Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 19: Haustier -------------------- Ich entschuldige mich schon mal im Voraus dafür, dass dieses Kapitel eigentlich keinen Inhalt hat. Trotzdem wollte ich es unbedingt einbringen und es ist extra etwas länger, damit ihr den November ohne Kryptonit übersteht ;) Für die, die es noch nicht wissen: Ich beteilige mich im November am National Novel Writing Month, weswegen ich 30 Tage lang nicht hieran weiterschreiben kann. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, _____________________________ »Er hat sich entschuldigt?«, frage ich verwundert. Anjo nickt und starrt geradeaus in die Dunkelheit, die durch die Scheinwerfer meines Autos nur mäßig erhellt wird. »Mehrmals«, antwortet er. Irgendwie sieht er beunruhigt aus. Sina, Lilli und Nicci hängen kichernd auf meinem Rücksitz und kriegen gar nichts mit, da sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Es ist halb zwei und die Mädchen sind angetrunken und giggeln ununterbrochen. Anjo sieht einfach nur aus, als hätte er einen Geist gesehen. Er war ziemlich lange draußen, um frische Luft zu schnappen, und als er dann zurückkam, hat er sich wie eine Steinstatue neben mich gesetzt. Zuerst hab ich gar nicht aus ihm heraus bekommen, was eigentlich los ist. Ein wenig beunruhigt hat mich sein Verhalten ja schon. »Ok… dann muss er wohl ziemlich betrunken gewesen sein.« Anjo schweigt einen Moment lang. »Du warst nicht betrunken, als du dich bei Jakob entschuldigt hast.« Meine Eingeweide krampfen sich unweigerlich zusammen. Dieser Name verursacht bei mir momentan Gefühle unterschiedlichster Art. Erst einmal wird mir schlecht. Dann meldet sich mein Unterkörper. Dann wird mir heiß, weil ich in Gottes Namen nicht will, dass irgendjemand heraus bekommt, was Jakob und ich treiben. Meine Finger umfassen das Lenkrad automatisch etwas fester. Bilder huschen durch meinen Kopf. Die Schaukeln. Die vier darauf folgenden Treffen. Jakobs Küsse. Seine Hände auf meiner Haut… »Stimmt… aber ich hab auch ein paar Jahre Zeit gehabt, um darüber nachzudenken. Bei Benni scheint das alles… äh… etwas schneller zu gehen.« Anjo seufzt tonnenschwer. »Aber vielleicht weiß er es morgen früh gar nicht mehr. Oder er bereut es und wird sauer und alles geht von vorn los… aber er hat mir so Leid getan, ich weiß nicht… eigentlich sollte ich wütend sein und ihn meiden. Aber stattdessen will ich ihm einfach nur helfen.« Ich werfe Anjo einen Blick von der Seite zu und zwinge mich dazu, nicht mehr an Jakob zu denken. Oder an die Treffen irgendwo, wo wir in aller Ruhe verbotenerweise miteinander rumgemacht haben. Ich kann es nicht fassen, dass ich wirklich schwach geworden bin. Und dass ich jetzt nicht mehr damit aufhören kann. »Du bist zu gut für diese Welt, ist dir das eigentlich klar?«, erkundige ich mich und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Zum ersten Mal seit einer halben Stunde breitet sich ein Lächeln auf Anjos Gesicht aus. Die Sache mit Benni scheint ihn wirklich mitzunehmen. Ich würde ihn ja gern aufmuntern, aber ich kann mir auch einfach kein bisschen vorstellen, was er gerade durchmacht. Was Benni grad durchmacht, das kann ich schon eher nachvollziehen. Auf der Seite stand ich schließlich auch mal. »Das zeigt echt Größe, weißt du? Dass du so über ihn denkst.