Lilienjäger von Flordelis (Custos Vitae II) ================================================================================ Kapitel 1: Ein verkorkster Tag ------------------------------ Einsamkeit kann die wunderlichsten Dinge mit Menschen anstellen. Sie führen Selbstgespräche, vermenschlichen Gegenstände oder anders gesagt: Sie werden langsam exzentrisch, wenn sie es nicht schon von Beginn an waren, weswegen sie überhaupt erst einsam wurden. Bei mir war wohl nicht meine Exzentrik schuld, sondern eher mein Forschungsdrang. Deswegen lebte ich in einer Hütte in einem Wald, bis... Dazu komme ich noch. Jedenfalls war ich bis vor kurzem ganz allein, konnte allerdings meine Einsamkeit mit Experimenten und dem Notieren der Ergebnisse eben dieser verdrängen. Dass ich jetzt dieses Tagebuch führe dient einzig dem Zweck, keine wichtigen Dinge meiner Reise zu vergessen. Mein Gedächtnis ist zwar tadellos, aber warum unnötige Risiken eingehen? Die Geschichte meiner Reise begann an einem ganz normalen Tag... na ja, vielleicht nicht ganz so normal, denn er begann damit, dass ich es schaffte, meine Hütte abzubrennen. Stumpf saß ich vor den rauchenden Trümmern meines Heims. Die Erkenntnis über das eben Geschehene war noch nicht wirklich von mir verarbeitet worden, weswegen die Verzweiflung erst noch einsetzen würde, die panische Phase war zum Glück schon vorbei. Während dieser Phase der emotionalen Klarheit dachte ich nicht daran, wo ich nun schlafen sollte, was für einen Ärger ich dafür bekommen würde – immerhin gehörte die Hütte eigentlich dem Bürgermeister meines Heimatdorfes – oder gar welche Erinnerungen ich mit diesem Gebäude verband. Nein, meine Gedanken drehten sich nur um all die Aufzeichungen, die mit der Hütte in Rauch aufgegangen waren. Vier volle Jahre Notizen über die verschiedensten Experimente, die würde ich nicht einfach so rekonstruieren können. Ganz zu schweigen von dem Versuch, wegen dem ich nun obdachlos war, den würde ich auch wiederholen müssen – wenn auch ein wenig achtsamer. Ich starrte auf die Trümmer, die Asche von vier Jahren meines Lebens. Jahre, die ich nie wieder zurückbekommen würde – und da ich all die Experimente wiederholen müsste, würden noch einmal vier Jahre verschwendet werden. Ein schweres Seufzen entfuhr mir, als mir die volle Tragweite für meine Forschungen bewusst wurde – und ein weiteres Seufzen, als sich mir ins Bewusstsein drängte, dass ich nun über keine Bleibe mehr verfügte. Ich würde unter freiem Himmel auf dem Boden schlafen müssen, bis ich eine neue Hütte gebaut hatte, was sicher Jahre dauern würde. Bei meinem Glück sollte ich vielleicht eher einen Sarg zimmern. Obwohl... bei genauerem Nachdenken wurde mir die Sinnlosigkeit bewusst. Es gab immerhin niemanden, der meine sterblichen Überreste in den Sarg legen würde, wenn es nach meinem Tod überhaupt noch etwas zu beerdigen gab. Wie ich mich kannte, würde ich bei einer Explosion sterben oder von irgendeinem Monster verspeist werden. Monster, die durch diesen Wald streiften... noch ein Grund, sich lieber schnell eine neue Hütte zu bauen. In mein Heimatdorf zurückzukehren war jedenfalls keine Option. Vor drei Jahren war ich des Dorfes verwiesen worden, mit der Auflage, erst wieder zurückkehren zu können, sobald ich meine Forschungen einstellen würde, aber das war wider meiner Natur. Lieber würde ich sterben, als damit aufzuhören. