnert mich an meinen Papa“, sagte Landis nachdenklich. „Kein Wunder, dass sie Freunde sind.“ „Onkel Richard habe ich aber schon lachen gehört“, erwiderte Nolan seufzend. „Mein Papa hat noch nie gelacht.“ Er runzelte angestrengt nachdenkend die Stirn. „Dabei hab ich echt alle Geschütze aufgefahren. Meine eigenen Witze, die aus der Zeitung, Erzählungen über das, was wir getan haben... aber er sieht mich immer nur an, als ob er sich wünschte, dass ich still bin.“ „Na ja, er ist nicht unbedingt der Unterhaltsamste“, stimmte Landis zu. „Vielleicht mag er es einfach nicht, wenn man zu viel redet... und er kann das nicht ausblenden, so wie mein Papa.“ Nolan hatte schon oft darüber nachgedacht, besonders, wenn er nachts nur schwer einschlafen konnte, aber er kam zu keinerlei Ergebnis – und Kieran redete natürlich nicht darüber. Einmal hatte Nolan ihn direkt gefragt, worüber er lachen würde, aber die einzige Antwort seines Vaters war ein Schulterzucken gewesen, gefolgt von einem gemurmelten „Das ist doch auch gar nicht wichtig“. In diesem Moment, in dem er Nolans Blick ausgewichen war, war es diesem vorgekommen als ob Kieran eigentlich eher schüchtern als griesgrämig war. Und Nolan musste zugeben, dass er mit schüchternen Menschen nicht unbedingt umgehen konnte, dafür kannte er zu wenige, aber jene, die er kannte, waren von seinem offenen Verhalten oft eingeschüchtert. Vielleicht galt das auch für seinen eigenen Vater. „No!“ Landis' Stimme holte ihn wieder aus seinen Überlegungen heraus. „Hast du mir zugehört?“ Nolan blinzelte träge, als er seinen Freund wieder ansah. „Was? Hast du etwas gesagt?“ Einen flüchtigen Augenblick lang sah es so aus, als würde Landis darüber schmollen wollen, dass der andere ihm nicht zuhörte, aber dann erinnerte er sich offenbar wieder daran, dass er das selbst auch oft genug tat und besann sich darauf, seine Frage zu wiederholen: „Vielleicht kriegt man kein Lachen aus ihm heraus, indem man ihm etwas Lustiges erzählt? Vielleicht müssen wir etwas anderes tun, damit er gute Laune bekommt.“ Nolan überlegte einen kurzen Moment. Kieran machte nicht den Eindruck, als gäbe es irgendetwas, das man für ihn tun könnte, egal unter welchen Umständen. Er wirkte auf jeden so als ob er alles selbst im Griff hatte, immer die Ruhe behielt und niemanden benötigte, der ihm unter die Arme griff, dafür hatte Nolan ihn schon immer bewundert. Allerdings erinnerte er sich bei diesem Gedanken an eine Nacht, vor etwa einem Jahr. Eigentlich hätte er schon lange schlafen sollen, aber sein Durst war irgendwann übermächtig geworden und so war er, so leise wie nur irgendwie möglich, die Treppe hinuntergeschlichen. Das Licht im Wohnzimmer war derart gedimmt gewesen, dass er es erst bemerkt hatte, als er direkt vor der Tür gestanden war – und da hatte er Kieran gesehen, auf dem Sofa sitzend, den Oberkörper vorgebeugt, den linken Arm auf ein Knie gestützt und die Stirn auf seine Handfläche gestützt. Sein rechter Arm hatte schlaff auf seinem anderem Knie gelegen. Keinerlei Bewegung war von ihm ausgegangen, kein einziger Ton, aber Nolan hatte nie wieder etwas derart Trauriges und Einsames gesehen. Der Held seiner Kindheit hatte in diesem Moment seine empfindliche Seite gezeigt und dieses Bild war in seine Erinnerung gebrannt. Nolan wusste nicht, was ihn derart belastete, aber er wusste, dass es unter diesen Voraussetzungen so ziemlich unmöglich war, wirklich lachen zu können. Deswegen wollte er ihn ein einziges Mal lachen sehen, damit er diese Erinnerung neben jene des einsamen Kieran stellen konnte – und damit es seinem Vater zumindest ein wenig besser ging. Vielleicht könnte er sich dann in einer solchen dunklen Phase wieder daran zurückerinnern und zumindest ein wenig lächeln, das hoffte Nolan jedenfalls. Landis wusste nichts davon, aber dennoch war er bei diesem Plan dabei, doch er war genauso ratlos gewesen bis zu diesem Vorschlag, denn dieser brachte ihn wirklich auf einen Gedanken, der ihnen helfen könnte, Kierans Laune zu heben und ihn vielleicht sogar zu einem Lächeln zu bringen. Obwohl Cherrygrove keine sonderlich große Ortschaft war und es recht viel Land um jedes einzelne Haus gab, verfügte dennoch nicht jedes über einen Garten. Bei den meisten Häusern lag es vermutlich daran, dass die Besitzer kein Interesse daran hegten oder es ihnen zu viel Arbeit war. Immerhin gab es selten jemanden wie Landis oder Nolan, die den Leuten unentgeltlich im Garten halfen. Kierans und Nolans Garten gehörte zu jenen, die es zwar gab und auch durch einen hölzernen Zaun bezeichnet waren, aber viel gab es dort nicht zu sehen. Nolan hatte versucht, Dipaloma-Bäume großzuziehen, aber bislang war noch kein Samen gekeimt. Aydeen dagegen hatte zu Lebzeiten einmal ein Blumenbeet angelegt, sich dabei allerdings nicht auf eine einzelne Blumensorte beschränkt. So blühten selbst drei Jahre nach ihrem Tod immer noch bunt zusammengewürfelte Blumen im Garten, was auch an Kieran lag, der immer mal wieder vor dem Beet kniete, Unkraut zupfte und allerlei andere Dinge tat, von denen Nolan nichts verstand, die sein Vater aber von Aydeen beigebracht bekommen hatte. Jahre später sollte Nolan, wenn er daran zurückdachte, der Gedanke kommen, dass Kieran damit versucht hatte, Aydeen über diese Pflanzen am Leben zu erhalten und sich ihr nah zu fühlen. An diesem Tag blickten er und Landis auf dieses Beet und stellten beide betrübt fest, dass etwas Löcher hineingegraben und Blätter angenagt hatte. „Papa ist ziemlich unglücklich darüber“, erklärte Nolan. „Wenn wir das Wesen fangen, das dafür verantwortlich ist, dann freut er sich bestimmt.“ „Und was könnte das gewesen sein?“, fragte Landis. Darüber grübelte Nolan schon eine Weile und auch Kieran schien ratlos, wenn er genauso mit gerunzelter Stirn vor dem Beet stand, wie sein Sohn in diesem Moment. Doch diesem kam schließlich tatsächlich ein Gedanke, der ihm vollkommen logisch erschien. Er schlug die Faust auf seine Handfläche. „Das muss ein Kobold gewesen sein!“ „Glaubst du wirklich?“, fragte Landis und sah ihn mit großen Augen an. „Mein Papa sagt, es gibt keine Kobolde...“ Sein letzter Satz war ein lahmer Versuch, Nolan dazu zu bringen, ihm zu widersprechen, um ihm zu beweisen, dass Richard ihm nur seine Fantasie madig machen wollte – und sein Freund ließ ihn nicht lange darauf warten: „Es muss einer gewesen sein! Einmal hat mein Papa ein Buch über Dämonen herumliegen lassen und ich hab dann darin gelesen. Kobolde leben unterirdisch und graben sich Tunnel, um von einem Ort zum anderen zu kommen und manche von ihnen essen auch Pflanzen.“ Es war ein echtes Sachbuch gewesen, davon war Nolan überzeugt, von wem auch immer sein Vater es bekommen haben sollte, aber es existierte und er erinnerte sich besonders an diesen Eintrag. Zumindest glaubte er, dass es nur der Kobold-Eintrag gewesen war und nicht eine Mischung aus verschiedenen, die er nun nicht mehr auseinanderhalten konnte. Ein bewunderndes Glitzern war in Landis' Augen zu sehen. „Aber wie fangen wir einen solchen Kobold?“ „Wir warten, bis...“ Nolan verstummte schlagartig, als er eine Bewegung im Erdreich feststellen konnte. Landis folgte seinem Blick und versteifte sich sofort. „Er ist da!“, zischte er ehrfurchtsvoll. „Was tun wir jetzt?“ „Wir stürzen uns auf ihn!“, schlug Nolan vor, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Sein Satz war noch nicht einmal beendet, da sprangen sie tatsächlich auf den sich bewegenden Erdhaufen zu, aus dem in diesem Moment etwas seine Nase hervorstreckte. Es war flauschig und weiß, so viel konnte Nolan gerade noch sehen, als er und Landis gleichzeitig danach zu greifen versuchten. Doch das Wesen bemerkte die Gefahr rechtzeitig und zog sich wieder in Sicherheit zurück, so dass die beiden Jungen nur Erde in die Finger bekamen. Enttäuscht richteten sie sich wieder auf, um herauszufinden, was fehlgeschlagen war und wie sie am besten beim nächsten Versuch vorgehen sollten. Landis kratzte sich nachdenklich am Kopf, wobei er Klumpen feuchter Erde in seinem Haar zurückließ. „Sind Kobolde normalerweise weiß und flauschig?“ Ganz offenbar hatte er nicht viel Ahnung von solchen Dingen und hoffte darauf, dass sein Freund sich an noch mehr Einzelheiten erinnerte. Nolan verschränkte die Arme vor seinem Körper und schmierte dabei braune Erde auf sein weißes Hemd. „Dafür gibt es nur eine Erklärung: Es ist ein Albino-Kobold!“ Über diese Eröffnung vollkommen fassungslos, riss Landis Augen und Mund auf, statt etwas zu sagen. Nolan nickte langsam, um seine eigenen Worte zu unterstreichen. Eine ganze Weile hielt die eingetretene Stille an, bis Landis sie schließlich wieder mit einer verwirrten Frage brach: „Und was tun wir jetzt?“ „Die Strategie bleibt dieselbe“, sagte Nolan entschlossen. „Wir müssen nur schneller sein, Albino-Kobolde mögen kein Sonnenlicht.“ Landis nickte heftig. „In Ordnung.“ Damit wandten sie sich wieder dem Blumenbeet zu – und warteten. Als Kieran mehrere Stunden später an seinem Haus ankam, hielt er vor der Tür erst einmal inne. Da er niemanden in der nahen Umgebung entdecken konnte, lehnte er sich gegen das Holz und seufzte tief. Der Tag war anstrengend gewesen, voller Arbeit für die er eigentlich nicht geschaffen war, besonders weil sie mit Tieren zu tun hatte, vor denen er immer noch übermäßig viel Respekt empfand. Was tut man nicht alles, um einen heranwachsenden Jungen zu bezahlen? Natürlich gab es noch Nolans Großeltern in Jenkan, die ihren Enkel finanziell unterstützten, aber es war für Kieran schnell klar geworden, dass sie ihm wirklich nur das Nötigste überließen, in der Hoffnung, dass er einknicken und Nolan zu ihnen schicken würde. Aber das hatte er nicht vor, lieber griff er den verschiedenen Einwohnern von Cherrygrove unter die Arme und sicherte sich so deren Unterstützung, selbst wenn das bedeutete, dass er mit Tieren arbeiten musste. Dabei war er sich inzwischen nicht einmal mehr wirklich sicher, warum genau er Nolan bei sich behalten wollte. Doch bevor er wieder darüber nachzusinnen begann, ob er in dem Jungen vielleicht doch mehr als sein Werkzeug für die Rettung der Lazari und Dämonen sah, öffnete er die Tür, um hineinzugehen und sich erst einmal ein wenig auszuruhen. Aber schon nach wenigen Schritten hinein, hielt er wie elektrisiert wieder inne. Das Wohnzimmer war komplett verwüstet worden. Das Sofa lag auf der Seite, der Tisch ebenfalls umgestürzt, der Teppich hatte seine Position von der Mitte des Raumes an die Wand verlagert, wo er teilweise hochstand – was ihm sagte, dass er ihn zu sehr verstärkt hatte – eine der Pflanzen, die Bellinda aus Dekorations- und Aufmunterungsgründen dort abgestellt hatte, nachdem Aydeen bereits gestorben war, lag ebenfalls auf dem Boden, der Keramiktopf war zersprungen und die Erde war auf dem Grund verteilt. Kierans Instinkt sprang sofort an und malte ihm das Bild eines Eindringlings, der Nolan zu entführen versuchte und eines Jungen, der verzweifelt versuchte, sich dagegen zu wehren und dabei eine solche Verwüstung anrichtete. Die Sorge über den Verbleib des Jungen ließ Kieran fast wahnsinnig werden, aber dennoch bemühte er sich, nach Spuren Ausschau zu halten, die ihm verrieten, ob vielleicht noch mehr geschehen war. Blut, Haare, vielleicht auch sonstige Überreste eines Zaubers – aber er konnte nichts entdecken. Er hoffte, dass es kein schlechtes Zeichen war. Vorsichtig trat er in den Raum, um sich weiter umzusehen, in der Hoffnung, Anzeichen zu finden, die ihn auf die Identität des Eindringlings hinwiesen, aber da fiel sein Blick auch auf etwas anderes. In einer Ecke des Wohnzimmers, die er von außen nicht hatte einsehen können, saß Landis, der gefesselt war und durchaus glücklich schien, ihn zu sehen. „Ah, Onkel Kieran!“ „Was tust du da?“, fragte Kieran. Doch ehe er eine Antwort bekommen konnte, bemerkte er, wie jemand hinter dem Sofa hervorkam. Er blickte hinüber und fühlte Erleichterung in sich aufwallen, als er Nolan entdeckte, der ihn mit einem glücklichen Lächeln begrüßte, gleichzeitig aber auch einen Hauch von Schuld auf dem Gesicht trug. „Was ist hier passiert?“, fragte Kieran. Er sprach nicht aus, dass er glücklich darüber war, dass sich sein Verdacht als unbegründete Panik herausgestellt hatte, immerhin war es auch nicht wichtig, dass die beiden Jungen wussten, was er dachte. „Nichts“, sagte Nolan zerknirscht. „Nichts?