Lilienjäger von Flordelis (Custos Vitae II) ================================================================================ Kapitel 3: Lilienjäger ---------------------- Die Ohnmacht entließ mich aus ihren kalten Klauen, indem sie mich in einer gemütliche Schlafstätte ablegte. Zumindest fühlte es sich ganz so an. Ich hielt die noch schweren Augenlider geschlossen, während meine Hand über den Untergrund strich, auf dem ich lag. Es fühlte sich an wie Fell, angenehm weich und warm, jeden Wunsch unterdrückend, je wieder aufzustehen. Ein solches war es auch, das mich zudeckte. Am Liebsten wäre ich ewig liegengeblieben. Entgegen meiner ursprünglichen Hoffnung konnte ich nicht zu Hause sein, ich besaß keine Felle. Außerdem konnte ich einen schwachen Geruch von nassem Pelz wahrnehmen. Stückchenweise kehrte die Erinnerung an meine Begegnung mit dem Oger, so wie die Rettung durch Aurea und Glace, zurück. Ich war mitten im Wald aufgrund des Blutverlusts ohnmächtig geworden, aber es fühlte sich nicht so an, als würde ich mich noch dort befinden. Um zu erfahren, wo ich war, schlug ich meine Augen auf. Ich erblickte Felsen über mir, also musste ich mich in einer Höhle befinden, wie auch immer ich in diese gekommen war. Zumindest schienen deren ursprünglichen Bewohner im Moment nicht hier zu sein. Ich konnte gut auf die Begegnung mit einem Bären oder einem Wolf verzichten. Vorsichtig setzte ich mich auf. Erleichtert stellte ich fest, dass der Schmerz nicht zurückkehrte. Ich sah an mir herab – und stellte fast, dass meine Kleidung verschwunden war. Stattdessen trug ich plötzlich ein grünes Hemd mit weiten Ärmeln und dunklen Applikationen und eine braune Hose. Aber wenigstens die Stiefel direkt neben meiner Schlafstätte erkannte ich als meine wieder. Ich wusste zwar nicht, woher diese neue Kleidung kam, aber ich war ganz froh darum. Meine alte war mit Sicherheit voller Blut und zumindest auf einer Seite zerfetzt. Von Neugier getrieben hob ich das Hemd ein wenig, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Allerdings konnte ich diese nicht sehen, jemand hatte sie fein säuberlich verbunden – ich hoffte, das war passiert, nachdem sie gesäubert worden war. Kaum war dies sichergestellt, blickte ich mich wieder um. Außer mir befand sich hier niemand. Hatte die Frau etwa aufgegeben? Das Sigil auf meinem Arm existierte immer noch, ich konnte mir nicht vorstellen, dass es das würde, wenn sie wirklich ohne mich weitergezogen war. Außerdem erschien sie mir nicht wie der Typ Mensch, der aus Nächstenliebe jemandes Verletzung behandelte und ihn dann ohne Gegenleistung zurückließ. Ich war überzeugt, dass sie sich noch in der Nähe befand und selbst ein Fluchtversuch nicht gelingen würde. Noch dazu war das Gefühl noch nicht vollständig in meine Beine zurückgekehrt, aus Erfahrung würde ich erst einige Stunden brauchen, bevor ich wieder richtig laufen können würde. Also blieb mir nichts anderes übrig als mich weiterhin ihrer Gnade auszusetzen, auch wenn es mir widerstrebte, sie und das Frettchen nach Germe zu führen. Aber inzwischen schuldete ich ihnen noch mehr, das sollte ich zurückzahlen. Und was konnten sie schon groß anstellen? Das Foris war unbetretbar, es war gut geschützt, also kein Grund zur Sorge. Dennoch spürte ich in meinem Inneren eine unangenehme Vorahnung rumoren. Ein Geräusch vom Eingang der Höhle riss mich aus meinen Gedanken. Alarmiert sah ich hinüber – doch zu meiner Erleichterung war es nur dieses Frettchen, das gerade hereinkam. Es lächelte verschmitzt, als es sah, dass ich wach war. „Warst ja nicht lange weg.“ „Wie lange denn genau?“, fragte ich. Es war mir unheimlich wichtig, dass ich mein Zeitgefühl nicht verlor. „Grad mal drei Stunden oder so“, antwortete Glace. „Ich hätte gewettet, du bleibst mindestens 'nen Tag lang weg.“ Also war es gerade mal Nachmittag, ich hatte nicht allzu viel Zeit versäumt. „Wo ist Aurea?“ Die Abwesenheit dieser Frau machte mich nervöser, als ihre Anwesenheit. Wenn ich sie sehen konnte, wusste ich immerhin, was sie tat, anders als im Moment. Das zu wissen würde mir allerdings Kontrolle über die Situation geben. Also auch wenn ich eigentlich nicht in ihrer Nähe sein wollte, so bestand mein Verstand dennoch darauf, nur um sicherzugehen, dass ich Herr über das Geschehen war. Glace vollführte eine undefinierbare Geste mit seinen Pfoten. „Sie sucht etwas zu essen, meinte, du würdest Hunger haben, wenn du wieder aufwachst.