Lilienjäger von Flordelis (Custos Vitae II) ================================================================================ Kapitel 2: Vom Regen in die Traufe ---------------------------------- Quälend langsam führte der Oger mich an seinen Mund. Der furchtbare Gestank verätzte meine Nebenhöhlen, ich war mir absolut sicher, nie wieder etwas riechen zu können, wenn ich denn überleben sollte. Ich hielt den Atem an in einem Versuch, zumindest den Geruch nicht mehr ertragen zu müssen und schloss schließlich auch die Augen. Der Anblick dieses Ogers sollte nicht das letzte sein, was ich im Leben sah – aber selbst mit geschlossenen Augen konnte ich nur daran denken. Man sagte zwar immer, kurz vor dem Tod würde noch einmal das ganze Leben vor einem vorbeiziehen, aber im Moment konnte ich nur an die Zukunft denken. Es gab noch so viele Dinge, die ich tun wollte, so vieles, was ich bislang nicht gesehen hatte. Würde ich nie wieder die Chance dazu haben? Ich erwartete einen letzten kurzen Schmerz in meinem Nacken, wenn der Oger meinen Kopf abbeißen würde, doch unerwarteterweise hörte ich dieses Ungetüm laut aufschreien, bevor ich zu Boden fiel. Die Hand, die mich immer noch umschlossen hielt, linderte meinen Aufprall glücklicherweise. Ich öffnete die Augen, um zu erfahren, was geschah. Der Oger schrie noch immer, was nicht weiter verwunderlich war: Das Armgelenk war fein säuberlich an der Schulter abgetrennt worden, zähflüssiges dunkelrotes Blut floss daraus hervor. Hastig befreite ich mich von den Händen, bevor die Leichenstarre einsetzte, sonst müsste ich mehrere Stunden warten, bevor ich frei wäre. Als ich mich wieder aufrichtete, war mir bewusst, dass ich eigentlich weglaufen sollte, solange es ging. Doch stattdessen sah ich dem Oger bei seinem Leiden zu und fragte mich, wer ihm das angetan und mir damit das Leben gerettet hatte. Während ich das Ungetüm noch betrachtete, wurde ich plötzlich gepackt. Jemand zog mich mit sich quer durch den Wald, fort von dem Wesen. Die Schreie verhallten nicht, sie wurden nur langsam leiser und nisteten sich in meinem Kopf ein. Furcht floss kalt durch meine Adern, verschleierte meinen Blick, so dass ich nicht sehen konnte, wem ich eigentlich gerade folgte. Meine Beine, so taub sie sich auch anfühlten, rannten immer weiter, als wären alle Dämonen persönlich hinter mir her. Erst als ich die Grenze wieder überschritten hatte, hielt die Person an und zwang mich, dasselbe zu tun. Dabei wäre ich am liebsten weitergerannt, irgendwohin, Hauptsache weit weg von diesem Teil des Waldes, den ich wirklich nie wieder betreten würde. Aber kaum stand ich, weigerten sich meine Beine, weiterzulaufen. Erschöpft stützte ich meine Hände auf meine Schenkel, während ich versuchte, wieder regelmäßig zu atmen. Meine Lungen schienen platzen zu wollen, sie brannten furchtbar, während ich immer wieder Luft holte. Ich war ein Forscher, kein Marathonläufer, es war nicht weiter überraschend, dass es mir nach diesem Sprint so ging. Ohne die Angst um mein Leben hätte ich wohl nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft. „Wie wär's mal mit Danke?