“ Kieran machte eine ausholende Handbewegung, die das gesamte Wohnzimmer einschloss. „Und als was würdest du das hier bezeichnen?“ Nolan warf einen schuldbewussten Blick umher, antwortete aber nicht, weswegen Kieran weiterfragte: „Und warum ist Landis gefesselt?“ Noch immer keine Antwort. „Warum versteckst du dich hinter dem Sofa?“ „Oh das“, sagte er schließlich, offenbar wesentlich zuversichtlicher, was diese Antwort anging. „Ich wollte mich vor Landis in Sicherheit bringen, wenn er sich verwandelt.“ Kieran neigte den Kopf ein wenig und blickte zu Landis, der allerdings nur entschuldigend lächeln und mit den Schultern zucken konnte. Also seufzte er innerlich und sah wieder Nolan an. „Und in was sollte er sich verwandeln?“ „Na in einen Albino-Kobold!“, antwortete der Junge, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, weswegen es erst eine weitere Nachfrage von Kieran benötigte, damit er weiter erklärte: „Landis wurde von einem Albino-Kobold gebissen, also wird er sich auch in einen solchen verwandeln.“ „Das ist doch Unsinn“, erwiderte Kieran und ging zu Landis hinüber, um die Fesseln zu lösen und sich dann die Verletzung genauer anzusehen. Es war nur ein kaum sichtbarer Biss zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Die Wunde war nicht einmal wirklich zu sehen und wies erst recht keinerlei Verfärbungen auf, sie war vollkommen harmlos, weswegen er Nolans Protest bezüglich der gelösten Fesseln zur Seite wischte. „Außerdem gibt es keine Albino-Kobolde.“ Zumindest nicht in dieser Gegend. „Gibt es wohl!“ Nolan stampfte mit dem Fuß auf und deutete dann in die andere Ecke, die vorher nicht für Kieran einsehbar gewesen war. „Wir haben ihn dort eingefangen!“ In diesem Moment fiel ihm die umgedrehte Kiste auf, die dort stand und unter der sich etwas zu bewegen schien. Ein wenig neugierig geworden, ging Kieran hinüber, um sich anzusehen, was die beiden dort eingefangen hatten. Er glaubte nicht daran, dass es sich um einen Albino-Kobold oder auch nur um einen normalen Artgenossen handelte, denn sie bevorzugten die wesentlich entspannenderen Gefilde des Nordkontinenten, auf dem sich allerlei mystische Wesen tummelten. Sicherlich kam es nicht selten vor, dass einer von ihnen sich auch mal woanders hinverirrte – aber dann mit Sicherheit nicht nach Cherrygrove, über dem der Schutzzauber eines Dämons lag. Was genau er erwartete, konnte er daher nicht sagen, doch es war sicher nicht das, was er dann wirklich sah. Es war weiß, so viel entsprach der Wahrheit, es war flauschig, hatte lange Ohren und seine Nase bewegte sich unablässig, es war alles andere als ein Kobold. Trotz seiner Furcht griff er nach dem, was dort saß, packte es am Nacken und zog es hervor, um es dann Nolan und Landis zu demonstrieren. „Wonach sieht das für euch aus?“ Beide blinzelten einen Moment, um das Wesen genauer zu mustern, während Kieran es sicher in den Händen hielt, dann hellte sich Nolans Gesicht auf. „Das ist ein Kaninchen!“ „Genau genommen ist es eines der Zuchtkaninchen von Frau Foster, das heute entlaufen ist. Wo habt ihr es her?“ „Wir haben es im Garten gefunden“, antwortete Nolan. „Es war der Übeltäter, der immer Mamas Beete ruiniert.“ Kieran zuckte für einen kurzen Moment zusammen, als er Aydeen erwähnte und er wieder an die Beete denken musste, die immer schlimmer ausgesehen hatten. Aber gleichzeitig fiel ihm dabei auch auf, dass die beiden Jungen voller Erde waren und zumindest die Kleider des einen mussten von ihm gewaschen werden. „Ihr habt also dieses Kaninchen eingefangen?“, fragte Kieran. „Weil es die Beete ruiniert hat?“ Beide Jungen nickten zustimmend, diesmal allerdings nicht mehr sonderlich glücklich, sondern ziemlich frustriert und auch... ein wenig furchtsam vor dem, was folgen könnte. „Und dafür hab ihr euch schmutzig gemacht? Euch verletzt? Und das Wohnzimmer auseinander genommen?“ Den Groll in seiner Stimme konnte er nicht wirklich unterdrücken, denn allein der Gedanke, dass er das alles würde aufräumen müssen, verbunden mit der Tatsache, dass er auch Nolans Wäsche waschen musste und das wohl nie wieder wirklich sauberbekommen würde, ließ Ärger in seinem Innerem entstehen und er glaubte nicht, dass es eine Erklärung geben könnte, die ihn das wieder vergessen ließ. Landis warf einen auffordernden Blick in Nolans Richtung, worauf dieser einknickte und seufzend den Kopf senkte. „Ich dachte, es würde deine Stimmung verbessern, wenn ich das einfange, was Mamas Beet schadet.“ „Meine Stimmung verbessern?“, hakte Kieran ratlos nach. „Du bist immer so schlecht gelaunt“, fuhr Nolan fort. „Und traurig. Also wollte ich dich aufheitern, indem ich etwas tue, was dir sicher gefallen würde.“ Als Landis zustimmend nickte, atmete Kieran tief durch. Er hatte ja immer gewusst, dass Nolan sicherlich merken würde, dass es ihm nicht gut ging und er oft nachts im Wohnzimmer saß und seinen Gedanken nachhing, aber dass es dem Jungen so sehr zusetzen würde, dass er sich sogar Dinge überlegte, die ihn aufheitern sollten, wäre ihm nicht einmal im Traum eingefallen. Immerhin erklärte das aber auch, weswegen Nolan ihm in den letzten Wochen immer all die Witzen und die lustigen Geschichten erzählt hatte. „Du hast das alles nur für mich getan?“ Nolan nickte zustimmend, den Kopf immer noch gesenkt, um seine Strafpredigt zu empfangen. Doch in diesem Moment mischte sich Kierans Erleichterung, dass keinem etwas geschehen war, mit der Freude über Nolans unerwarteten Einsatz und seine Besorgnis, die sicher dahinter steckte, die musste er noch nicht einmal wirklich aussprechen. Diese so selten verspürten Gefühle, ließen Kieran all den Ärger vergessen, spülten ihn hinfort und brachten stattdessen ein Lächeln auf seinem Gesicht zum Vorschein, das alsbald von einem heiseren Lachen begleitet wurde. Nolan und Landis blickten beide überrascht auf, als sie das hörten und starrten Kieran an, als wäre er nicht von dieser Welt. Es dauerte eine ganze Weile, in der er einfach weiterlachte, bis sie schließlich erleichtert miteinstimmten. Inzwischen war es eigentlich nicht mehr üblich, dass Kieran Nolan am Abend ins Bett brachte, aber an diesem schien er doch sichergehen zu wollen, dass sein Sohn auch wirklich schlief – zumindest glaubte Nolan das. Immerhin hatte er für die Verwüstung des Wohnzimmers, auch wenn es aus gutem Willen heraus geschehen war, erst einmal Hausarrest bekommen und Nolan konnte das sogar verstehen... ein wenig. Aber immerhin hatte er Kieran lachen gehört. Es war heiser gewesen, ungewohnt nach all der langen Zeit, aber er hatte gelacht und er war fröhlich gewesen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Seit diesem flüchtigen Augenblick schien er aber alles in allem wesentlich besser gelaunt zu sein – wenn man das bei ihm so sagen konnte. Er blickte noch immer mürrisch, aber darunter war ein Funke von Fröhlichkeit zu erkennen und das war vermutlich auch ein Grund, weswegen er Nolan wieder ins Bett brachte. Gewissenhaft stellte Kieran sicher, dass er zugedeckt war und wollte sich bereits wieder umdrehen, als Nolan ihn noch einmal aufhielt: „He, Papa... geht es dir jetzt besser?“ Er wollte es nur wissen, um sicherzugehen. Er wollte es aus Kierans Mund hören und sich dann über seine vollbrachte Heldentat freuen – während seines Hausarrests würde das immerhin sein einziger Freudenquell bleiben. Kieran lächelte ein wenig, wie er durch das aus dem Gang einfallende Licht sehen konnte. „Ja, danke, Nolan.“ Ohne noch etwas zu sagen oder auf weitere Fragen zu warten, verließ Kieran das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, so dass der gesamte Raum in Dunkelheit getaucht war. Nolan atmete tief durch, nachdem er das gehört hatte. Er wird ab sofort viel glücklicher sein. Ganz sicher. Mit diesem Gedanken in seinem Inneren driftete er in den verdienten Schlaf ab, der von wohltuenden Träumen einer angenehmen Vergangenheit und einer noch besseren Zukunft für ihn und seinen Vater durchzogen war. Ein unvergesslicher Moment -------------------------- Im zarten Alter von sechs Jahren, sah er das erste Mal in seinem Leben die Hauptstadt seines Landes. Als Junge, der auf dem Land aufgewachsen war, waren all die Gebäude, die so majestätisch in den Himmel ragten; all die Menschen, die sich eilig an einem vorbeidrängten und vor allem all die Geräusche, die sein Ohr brandeten, derart schwindelerregend, dass er weiche Knie bekam und beinahe gestürzt wäre. Lediglich sein Vater, der eisern seine Hand hielt, verhinderte, dass es so weit kommen konnte. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck, aber unaufhaltsam, bahnte er sich seinen Weg durch die Menge und zog seinen Sohn dabei mit sich. Immer wieder warf er einen Blick auf den Jungen hinunter und runzelte dann die Stirn. Ob er etwas sagte, um seinen Gesichtsausdruck zu erklären, konnte der Junge nicht so recht einschätzen; seine Ohren rauschten bereits wegen der Geräuschkulisse, waren schlichtweg überfordert und nicht mehr in der Lage, ausreichend zu filtern. Dieser Zustand besserte sich erst, als sein Vater ihn von der belebten Hauptstraße in eine leblose Seitengasse zog, wo der Lärm sofort gedämpfter schien. Dennoch hielt er nicht inne, sondern lief immer weiter, bis er schließlich einen verlassenen Platz erreichte, auf dem eine Bank aufgestellt war. Auf dieser bugsierte er seinen Sohn schließlich und kniete sich dann vor ihn. „Gut, Landis, hör mir zu.“ Seine Ohren fanden ihre Fähigkeit wieder, ihn vernünftig hören zu lassen, so dass es ihm möglich war, mitzubekommen, was sein Vater ihm mitteilte. Die Geräusche von der Hauptstraße schienen dafür aus weiter Ferne zu kommen. „Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen. Du wirst dich hier nicht von der Stelle rühren, verstanden? Egal, wer kommt oder was auch immer er dir erzählt.“ Landis nickte sofort, zeigte wie gehorsam er war und klammerte sich mit der frei gewordenen Hand an das Holz der Bank. Er wusste zwar, dass seine Mutter nicht sonderlich glücklich sein würde, wenn sie hörte, dass ihr Mann den gemeinsamen Sohn einfach zurückgelassen hätte, aber das war immerhin nicht Landis' Problem. Richard strich ihm lächelnd durch das Haar, erhob sich und war innerhalb weniger Sekunden wieder davongeeilt. Bevor er ganz aus Landis' Blickfeld verschwand, drehte er sich noch einmal zu ihm um, fast so als würde er sicherstellen wollen, dass sein Sohn sich wirklich an die Anweisung hielt, aber dann führten seine Schritte ihn bereits fort. Landis blickte auf die Gasse, in der sein Vater verschwunden war, ließ die Beine schaukeln und ermahnte sich immer wieder, dass er versprochen hatte, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Doch schließlich – es mochten nur wenige Minuten vergangen sein, die ihm allerdings wie Stunden vorgekommen waren – entschied er, dass ihm das zu langweilig war und er ließ erst einmal den Blick schweifen, um etwas zu finden, das seiner Aufmerksamkeit gerecht wurde. Zu seiner ernüchternden Enttäuschung fand er nur einen knorrigen Baum, einen verwitterten Busch, ein Brunnen – allerdings war ihm eindrucksvoll eingebläut worden, dass ein solcher nicht als Spielplatz geeignet war – doch schließlich blieben seine Augen an einer Häuserecke hängen, wo er eine Bewegung wahrnehmen konnte. Ein erschrockenes Keuchen später war dort auch nichts mehr zu sehen, aber es genügte, um Landis' Neugier anzufachen und ihn dazu zu bewegen, aufzustehen und hinüberzugehen, egal was er seinem Vater versprochen hatte. Bis dieser zurückkam, würde er bereits wieder auf der Bank sitzen, Richard würde davon nichts erfahren. Er nahm an, dass die Person schon lange fort sein würde, sobald er an der Ecke angekommen war – aber der Junge stand noch immer da, den Rücken gegen die Wand gepresst, als hoffte er tatsächlich, so nicht entdeckt zu werden. Mit nun wild entflammter Neugier stellte Landis sich direkt vor den fremden Jungen. „Hey!“ Sein Gegenüber gab noch einmal ein erschrockenes Keuchen von sich, als würde er das erste Mal eine fremde Stimme hören. Jedem andere wäre nun klar geworden, dass der Fremde sehr schüchtern war, aber Landis kam das gar nicht in den Sinn, da er bislang noch nie eine schüchterne Person erlebt hatte. „Ich bin Landis“, stellte er sich gewohnt enthusiastisch vor. „Wer bist du?“ „Uhm, uh...