« Ich werfe ihm noch einen Blick zu. »Ich bin ziemlich stolz auf dich.« Ok, das hat geholfen. Auf Anjos Gesicht breitet sich ein Strahlen aus, das die Nacht theoretisch komplett erhellen könnte. Meine Scheinwerfer jedenfalls sticht sein Strahlen eindeutig locker aus. Sinas lautes Lachen dröhnt zu uns nach vorne und Anjo zuckt leicht zusammen. Er sieht verlegen aus und den Rest der Fahrt schweigt er nachdenklich, schaut aus dem Fenster, und ich weiß ziemlich sicher, dass er über Benni nachgrübelt. »Schlaft gut«, sagt er schließlich, als wir in unserer Wohnung ankommen. Nicci und Lilli hab ich vorher rumgefahren, Sina verschwindet nun – immer noch kichernd – in ihrem Zimmer. Ich will gerade den Nachtgruß erwidern, als mein Handy klingelt. Ich werfe einen Blick auf die Armbanduhr und krame mein Telefon aus der Hosentasche hervor. Anjo beobachtet mich verwundert. »Wer ist das denn?« Zur Antwort stöhne ich entnervt. »Hallo Schwesterherz«, sage ich zur Begrüßung. »Oh, Chris! Du bist noch wach, wie wunderbar! Kannst du mich abholen?« Ich bin gerade erst reingekommen. Diese kleine Diva wird mich eines Tages noch wahnsinnig machen. Aber dann denke ich daran, dass ich seit anderthalb Wochen sowieso kaum schlafen kann. »Du hättest mich das auch gefragt, wenn ich schon geschlafen hätte«, gebe ich mürrisch zurück. Ich sehe Anjo nach, der mit einem amüsierten Lächeln und einem letzten Winken in seinem Zimmer verschwindet und leise die Tür schließt. »Da magst du Recht haben. Also, was ist? Nora und ich haben den letzten Bus verpasst.« Das ist garantiert gelogen. Sie weiß genau, dass ich sie auch vom Ende der Welt abholen würde, wenn sie mich darum bittet. Das kleine Aas. »Ja, ok. Sag mir die Adresse…« Ob noch eine schlaflose Nacht mehr oder weniger… darauf kommt es nun wirklich nicht mehr an. * Als Jakob mich zwei Tage später anruft und fragt, ob ich Zeit für ihn habe, schaffe ich es, abzusagen. Ich hab Anjo versprochen, dass ich mit Sina zusammen für ein paar erste Skizzen Modell stehe. Er hat schließlich nicht ewig Zeit, um mit seinem Projekt voran zu kommen. Mein Unterkörper beschwert sich ungnädig. »Das ist schade… Milan ist nächstes Wochenende mit ein paar Kollegen in Hamburg. Du könntest vorbei kommen.« Jakobs Stimme ist schlimmer als die des Teufels persönlich. Zumindest für mich. Ich weiß, dass ich nein sagen sollte. Bisher haben wir uns nie irgendwo getroffen, wo wir komplett allein waren. Im Dunkeln im Park rumzumachen ist eine Sache. Sich bei ihm in der Wohnung zu treffen, ist eine andere Sache. Ich bin mir eigentlich zu hundert Prozent sicher, dass wir miteinander in die Kiste steigen. Und dann werde ich sicherlich nie wieder schlafen. »Ich sag dir noch mal Bescheid, ob ich da kann.« Das ist keine Absage. Ich würde mir selbst gern dafür in den Hintern treten. Aber es hilft ja nichts. Sina und Anjo sind immer noch der Ansicht, dass meine Müdigkeit daher rührt, dass ich so viel trainiere. Vier Mal war das Training nur eine Ausrede für ein Treffen mit Jakob. Sina würde mich umbringen, wenn sie wüsste, was ich tue und Anjo… der hat schließlich überhaupt erst dafür gesorgt, dass Jakob wieder mit mir redet. Er ist sicherlich nicht allzu begeistert davon, wenn er erfährt, dass Jakob und ich uns