“, fragte eine amüsierte Stimme plötzlich. Es war seit drei Jahren das erste Mal, dass ich wieder jemanden außer mir reden hörte. Ich gab es nicht gern zu, aber das war in diesem Moment wie Balsam auf meiner Seele. Ich war zwar gern allein, aber von Zeit zu Zeit war es doch ganz angenehm, eine andere Stimme zu hören. Als die Schmerzen in meiner Lunge endlich nachließen, richtete ich mich auf, schob meine Brille zurecht und lächelte leicht, in Erwartung meinem Retter in die Augen zu sehen. Als ich jedoch registrierte, wem ich gegenüberstand, entgleiste mein Gesicht. Perplex sah ich die beiden an. Vor mir stand eine junge Frau mit langem silbernen Haar, das auf der rechten Seite zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Ihr Gesicht und die blauen Augen waren ausdruckslos, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Normalerweise konnte man bei jedem Menschen etwas in seiner Mimik ablesen und wenn es nur ein neutraler Gesichtsausdruck war, aber sie... nein, das war völlig neu für mich und dementsprechend auch äußerst faszinierend. Ich wollte die Person hinter diesem Gesicht erforschen, jede einzelne emotionale Regung, ob im Gesicht oder der Stimme, registrieren und- Hastig erkämpfte ich mir meine fast schon verlorene Beherrschung zurück. Ich kannte diese Person nicht einmal und Menschen erforschte ich ohnehin äußerst ungern – immerhin wäre ich dann nicht mehr allein, sondern müsste meine Zeit mit jemand anderem verbringen und das lag nicht in meinem Interesse. Auf der Schulter der Frau saß ein weißes Frettchen, mit hellbraunem Schwanz und dunkelbraunen Augen, die mich treuherzig ansahen. Mein Körper reagierte darauf ganz eigen mit einem Magenknurren. Während die Furcht nachließ, kehrte mein Hunger verstärkt zurück – wenigstens blieben die Schmerzen meiner durch den Oger erlittenen Verletzung aus. Ob man Frettchen wohl essen konnte? Und wenn ja, wie schmeckten sie? Mehr Personen waren nicht anwesend, aber die Stimme, die mich angesprochen hatte, war eindeutig männlich gewesen. War diese Frau etwa ein Mann? Mein Blick ging an ihr hinunter. Unter einer weinroten Uniformjacke mit weißen Applikationen und goldenen Accessoires, trug sie ein weißes Rüschenhemd, eine zur Jacke passende Krawatte und einen Rock. Die Beine steckten zwar in einer schwarzen Strumpfhose, aber die zierliche Form konnte unmöglich von einem Mann stammen. Als mein Blick hinunterwanderte, erkannte ich, dass die Jacke eher ein Mantel war, der bis zu ihren Fußknöcheln reichte. Ab den Oberschenkeln war er gespalten, wurde aber am Ende wieder von einer goldenen Kette zusammengehalten. Alles in allem kam mir diese Kleidung sehr... mysteriös vor. Normal war das jedenfalls nicht. Sollte das wirklich die aktuelle Mode außerhalb des Waldes sein? Wenn ja, würde ich ihn nie wieder verlassen. Das Schweigen zwischen uns wurde langsam unangenehm, aber ich fand einfach keine Worte, so entsetzt und verwirrt war ich in dem Moment von der Frau vor mir. Plötzlich öffnete das Frettchen den Mund und – ich war mir sicher, mein Herz würde einen kurzen Moment vor Schreck aussetzen – eine Stimme erklang daraus: „Du hast dich immer noch nicht bedankt.“ Wortlos sah ich zwischen dem Frettchen und der Frau hin und her. War sie vielleicht Bauchrednerin? Es kam mir viel zu seltsam vor, dass das Tier wirklich sprechen könnte. Mein Schweigen schien ihm nicht zu gefallen. Abfällig sah es die Frau an. „Er scheint dumm zu sein, Aurea, er kann uns nicht mal verstehen.“ „Bitte was?“, fragte ich pikiert. „Ich bin nicht dumm.“ Selbst wenn dieses Wesen für ein Frettchen äußerst intelligent war – immerhin konnte es sprechen – gab ihm das nicht das Recht, mich als dumm zu bezeichnen. Herausfordernd sah es mich an. „Ist doch wahr. Wer läuft auch schon freiwillig im Oger-Gebiet herum?“ „Das war nicht freiwillig“, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Allerdings musste ich ihm recht geben: Sehr intelligent war diese Handlung tatsächlich nicht gewesen. Ich musste noch immer unter Schock gestanden haben, als mir das wie eine gute Idee vorgekommen war. „Glace“, sagte die junge Frau tonlos, das Frettchen horchte auf. „Es ist schon gut.