“ Der fremde Junge legte sich eine Hand auf die Brust und wollte zurückweichen, aber die Wand war immer noch in seinem Rücken. Also versuchte er, zur Seite auszuweichen, aber Landis stellte sich sofort wieder vor ihn und signalisierte damit, dass er verhindern würde, dass der andere fliehen könnte. Er tat das nicht aus Böswilligkeit, seine Neugier war einfach viel zu groß. Dies schien den Fremden allerdings derart einzuschüchtern, dass er nichts mehr zu tun wusste und ihn nur anstarrte wie ein gefangenes Tier. Landis störte sich nicht weiter daran und näherte sich seinem Gesicht, bis er nur noch eine Nasenspitze von ihm entfernt war, dabei starrte er ihn direkt an und rief dann begeistert aus: „Wah, deine Augen sind so blau! So was habe ich noch nie gesehen! Viel blauer als die meiner Mama!“ „Uhm...“ Die Augen des anderen huschten unruhig umher, suchten nach einem Ausweg, fanden aber keinen solchen und resignierten schließlich. „Ich bin Frediano...“ Seine Stimme glich mehr einem Flüstern, aber sie war genug, dass Landis sie verstand. Er zog sich wieder ein wenig von dem anderen zurück und nickte. „Fredi also.“ „Nein“, erwiderte der andere, der das Konzept von Abkürzungen offenbar nicht verstand, mit gerunzelter Stirn. „Frediano.“ Doch für diesen Einspruch hatte Landis kein Ohr, stattdessen stemmte er die Hände in die Hüften, genau wie Nolan es immer tat, wenn er einen Plan gefasst hatte. „Gut, Fredi, dann lass uns etwas spielen!“ Frediano hob die Augenbrauen, die so schneeweiß wie sein Haar waren. „Was?“ „Etwas spielen“, wiederholte Landis, etwas langsamer und deutlicher. „Du und ich.“ „Ich glaube nicht, dass mein Vater das gut finden würde“, protestierte Frediano schwach. Landis warf sofort einen Blick in jede Richtung, die er sehen konnte, konnte aber niemanden sonst entdecken und zuckte dann mit den Schultern. „Er ist grad aber nicht da, oder? Also lass uns spielen!“ Ohne auf einen weiteren Widerspruch zu warten, ergriff Landis seine Hand und zog ihn mit sich auf den Platz zurück. Erst als er ihn dort wieder losließ, senkte Frediano den Blick. „Ich weiß aber gar nicht, wie man spielt oder was man so spielt.“ Das war fast schon traurig, wie Landis fand, aber er ließ sich davon erst gar nicht die Laune ruinieren, sondern hob belehrend einen Zeigefinger. „Das ist gar nicht so schwer, wirklich. Ich zeig dir ein paar Spiele.“ Die er selbst nur von Nolan kannte und woher dieser davon wusste... das war Landis fremd, er hatte seinen Freund auch nie danach gefragt. Vielleicht sollte er das irgendwann einmal nachholen. Frediano gab seinen Widerstand glücklicherweise auf und ließ zu, dass Landis ihm die leichten Regeln einiger simpler Spiele erklärte, mit denen sie sich den ganzen Nachmittag beschäftigen sollten. Nachdem er alles getan hatte, worum er von Joshua gebeten worden war, verließ Richard den Palast von New Kinging wieder. Er hatte seine Schuldigkeit getan und die monatlichen Berichte der Stadtwache von Cherrygrove bei Nathan Greenrow, dem Berater der Königin abgegeben. Etwas, das Joshua ungern selbst machte, immerhin hielt Nathan die Freunde viel zu gern auf, um sich mit ihnen zu unterhalten und nachzuhaken, wie es Kieran gerade ging. Warum der Berater so interessiert an ihm war, wusste Richard zwar nicht, aber an diesem Tag interessierte er sich nicht auch so recht dafür, da es etwas Wichtigeres zu tun gab. Mit eiligen Schritten begab Richard sich wieder zu dem Platz zurück, wo er Landis zurückgelassen hatte. Dabei hoffte er nicht nur, dass der Junge noch da war, sondern auch, dass Asterea niemals etwas davon erfahren würde. Sie mochte auch nicht die verantwortungsvollste Mutter sein, die es gab, aber gerade deswegen legte sie Wert darauf, dass er besser mit ihrem Sohn umging. Schon von weitem konnte er Stimmen hören, von denen er nur eine kannte, aber nach dem ersten Schreck, der ihm eiskalt durch die Glieder fuhr, stellte er fest, dass die andere Stimme ebenfalls zu einem Kind gehörte. Als er endlich am Platz angekommen war, entdeckte er schließlich, dass Landis vollkommen in das Spielen mit einem fremden Jungen vertieft war. Das Spiel an sich, in das mehrere Kieselsteine integriert waren, kannte Richard nicht, aber offenbar fanden beide ziemliches Vergnügen daran und unterhielten sich lebhaft über ihre jeweiligen Züge. Er traute sich kaum, die beiden zu unterbrechen, weswegen er einfach nur dastand und sie beobachtete, bis der Fremde auf ihn aufmerksam wurde und dann flüsternd Landis davon in Kenntnis setzte. Sein Sohn blickte sich misstrauisch um, was ihm verriet, dass er ihn gut erzogen hatte, lächelte dann aber sofort, als er seinen Vater erkannte. „Papa! Bist du schon fertig?“ Richard nickte und blickte den Jungen an. „Wer ist dein Freund?“ Der Junge stellte sich aufrecht hin und verbeugte sich leicht. „Mein Name ist Frediano Caulfield.“ „Oh...“ Im Gegensatz zu Landis, der sich nichts aus dem Nachnamen zu machen schien, hob Richard erstaunt eine Augenbraue. „Der Sohn des Kavalleriekommandanten?“ Auch daraus machte sein Sohn sich absolut nichts, was ein weiteres Indiz dafür war, dass Richard ihn gut erzogen hatte. Frediano nickte, wenngleich zerknirscht, als würde er nicht gern darauf angesprochen werden, weswegen er das Thema auch sofort fallenließ. „Vielen Dank, dass du dich um Landis gekümmert hast.“ „O-oh...“ Frediano wich sofort zurück und hob die Hände. „N-nichts zu danken. Ich habe das wirklich gern gemacht.“ „Wir sollten bald wieder einmal spielen!“, sagte Landis begeistert. „Du solltest auch nach Cherrygrove kommen, dann spielen wir zusammen mit Nolan!“ Frediano nickte schüchtern und verabschiedete sich dann von Landis, ehe er davonging. „Du machst dir wohl überall Freunde, was?“, fragte Richard, während er seinem Sohn durch das Haar fuhr. Landis lachte zufrieden. „Aber natürlich, warum auch nicht?“ Das war eine Eigenschaft, die er ganz sicher von Asterea hatte, Richard selbst war immerhin nicht so erpicht darauf, derart viele Freunde zu gewinnen, ganz anders als Landis. „Wollen wir dann nach Hause?“ „Aber natürlich! Ich muss Nolan davon erzählen!“ Landis griff nach Richards Hand und zog ihn mit sich, um so schnell wie möglich heimzukommen und seine Pläne in die Tat umzusetzen. Der stolze Vater folgte ihm und hoffte, dass Landis' Offenheit für immer bestehen und ihm sein ganzes Leben lang helfen würde, neue Freunde kennenzulernen. Allerdings, sagte eine leise Stimme in seinem Inneren, hoffe ich doch, dass sie nicht alle so anstrengend wie Nolan sein werden. Geburtstag ---------- Kieran war immer wieder erstaunt, egal wie viele Jahre er bereits mit Aydeen zusammenlebte. Er sah sich selbst als Frühaufsteher, nicht zuletzt seit er als Lazarus gearbeitet hatte, ein Geschäft, bei dem man sich langes Schlafen nicht leisten konnte. Aber Aydeen schaffte es immer wieder, ihn zu übertrumpfen und noch lange vor ihm aufzustehen. Bis er dann in die Küche hinunterkam, war sie bereits mit allen Vorbereitungen für das Frühstück fertig und wartete nur noch darauf, dass er und Nolan sich zu ihr gesellten. An diesem Morgen war das nicht anders, aber dafür lag etwas in der Luft. Er war darauf trainiert, derartige Dinge wahrzunehmen, aber im Gegensatz zu früher war es nicht gefährlich, deswegen konnte er die neue Stimmung nicht einordnen. Gedankenverloren kaute er auf seinem Brot, während er darüber nachzudenken versuchte und bemerkte dabei Aydeens verträumten Blick in seine Richtung erst, als er sie auf Nolans Abwesenheit ansprechen wollte. Er stutzte sofort. „Ist alles in Ordnung?“ Seine Gedanken spielten bereits allerlei Szenarien durch, die erklären könnten, was mit ihr geschehen war, angefangen von einer einfachen falschen Zutat in ihrem Essen, über Alkohol, bis hin zum Angriff eines Dämons, was sein Inneres sich sofort zusammenziehen ließ. Fast schon wollte er aufspringen und sich diesen zur Brust nehmen, damit Aydeen wieder frei sein könnte, aber da antwortete sie ihm bereits auf seine Frage und beendete damit seinen Gedankengang: „Natürlich ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen.“ Er beschloss, ihr das vorerst zu glauben und warf dann wieder einen Blick zu dem leeren Stuhl an der Seite des Tisches. „Wo ist Nolan? Hat er keinen Hunger?“ Das war ungewöhnlich, da der Geruch von Frühstück ihn sonst immer aus dem Bett holte und Aydeens Lächeln verriet ihm bereits, dass er sich irrte. „Er ist bei Landis. Die beiden sind doch quasi unzertrennlich, seit sie endlich eingesehen haben, was sie füreinander empfinden.“ Das konnte Kieran in gewisser Weise nachvollziehen – aber nicht selten fand er doch, dass sie dabei übertrieben. Sie mussten doch nicht wirklich jede Sekunde, ob wach oder schlafend, miteinander verbringen. Aber wenn er bei Richard war, bedeutete das immerhin, dass Nolan schon weniger Zeit fand, ihr gesamtes Essen zu verspeisen, wie er es immer tat, wenn ihm langweilig war. „Warum lächelst du so vergnügt?“ Diese Frage interessierte ihn dann doch ein wenig mehr. Sie griff sich demonstrativ ein Brötchen und schnitt es betont langsam auf, um ihn nicht ansehen zu müssen. Dabei zuckte sie mit den Schultern. „Oh, nichts weiter. Anscheinend hast du es ja vergessen.“ Fast schon panisch versuchte er, sich ins Gedächtnis zu rufen, was am Tag zuvor geschehen war, ob er irgendetwas getan hatte, das ihn nun im Nacken packen und durchschütteln würde, aber ihm fiel nichts ein. War es etwa schon länger her? Aber was könnte dann geschehen sein? Nun hielt sie doch wieder inne und sah ihn geradezu enttäuscht an. „Du weißt es wirklich nicht?“ Sofort entschuldigte er sich kleinlaut, so dass sie wieder zu lächeln begann. „Es gibt keinen Grund, dafür, Kieran. Zumindest nicht mir gegenüber. Du solltest dich eher bei dir selbst entschuldigen.“ „Warum sollte ich das tun?“, fragte er verständnislos. „Wenn man einen Geburtstag vergisst, bittet man doch für gewöhnlich um Verzeihung.“ Es dauerte quälend lange, bis die Worte in sein Gehirn sickerten und dann dort endlich von ihm verstanden wurden. „Oh!“ Sie lächelte wieder warm, während er sich am Liebsten gegen die Stirn geschlagen hätte und das nur unterließ, weil er in seiner rechten Hand immer noch den Rest seines Brots hielt. „Ich habe wirklich nicht mehr daran gedacht!“ Allerdings erklärte das immer noch nicht... „Aber warum macht dich das so fröhlich?“, fragte er ratlos. „Es ist doch mein Geburtstag.“ Ihrer gerunzelten Stirn entnahm er, dass sie mit seiner Frage absolut nicht zufrieden war, vermutlich lag die Antwort mal wieder nahe und er schaffte es nur nicht, sie zu sehen. Das war immer so, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging und es war für Faren auch schon immer Anlass gewesen, ihn aufzuziehen. Normalerweise störte er sich nicht weiter daran, außer es ging um seine Beziehung mit Aydeen oder Richard. In letzter Zeit aber hauptsächlich mehr um erstere. „Ich freue mich über deinen Geburtstag, weil es bedeutet, dass du geboren wurdest – ohne diesen Tag gäbe es dich nicht und damit...“ Ihre Stimme erstarb, als ihr bewusst wurde, was sie gerade im Begriff zu sagen gewesen war. Er konnte einen leichten Rotschimmer sehen, der sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, obwohl sie hastig den Kopf senkte, damit er sie nicht derart mustern könnte. „Damit was?“, fragte er, da er sich absolut nicht vorstellen konnte, was sie sagen wollte. In vollkommener Frustration warf sie, vollkommen untypisch, sowohl Brötchen als auch Messer auf ihren Teller, was Kieran gleichermaßen zusammenzucken ließ. „Oh, manchmal bist du so... so...“ Sie suchte nach Worten, dann entschied sie sich für eines, das er immerhin bereits kannte: „Manchmal bist du so weltfremd. Es ist wirklich frustrierend.“ Wieder verspürte er den Impuls, sich zu entschuldigen, aber er ließ es besser sein. Er kannte diese Stimmung nur zu gut und wusste bereits, dass es nichts brachte, wenn er dann auch noch Reue zeigte, selbst wenn sie echt und nicht nur geheuchelt war. Ihm blieb nicht lange Zeit, sich weiter damit zu befassen, da sie bereits wieder lächelte. Nicht so, als wäre nichts geschehen, wie sie es sonst gern tat, sondern vielmehr wirklich befreit. „Aber das ist etwas, das ich so sehr... an dir liebe.“ Kieran glaubte, sich verhört zu haben, fassungslos starrte er Aydeen an. „W-was?“ Nein, er konnte einfach nicht das gehört haben, was er dachte. Das würde ihn zu glücklich machen und damit nicht zu seinem sonstigen Leben passen. Andererseits hatte er etwas Glück doch auch mal verdient, oder? Ja, aber sicher! „Ich sagte, dass es etwas ist, das ich an dir liebe. Nun schau nicht so verwirrt, ich dachte mir, dass ich an deinem Geburtstag einmal die Initiative ergreifen könnte, sonst werde ich wirklich als alte Jungfer sterben.