mehr als nur ein wenig gut verstehen. Ich hab mir selbst in all den schlaflosen Nächten schon hundert Mal die Frage gestellt, ob ich denn nun eigentlich in Jakob verliebt bin. Die Antwort ist immer dieselbe: Nein, bin ich nicht. Meine Gefühle für Felix haben sich in all dem Stress vollkommen verabschiedet und ich bin sehr dankbar dafür. Allerdings waren mir die Gefühle für meinen besten Freund lieber, als dieses Chaos, was ich jetzt zu bewältigen habe. Jakob und ich verstehen uns auf eine Art und Weise, die nicht rein kumpelig ist. Ich mag ihn anders als einen platonischen Freund. Aber ich bin auch nicht in ihn verliebt. Scharf auf ihn bin ich allerdings hundertzwanzigprozentig. Ich könnte kotzen. Mir war ja immer schon klar, dass Gefühlskram nicht so mein Ding ist, aber momentan bringt mich das alles noch an den Rand des Wahnsinns. Am Morgen nach der Party bin ich wieder genauso müde wie nach all den anderen Nächten. Ich hab Eileen und ihre Freundin nach Hause gefahren und konnte danach – wie erwartet – mal wieder nicht wirklich schlafen. Als Sina um halb zwölf mit dem Telefon in der Hand in mein Zimmer gestürmt kommt, fühle ich mich wie gerädert und sehe garantiert aus wie ein Zombie. »Dein Vater ist dran«, sagt Sina gut gelaunt, wirft mir das Telefon auf die Bettdecke und ich taste fahrig danach. Vielleicht sollte ich es mal mit Schlaftabletten probieren. »Hey Pops«, nuschele ich erschlagen. »Guten Mittag. Seit wann bist du zum Langschläfer mutiert?«, erkundigt sich die gut gelaunte Stimme meines Vaters vom anderen Ende her. Ich gähne und drehe mich auf die Seite. »Seit deine missratene Tochter mich als Taxi missbraucht?«, schlage ich vor. Es ist zwar ein wenig gemogelt, aber die Antwort ›Seit ich mit meinem Fastfreund aus Jugendtagen seinen festen Freund betrüge‹ erscheint mir doch ein wenig unpassend zu sein. »Ja, sie hat schon erzählt, dass du sie wieder kutschieren musstest«, antwortet mein Vater und ich höre das Schmunzeln in seiner Stimme. »Ist eigentlich dein Job«, klage ich und muss grinsen. Er lacht. »Tja. Aber ich bin nicht in den Mittzwanzigern und sehe mit Sonnenbrille aus wie ein Unterwäschemodel, mein Guter. Deine Schwester pflegt ihr Image mit dir.« Ich muss grinsen. »Das weiß ich wohl. Eileen verschweigt denen immer, dass ich schwul bin. Sie denkt, dann würde ich an Reiz verlieren…« Eileen hat einen Knall. Aber ich liebe sie trotzdem. Irgendwie. »Deine Schwester ist halt seit drei Jahren in der Pubertät. Irgendwann wird sie schon raus wachsen«, erklärt er hoffnungsvoll. »Weswegen ich eigentlich anrufe… Seit vorgestern haben wir einen neuen Mitbewohner, für den aber eigentlich kein Platz ist. Irgendwelche Vollidioten haben ihn hergebracht und dann nicht mehr abgeholt. Du hast nicht zufällig noch Platz bei Sina?« Ich richte mich auf und reibe mir mit der telefonfreien Hand die Augen. »Noch ein Hund? Oder eine Katze? Ich weiß nicht, was Sina dazu sagt. Ich hab nichts gegen Tiere, wenn’s nach mir ginge, hätte ich einen Privatzoo. Aber ich kann sie ja mal fragen…« Ich schwinge meine Beine aus dem Bett und schlurfe mit dem Telefon am Ohr in Richtung Küche, wo ich es klappern höre. Pepper kommt schwanzwedelnd in den Flur und ich kraule sie kurz im Vorbeigehen. Sina steht mit einem meiner Shirts und einem Rock in der Küche und durchwühlt den Kühlschrank. Anjo steht neben ihr – weswegen sie, so vermute ich, vollständig bekleidet ist – und schält Kartoffeln. »Hey«, sage ich zu ihm und er lächelt mir kurz zu, ehe er sich wieder den Kartoffeln widmet. »Es ist ein Hund. Ein Mischlingswelpe, klein, plüschig… du könntest ihn ihr ein wenig schmackhaft machen…« Ich verkneife mir ein Lachen. »Sina? Haben wir Platz für einen hilfsbedürftigen Babyhund?