“ So wie ich das verstand waren die Namen der beiden also Aurea und Glace. Nun, diese seltsamen Namen passten wunderbar zu ihrem Aussehen und Verhalten. Schmollend wandte das Frettchen den Blick ab. Die Frau dagegen sah mich wieder an. „Dein Name.“ Verwundert hob ich eine Augenbraue. „Bitte?“ Einen solchen Ton war ich nicht gewohnt. Waren ihre Worte eine Frage oder eine Aufforderung gewesen oder überlegte sie selbst, wie ich hieß? Sie wiederholte ihre Worte, worauf ich mich seufzend vorstellte: „Ich bin Alphons.“ Aurea und Glace warfen sich einen vielsagenden Blick zu – gut, das Frettchen sah vielsagend aus, an ihrer Mimik dagegen änderte sich rein gar nichts. „Habt ihr... mich vielleicht gesucht?“, fragte ich zögernd. Ich war nicht misstrauisch, immerhin gab es nichts, was ich zu befürchten hatte. Ich war zuletzt vor drei Jahren unter Menschen gewesen und da war nichts geschehen, was dazu führen könnte, dass ich gesucht werden müsste. Aber vielleicht war irgendetwas mit meinem Bruder geschehen? Seit dem Tod meiner Eltern war mein älterer Bruder das einzige, was ich noch an Familie besaß. Wir verstanden uns allerdings nicht gut. Seit wir nicht mehr ständig daran erinnert wurden, dass wir uns gefälligst zu lieben hätten, da wir eine Familie waren, wollten wir auch nichts mehr miteinander zu tun haben. Nicht, dass es vorher großartig anders gewesen wäre. „Natürlich haben wir dich gesucht“, verkündete Glace. „Sei froh und dankbar, immerhin haben wir dich davor bewahrt als Ogerfutter zu enden.“ „Ja, danke“, sagte ich hastig. „Aber warum sucht ihr nach mir? Ist etwas mit Laurence?“ Ich machte mir keine Sorgen um meinen Bruder. Ich war nur neugierig. Das Frettchen sah mich verwundert an. „Mit wem?“ Also nein. Ich schüttelte nur den Kopf. „Nicht so wichtig. Also, was ist jetzt?“ „Du kommst aus Germe?“, fragte Aurea. Ihre Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. Es war nicht nur tonlos, es klang sogar fast, als besäße sie keine Seele... dabei glaube ich nicht einmal an so etwas. Bei dieser Frau allerdings, bei der eben diese nicht vorhanden war, kam mir erst in den Sinn, dass es so etwas vielleicht doch geben könnte. Ich nickte zur Antwort, unfähig, etwas sagen zu können. Germe war mein Heimatdorf, dort war ich aufgewachsen. Es war nur eine kleine, gemütliche Gemeinde, nichts Aufregendes, aber dafür sehr beschaulich. Ich hatte viele wunderbare Erinnerungen an diesen Ort – aber leider auch genauso viele, oder mehr, furchtbare. Wieder war es Glace, der das Wort übernahm, offenbar tat er das immer, wenn mehr Erklärungen nötig waren, als die Frau geben konnte: „Dann kannst du uns mit Sicherheit hinführen, oder? Komm schon, dafür, dass wir dich gerettet haben.“ Das Verlangen der beiden unbedingt dorthin zu kommen, machte mich misstrauisch. Es gab nichts Außergewöhnliches in diesem Dorf, außer... aber warum sollten sie dort hinwollen? „Was wollt ihr dort?“ „Das geht dich nichts an“, erwiderte Glace forsch, doch Aurea schien da einiges gesprächiger: „Foris.“ „Vergesst es.“ Wenn es um die Portale ging, verstand ich keinen Spaß. Nicht den mindesten – obwohl mir nachgesagt wurde, dass ich auch sonst keinen verstand. Erneut warfen sich die beiden einen Blick zu, ehe das Frettchen mich wieder ansah. „Du kennst es also. Aber du willst nicht, dass wir da hingehen?“ „Es gibt dort ohnehin nichts mehr zu sehen“, wehrte ich ab. „Das Portal ist seit Jahren versperrt, ohne eine Möglichkeit, es zu erreichen.