“ Sie lachte erleichtert, vermutlich froh darum, diese Worte endlich von ihrer Brust zu haben. Am Liebsten hätte er sofort erwidert, dass er ebenso fühlte, aber die Äußerungen wollten ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Noch immer war da die Furcht, dass er damit etwas kaputtmachen würde, das er nicht zerstören wollte, selbst nachdem sie es zuerst gesagt hatte. Dementsprechend blickte er sie geradezu hilflos an, was sie dazu bewegte aufzustehen und zu ihm hinüberzugehen. Sie beugte sich zu ihm hinunter und legte eine Hand an seine Wange. Sein Herz schlug in diesem Moment viel schneller als es eigentlich sollte. Noch nie zuvor war er ihr derart nahe gewesen, zumindest nicht im gesunden Zustand. Normalerweise kam sie ihm nur so nahe, wenn er krank war, nicht zuletzt deswegen, weil er stets darauf bedacht gewesen war, seine Distanz zu wahren. „Ich weiß, was du sagen willst“, erklärte sie sanft, „ich kenne dich inzwischen lang genug. Und es ist in Ordnung, ich muss es nicht hören.“ Damit schloss sie die Augen, überwand die ohnehin schon recht geringe Distanz zwischen ihnen und küsste ihn. Ihre Lippen waren sanft, viel mehr noch als er es sich vorgestellt hatte und es lag keinerlei Leidenschaft in dem Kuss, wie er es manchmal bei anderen Paaren beobachten konnte. Aber es fühlte sich gut und richtig an. Dieser Kuss war wie sie beide und passte daher geradezu ideal zu ihnen. Er wollte sich gerade in das Gefühl hineinfallen lassen, als er plötzlich ein irritiertes „Was ist das jetzt?“ hören konnte. Als sie beide sich voneinander trennten, fiel Kierans Blick auf Nolan, der gemeinsam mit Landis ebenfalls in der Küche stand. Beide sahen sie gleichermaßen interessiert an. „Uhm...“ Kieran wusste nichts zu antworten, weswegen er das lieber Aydeen überließ, die mit einer amüsierten Frage erwiderte: „Wonach sieht es für euch beide aus?“ Bevor einer von ihnen antwortete, sahen sie sich an. „Siehst du, No?“ Landis lächelte selbstzufrieden. „Ich sagte doch, dass sie sich nicht trennen würden.“ Nolan seufzte gespielt, dabei lächelte er ebenfalls. „Ja ja, du hattest recht, Lan. Diesmal zumindest.“ Dann erst wandte er sich wieder an Kieran und Aydeen: „Eigentlich wollten wir Papa nur gratulieren, aber wenn wir stören, ist es besser, wir verschwinden schnell wieder. Komm, Lan.“ Er packte seinen Freund am Arm und zog ihn mit sich, ehe dieser Widerstand leisten könnte. „Oh...“ Kieran vergrub das Gesicht in seiner Hand, damit Aydeen nicht sehen würde, wie rot er geworden war. „Auch das noch.“ „Ist das wirklich so schlimm?“, fragte sie lächelnd. „Für alle anderen sind wir immerhin ein Ehepaar, nicht wahr? Es ist nicht verwunderlich, dass ein Ehepaar sich küsst.“ „Ja, wahrscheinlich.“ Seine Stimme erklang nur undeutlich nuschelnd durch seine Hand hindurch. „Aber ich hätte mir lieber keine Zeugen für meinen ersten Kuss gewünscht.“ Er blinzelte durch zwei seiner Finger hindurch, um zu sehen, wie Aydeen leise kicherte. Doch sie wurde sofort wieder ernst. „Dann gibt es eben den zweiten Kuss ohne Zeugen.“ Vorsichtig löste sie seine Hand von seinem Gesicht und küsste ihn dann noch einmal, was ein genauso gutes Gefühl in ihm auslöste wie zuvor und ihn mit Euphorie erfüllte. Auch, weil er damit wusste, dass der erste Kuss nicht nur seiner Einbildung entsprungen war. Solange sie beide zusammen waren und nun endlich wirklich ein Ehepaar sein konnten, würde alles gut werden. Daran glaubte er an diesem Tag ernsthaft – und das war mitunter sein schönstes Geschenk zu seinem Geburtstag. Vater und Sohn -------------- Es gab viele Tage, an denen Faren seine Arbeit nicht mochte – und jene, an denen er mit Joshua zusammen arbeiten musste, gehörten eindeutig dazu. Er verstand ohnehin nicht, weswegen der Hauptmann sich eigentlich dazu herabließ, mit ihm zu arbeiten und nein, Nostalgie oder den Wunsch, einfach Zeit mit einem Freund zu verbringen, ließ er dabei nicht gelten. Faren verbrachte gern Zeit mit Joshua, ja wirklich – außerhalb der Arbeit. Auf der Wache bestand die Schicht dann jedes Mal nur daraus, Akten durchzugehen, solche möglicherweise umzusortieren und darauf zu warten, dass irgendetwas geschah, was stets eine vergebliche Hoffnung war. Auch an diesem Tag saß Faren wieder einmal an dem großen Tisch im Hauptraum der Wache und starrte auf eine Akte, ohne auch nur irgendein Wort davon zu lesen oder gar aufzunehmen. Ein ganzer Stapel davon lag bereits auf der Erledigt-Seite, aber ein wesentlich höherer befand sich auf der Noch zu erledigen-Seite. Er war ratlos darüber, wie ein solch kleiner Ort wie Cherrygrove so viele Zwischenfälle zu verzeichnen haben konnte und warum gerade er das Pech hatte, sich durch alles durchwühlen zu müssen. Am Liebsten hätte er leise geseufzt, aber schon das kleinste Geräusch hätte Joshua, der ihm gegenübersaß, auf ihn aufmerksam gemacht. Sein offener Stapel war wesentlich kleiner, aber er arbeitete auch um einiges schneller an den Akten, während Faren damit beschäftigt war, sich furchtbar zu langweilen und sich gleichzeitig zu ärgern, dass er all diesen Mist machen musste. „Wirst du nicht langsam zu alt dafür?“, fragte Joshua plötzlich. Irritiert hob Faren eine Augenbraue. „Huh?“ Sein Gegenüber hob den Kopf. Während sein schwarzes Haar nicht mehr ganz so dicht und dunkel war, schienen seine blauen Augen noch immer so scharf und unnachgiebig zu sein, weswegen Faren sich sofort in die Enge gedrängt fühlte. „Ich meine deine Frisur“, fuhr Joshua fort. „Du wirst doch langsam zu alt dafür.“ Sofort griff Faren in sein braunes Haar, das – wie er stolz sagen musste – noch immer füllig war, deswegen trug er auch, wie zu seiner Jugendzeit, immer noch den hohen Pferdeschwanz. „Man ist so alt wie man sich fühlt. Und ich fühle mich noch ziemlich jung.“ Joshua blickte ihn mit gerunzelter Stirn an, prallte aber an Farens Lächeln ab, weswegen er schließlich nachgab und den Blick wieder senkte, wobei er ein leises Murmeln von sich gab. Faren versuchte, sich wieder in seine Akte zu vertiefen, erinnerte sich aber daran, später noch Yuina zu fragen, ob er nicht vielleicht wirklich zu alt für diese Frisur wäre. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sie beide wieder aus ihrer Konzentration gerissen wurden, da jemand die Tür zur Wache öffnete und dann den kurzen Gang in den Hauptraum hinunterlief. Faren erhob sich halb von seinem Stuhl, sank aber sofort wieder auf diesen zurück, als er sah, wer hereinkam und seufzte lautlos. Auch das noch. Kenton wurde durchaus von vielen, auch von seiner Großmutter, für ein Ebenbild von Faren gehalten, dabei hatten sie eigentlich nicht einmal dieselbe Augenfarbe – aber eigentlich waren sie auch ohnehin vollkommen unterschiedlich, weswegen er sich nicht allzu gern mit seinem Sohn beschäftigte. Das lag aber nicht daran, dass er Kenton nicht mochte, er war immerhin dessen Vater, vielmehr lag es daran, dass sein Sohn selbst ihn ablehnte, was sich auch direkt wieder zeigte, als er ihn mit zusammengezogenen Brauen ansah und ihn nicht einmal grüßte, als er sagte, warum er gekommen war: „Mutter wollte, dass ich dir etwas bringe.“ Er reichte ihm eine kleine Schachtel, in der Yuina stets sein Essen aufbewahrte, das sie ihm mit zur Arbeit gab. Bei ihrer äußerst wichtigen Tätigkeit, die sie als einzige Ärztin im Ort ausübte, war er früher oft ratlos gewesen, warum sie ihm das Essen für seine Schicht mitgab. Eines Tages hatte er sie danach gefragt – und ihr scherzhaft mitgeteilt, dass seine Mutter das auch übernehmen könnte – worauf sie ihn eine Weile schweigend angesehen und ihm dann geantwortet hatte, dass sie nur sicherstellen wollte, dass er regelmäßig und vor allem gesund aß. Was auch ihre Art ist, mir zu sagen, dass sie mich liebt. Faren nahm ihm die Schachtel dankend ab, konnte sich aber eine Erwiderung nicht verkneifen: „Warum hat sie nicht Ren geschickt?“ Kentons Mundwinkel schienen noch tiefer zu sinken, ehe er zischend antwortete: „Sie ist noch nicht mal vier Jahre alt.“ Obwohl Faren darauf verzichtete, ihm zu sagen, dass er sie dennoch lieber gesehen hätte, schien Kenton das durchaus zu bemerken. Außerdem wollte er wohl ebenfalls nicht hier sein, weswegen Faren hoffte, dass sein Sohn bald wieder gehen würde. Plötzlich räusperte Joshua sich allerdings. „He, Kenton, schön, dass du da bist.“ Der Angesprochene schien erst in diesem Moment zu bemerken, wer noch am Tisch saß, aber sein Gesicht hellte sich sofort auf, als er ihn erkannte und ging zu Joshua hinüber. „Guten Tag, Sir Helton.“ Faren wollte sich einreden, dass er Kenton nur gut erzogen hatte und er deswegen höflich zu sein versuchte, aber das dumpfe Gefühl in seiner Magengegend verhinderte das und ließ es auch nicht zu, dass er den Blick abwandte. „Ich habe inzwischen das Buch gelesen, das Ihr mir über Maritimät empfohlen habt“, sagte Kenton. „Das war wirklich ein guter Tipp, vielen Dank.“ Faren wusste nicht einmal, dass es Bücher über Maritimät gab – oder was das überhaupt sein sollte. Deswegen mischte er sich nicht ein und konnte sich darauf konzentrieren, mit gerunzelter Stirn zu beobachten, was vor sich ging. „Kein Problem“, erwiderte Joshua zwinkernd. „Wir sollten darüber reden, wenn ich mal wieder frei habe.“ Kentons Gesicht schien tatsächlich noch mehr aufzuleuchten. „Aber gern.“ Das hatte nun wirklich nichts mehr mit Höflichkeit zu tun, weswegen das unangenehme Gefühl in Farens Inneren ihm einen Schlag in den Magen versetzte. Joshua und Kenton verabschiedeten sich voneinander, dann ging der Junge wieder davon – ohne seinen Vater auch nur noch einmal anzusehen. Während Joshua sich wieder in seine Arbeit vertiefte, blickte Faren ihn finster an. Er sagte nichts, hoffte jedoch, dass sein Gegenüber bemerkte, dass er mit Blicken aufgespießt wurde, aber der andere arbeitete weiter, als wäre gar nichts geschehen. Schließlich gab Faren nach und versuchte stattdessen, sich wieder in seine eigene Arbeit zu vertiefen. Dabei konnte er aber nur daran denken, dass nach dem Ende seiner Schicht hoffentlich zwei seiner anderen Freunde Zeit haben würden, um mit ihm zu sprechen – was wieder dafür sorgte, dass er kaum zum Lesen kam. Kurz nach Ende seiner Schicht, verabschiedete er sich von Joshua, wobei er immer noch ein wenig aggressiv klang. Sein Freund ignorierte das entweder oder er dachte sich seinen eigenen Teil dabei, aber das kümmerte Faren auch nicht weiter. Sein Weg führte ihn in die Taverne, wo er sich mit ein wenig Alkohol eigentlich nur wieder beruhigen wollte, aber zu seiner Freude befanden sich zwei seiner Freunde bereits da, so dass er sich, mit seinem Bierglas, ungefragt einfach zu ihnen an den Tisch setzte. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Richard. „Ja“, bekräftigte Kieran. „Du siehst ... deprimiert aus.“ Als er das sagte, wirkte es fast schon lauernd, als wartete er auf etwas Bestimmtes, das Faren ihm aber nicht geben konnte, wie er auch sofort bemerkte, als die Antwort kam: „Familienprobleme. He, kann ich euch was fragen?“ Richard vollführte eine Geste, die ihm bedeuten sollte, fortzufahren, worüber er erleichtert aufatmete und dann fragte, was ihn wirklich kümmerte: „Wie kommt ihr eigentlich mit euren Söhnen zurecht?“ Das traf die beiden so überraschend, dass sie sich einen verwirrten Blick zuwarfen und Kieran dann sogar mit den Schultern zuckte, als hätte Richard ihm ebenfalls eine Frage gestellt, auf die er allerdings keine Antwort wusste. Schließlich wandten sie sich wieder Faren zu, der neugierig auf seine Antworten wartete. „Also ich komme ganz gut mit Landis zurecht, auch wenn er gern ein wenig ruhiger sein könnte. Diese hyperaktive Seite muss er von Asterea haben.“ „Ich frage mich, wo Nolan seine herhat. In meiner Familie ist niemand so und in Aydeens auch nicht, soweit ich weiß.“ „Wenn das eure einzigen Probleme seid, beneide ich euch“, sagte Faren. „Hast du denn Problem mit Kenton?“, fragte Richard. „Am laufenden Band. Er behandelt mich, als wäre ich irgendein Unmensch und ihr solltet mal sehen, wie er mich ansieht, wenn er mit mir reden muss, was er natürlich normalerweise zu vermeiden versucht. Ich hab das Gefühl, er betrachtet mich als irgendeine Art Untermensch.