« Mein Vater gluckst. »Du bist ja dermaßen manipulativ«, kommentiert er meine Formulierung. Er kennt Sinas ›Ich muss kleine, hilfsbedürftige Dinge drücken und knuddeln und bemuttern‹-Komplex, den sie ja bei Anjo schon zur Genüge ausleben kann. Wenn ich es recht bedenke, dann ist Anjo eigentlich auch ein hilfsbedürftiger Babyhund… »Was? Noch einer?«, fragt Sina verwirrt und hebt den Kopf. Sie hält ein Päckchen Butter und zwei Joghurts in der Hand. Anjo hat den Kopf gehoben und schaut mit leuchtenden Augen zu mir hinüber. »Irgendwer hat einen in die Praxis gebracht und nicht mehr abgeholt«, erkläre ich. Anjo lässt den Kartoffelschäler sinken und sieht empört aus. Sina wirft einen Blick zum Türrahmen, wo Pepper hockt und hechelnd darauf wartet, dass sich jemand ihr zuwendet. »Aber wir haben schon einen«, sagt sie ein wenig nörgelig. Wenn sie nicht will, dann ist da nichts zu rütteln. Es ist schließlich ihre Wohnung. Anjo dreht sich zu ihr um und schaut sie aus seinen grünen Augen an, die jeden Schwerverbrecher dazu bringen könnten, alle Sünden einzusehen und Abbitte zu leisten. Dem Knirps fehlt nur noch der Heiligenschein. Er ist echt unglaublich. »Wir könnten ja mal zu deinen Eltern fahren und ihn ansehen«, lenkt Sina ergeben ein und Anjo strahlt sie an, als hätte sie ihm gerade das beste Geschenk gemacht, das man bekommen kann. »Pops? Wir kommen später vorbei und schauen ihn mal an«, sage ich grinsend und zwinkere Anjo zu, der rot anläuft und sich hastig wieder seinen Kartoffeln zuwendet. Sina seufzt leise. Mein Vater jedoch klingt zufrieden. »Na, das ist ja schon mal was. Wenn sie das kleine Fellknäuel sieht, wird sie ohnehin ja sagen«, prophezeit er, während ich die Küche wieder verlasse. »Mal sehen. Wir bringen noch jemanden mit, das stört doch nicht, oder?« Es hätte mir klar sein müssen, dass ich jetzt genau erklären muss, wer Anjo ist und wieso er jetzt hier wohnt und dann schimpft mein Vater noch eine gefühlte Ewigkeit auf homophobe Eltern, ehe wir schließlich auflegen und ich unter die Dusche steige. Anjo sagt, wir können die Skizzen auch auf später oder auf morgen verschieben. Er ist total hibbelig angesichts des Hundes. Und offenbar ist es noch hibbeliger angesichts meiner Familie. »Wie sind sie so? Hoffentlich mögen sie mich…« Ich schmunzele und Sina tätschelt beruhigend Anjos Arm. »Chris’ Familie mag jeden und jeder mag Chris’ Familie«, versichert sie dem Knirps, der sie unsicher anschaut. Wir haben die Wohnung verlassen, nachdem es Gemüseauflauf zum Mittag gab. Jetzt schwinge ich mich auf den Fahrersitz meines Wagens und warte, bis Sina und Anjo ebenfalls sitzen und sich angeschnallt haben. »Eileen und Tim sind grenzwertig«, sage ich grinsend. Sina lacht. »Ich finde Tim nett«, meint sie scheinheilig. Ich kann angesichts dieses Statements nur schnauben. Tim und Sina flirten