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass diese Wahl tatsächlich äußerst real war. Bis zur Mittagszeit erlaubte ich mir, weiter im Selbstmitleid zu schwelgen, doch als die Sonne am höchsten stand, beschloss ich, mir zumindest etwas zu essen zu besorgen. Mein knurrender Magen erinnerte mich daran, dass es meinem Körper nichts brachte, nur auf die zerstörten Überreste meines Heims zu starren. Und mit etwas zu essen würden mir hoffentlich bald neue Impulse kommen, die mich vorwärts brachten, ehe ich noch zu viel Gelegenheit zum Nachdenken bekommen würde. Je länger mein Gehirn sich nicht mit irgend etwas beschäftigen konnte desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass es anfangen würde, an die Vergangenheit zu denken und besonders schlimme Erinnerungen wieder hervorzuziehen. Zumindest heute wollte ich das nicht riskieren, immerhin warf mich das immer in eine Phase der Apathie – und die könnte unschön ausgehen, wenn ich geschwächt im Freien schlafen müsste. Während ich auf der Suche nach etwas Essbarem durch den Wald lief, überdachte ich Alternativen für die heutige Nacht. Eine Höhle zählte jedenfalls nicht dazu. In solchen lebten wilde Tiere, es gab keinerlei verwaisten Bau, den ich nutzen konnte. Bären und Wölfe galten nicht gerade als gesellig und ich plante keineswegs, diese Theorie zu testen. Ich überlegte, die Nacht auf einem Baum zu verbringen. Einige besaßen tatsächlich ausladende Zweige, auf denen man es sich mit Sicherheit gemütlich machen konnte. Aber was, wenn ich im Schlaf hinunterfallen würde? Ich könnte mir etwas brechen oder meine Brille verlieren. Beides war für mich gleich schlimm, auch wenn keiner es nachvollziehen konnte. Ich trug meine Brille immer, selbst beim Schlafen. Ohne sie fühle ich mich... unwohl, wie eine völlig andere Person. Ich hasse dieses Gefühl, darum trage ich sie ständig. Mit der Zeit gewöhnt man sich auch daran und kann damit einschlafen. Wenn ich sie verlor oder sie kaputtgehen würde, müsste ich auf einen Ersatz warten – und diese Zeit würde ich mit Sicherheit nicht ertragen. Allein beim Gedanken daran... nein, ich wollte nicht einmal an so etwas denken. Als ich alle Beerensträucher, die ich kannte, erfolglos abgesucht hatte, geriet ich ins Grübeln. Eigentlich dürfte es nicht sein, dass an diesen Sträuchern nichts wächst. Es war Sommer und damit sollten sich zumindest die ersten Beeren zeigen, doch stattdessen wirkten die Pflanzen verdorrt und zwar allesamt. Das war nicht normal. Wieder einmal überkam mich das Gefühl, dass sich etwas Elementares in der Welt geändert hatte. Es war mir bereits kurz nach Beginn des neuen Jahres aufgefallen. Doch da ich nicht eindeutig sagen konnte, was diese Empfindung in mir auslöste, war ich bereit gewesen, sie zu ignorieren. Vielleicht war es nicht unbedingt das Beste, was man tun konnte, aber ich ignoriere gerne Dinge, wenn sie nicht in mein logisch aufgebautes Weltbild passen – und eine gefühlte Veränderung war nicht logisch, sondern rein subjektiv. Ein vorbeihüpfendes Kaninchen riss mich aus meinen Gedanken und entlockte mir ein Seufzen. Mein Hunger würde mich sogar vergessen lassen, dass ich eigentlich Vegetarier war – gut, das war ich ohnehin nur, weil ich eine Abneigung gegen das selber schlachten entwickelt hatte. Solange ich das Fleisch nicht vorbereiten musste, aß ich es recht gerne. In dem Moment hätte ich sogar meinen Abscheu überwunden, aber ich war auch ein grottenschlechter Jäger, also fiel das zumindest erst einmal weg. Aber ich behielt es im Hinterkopf, für den Fall, dass ich nichts anderes finden würde. Es konnte für jemanden wie mich doch nicht so schwer sein, eine funktionierende Falle zu bauen. Meine Suche führte mich schließlich in einen Teil des Waldes, den ich ansonsten mied. Spuren der Verwüstung zeigten mir auch direkt, warum: Umgestürzte Bäume, abgeknickte Äste, ein nicht von Menschen geschaffener Pfad, der sich quer durch das Unterholz zog... Es musste das Werk eines Ogers sein, deren Schreie ich nachts bis zu meiner Hütte hören konnte. Diese Kreaturen hielten sich glücklicherweise im Normalfall nur in diesem Teil des Waldes auf und ernährten