“ Das auszusprechen war doch um einiges schmerzhafter, als Faren gedacht hätte, aber irgendwie war es auch sehr wohltuend, das mal mit jemandem teilen zu können, der nicht Yuina war. Seine Frau verstand sein Problem zwar, da sie immerhin beobachten konnte, wie die beiden miteinander umgingen, aber sie bot ihm keine Hilfe in dieser Sache. Ihr einziger Rat bestand darin, ihm zu sagen, dass er einfach warten sollte, bis diese Phase vorbei war. Richard nahm einen Schluck von seinem Bier und gab Kieran zu verstehen, dass er antworten sollte, was dieser auch sofort tat: „Ich nehme an, dass es Kenton stört, dass du ... weniger intelligent bist als er.“ „Bitte?“, fragte Faren irritiert, unfähig zu glauben, dass das sein konnte. „Na ja“, übernahm Richard, „unsere Jungs lieben uns, weil sie zu uns aufsehen und wir ohnehin die tollsten und schlauesten Männer sind. Das ist das Prinzip von Vätern. Mein Vater war für mich auch der Großartigste.“ „Meiner war für mich ein Held“, ergänzte Kieran. Mit einem leisen Brummen stemmte Faren den Ellenbogen auf den Tisch und bettete sein Kinn dann in seine Hand. Er konnte mit keinerlei Geschichte über seinen Vater dienen, da dieser gestorben war, als Faren noch ein Kind gewesen war. Aber die wenigen Erinnerungen, die er an diesen Mann hatte, waren keine guten. Sie waren durchdrungen von Furcht und Schmerzen, also nichts, was er wirklich durchleben wollte, deswegen kam er auch schnell wieder davon ab. „Und was soll ich jetzt machen?“, fragte er brummend. „Ich weiß ja nicht mal, was Maritimität ist.“ Eigentlich erwartete er darauf auch keine Erklärung, bekam diese aber dennoch von Kieran: „Es bezeichnet ein vom Meer geprägtes Klima.“ Sogar Richard sah ihn in diesem Moment verwundert an, was wieder zu viel für den anderen war, weswegen er leise murmelnd den Blick senkte und sich auf seinen Tee konzentrierte. Faren verstand das Signal sofort und fuhr lieber mit seinem Problem fort: „Jedenfalls kann ich ja schlecht 'nen Haufen Zeug lernen, nur um Ken zu beeindrucken. Es muss doch irgendetwas anderes geben, das ich tun kann.“ „Natürlich“, sagte Richard. „Du bist nicht im Mindesten dumm.“ Er bekam einen zweifelnden Blick von Kieran, für den Faren ihn wütend ansah, aber den anderen kümmerte es nicht weiter und Richard fuhr einfach fort: „Du denkst nur zu ungern und du bist dir deiner Stärken einfach nicht bewusst.“ „Denken ist anstrengend“, brummte Faren. Außerdem gab es, seiner Ansicht nach, nicht wirklich etwas, das ihn interessierte. Er war nicht wie Kenton, der sich stundenlang mit einer einzigen Sache beschäftigen konnte und danach jede Kleinigkeit darüber aufzählen konnte. Er dachte nicht gerne und arbeitete lieber praktisch. In der Schule waren ihm auch die Experimente am Liebsten gewesen, der Rest war ... blöd gewesen. Allerdings konnte er damit nicht gegenüber Kenton auftrumpfen, denn sein Sohn bevorzugte immer den theoretischen Teil, während er den praktischen nur mit gerunzelter Stirn betrachtete. „Rede vielleicht einfach mal mit ihm“, schlug Richard schließlich vor. „Wenn Lan und ich ein Problem haben, reden wir auch einfach miteinander, das geht ganz problemlos.“ Kieran sagte dazu nichts, was aber nicht selten einfach nur seine Zustimmung ausdrückte. Allerdings zweifelte Faren dennoch. „Was versichert mir, dass ihr recht habt?“ Wie von ihm erwartet, war es Kieran, der ihm die schonungslose Antwort gab: „Unsere Söhne lieben uns.“ Als er abends schließlich auf dem Weg in sein Schlafzimmer war, um sich deprimiert ins Bett fallen zu lassen, kam er an Kentons Tür vorbei, die leicht geöffnet war. Er hielt inne, um darüber nachzudenken, ob Richards und Kierans Rat vielleicht doch etwas bringen könnte. Ein Versuch wäre es wert, wie er fand, immerhin gab es nichts, was seine Beziehung mit Kenton noch verschlimmern würde. Also atmete er tief durch, sprach sich selbst Mut zu, klopfte und wartete dann auf eine Aufforderung zum Eintreten. Einmal war er ohne zu klopfen ins Zimmer gegangen und einmal ohne auf eine Aufforderung zu warten, was beides zu großem Ärger geführt hatte. So ruhig Kenton normalerweise auch war, er konnte wirklich laut werden, wenn er erst einmal wütend war – und die Verletzung seiner Privatsphäre war wirklich geeignet, um ihn wütend zu machen. An diesem Tag wartete er aber, bis er die Aufforderung hörte, dann betrat er das Zimmer erst und schloss die Tür hinter sich. Kenton saß an seinem Schreibtisch, hatte ihm allerdings den Blick zugewandt. Er sah nicht sonderlich begeistert aus und hatte sogar die Stirn gerunzelt. „Können wir miteinander reden?“, fragte Faren. Kenton öffnete bereits den Mund, um seine Grammatik zu korrigieren, seufzte dann aber und nickte stattdessen. Faren setzte sich auf das Bett, obwohl seinem Sohn das sichtlich nicht gefiel und überlegte dann für einen kurzen Moment, wie er überhaupt anfangen sollte. Gerade als Kenton ungeduldig zu werden begann, wusste Faren endlich, wie er anfangen sollte: „Weißt du, ich finde, wir sollten mal über uns reden.“ Sein Sohn zog die Brauen zusammen. „Über uns?“ „Ja, mir ist immerhin aufgefallen, dass du mich nicht im Mindesten leiden kannst.“ Die kraus gezogene Stirn glättete sich wieder, dafür zeigte Kentons Gesicht deutlich Verwirrung „Wie kommst du denn darauf?“ „Ernsthaft jetzt?“, erwiderte Faren. „Ist doch logisch.“ Dabei zählte er Kenton all die Gelegenheiten auf, zu denen er ihn geschnitten oder nicht sonderlich gut behandelt hatte und endete schließlich mit seinem heutigen Besuch auf der Wachstation. Dabei lauschte sein Sohn ihm überraschend aufmerksam. Nachdem Faren geendet hatte, rollte Kenton mit den Augen und schüttelte mit dem Kopf. „Das ist doch Unsinn. Ich habe nichts gegen dich, du bist mein Vater, da liebe ich dich natürlich – aber wir haben einfach keinen Draht zueinander. Und? Wie verhältst du dich, wenn du mit Kieran reden sollst, zu dem du auch keinen Draht hast?“ Faren neigte den Kopf ein wenig. „Ich blicke ihn meist böse an. Oder ignoriere ihn.“ Auch wenn er Kieran als seinen Freund bezeichnete, weil er ein untrennbarer Teil des Freundeskreises war, und er ihn respektierte, fehlte ihm einfach der Draht zu diesem. Außerdem lehnte Kieran ihn ebenfalls offen ab – obwohl er ihn wohl auch als Freund bezeichnete – deswegen hatte Faren kein Problem damit, ihn so zu behandeln. Kenton hob die Hand, als wolle er ihm sagen, dass er es also selbst sehen könne. „Ich habe wirklich nichts gegen dich. Es ist nur so, dass es es nichts gibt, worüber wir reden können, weil dich keines der Themen interessiert, für die ich mich begeistere. Noch nicht.“ Faren hatte gerade verzweifelt seufzen wollen, doch bei Kentons letzten Worten hielt er inne. „Noch nicht?“ „Du kennst dich doch gut mit Frauen aus, oder?“ Das konnte Faren nicht abwehren, er klopfte sich gegen die Brust. „Natürlich tue ich das.“ Und in diesem Moment kam ihm wieder etwas in den Sinn, was Richard gesagt hatte: Ihm seien seine Stärken nicht bewusst – aber Kenton kannte sie durchaus und in wenigen Jahren würde er sie zu schätzen lernen. „Irgendwann werde ich bestimmt dein Wissen und deine Erfahrung brauchen“, sagte sein Sohn auch gleich, um das zu bestätigen. „Und dann wirst du derjenige sein, den ich aufsuche, ganz sicher. Bis dahin wirst du aber damit leben müssen, dass ich mit anderen Leuten über Sachen spreche, die mich interessieren – und sei doch froh, dass ich dir damit nicht auf die Nerven gehe. Du beschwerst dich doch beim Essen immer über Sir Helton.“ Faren stellte wieder einmal lächelnd fest, wie aufmerksam Kenton doch war und vor allem wie einsichtig und vernünftig. Wie auch immer er ihn erzogen hatte, er musste dabei alles richtig gemacht hatten. Aber ein bisschen Bestätigung wollte er dennoch: „Und du liebst mich wirklich, ja?“ „Natürlich tue ich das“, sagte Kenton und wirkte dabei ausnahmsweise tatsächlich nicht genervt, er lächelte sogar ein wenig. „Sicher, ich finde es manchmal traurig, dass wir einfach keinen Draht zueinander finden, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir eines Tages doch noch ein Gesprächsthema für uns finden werden.“ „Spätestens, wenn du mal an Mädchen interessiert bist, garantiert“, sagte Faren enthusiastisch. „Danke, Ken, das bedeutet mir wirklich viel.“ Sein Sohn deutete ein Nicken an, sein Lächeln riss dabei nicht ab. „Fühlst du dich jetzt besser?“ „Viel besser.“ „Gut, dann wirst du mich jetzt hoffentlich nicht mehr so sehr anfeinden.“ Faren legte eine Hand auf seine Brust. „Ich feinde dich an?“ „Andauernd. Allein heute auf der Wachstation, als du mir sagtest, du hättest lieber Ren statt mich gesehen.“ Verlegen über diese Wahrheit, die ihm bislang nie wirklich aufgefallen war, kratze Faren sich am Nacken. „Oh, tut mir leid. Das wollte ich wirklich nicht.“ „Das dachte ich mir fast, nachdem du dieses Gespräch angeregt hast“, meinte Kenton gütig. „Aber du musst dir wirklich absolut keine Gedanken machen, Vater.“ Schließlich erhob Faren sich wieder von seinem Platz und nutzte die Gelegenheit, um seinen Sohn zu umarmen. „Danke, Ken.“ „Schon gut“, erwiderte dieser ein wenig verlegen. „D-du kannst mich jetzt loslassen.“ Er tat das dann auch sofort und klopfte Kenton auf die Schulter. „Dann schlaf nachher gut, ja?“ Nachdem sein Sohn ihm das bestätigt hatte, verließ er dessen Zimmer wieder und begab sich in sein eigenes Schlafzimmer. Dort befand sich Yuina bereits, wo sie, auf dem Bett sitzend, ihr Haar bürstete. Sie sah ihn irritiert an, als er mit einem breiten Lächeln eintrat. „Was ist geschehen?“, fragte sie. „Hast du eine neue Möglichkeit gefunden, mich dazu zu überreden, noch ein Kind zu bekommen?“ Seine Frustration mit Kenton war es, die sie von einem zweiten Kind überzeugt hatte – und damit hatte er auch versucht, sie zu einem dritten zu überreden, aber diesem Vorschlag war sie sofort mit einer anhaltenden Absage begegnet. „Das ist jetzt nicht mehr nötig“, erwiderte er beschwingt. „Ken und ich hatten ein sehr gutes Gespräch miteinander und wir haben all unsere Differenzen aus der Welt geschafft.“ Yuina hob eine Augenbraue. „Ganz sicher?“ „Absolut~.“ Erleichtert ließ er sich nun endlich auf sein Bett fallen. „Endlich mal ein wenig Entspannung nach dieser ganzen Sache.“ Richards Ratschlag war also tatsächlich gut gewesen – vermutlich war er als Vater dann tatsächlich besser als er es bei manchen anderen Themen war. Und das obwohl Richard sich eigentlich nie als Vater gesehen hatte, wie Faren wusste. Yuina legte die Bürste schließlich beiseite und legte sich neben ihn. Dabei lächelte sie ihn an, was ein ziemlich seltener Anblick bei ihr war. „Es ist schön, dich mal wieder so entspannt zu erleben. Das freut die Ärztin in mir und auch die Ehefrau.“ „Kann ich mir gut vorstellen“, merkte er an. „Und weißt du, was den Ehemann jetzt glücklich machen würde?“ „Ich kenne dich lange genug, um es mir zu denken.“ Sie beugte sich zu ihm hinüber und legte ihre Lippen auf seine. Er erwiderte den Kuss sofort und legte die Arme um sie, was sie mit einem zufriedenen Geräusch quittierte. Allerdings löste sie sich doch noch einmal aus der Umarmung, um das Licht zu löschen, ehe sie sich wieder zu ihm hinüberbeugte, um ihn noch einmal zu küssen und dann leise zu lachen. „Und jetzt schlaf endlich, damit zumindest einer der Männer hier im Haus vernünftig ist.“ „Jawohl, Ma'am“, sagte er lachend und schloss die Augen. Er hielt sie weiterhin im Arm, während er in einen zufriedenen Schlaf fiel, der frei von jedem Albtraum bleib. Unerwarteter Besuch ------------------- Seit Kieran mit Aydeen und Nolan zusammenlebte, kam es selten vor, dass er einmal einen ruhigen Abend erlebte. Dabei lag es weniger an ihr, sondern vielmehr an dem Jungen, der überraschend lebhaft war und stets Aufmerksamkeit erforderte. Auch wenn es hauptsächlich Aydeen war, die sich um ihn kümmerte, kam es Kieran dennoch vor, als würde es an seiner Energie zehren – nicht zuletzt, weil Nolan sich sehr um seine Aufmerksamkeit bemühte, was er einfach nicht verstehen konnte. An diesem Abend konnte er aber vollkommen ungestört auf seinem Sofa liegen und tief durchatmen, während er die Stille genoss. Aydeen war mit Nolan zu ihren Eltern nach Jenkan gefahren und da sie Kieran ohnehin nicht mochten, war es ihm ganz recht gewesen, zu Hause bleiben zu dürfen. So musste er sich nicht mit diesen Leuten abgeben und er konnte sich einfach nur ausruhen. Normalerweise traf er sich an solchen Abenden mit Richard, aber dieser war für eine Nachtwache eingeteilt, weswegen das nicht möglich war. Zumindest dachte er das, bis es an seiner Tür klopfte. Schlagartig saß er aufrecht und blickte hinaus, als könne er damit herausfinden, wer ihn besuchen wollte, obwohl er überzeugt war, dass es nur Richard sein konnte. Wer sonst sollte ihn besuchen? Im selben Moment war der Wunsch nach Ruhe vergessen, er stand hastig auf und ging zur Tür, um seinen Freund hereinzulassen. Doch als er dann wirklich öffnete, sank seine neu erwachte gute Laune sofort wieder unter den Nullpunkt. Faren lehnte, viel zu lässig, wie Kieran fand, gegen den Türrahmen und lächelte ihn an. In der Hand hielt er irgendeine Flasche, die Alkohol enthalten musste, zumindest wenn er den anderen richtig einschätzte. Er sagte nichts, aber Faren übernahm direkt selbst das Wort: „He, Kieran.