immer wie verrückt. Tim hat nicht die geringste Chance bei Sina und das weiß er auch, aber solange beide Spaß daran haben… Tim spart nicht damit, Sina zu erklären, dass sie die ›geilste Braut auf der Welt‹ ist, was Sina natürlich gern von jemandem hört, der grammatikalisch korrekte Sätze sprechen kann und die Hose nicht in die Socken steckt. »Ja, er findet dich auch nett«, kommentiere ich ihren Einwand. Anjo scheint jedes Wort einzusaugen wie ein Schwamm. »Und Chris’ Oma wird dich auch mögen«, sagt Sina grinsend. Ich hüstele. »Deine Oma wohnt auch bei euch? Oh Gott… so viele Leute. Ich sterbe!« Er sieht tatsächlich ein wenig blass aus. Es ist ja nicht so, dass von diesem Treffen sein Leben abhängt, aber genauso sieht er aus. Ich bin sicher, dass sie Anjo mögen werden, – ich meine, wie kann man ihn nicht mögen? – aber selbst wenn nicht, dann wäre es auch egal. Nun ja. Für ihn offenbar nicht. »Tim ist dein Bruder und Franziska ist die Jüngste und Eileen ist die, die du immer abholen musst. Und dann habt ihr doch noch ein Pflegekind im Haus, oder?« Anjo knibbelt nervös an seinen Fingern herum. Ich sehe es im Rückspiegel. »Ja, genau. Lydia«, erkläre ich geduldig. Anjo nickt konzentriert. Die ganze Autofahrt über wackelt er aufgeregt auf dem Rücksitz herum, bis wir schließlich vor dem Haus meiner Eltern parken und aussteigen. Anjo sieht aus, als würde er gleich ohnmächtig werden. Unser Garten ist von einer hohen Hecke umgeben, die nur von einem Gartentor unterbrochen wird. Ich öffne das Tor und lasse Sina und Anjo eintreten, dann schließe ich es wieder hinter mir und wir gehen den gepflasterten Weg hinauf zum Haus. Anjo sieht sich mit großen Augen um. »So ein riesiger Garten«, murmelt er und sein Blick schweift über die Rosenbüsche und kleinen Gemüsebeete meiner Mutter und über das Schaukelgerüst drüben neben der Terrasse. »Ich hab mich früher immer ums Rasenmähen gedrückt«, erkläre ich grinsend und Anjo öffnet gerade den Mund, um zu antworten, als ein lautes Getöse losbricht. Anjo zuckt erschrocken zusammen und fährt herum, dann entspannt er sich wieder, als er die drei großen Hunde sieht, die um die Ecke des Hauses geschossen kommen. Ich werde fast umgeworfen, als sie sich auf mich stürzen und jeder der drei versucht, an mir hochzuspringen. »Meine Fresse«, rufe ich lachend und schiebe Sam weg, der bei weitem am übermütigsten – und am größten – ist. Ich knie mich ins Gras und verziehe das Gesicht, als Renja mir über die Wange leckt. »Sam, Renja und Mogli«, moderiert Sina grinsend für Anjo, dessen Gesichtsausdruck etwas Verzücktes angenommen hat. Sam beschnüffelt aufgeregt den Neuankömmling, den er noch nicht kennt. Anjo streckt vorsichtig die Hand aus und streichelt den Husky, der ein begeistertes Bellen hören lässt. »Was für eine Begrüßung«, meint Sina amüsiert und krault Renja hinter den Ohren. Anjo ist offenbar so etwas wie ein Tierflüsterer. Keiner der drei hat etwas dagegen, dass er sie streichelt und Sam scheint ganz und gar begeistert und will Anjo dauernd anspringen. »Wenn das so weiter geht, dann schaffen wir es heute nicht mehr bis zur Tür«, sage ich und schiebe Sam von Anjo weg. »Mach sitz!