sich von wilden Tieren. Laut den alten Überlieferungen war das Teil eines Zaubers, der die Wesen davon abhielt, diesen Bereich zu verlassen. Als ich in den Wald gezogen war, hatte man mich hierher geführt, um mir zu zeigen, dass ich unter gar keinen Umständen hierher kommen sollte. Aber wir wurde auch gesagt, dass ich mit dem Feuer in der Hütte vorsichtig sein sollte und daran hatte ich mich auch nicht gehalten, weswegen ich ja nun in dieser Situation war. Ab dem nächsten Tag würde ich mich bestimmt an die Anweisungen halten, nun aber musste ich noch einmal dagegen verstoßen. Ich zögerte, ehe ich die Grenze, die durch unscheinbare Steine markiert wurde, überschritt. Wenn ich erst einmal in diesem Bereich war, bestand die Chance, dass ich einem Oger begegnete und für diesen wäre ich leichte Beute. Kämpfen gehörte absolut nicht zu meinem Metier, ich hatte es nie gelernt und auch in meiner Zukunftsplanung war dafür kein Platz vorgesehen. Aber selbst wenn ich ein Kämpfer wäre, stünden die Chancen zu gewinnen bei weniger als einem Prozent, wenn ich den Überlieferungen Glauben schenken wollte. Vielleicht sollte ich lieber woanders nachsehen. Allerdings gab es keinen Platz mehr, wo ich nachsehen könnte, meine letzte Hoffnung auf etwas zu essen befand sich in diesem verfluchten Bereich. Ich gebe zu, unter anderen Umständen hätte ich das nie getan, aber ich stand wohl noch unter Schock von der Explosion und dem Brand in meiner Hütte, so dass ich alle Sicherheitsbedenken über Bord warf und die Grenze überschritt. In diesem Gebiet bewegte ich mich nur langsam vorwärts, nach jedem Schritt innehaltend, um nach verdächtigen Geräuschen zu lauschen oder mich nervös umzusehen. So ein Oger würde immerhin nicht lautlos aus dem Nichts auftauchen. Ausgehend von der Lautstärke ihrer Schreie mussten sie riesig sein – und was eine solche Größe besaß, würde auch bei der Fortbewegung einen gewissen Lärm verursachen. Je weiter ich mich von der Grenze entfernte desto größer wurde meine Sorge, dass ich es nicht rechtzeitig zurückschaffen würde, falls etwas geschah. Mir blieb also nur zu hoffen, dass nichts passierte. Trotz der Umgebung entspannte ich mich langsam wieder. Da ich keinerlei Hinweise auf einen Oger sah, schloss ich, dass sie wohl nachtaktiv waren und tagsüber schliefen, was mich ungemein beruhigte, auch wenn ich dafür keinerlei Beweis hatte. Aber solange ich es mir einredete, wurde es zu meiner Realität, egal was um mich herum wirklich geschah. Leider neigte auch meine Realität dazu, schnell zu zerbrechen, besonders wenn sie von einem enorm lauten Geräusch erschüttert wurde. Erschrocken fuhr ich zusammen, all meine Glieder erstarrten. Ich erkannte das Kreischen ganz eindeutig als jenes wieder, das ich jede Nacht hören konnte, es musste ein Oger sein. Jeder normale Mensch wäre nun wohl weggelaufen, ich dagegen blieb wie festgewurzelt stehen, absolut unfähig, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Vielleicht würde ein Oger mich gar nicht sehen, wenn ich mich nicht bewegte. Da jeder sie fürchtete und sich ihnen nicht im Mindesten näherte, waren die Wesen unerforscht, weswegen ich absolut gar nichts über sie wusste, was meine Angst noch einmal verstärkte. Wenn ich nichts über eine Situation wusste, verlor ich die Kontrolle darüber und damit auch meinen Mut, der ohnehin verschwindend gering war. Die Erde unter meinen Füßen begann zu vibrieren, irgend etwas bewegte sich auf mich zu. Ich blieb weiterhin bewegungslos stehen und schickte ein Stoßgebet an alle übernatürlichen Wesen, die ich kannte, damit der Oger vorbeiziehen würde. Doch wie so oft wurden meine Gebete nicht erhört. Ich konnte das laute Schnaufen hinter mir deutlich hören, der heiße, faulige Atem stach mir ins Genick, dennoch wagte