“ „Was willst du hier?“ „Autsch.“ Sein Gegenüber verzog amüsiert das Gesicht. „Ich bin extra gekommen, um ein wenig Zeit mit dir zu verbringen, damit du nicht ganz allein herumsitzen musst.“ „Alle anderen haben keine Zeit, was?“ Faren seufzte und löste sich endlich vom Rahmen. „Ja. Yu hat eine Weiterbildung, Ken und Ren sind bei meiner Mutter, Josh und Richard arbeiten und Bell unternimmt etwas mit Ria. Also bleibst nur du übrig.“ Kieran zog die Brauen zusammen und stand kurz davor, die Tür einfach wieder zuzuwerfen. Er und Faren verbrachten selten Zeit miteinander, eigentlich waren sie sogar nur befreundet, weil sie eben beide Richard kannten, sonst sprachen sie auch nie miteinander. Wenn überhaupt, grüßten sie sich auch nur knapp, wenn sie sich zufällig trafen. Kieran wusste auch nie, worüber er mit dem dauer-optimistischen Faren, der wirkte, als wäre ihm in seinem ganzen Leben nie etwas Schlimmes geschehen, reden sollte. Deswegen empfand Kieran die Vorstellung, den ganzen Abend mit ihm zu verbringen, nicht gerade prickelnd. „Hast du nicht noch mehr Freunde, denen du auf die Nerven gehen kannst?“ Damit erlosch Farens Lächeln endlich, aber er wirkte nicht verärgert, sondern vielmehr bedrückt. „Na ja, ich hatte aber Lust, mal mit dir zu sprechen. Ich meine, dich kenne ich von allen meinen Freunden am wenigsten.“ „Wollen wir es nicht dabei belassen?“ Damit wollte Kieran die Tür bereits wieder schließen, aber Faren streckte sofort den Arm aus, um ihn davon abzuhalten. „Hey, hey, hey! Warte doch mal! Ich mein's ernst!“ Nur widerwillig ließ Kieran zu, dass der andere die Tür wieder aufdrückte und sich dann dagegen lehnte, damit sie nicht mehr geschlossen werden könnte. Der Blick aus Farens braunen Augen erinnerte dabei an den eines bettelnden Hundes, was Kieran die Stirn runzeln ließ. „Du wirst nicht gehen, wenn ich dich fortschicke, oder?“ „Nein, sicher nicht.“ Also blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als beiseite zu treten und den anderen hereinzulassen. Freudestrahlend trat Faren ins Haus und hob dabei die Flasche. „Ich habe uns extra Wein mitgebracht.“ Kieran schloss die Tür und folgte ihm in die Küche. „Wozu brauchen wir denn Wein?“ Nicht, dass er sich am Alkohol an sich stören würde, aber es kam ihm schon ein wenig seltsam vor. Faren zuckte allerdings mit den Schultern. „Für ein gutes Gespräch ist Alkohol immer eine passende Begleitung – und dich hätte ich als Weintrinker eingeschätzt.“ Das war er eigentlich nicht, aber er wusste, dass man solchen nachsagte, sehr kultiviert zu sein, also nahm er das einfach mal als Kompliment und stellte die Gläser auf den Tisch, während Faren die Flasche geschickt öffnete und dann einschenkte. Anschließend setzten sie sich beide, wobei Kieran seinen Besucher weiterhin abwartend ansah, um herauszufinden, worüber er überhaupt sprechen wollte. Doch Faren hob zuerst sein Glas, um ihn zum Trinken zu animieren. Innerlich seufzend ließ Kieran sich darauf ein, stieß mit ihm an und nahm dann einen Schluck. Zu genießen hatte er schon vor einer ganzen Weile verlernt, weswegen sein Schluck wesentlich größer war als der von Faren und er sein Glas auch zuerst wieder auf den Tisch zurückstellte. „Also, worüber willst du sprechen?“ „Na ja, ich weiß nicht so recht. Über dich weiß ich eigentlich wirklich nur, wann du nach Cherrygrove kamst, dass deine Eltern tot sind und dass du ein Lazarus bist.“ Kierans amüsiertes Schmunzeln – immerhin hatte er angenommen, dass der andere gar nichts wusste – fror direkt auf seinem Gesicht ein, während Faren ihm einen vollkommen neutralen Blick zuwarf. Er wollte eigentlich abwehren, alles leugnen, aber die Aussage war derart entschieden ausgesprochen worden, dass er genau wusste, dass es zu nichts führen würde. „W-woher weißt du das? Hat Yuina dir das erzählt?“ Dass sie es wusste, war Kieran durchaus bekannt. Er und Madoc hatten sich mit ihr immerhin darüber unterhalten, aber er hätte nicht gedacht, dass sie es irgendjemandem erzählen würde. Seine Enttäuschung war allerdings nur von kurzer Dauer, denn Faren schüttelte mit dem Kopf. „Ich bin nicht blöd, Kieran, auch wenn du das sicher denkst. Yu hat mir nicht gesagt, dass du einer bist, aber ich habe mitbekommen, dass dein Kollege Madoc einer ist. Also was liegt da näher, als anzunehmen, dass du ebenfalls einer bist? Und deine Reaktion eben sagte ohnehin alles.“ „Dann hast du mich ausgetrickst“, erwiderte Kieran finster. Faren lächelte bereits wieder. Dieses übliche Lächeln, dem so gut wie niemand böse sein konnte – und es wirkte sogar auf Kieran, wie dieser mit gerunzelter Stirn feststellte. „Ja, wie auch immer. Ich nehme aber nicht an, dass du darüber sprechen willst.“ Außenstehende schienen ihm selten erpicht darauf, über die Gilde zu sprechen, es sei denn, sie verbanden etwas damit. Andere hielten sich lieber fern von diesem Thema und vermieden auch gern den Kontakt mit Lazari gänzlich. Also konnte er sich nicht vorstellen, dass Faren Interesse daran hegte. „Will ich tatsächlich nicht. Mir geht es vielmehr darum, dass wir über schöne Dinge reden.“ „Und warum?“ Eigentlich empfand Kieran diese Frage als überflüssig, denn er war überzeugt, dass es einfach darin begründet war, dass Faren viel zu sorglos war und sich deswegen nicht um die schlimmen Zeiten anderer kümmerte. Aber er wurde überrascht: „Du siehst immer so bedrückt aus, finde ich. Als ob dir viele schlimme Dinge im Kopf umhergehen. Ich finde, da sollte man mal etwas daran ändern, das kann sonst nicht gesund sein.“ Bislang war er eher davon ausgegangen, dass er schlecht gelaunt oder zumindest neutral aussah. Bedrückt hatte er eigentlich nicht aussehen wollen. Allerdings beschäftigte ihn doch etwas anderes daran: „Du machst dir Sorgen um meine Gesundheit?“ „Aber klar doch, wir sind immerhin Freunde.“ Für einen kurzen Augenblick war es Kieran nicht möglich, das zu verstehen. Natürlich hatte er Faren bislang auch immer als Freund bezeichnet – aber Nolan und Aydeen waren auch sein Sohn und seine Frau, also waren seine Bezeichnungen ohnehin immer irreführend. Faren hatte ihn auch schon öfter Freund genannt, aber bislang war ihm das noch nie derart wirklich erschienen wie in diesem Moment. „Wie ... wie kommst du eigentlich darauf?“, hakte er deswegen ungläubig nach. Faren hob die Schultern. „Na ja, wir haben vor allem früher viel Zeit miteinander verbracht, wir kennen uns schon seit wir noch Jugendliche waren ... und wir hängen hin und wieder noch miteinander ab.“ „Nur wegen Richard.“ „Und?“ Faren wirkte tatsächlich sehr irritiert darüber. „Das ändert ja nichts daran, dass wir trotzdem Zeit miteinander verbringen – und ich kann dich zumindest gut leiden, auch wenn wir keinen sonderlich guten Draht zueinander haben. Du bist immerhin ein guter Kerl.“ Kieran konnte es immer noch nicht glauben. „Du kannst mich ... gut leiden?“ „Klar, warum denn nicht?“ Faren lächelte ihn immer noch an, was in Kieran die altbekannte Verlegenheit hervorrief, die er normalerweise gut zu verstecken gelernt hatte. „Uhm, also, ich ... na ja, ich hatte nie viele Freunde und deshalb ... uhm ...“ Unter anderen Umständen hätte er sich nun furchtbar darüber geärgert, dass er gerade vor Faren diese Schwäche zeigte, aber in diesem Moment war ihm das ausnahmsweise vollkommen egal. Wenn der andere schon nett zu ihm sein wollte, konnte er das auch einfach akzeptieren und seinen Respekt dafür zeigen, indem er mal Schwäche zeigte. Und Faren dankte ihm das wiederum, indem er sich nicht darüber lustig machte, ihn nicht einmal amüsiert angrinste, sondern mild lächelte. „Hattest du bei dieser Gilde denn nicht viele Freunde?“ „Nicht wirklich. Mit vielen hatte ich kaum Kontakt und jene sind schnell gestorben.“ Farens Gesicht verdüsterte sich augenblicklich. „Ist das so? Dann wundert mich nicht, dass du immer so negativ drauf bist. Aber du solltest trotzdem ein wenig mehr lächeln!“ „Es kann nicht jeder so sorglos sein wie du“, erwiderte Kieran. Er merkte allerdings sofort, dass es eine unpassende Entgegnung gewesen war, denn Faren runzelte die Stirn, was bei ihm ein seltener Anblick war. „Ich wirke nur so, weil ich nicht zulasse, dass meine Vergangenheit mich beständig einholt.“ So wie er den anderen kennen gelernt hatte, fiel es Kieran schwer, zu glauben, dass er wirklich eine finstere Vergangenheit mit sich trug. Dementsprechend maß er ihn mit einem abschätzenden Blick, der dafür sorgte, dass Faren seine Mundwinkel spöttisch anhob. „Du glaubst mir nicht, was? Ich kann es dir nicht verübeln, ich würde mir das auch nicht glauben.“ Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, wesentlich größer diesmal als zuvor. Kieran beobachtete ihn dabei abwartend und fragte sich, was es wohl mit seiner Vergangenheit auf sich haben mochte, dass sie derart finster war. Schließlich setzte Faren sein Glas wieder ab und blickte dann an die Wand. Seine Augen wirkten dabei, als ob sie weit in die Ferne schweifen würden, es war ein Ausdruck, den Kieran noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. „Als du und Richard neulich über eure Väter gesprochen habt, musste ich wieder an meinen denken“, erklärte Faren schließlich. „Er ist gestorben, als ich noch ein kleiner Junge war, deswegen erinnere ich mich nicht wirklich an ihn.“ Noch verstand Kieran nicht so ganz, was daran so düster sein sollte, er wollte ihn schon darauf hinweisen, dass das nur ein weiteres Zeichen dafür war, wie gut behütet Faren sein Leben lang gewesen war, da fuhr dieser bereits fort: „Ich war damals regelrecht glücklich, als er endlich starb. Ich konnte diesen Mann einfach nicht lieben.“ Seine Stimme erinnerte nun nicht einmal mehr im Mindesten an jene, die sonst immer lauter und fröhlicher als alle anderen zu sein schien. Sie war gepresst, als würde er weinen wollen, fühlte sich aber nicht fähig dazu und tat es daher auch nicht. „Warum nicht?“, fragte Kieran, der so etwas nicht verstehen konnte. Sein eigener Vater war für ihn ein Held gewesen, Richard hatte seinen Vater geliebt, sogar Nolan schien ihn zu lieben, obwohl Kieran nichts tat, um das zu verdienen ... eigentlich kannte er niemanden, der seine Eltern nicht liebte. Ehe er antwortete, rollte Faren den rechten Ärmel seines Hemds hoch, bis er seinen Ellenbogen freigelegt hatte. Er zeigte auf eine Stelle, die Kieran sofort ins Auge gefallen war, da sie wesentlich heller wirkte als die Haut darum herum. „Als ich vier Jahre alt war, hat mein Vater mir den Arm gebrochen, so heftig, dass der Arzt mir mehrere Schrauben einsetzen musste. Ich war damals ein kleines Versuchskaninchen, weil niemand wusste, ob es funktionieren würde.“ Sein letzter Satz klang wieder spöttisch, aber es war ein bösartiger Spott, den man sonst nicht von ihm zu hören bekam und der auch nicht zu ihm passen wollte. Kieran wandte sich von der Narbe ab und sah Faren irritiert an. „Warum hat er das getan?“ Doch der andere zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, hat er mir nicht gesagt. Warum er mir mit einem Messer das Bein abtrennen wollte, hat er mir auch nie erklärt.“ Dabei deutete er auf sein linkes Bein, machte sonst aber keine Anstalten, ihm irgendeine Narbe zeigen zu wollen. „Mein Vater war ein Irrer. Jedes Mal, wenn er zu viel getrunken hat, ist er auf meine Mutter oder mich losgegangen. Dafür musste es nicht einmal einen Grund geben. Oft saßen wir vollkommen still im Dunkeln und er ist trotzdem ausgerastet.