«, sage ich streng und Sam bellt begeistert, ehe er sich schwanzwedelnd auf dem Rasen niederlässt. »Geht doch… und jetzt zur Tür«, sage ich und schiebe Anjo vor mir her den Rest des Gartenweges hinauf. Noch bevor ich meinen Schlüssel hervor gekramt habe, wird die weiße Haustür mit dem kleinen Buntglasfenster aufgerissen und meine Schwester wirft sich theatralisch in meine Arme. »Chris!« Eine braune Haarmähne raubt mir einen Moment die Sicht und Eileens Arme um meinen Hals verhindern ein problemloses Atmen. Ich drücke sie kurz und ächze gequält, woraufhin sie mich loslässt und mich anstrahlt. Eileen hat lange braune Haare und ein schmales Gesicht. Ihre Augenbrauen sind akkurat gezupft und sie trägt ein rotes, sommerliches Kleid. Anjo folgt mir und Sina mit immer noch großen Augen in den Eingangsbereich. Eileen schließt die Tür hinter uns. »Chris ist da!«, ruft sie dann laut in Richtung Wohnzimmer. Ich sehe, wie Anjo sich einen Überblick über den Fliesenboden, die schlichten Möbel und die Holztreppe nach oben verschafft, da kommt auch schon Lydia um die Ecke gewackelt. Ihre Pausbäckchen glühen rot und ihre blauen Augen leuchten, als sie in Latzhose und mit Ringelshirt auf mich zugelaufen kommt. Ich knie mich auf die hellen Fliesen und hebe sie hoch. Die blonden Locken kitzeln mich im Gesicht. »Hallo Prinzessin«, sage ich lächelnd und bekomme prompt einen feuchten, liebevollen Kuss auf die Nase gedrückt. »Chrisie!« Lydia ist der einzige Mensch auf der Welt, der meinen Namen so verunstalten darf. Bei ihr klingt es schlichtweg hinreißend, da sie zu leichtem Lispeln neigt und es mit einem Strahlen sagt, als wäre ich das schönste auf der großen, weiten Welt für sie. Im nächsten Moment ist der Flur voller Leute und Anjo sieht eindeutig ein wenig überfordert aus. Lydia hängt auf meinem einen Arm, Eileen hängt am anderen – obwohl sie mich gestern erst gesehen hat – und Sina steht bei Anjo und meinen Eltern, die ebenfalls dazu gekommen sind. Mein Vater ist fast so groß wie ich. Allerdings ist er nur halb so breit. Wie bei allen in der Familie – mal abgesehen von Lydia – sind seine Haare braun und glatt. Er hat seine Lesebrille auf und einen Arm um meine Mutter gelegt. Sie steht neben ihm und sieht in etwa halb so groß aus wie er. Beide lächeln Anjo freundlich an, während sie sich mit ihm unterhalten. Sein Kopf ist hochrot und ich sehe, dass er seine Hände nervös miteinander verknotet. »Alter, ihr macht hier einen Terz…« Tim schlurft um die Ecke. Er war wohl in der Küche und hält eine Packung Cornflakes in der Hand. Sieht so aus, als wäre er gerade erst aufgestanden. Sina grinst breit angesichts von Tims in alle Richtung abstehenden Haaren. Auch wenn mein kleiner Bruder eindeutig einen an der Waffel hat, kann ich nicht leugnen, dass er mir extrem ähnlich sieht. Nur zehn Zentimeter kürzer ist er und seine Haare sind kürzer als meine. »Es ist ja auch die freudige Ankunft deines geliebten Bruders«, sage ich amüsiert. Tim schnaubt, dann wendet er sich Sina zu und grinst sie ein wenig verschlafen an. »Hallo schönste Frau der Welt!« Ich verdrehe die Augen, als er ihr einen Handkuss aufdrückt. »Du gibst nie auf, oder?«, fragt Eileen kopfschüttelnd. Tim streckt ihr die Zunge heraus und verschwindet mit seinen Cornflakes zurück in die Küche, nicht ohne Sina noch mal zuzuzwinkern. »Wir haben noch Kuchen«, erklärt meine Mutter mir. »Deine Oma konnte sich nicht zurückhalten, als sie gehört hat, dass du vorbei kommst.