ich nicht, mich umzudrehen. Sobald ich das tun würde, wäre es immerhin ein Teil meiner Realität. Solange aber könnte ich mir noch sagen, dass ich mir das nur einbildete, dass meine Angst meinen Sinnen nur einen Streich spielte. Außerdem war ich mir immer noch nicht sicher, ob der Oger mich wirklich sehen konnte. Vielleicht witterte er nur meine Furcht und stand deswegen direkt hinter mir. Oder es war nur ein Zufall... Das Folgende verriet mir allerdings etwas Fundamentales über diese Wesen: Sie sahen auch Dinge, die stillstanden. Etwas traf mich seitlich am Körper, mit einer solchen Wucht, dass ich durch die Luft geschleudert wurde. Mein kurzer Flug endete damit, dass ich gegen einen Baum prallte. Jeglicher Sauerstoff wurde aus meinen Lungen gepresst, panisch versuchte ich, wieder zu Atem zu kommen. Doch mit jedem Zug breitete sich der Schmerz in meinem Inneren aus, etwas Klebriges, Warmes lief an meinem Körper hinunter. Aber mein Blick war wie hypnotisiert auf das Wesen gerichtet, das vor mir aufragte. Ja, Oger galten laut den Sagen als riesig, aber dennoch hatte ich nicht mit solch einer Masse gerechnet. Er war mindestens vier Meter groß und zwei Meter breit, die überschüssige grüne Haut wog wie Wellen, sobald er sich auch nur ein bisschen bewegte. Die riesigen Glubschaugen hatten nichts Niedliches oder gar Unschuldiges an sich, in ihnen glitzerte die Gier nach Fleisch – und zwar dem meinem! Meine Lippen begannen, sich zu bewegen, murmelten Zaubersprüche, die ich irgendwann gelernt hatte, doch in der Panik verhaspelte ich mich immer wieder, weswegen jeder Spruch ohne Ergebnis blieb. Ich wusste immer, dass ich früh sterben würde, aber da war auch immer die Hoffnung gewesen dass dies nicht geschah, indem ich auf dem Speiseplan eines Monsters erschien. Auch wenn ich damit gerechnet hatte, aber bei einem Experiment umzukommen, wäre mir wesentlich lieber, wenn ich denn schon sterben musste. Schutzsuchend drängte ich mich dichter an den Baum, auch wenn ich wusste, dass es lächerlich war. Diese Pflanze würde mich mit Sicherheit nicht schützen können, aber irgend etwas musste ich tun. Normalerweise erschien immer irgendjemand, wenn ich in Gefahr war und half mir. Aber diesmal sollte ich nicht damit rechnen. Wer würde schon in diesen Teil des Waldes kommen? Und wer würde gegen einen Oger gewinnen? Nur in Märchen gewannen Menschen gegen diese Wesen. Es beugte sich vor, scheinbar um mich näher zu beschnuppern, vielleicht hatte ich ja doch noch Glück und es erkannte, dass ich absolut ungenießbar war. Der faulige Atem schlug mir entgegen, mein Magen drehte sich um. Angewidert wandte ich das Gesicht ab, doch dem Gestank konnte ich nicht entkommen. Wunderbar, ich würde nicht nur sterben, nein, mir war auch noch übel dabei. Warum konnte ich nicht friedlich im Schlaf sterben, ohne etwas davon zu bemerken? Der Oger stellte sich wieder aufrecht hin, es schien tatsächlich, als würde er sich abwenden und einfach gehen. Ich wollte schon erleichtert aufatmen, als es mich mit einer seiner riesigen Pranken packte und in die Luft hob. Kaum verloren meine Füße den Kontakt zum Boden, geriet ich wieder in Panik – wenn das hier nicht bedeutete, die Kontrolle zu verlieren, was sonst? Im Nachhinein betrachtet empfinde ich es als erstaunlich, dass diese grobmotorischen riesigen Finger mich nicht zerquetschten oder gar ernsthaft verletzten. Lediglich meine bereits vorhandenen Wunden brannten fürchterlich, aber in dem Moment bemerkte ich es nicht einmal. Ich konnte immer nur ängstlich auf das geifernde Maul des Ungetüms starren. In wenigen Sekunden würde ich die Zähne darin näher kennenlernen, als mir lieb war. Wenn nicht vorher ein Wunder geschehen und mich retten würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)