“ Kieran konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es sein musste, wenn die Person, der man eigentlich Urvertrauen entgegenbringen sollte, einem gegenüber derart feindselig sein konnte, dass man sich sogar vor ihr fürchten musste und dass sie einen verletzte. Sein eigener Vater hatte ihn stets beschützt, selbst mit seinem letzten Atemzug noch. Wie furchtbar musste es da sein, sich in der Anwesenheit des eigenen Vaters nicht einmal mehr zu trauen, die Augen zu schließen? Doch bevor Kieran ihm in irgendeiner Art und Weise Mitleid entgegenbringen konnte, lächelte Faren bereits wieder. „Aber seit er gestorben ist, geht es mir richtig gut. Ich denke einfach nicht mehr daran und erfreue mich vielmehr an all den guten Dingen, die in meinem Leben geschehen.“ Natürlich hätte Kieran ihn nun darauf hinweisen können, dass der andere dennoch wesentlich weniger mitgemacht hatte, als er, aber er empfand es selbst als unangebracht. Mit Sicherheit wollte er das Leiden seines Freundes nicht mindern, wenn sie sich ausnahmsweise so gut verstanden – und eigentlich auch nicht in irgendeiner anderen Situation. Faren hatte viel mitgemacht und seine eigene Art und Weise gefunden, damit umzugehen und Kieran respektierte jede Form des Leidens, denn jeder Mensch reagierte vollkommen unterschiedlich darauf. Das war auch eine Sache, die er bei der Gilde gelernt hatte. „Du solltest das auch tun“, sagte Faren und wechselte damit sofort wieder das Thema. „Also mehr lächeln und an das Gute denken. Ich mache das ständig, deswegen wirke ich auf dich so, als ob alles total super bei mir wäre.“ „Aber es gibt nicht viel Gutes in meinem Leben“, murmelte Kieran, ein wenig eingeschüchtert von dem plötzlichen Umschwung. „Ich bin nicht wie du.“ Faren ließ sich davon allerdings nicht seine gute Laune nehmen und klopfte sich gegen die Brust. „Dafür hast du ja mich. Ich bin Experte in guter Laune.“ Er trank noch einen Schluck, was Kieran ihm automatisch nachmachte, dann lauschte er, was Faren noch zu sagen hatte: „Wir finden jetzt erst einmal alle guten Dinge in deinem Leben und dann kannst du dich immer daran erinnern, wenn es dir wieder schlecht geht.“ Eigentlich kam das viel zu spät für ihn, wie er fand. Er konnte inzwischen nicht mehr verzweifeln, also dürfte es nun vollkommen egal sein, ob es ihm gut oder schlecht ging, aber als er das sagte, schüttelte Faren mit dem Kopf. „Es ist nie egal, wenn es einem schlecht geht. Ich habe es dir vorhin schon gesagt, als dein Freund möchte ich, dass es dir gut geht. Und Aydeen und Richard wären dann mit Sicherheit auch erleichtert.“ Die Erwähnung dieser beiden Namen sorgte schließlich dafür, dass Kieran nachgab. Wenn es um diese beiden ging, konnte er nicht mehr ablehnen. Er wollte nicht, dass sie besorgt wegen ihm waren, wenn sie es schon schwer genug hatten. „In Ordnung, wenn du meinst, dass es hilfreich ist – aber ich garantiere dir, dass es eine schwere Aufgabe sein wird, denn es gibt wirklich nicht viele gute Dinge in meinem Leben.“ „Oh, wir schaffen das schon, vertrau mir.“ Als die Flasche schließlich leer war, standen Kieran die Tränen in den Augen, während Faren mit seinem Oberkörper und zuckenden Schultern auf dem Tisch lag. Allerdings nicht wegen etwaiger trauriger Erinnerungen, die wieder hervorgekramt worden waren. Stattdessen fühlte Kieran sich überraschenderweise so befreit wie selten zuvor, auch während er sich lachend die Tränen wegwischte und dabei versuchte, sich wieder zu beruhigen. Nach etwas Nachdenken waren ihm tatsächlich endlich gute und lustige Erinnerungen eingefallen, wenn es davon auch nicht viele gab. Aber bislang genügten sie. Faren hob schließlich leise glucksend den Oberkörper wieder vom Tisch. „Das ist doch nicht wirklich passiert!“ „Ich garantiere es dir“, versicherte Kieran ihm. „So wahr ich hier sitze, er hat wirklich gefragt, ob wir einen Rabatt bekommen, wenn wir sie uns teilen. Ich wollte auf der Stelle im Erdboden versinken! Es war einfach nur furchtbar!“ Und doch war es im Nachhinein eigentlich eine äußerst lustige Anekdote, wie er selbst fand. „Oh, das kann ich mir gut vorstellen“, meinte Faren schmunzelnd, nachdem er es endlich geschafft hatte, nicht mehr lachen zu müssen. „Das ist wirklich total abgedreht.“ Kieran nickte und dann kehrte erst einmal wieder Stille zwischen ihnen ein. Wenn er sich richtig erinnerte, war das nun so ziemlich alles gewesen, was ihm Gutes geschehen war in seinem Leben ... wobei die letzte Geschichte eigentlich nur wegen dem Spaßfaktor hinzugekommen war. Es war nicht unbedingt eine gute Erinnerung, aber sie war lustig und passend zum zuletzt angeschnittenen Thema, deswegen hatte Kieran sie überhaupt erzählt. Faren seufzte schließlich zufrieden. „Das sollte doch jetzt eigentlich reichen an guten Erinnerungen. Und he, dieser Abend gehört jetzt dazu.“ „Findest du?“ Kieran neigte ein wenig den Kopf. „Ich weiß aber wirklich nicht, ob das funktionieren wird.“ Immerhin kannte er sich gut genug, um zu wissen, dass er sehr negativ dachte und zum absoluten Pessimismus neigte. Eine Sache, die auch Aydeen offenbar sehr beschäftigte und vermutlich die Erklärung war, warum sie in den letzten Wochen oft grübelnd anzutreffen gewesen war. „Oh, das ist kein Problem“, versicherte Faren ihm sofort. „Ich komme einfach öfter mal vorbei, damit wir das alles wiederholen können.“ „Das würdest du wirklich tun?“, fragte Kieran und sah ihn dabei so hoffnungsvoll an, wie man es sonst nicht von ihm kannte und wie er es sich selbst nie zugetraut hätte. Faren lächelte zuversichtlich. „Aber natürlich. Ich sagte dir doch, wir sind Freunde und dein Wohl liegt mir da am Herzen.“ Diese Aussage schaffte es, Kieran mit einem angenehmen Gefühl von Zuversicht zu erfüllen, das er sonst zu selten kannte. Wenn Faren es schaffte, seine Vergangenheit mit dieser Taktik weitgehend zu überspielen und gute Laune zu haben, dann könnte Kieran das genauso schaffen und damit all seinen Freunden, inklusive Faren, ein besseres Gefühl zu verschaffen. Das nahm er sich jedenfalls an diesem Abend voller Gelächter fest vor, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, dass sein Leben sich in gar nicht allzu ferner Zukunft durch den Tod Aydeens radikal ändern würde und dann nicht einmal mehr Farens Ratschlag helfen könnte. Das einzige Talent ------------------ Nolan fragte sich ernsthaft, womit er das verdient hatte – und was mit Aurora los war, dass sie seine stumme Ablehnung nicht verstand. Egal wie sehr er sie mit gerunzelter Stirn betrachtete, sie nicht hereinbat und nicht einmal etwas zu ihr sagte, stand sie immer noch, unermüdlich lächelnd, vor seiner Tür. Da sie offenbar nicht weggehen wollte, er aber auch nicht unhöflich genug war, einfach die Tür zu schließen, seufzte er. „Was willst du?“ „Ich wollte dich besuchen“, sagte sie gut gelaunt. „Ist das verboten?“ „Nein, aber ich verstehe nicht, warum.“ Immerhin hatten sie eigentlich nicht wirklich was miteinander zu tun. „Hast du nicht was Besseres zu tun?“ „Eigentlich nicht.“ Er hatte aber auch nicht im Mindesten Lust, mit ihr zu sprechen. Noch immer erinnerte er sich viel zu gut daran, wie aufgekratzt und fröhlich sie auf Landis' Beerdigung gewesen war. Das war ein Verhalten, das er ihr immer noch nicht verzeihen konnte und dass sie nun derart gut gelaunt vor ihm stand, gerade einmal zwei Wochen nach der Beerdigung, half nicht gerade, dass er sie mochte. Vor allem da er gerade seinen ersten freien Tag hatte, seitdem er zum Kommandanten der Kavallerie ernannt worden war und seine eigentliche Planung viel Ruhe beinhaltete. „Kannst du dir nicht trotzdem eine bessere Beschäftigung suchen?“, fragte er daher. Auch wenn er sie nicht mochte, konnte er sie nach wie vor nicht einfach wegschicken. Die gute Erziehung, auf die seine Eltern und Großeltern geachtet hatten, verhinderte, dass er derart unhöflich sein durfte – und Aurora nutzte das schamlos aus: „Ich denke nicht. Was kann denn schon besser sein, als sich mit dir zu unterhalten?“ Dabei zwinkerte sie ihm zu, womit sie es tatsächlich schaffte, die Seite in seinem Inneren anzusprechen, der es gefiel, wenn mit ihm geflirtet wurde – selbst wenn es sich dabei um die Verlobte seines Freundes handelte, auf die er eigentlich wütend sein wollte. Also hielt er ihr die Tür auf und bat sie herein. Mit einem glücklichen Lächeln, als freute sie sich über den Sieg, trat Aurora ein. Dabei fiel ihm erstmals auf, wie federleicht ihre Schritte schienen, sie tänzelte regelrecht in sein Haus hinein, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt, und blickte sich neugierig um. „Sieht fast so aus wie bei Kenni“, urteilte sie schließlich. „Aber mit weniger Bildern an den Wänden.“ Nolan wusste, dass Kenton nach seinem Einzug einige Gemälde erstanden und in seinem Haus verteilt hatte. Es waren keine Landschaftsbilder, auch keine Stillleben, sondern seltsam abstrakte Darstellungen, die sich Nolans Verständnis entzogen, die sein Freund aber stundenlang betrachten konnte, wenn er die Muße dafür fand. Zu Beginn war Nolan an diesen Bildern interessiert gewesen, aber nachdem er die Erklärungen nicht verstanden hatte, war sein Interesse schlagartig geschwunden. Nolan lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen seines Wohnzimmers und beobachtete, wie Aurora sich weiter umsah, als gäbe es etwas Wichtiges darin zu entdecken. Sein eigener Blick streifte über das dunkle Sofa, den niedrigen Tisch aus dunklem Holz und auch das Regal, in dem sich einige Bücher befanden, die er bei seinem Umzug damals wahllos aus Cherrygrove mitgenommen hatte. Wäre er gefragt worden, hätte er es nicht geschafft, alle Titel aufzuzählen – oder wovon die Bücher überhaupt handelten. Er wäre nicht einmal in der Lage, zu sagen, warum er einige von ihnen eigentlich mitgenommen hatte, denn er konnte allein vom Einband her sofort sagen, welches von Kieran oft gelesen worden war. Vielleicht sollte er sie irgendwann doch noch selbst lesen, um herauszufinden, warum sein Vater so interessiert an ihnen gewesen war. Ansonsten gab es nicht mehr viel zu sehen, wenn man von dem Bild absah, das auf dem Beistelltisch des Sofas stand, um ihn an bessere Zeiten zu erinnern. Auroras Blick fiel sofort darauf, sie nahm, ohne ihn zu fragen, den Rahmen hoch, um das Bild darin genauer zu betrachten. „Wie kommt denn das?“ „Huh?“ Er war es inzwischen derart gewohnt, dass ihm schon gar nicht mehr bewusst war, wie außergewöhnlich es eigentlich war, so etwas zu besitzen. „Na ja, mein Vater kannte da jemanden, der mit seltsamen technischen Geräten experimentierte. Sehr progressiv.“ Aurora wandte für einen kurzen Moment den Blick von dem Bild ab, um ihn erstaunt anzusehen. „Progressiv, das ist ein ganz schön schweres Wort.“ Er zuckte, begleitet von einem charmanten Lächeln, mit den Schultern. „Ich habe ein sehr reichhaltiges Vokabular, dank meinen Großeltern.“ Und er trug es auch gern zur Schau, immerhin genoss er die überraschten Blicke jener Personen, die nicht damit gerechnet hatten, dass jemand wie er tatsächlich über Wissen verfügte. Und es war manchmal sehr hilfreich, um das Interesse von Frauen auf sich zu lenken. Das von Aurora richtete sich jedoch sofort wieder auf das Bild. Sie klopfte gegen den Rahmen, so dass auch seine Aufmerksamkeit sich wieder diesem widmete. Tatsächlich war es ein Bild, das nicht gezeichnet oder gemalt worden war, sondern von einem seltsamen Apparat aufgenommen worden war. Die genauen Hintergründe waren ihm unbekannt, aber am Ende war tatsächlich ein Bild daraus geworden und es zeigte nicht nur ihn als Kind, sondern auch seine Eltern, in einer Zeit, in der noch alles gut gewesen war. Da fiel ihm wieder einmal ein, dass sein Vater ihm einmal gesagt hatte, dass er sich als Erwachsener wundern würde, weswegen er unbedingt hatte erwachsen sein wollen – und im Moment stellte er sich diese Frage auch wieder einmal. Seine Kindheit war wesentlich besser gewesen, auch wenn er nun andere Freiheiten besaß als früher. Aber mit Frauen flirten oder ganz andere Dinge mit ihnen tun zu können, wog die Sorglosigkeit der Kindheit einfach nicht auf. „Sind das deine Eltern?“, vergewisserte Aurora sich. Als Nolan das bestätigte, stieß sie ein helles, amüsiertes Lachen aus. „Oh, ich wusste gar nicht, dass Kieran Kinder hat. Das hätte er mir ruhig einmal sagen können. Dann wäre ich beim letzten Mal nicht so hart mit ihm umgesprungen.“ „Kanntest du meinen Vater etwa?