« Ich muss schmunzeln und will Anjo gerade erklären, dass meine Oma dauernd Kuchen für die ganze Nachbarschaft backt, als sie höchstpersönlich in den Flur kommt, die Hände in die Hüften stemmt und mich streng mustert. Ich verkneife mir ein Lachen. »Wenn ich meinen ältesten Enkel nur alle Jubeljahre zu Gesicht bekomme, kann er sich glücklich schätzen, dass ich ihm überhaupt was backe!«, klagt sie. Dann fällt ihr Blick auf Anjo. »Ah, Christian. Ist das dein Freund? Du kannst mich Margarete nennen. Eigentlich denke ich ja, dass Christian seine Gene verschwendet, wenn er keine Kinder zeugt, aber ihr könnt ja später auch welche adoptieren. Schön, dass Christian endlich mal eine feste Bindung eingeht…« Und mit diesen Worten schiebt sie Anjo vor sich her in Richtung Küche. Er wirft mir einen halb panischen, halb peinlich berührten Blick über die Schulter zu und ich folge den beiden hastig. Sina und die anderen schließen sich uns an. Meine Oma ist ausgesprochen übereifrig, was mein Liebesleben angeht. Ich kann mir vorstellen, dass Anjo ein wenig überfordert ist, weil sie ihn für meinen Freund hält. Tim sitzt an dem großen Esstisch in der hinteren Ecke der Küche und pantscht Zucker in seiner labbrigen Cornflakes. »Du siehst ganz schwach aus, mein Junge! Hier, nimm dir zwei Stück Kuchen. Willst du Sahne?« »Nein, danke«, krächzt Anjo und findet sich im nächsten Augenblick vor einem Teller mit zwei riesigen Stücken Blechkuchen wieder. Ich und Sina setzen uns neben Anjo, der mit zitternden Fingern nach der Gabel greift, die meine Oma ihm hingelegt hat. Meine Eltern und Eileen setzen sich ebenfalls zu uns und Lydia zappelt gut gelaunt auf meinem Schoß herum. »Wo ist Franzi?«, erkundige ich mich, während Oma auch mir ein Stück Kuchen hinschiebt und ich Lydia meine erste Gabel abtrete. »Sie ist in deinem Zimmer bei dem Minihund«, mampft Tim mit dem Mund voller Cornflakes. »Wenn’s nach ihr ginge, würde sie ihn nicht mehr hergeben.« »Er ist ja auch sehr süß, aber wir haben keinen Platz für noch einen vierten Hund«, sagt mein Vater seufzend. »Krieg ich die Katzen auch noch zu sehen? Und die Hasen?«, fragt Anjo und sein Gesicht hellt sich auf. Tiere scheinen ihm Freude zu machen. Da ist er ja hier genau in der richtigen Familie gelandet. Während meine Mutter, Sina und Eileen sich über Sinas Studium unterhalten, erzählt mein Vater aus dem Praxisalltag und Anjo isst seinen Kuchen, während er zuhört und zwischendurch ein paar schüchterne Fragen stellt. Tim versucht mir grimassierend und gestikulierend Fragen über Anjo zu stellen, aber ich tue so, als würde ich ihn nicht verstehen. Oma beobachtet uns alle und sieht sehr zufrieden aus. Je mehr Gäste da sind, desto zufriedener ist sie. »Ihr könnt nachher noch Kuchen mitnehmen. Wir haben noch eine Menge«, sagt Oma, als wir aufstehen, um in mein Zimmer zu gehen und uns den kleinen Welpen anzuschauen. »Danke. Der ist wirklich sehr lecker«, sagt Anjo aufrichtig. Oma strahlt zufrieden. »Christian, wieso bringst du nicht öfter so nette Freunde mit hierher?