“ Das stimmte zwar nicht so ganz, aber ich hoffte, den beiden so ihren Plan auszutreiben. Die beiden waren mir suspekt und ich würde mit Sicherheit nicht derjenige sein, der ihnen helfen würde, ihre geheimnisvollen Pläne in die Tat umzusetzen. „Wir wollen trotzdem ins Dorf“, sagte Glace. „Das Foris ist nicht der einzige Grund. Wir sind auch auf der Suche nach jemandem.“ Richtiges Interesse erwachte in mir dabei nicht. Jedenfalls nicht genug, um meinen Entschluss gleich wieder umwerfen zu lassen. „Ihr werdet das Dorf sicher auch alleine finden. Ich bin euch dankbar für die Hilfe, aber hier trennen sich unsere Wege.“ Bevor mir jemand widersprechen konnte, hob ich zum Abschied die Hand und lief hastig davon. Ich weiß nicht einmal wie viele Schritte ich kam, als plötzlich etwas an mir zu ziehen schien und zwar mit einer solchen Wucht, dass ich rittlings zu Boden fiel. Der Aufprall an sich war nicht schmerzhaft, aber meine frische Wunde protestierte lautstark, was mich leise stöhnen ließ. Heißer Schmerz durchströmte meinen Körper in intensiven Wellen, erneut trat Blut aus. Bewegungslos wartete ich darauf, dass die Pein wieder nachließ und die Blutung stoppte. „Das würde ich an deiner Stelle nicht noch einmal machen.“ Langsam ging mir dieses Frettchen wirklich auf die Nerven. „Was war das?“, brachte ich mit zusammengepressten Lippen hervor. Mühsam wandte ich meinen Kopf zu den beiden, die gefühllos auf mich herabsahen. Ich konnte kein Seil oder eine ähnliche Vorrichtung erkennen, die mich hätte zurückziehen können. Was also war gerade geschehen? Fragend gingen meine Blicke von einem zum anderen. „Du hast es ein wenig übertrieben, Aurea.“ Von ihr erfolgte keinerlei Reaktion auf diese Worte, doch ein juckendes Gefühl an meinem Unterarm lenkte mich ohnehin von ihr ab. Ich betrachtete meinen Arm aus Angst, zu allem Überfluss noch von einem Insekt gebissen worden zu sein und zog meine Stirn kraus. Es war kein Biss, soviel war sicher. Stattdessen schien es, als hätte jemand ein Brandeisen an meine Haut gehalten. Das Symbol erinnerte mich entfernt an eine Lilie, wenn auch sehr vereinfacht. Wie kam dieses Zeichen...? Sofort sah ich Aurea wieder an. An dieser Hand hatte sie mich vorhin hinter sich hergezogen! Sie musste es gewesen sein! Aber warum und wie? „Das ist Aureas Sigil“, erklärte Glace stolz, als wäre es sein eigenes Werk. „Es bedeutet, dass du nun ihr gehörst, als ihr persönlicher Diener.“ Plötzlich erschien es mir gar nicht mehr so schlimm, von einem Oger gefressen zu werden. Empört zog ich meine Augenbrauen zusammen. „Als ihr Diener? Das ist doch lächerlich!“ Trotz der Schmerzen stand ich wieder auf. „Ich werde bestimmt nicht der Diener von irgend jemandem! Sucht euch jemand anderen dafür.“ Mit hoch erhobenem Kopf fuhr ich herum, um wegzugehen – nur um mich direkt im nächsten Moment auf dem Boden wiederzufinden. Aufgrund der Schmerzen in meiner Seite krümmte ich mich stöhnend zusammen. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich es nicht mehr tun würde“, flötete das Frettchen. Ich wollte etwas Scharfes erwidern, doch ich konnte nicht einmal klar denken. Leuchtende Flecken tanzten vor meinen Augen und je mehr ich versuchte, mich zu konzentrieren desto mehr wurden es. Mein Atem hämmerte in meinen Ohren und blendete jedes andere Geräusch aus. Ich kannte dieses Gefühl, es verhieß absolut nichts Gutes. Kaum hatte ich das gedacht, fielen meine Augen zu, mein Kopf sank zu Boden – und dann erinnere ich mich an nichts mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)