“, fragte er überrascht. Dabei schob er einfach mal die seltsamen Vorstellungen beiseite, die ihn bei ihrem letzten Satz heimsuchten, damit das innere Bild seines Vaters nicht doch noch einen weiteren Knick bekam, immerhin hatte es schon genug andere. Ihre Augen schienen plötzlich zu glühen, was er aber rein auf ihre Aufregung schob, statt zu glauben, dass da wirklich Magie im Spiel war. „Oh, aber natürlich!“ Sie stellte das Bild wieder zurück, um sich Nolan zuzuwenden und dabei aufgeregt zu gestikulieren. Die Art, wie sie dabei wild mit den Armen fuchtelte, erinnerte ihn unwillkürlich an Landis, was ihm direkt erklärte, warum sie und sein bester Freund sich so gut verstanden haben mochten, wie es in seiner Erzählung geklungen hatte. „Ich habe ihn ganz oft getroffen, als er noch gearbeitet hat. Er war jünger als du jetzt, als wir uns das erste Mal trafen – und er war so niedlich, du hättest ihn erleben müssen! Er ist total rot geworden und hat angefangen zu stottern und dann war er voll genervt von mir und ...“ Während er ihrer Erzählung lauschte und beobachtete, wie sie die verschiedensten Gesten mit ihren Händen vollführte, fragte er sich, warum ein Naturgeist einen Händler treffen sollte und das sogar mehrmals. Also beschloss er, an dieser Stelle einzuhaken, worauf sie irritiert innehielt, die Hände immer noch mitten in der Gestik erhoben. „Händler?“ „Ja, das war der Beruf meines Vaters.“ Ihre Überraschung verwunderte ihn nicht weiter, immerhin erntete er das von vielen Leuten, die Kieran früher gekannt hatten. Wenn er sich an seinen Vater zurückerinnerte, konnte er das auch sehr gut nachvollziehen, immerhin war er keinesfalls der typische Händler gewesen. Aber es war ein interessanter Anblick, zu sehen, wie Aurora die Stirn runzelte und nun angestrengt nachzudenken schien. Einen kurzen Moment lang schien es ihm sogar, als ob er sich drehende Zahnräder hinter ihrer Stirn sehen könnte. Das führte ihn zu der Frage, ob es anderen so ging, wenn sie ihn beim Denken beobachteten. Schließlich schaffte sie es allerdings das Nachdenken zu beenden. „Ooooh~. Jetzt verstehe ich.“ „Ich nicht“, erwiderte er. Eigentlich wollte er sie streng anblicken, bis sie ihm erzählte, was sie wusste – das funktionierte immer, wenn Richard es tat – aber ihr strahlendes Lächeln war derart ansteckend, dass er nicht anders konnte, als direkt mitzulächeln. Innerlich verfluchte er sich bereits selbst dafür, aber sie erklärte ihm auch ohne jedes weitere Nachhaken, was sie verstanden hatte: „Mir erschien er nicht wirklich wie ein Händler, wann immer ich ihn traf. Aber er war ein netter Kerl.“ Nolan kommentierte das nicht weiter. Auch wenn etwas in ihm seinen Vater immer noch liebte und er dieses Bild deswegen auch immer in seinem Wohnzimmer stehenließ, waren die fünf Jahre zwischen Aydeens und Kierans Tod, die schlimmsten seines Lebens gewesen. Auch wenn er sich nicht mehr gänzlich an diese erinnerte, so wusste er doch, dass Kieran äußerst grausam gewesen war und die Narben auf seinem Rücken riefen ihm das gern wieder ins Gedächtnis, wenn er es zu vergessen drohte. Aber darüber wollte er nicht mit Aurora sprechen. Sie hatte inzwischen wieder die Hände hinter ihrem Rücken zusammengelegt und wog den Oberkörper hin und her, als wäre sie ein Grashalm im Wind oder als ob sie sich zu einem unhörbaren Rhythmus bewegen würde. Für einen Moment konnte er sie daher nur anstarren und plötzlich fand er es gar nicht mehr so seltsam, dass Kenton sich in sie verliebt und ihr deswegen sogar einen Antrag gemacht hatte. „Willst du mir jetzt verraten, warum du wirklich hier bist?“, fragte er. Da sie nichts weiter sagte, sie ihn aber so sehr an Landis erinnerte, wusste er, dass es etwas gab, was sie ansprechen wollte, sich aber nicht traute. Also gab er ihr einfach den Anstoß, den sie auch sofort dankbar annahm: „Ich wollte wirklich nachsehen, wie es dir geht.“ Inzwischen hatte sie wieder innegehalten und blickte ihn mit ernster Besorgnis an. „Auf der Beerdigung bist du früher gegangen und danach sahst du auch immer sehr unglücklich aus, wenn ich dich getroffen habe. Deswegen dachte ich, wenn ich mal vorbeigehe und mit dir rede, kann ich vielleicht irgendwas tun, um dich aufzumuntern.“ Es rührte ihn in gewisser Weise, aber er wollte in dieser Sache auch nicht einfach gleich nachgeben, besonders nicht nachdem sie auf der Beerdigung derart viel gelacht hatte. „Warum solltest du das tun?“ Immerhin kannten sie beide sich absolut nicht. Sie verbrachte ihre Zeit lieber mit Kenton oder mit Nadia und Aidan und er war in seiner Freizeit lieber mit Richard zusammen, der zu seinem Vaterersatz geworden war. Es gab eigentlich nichts, was sie miteinander verband und damit auch keinen Grund, weswegen sie sich um ihn kümmern sollte. Sie neigte den Kopf ein wenig, ihre Augen glitzerten leicht, als stünde sie kurz davor zu weinen. „Nun, zum einen weiß ich jetzt ja, dass Kieran dein Vater war und ich mochte Kieran, also muss ich ein Auge auf seinen Sohn werfen.“ Er presste die Lippen aufeinander und gab sich Mühe, nicht mit den Zähnen zu knirschen, als sie diesen Mann wieder erwähnte. Richard hatte sich, im Umgang mit ihm, rasch angewöhnt, Kieran einfach nicht mehr zu erwähnen, wofür Nolan überaus dankbar war – aber er wies Aurora nicht darauf hin, dass er das auch bei ihr bevorzugen würde. „Außerdem“, fuhr sie fort, „habe ich Landis versprochen, auf dich zu achten.“ Nolan stutzte sofort. „Was?“ Scheinbar verlegen beschrieb sie mit ihrem Fuß ein Muster auf dem Boden. „Na ja, Landis hat sich große Sorgen gemacht, dass du mit seinem Tod nicht zurechtkommen würdest. Es wäre ihm wesentlich lieber gewesen, wäre die Sache anders ausgegangen, aber da es nicht funktionierte ... nun, jedenfalls bat er mich darum, dass ich dann losgehe, um dich aufzumuntern.“ Er musste unwillkürlich lächeln, als er sich vorstellte, wie Landis sich, selbst nach sieben Jahren, noch Gedanken darum machte, wie er wohl auf dessen Tod reagieren würde. Aber da blieb noch eine andere Frage: „Warum gerade du?“ Aurora lachte wieder, was ein überraschend heller Klang war, wie ihm das erste Mal auffiel. „Er sagte, du und ich wären uns so ähnlich, dass ich es auf jeden Fall schaffen würde, dich aufzumuntern. Oh, und außerdem hab ich auch bei Landis immer wieder für gute Laune gesorgt, ich bin einfach so talentiert!“ Bei diesen Worten klopfte sie sich gegen die stolzgeschwellte Brust, was Nolan tatsächlich leise lachen ließ. „Wenn du so bist, wie ich, ist das dann auch dein einziges Talent.“ Das ließ sie dann wieder ein wenig das Gesicht verziehen, aber er spürte genau, dass sie immer noch gut gelaunt war. „Ah, genau dasselbe hat Landis auch immer zu mir gesagt. Dabei kann ich noch so viele andere Sachen.“ Sie hob die Handfläche nach oben und wartete – aber nichts geschah. Schließlich seufzte sie leise. „Ach ja, habe ich vergessen. Ich bin ja jetzt ein Mensch, da kann ich das natürlich nicht mehr.“ Da sie nun also kein Feuer mehr beschwören konnte – Nolan nahm einfach an, dass das ihr Ziel gewesen war – verschränkte sie einfach die Arme hinter ihrem Kopf. „Dann ist für gute Laune sorgen jetzt wohl wirklich mein einziges Talent“, stellte sie leise schmollend fest. Diese Gestik erinnerte Nolan tatsächlich an sich selbst, weswegen er wieder nicht anders konnte, als leise zu lachen. Immerhin verstand er nun durchaus, wie Landis darauf gekommen war, dass sie sich ähnelten – und er bereute fast schon, dass er zugelassen hatte, dass Kenton ihr den Antrag machen konnte. „Mach dir nichts daraus“, erwiderte er amüsiert. „Es ist auch mein einziges Talent und ich komme damit ganz gut über die Runden. Hey, ich bin jetzt sogar Kommandant der Kavallerie.“ „Bestimmt weil du bei Frediano so oft für gute Laune gesorgt hast.“ „Oh, aber garantiert.“ Vollkommen grundlos brachen sie plötzlich beide in Gelächter aus, das so lange anhielt, bis Nolan kaum noch Luft bekam. Aurora hielt bereits den Bauch, als sie es endlich wieder schafften, sich beide zu beruhigen. Wesentlich besser gelaunt, deutete Nolan schließlich auf das Sofa. „Setz dich doch. Willst du etwas trinken?“ Der Nachmittag mit Aurora wurde, entgegen seiner Befürchtung, tatsächlich äußerst angenehm. Landis hatte recht, wie er schnell feststellte. Sie und Nolan waren sich wirklich sehr ähnlich, weswegen sie sich, nach dem holprigen Anfang, sofort auf einer Wellenlänge befanden und über Dinge sprechen konnten, über die Nolan seit dem Tod seines Vaters nicht einmal mehr nachgedacht hatte. „Eine Schatzsuche!“, bestätigte Aurora auch sofort. „Wir sollten unbedingt eine machen! Also nicht heute, wir haben ja nicht einmal eine Schatzkarte, aber irgendwann ...!“ Ihr kindlicher Enthusiasmus weckte auch seinen eigenen, der bislang gut verborgen in ihm geschlafen hatte. Nach Kierans Tod war er gezwungen gewesen, auf eigenen Beinen zu stehen und auch wenn er viele der neuen Freiheiten genossen hatte, war es notwendig gewesen, Dinge aufzugeben und dazu gehörten auch die Suche nach Schätzen und der Wunsch, ein Held zu werden. Andere Erwachsene taten so etwas nicht und er musste ein vorbildlicher Mann sein, also durfte er das auch nicht tun. Aber mit Aurora, die immerhin wesentlich älter war als er und sich immer noch dieses kindliche Gemüt bewahrte, hatte er das Gefühl, dass es vollkommen in Ordnung war, sich so zu verhalten. „Lass es mich sofort wissen, wenn du eine findest“, sagte er. „Ich habe irgendwo bestimmt noch eine Schaufel und graben kann ich auch gut. Lan und ich mussten oft Löcher graben, als wir noch jung waren.“ „Warum denn das?“, fragte sie mit einem amüsierten Lachen. „Oh, manchmal war es eine Strafe von meinem Vater gewesen, aber ich glaube, er wollte einfach nur, dass wir müde werden und ihm keinen Ärger bereiten.“ In dieser nun entspannten Atmosphäre fiel es ihm auch nicht mehr schwer, einfach so über diesen Mann zu sprechen, als wäre absolut nichts dabei. In Auroras Anwesenheit schienen die Schrecken der Vergangenheit so unbedeutend, dass er sie gänzlich ignorieren konnte. „Kieran war ganz schön streng, was? Kann ich mir bei ihm irgendwie gar nicht vorstellen. Ich dachte immer, er wäre eher ein Typ Vater, der alles durchgehen lässt.“ „Ach, so wie wir drauf waren hätte er uns eigentlich wesentlich härter bestrafen können.“ Und noch lockerer wären sie wohl nur davongekommen, wenn Faren sein Vater gewesen wäre. Die Strafen an sich waren immerhin harmlos gewesen, wenn er so darüber nachdachte – und die Misshandlungen blendete er in diesem Moment einfach mal aus. „Ein paar Nachbarn haben das ja sogar oft gefordert, aber Papa meinte immer, das würde nichts bringen und sie sollten ihn einfach so handeln lassen, wie er es für richtig hält.“ Aurora schmunzelte, als sie das hörte. „Oh und niemand legt sich gern mit Kieran an, nicht wahr?“ „So sieht es aus.“ Er selbst hatte es immerhin auch gern vermieden. „Aber Lan war ihm gegenüber oft streitsüchtig gewesen.“ „Oh, Landis hat sich immer gern als Ausnahme betrachtet“, sagte Aurora lachend. „Du kennst ihn ja wesentlich besser als ich.“ Nolan nickte langsam. „Wie wahr, wie wahr. Ich hab immer darauf gewartet, dass Papa ihm gegenüber mal ausrastet, aber er ist immer total ruhig geblieben.“ „Ach, ich wäre gern mal bei den Streitereien der beiden dabei gewesen.“ Sie seufzte. „Das war bestimmt eine unheimlich lustige Angelegenheit.“ Noch ehe er etwas sagen konnte, wechselte sie bereits wieder das Thema: „Wo findet man eigentlich Schatzkarten? Ich muss das ja wissen, sonst kann ich gar keine suchen und wir gehen nie Schätze ausgraben.“ „Darum müssen wir uns auf jeden Fall kümmern. Das ist ein sehr wichtiges Problem.“ Aurora nickte noch einmal und blickte dann auf die Uhr, die an seiner Wand hing. „Owww, schon so spät. Ich muss langsam nach Hause, sonst denkt Kenni noch, du willst mich behalten.“ „Wäre das so schlimm?“, fragte er lachend. Sie ging nicht weiter darauf ein, sondern erhob sich lieber von dem Sofa. „Ich werde auf jeden Fall noch einmal vorbeikommen, wenn du mich das nächste Mal nicht wie deine Feindin behandelst.“ „Oh, das nächste Mal werde ich dich freundlich hereinbitten, damit wir gleich über unsere Schatzsuche sprechen können, keine Sorge.“ Wieder zeigte sie dieses strahlende Lächeln, das einfach jeden einnehmen musste, wie er glaubte und zumindest bei ihm funktionierte es auch ganz hervorragend. Genau wie ihre darauf folgende Stimme: „Fein, dann freue ich mich schon darauf – und denk daran, gute Laune zu verbreiten, mein Lieber.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)