«, ruft sie uns noch nach, während ich Anjo energisch aus der Küche bugsiere, bevor meine Eltern ihn noch adoptieren wollen. Lydia kräht empört darüber, dass ich schon gehen will, doch den Geräuschen nach zu schließen lenkt Tim sie damit ab, dass er Eileen Cornflakes in den Ausschnitt schnippt. Kaum zu fassen, dass der Junge schon zwanzig ist. Eileens Gekreische und Tims Gelächter folgen uns die hölzerne Treppe hinauf. Wir passieren die Zimmertüren meiner Geschwister und dann deute ich auf die steile Treppe, die zum Dachboden hinaufführt, wo ich früher mein Zimmer hatte. Franzis braun-getigerte Katze Hermine streicht um meine Beine und verschwindet dann stolzierend im Bad – sicherlich, um sich auf dem Duschvorleger auszustrecken und zu sonnen. »Wo sind die anderen drei?«, erkundigt sich Anjo begeistert und sieht der Katze nach, ehe er mir die steilen Stufen hinauf folgt, die in mein altes Zimmer führen. »Wahrscheinlich draußen im Garten. Irgendwo. Bei den Hasen vielleicht, um sich darüber zu ärgern, dass sie sie nicht essen können.« Anjo sieht ein wenig geschockt aus. Da das Haus sehr geräumig ist, ist auch der Dachboden nicht gerade klein. Vier Holzbalken stützen die Decke und Anjo klappt der Mund auf, als er den großen Raum sieht, der nun nur noch sporadisch mit Möbeln ausgestattet ist. Franzi liegt hinten auf einer breiten Matratze, die mir als Bett dient, wenn ich zu Besuch hierher komme. Vor ihr auf einer Wolldecke hockt ein winzigkleines, hellbraunes Fellknäuel und fiept leise. Ich brauche nur einen kurzen Blick auf Sinas Profil werfen, um zu wissen, dass sie dieses kleine Tierchen nicht hier lassen wird. Anjos Gesichtsausdruck sieht in etwa aus wie die aufgehende Sonne. Franzi schaut auf und lächelt mir entgegen. Sie hält ihre kinnlangen Haare mit einem Haarreif zurück und steckt in schlichten Shorts und einem grünen T-Shirt. Tim und ich sind uns immerhin äußerlich ähnlich. Eileen und Franzi sehen aus wie Tag und Nacht. Und das liegt vor allem auch daran, wie sie sich geben und was sie tragen. Sina setzt sich neben Franzi auf die Matratze, Anjo hält Franzi verlegen lächelnd die Hand hin. »Ich bin Anjo.« »Franzi.« Sie lächeln sich an und ich befinde, dass die beiden sich ganz schön ähneln. Aber das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist der winzige Hund auf der Wolldecke, der uns alle aus seinen Knopfaugen mustert. »Er ist winzig«, sagt Anjo und setzt sich vorsichtig auf den Dielenboden neben der Matratze. »Und flauschig«, fügt Sina hinzu. »Und überhaupt total niedlich«, stimmt Franzi zu. Anjo streckt behutsam seine Hand aus und hält dem kleinen Welpen seine Finger hin, damit er daran schnuppern kann. »Ich frag mich, wie man so ein kleines Vieh nicht abholen kann«, grummele ich und die anderen drei nicken zustimmend. Mein Blick ruht auf Anjo, der den Hund mit seinen strahlenden Augen mustert und ihn nun vorsichtig am Kopf krault. Der Hund fiept begeistert. »Oh mein Gott«, sagt Sina und lässt den Kopf hängen. »Er ist wie Anjo.« Anjo sieht sie verwirrt an, ich muss lachen. Genau das habe ich mir auch schon gedacht. »Ok, ok. Ich gebe mich geschlagen. Anjo kann ihn haben.« Anjo blinzelt perplex. »I…ich? Sollte Chris ihn nicht haben?«, fragt er. Ich grinse. »Ich hab schon einen. Und der hier passt wirklich gut zu dir«, antworte ich amüsiert und beobachte die beiden, die sich verflucht ähnlich sind und sich anscheinend gerade gefunden haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)