“ Hungrig war ich vorher gewesen. Im Moment fühlte sich mein Magen allerdings eher flau an, allein beim Gedanken an Essen zog sich mein Hals zusammen. Ohne Vorwarnung kletterte Glace auf meinen Schoss und sah mir forschend ins Gesicht. Ich erwiderte seinen Blick fragend. „Was ist los?“ Das Frettchen schmunzelte über meine Frage. „Du bist ein ziemlich seltsamer Kerl, Al.“ „Nenn mich nicht so“, erwiderte ich unwirsch. „Mein Name ist Alphons.“ Es störte mich nicht, als seltsam bezeichnet zu werden – ich wollte nur nicht Al genannt werden. Es gab nur eine Person, die das durfte... „Wie du willst, Phons“, sprach Glace weiter. „Jedenfalls gehörst du jetzt zu uns. Du passt perfekt rein, wir sind alle beide ziemlich seltsam.“ Ich sagte nichts mehr zu der Sache mit dem Namen, am Ende würde er mich sonst noch Alpho nennen. Phons klang, meiner Meinung nach, nicht weiter schlimm. „Wieso seltsam?“ Vielleicht war ich in der Lage, etwas über die beiden zu erfahren, wenn ich Glace ausfragte. Immerhin schien es, als würde ich eine ganze Weile mit ihnen verbringen, da könnte es nicht schaden, etwas mehr zu wissen. „Was Aurea angeht muss ich dir wohl nix sagen“, antwortete das Frettchen. „Du hast sie erlebt. Sie ist kühl, 'ne sehr gute Kämpferin und redet nicht viel.“ Ja, das war mir aufgefallen. Sie schien mir nicht sonderlich menschlich, aber offenbar war das Gesagte das einzige, was Glace über sie wusste. „Ich dagegen bin ein stolzer Dämon.“ Das Frettchen warf sich in die Brust und stellte sich auf die Spitzen seiner Hinterpfoten, um größer zu wirken. Ungläubig hob ich eine Augenbraue. „Stolzer Dämon? Gibt es Frettchendämonen?“ Ich wusste nicht viel über diese Gattung. Sämtliche Dämonen waren vor mehreren hundert Jahren in die Unterwelt verbannt worden. Inzwischen waren die Foris – die Portale zwischen den Welten – zwar wieder offen, aber man sah sie dennoch sehr selten in unserer Welt. Davon ausgehend konnten sie auch nicht erforscht sein. Glace schnaubte schwer, sein empörter Blick sagte mir, dass meine Vermutung falsch war. „Das ist ein Fluch! Ein Fluch, hörst du? Ich bin nicht freiwillig ein Frettchen.“ Es fiel mir schwer, das zu glauben. Warum sollte jemand einen Dämon in ein Frettchen verwandeln? Das machte doch gar keinen Sinn. „Wer ist denn dafür verantwortlich?“, fragte ich, um den Sinn dahinter zu verstehen. Er hob die kleinen pelzigen Schultern. „Ist im Moment doch unwichtig. Jedenfalls hat Aurea mir versprochen, mir zu helfen, wenn ich ihr helfe.“ Ich konnte mir kaum vorstellen, dass diese Frau jemandem versprach, ihm zu helfen. Andererseits konnte sie mit Sicherheit Unterstützung brauchen, allein wegen dem Sprechen. „Und warum soll ich euch begleiten?“ Bislang hatten sie nur davon gesprochen, dass ich sie nach Germe bringen sollte, aber Glaces Worte vorhin sowie das Sigil, schienen eine andere Sprache zu sprechen. Alles – auch das Gefühl in meinem Inneren – deutete darauf hin, dass ich die beiden länger begleiten würde. Noch einmal hob er die Schultern. „Ich weiß es nicht. Aurea sagte, wir finden dich hier und nehmen dich mit.“ Er schien die Wahrheit zu sagen, jedenfalls deutete nichts darauf hin, dass er etwas vor mir verbarg. „Aber was genau macht ihr eigentlich?“, fragte ich weiter. Das war mir noch nicht klar. Sie wollten das Foris in Germe aufsuchen, aber das konnte doch nicht der einzige Sinn und Zweck ihrer Reise sein. Erneut warf Glace sich in die Brust, als wäre es etwas besonders Tolles, was sie taten. „Man nennt uns Lilienjäger.“ Ich hob eine Augenbraue. „Dann jagt ihr Lilien? Schon mal in einem Blumenbeet nachgesehen?“ Den Spott konnte ich mir einfach nicht verkneifen. So etwas Lächerliches war mir seit langem nicht zu Ohren gekommen. Zur Antwort schnitt das Frettchen mir eine Grimasse. „Du verkennst die Lage. Wir jagen Lilien, aber damit sind nicht die Blumen gemeint. Es gibt Monster, die so genannt werden. Seltsame und brutale Wesen, die sich nach ihrem Tod tatsächlich in Lilien verwandeln. Angeblich hängt das mit einem Naturgeist zusammen, aber um das herauszufinden, sind wir ja auch unterwegs.“ Das klang noch seltsamer. Vielleicht würde ich anders denken, wenn ich mal so einem Wesen begegnet war, aber bis dahin klang es äußerst unglaubwürdig. Ich hatte noch nie von Monstern gehört, die sich nach ihrem Tod in Lilien verwandeln. Stattdessen hieß es, dass sie sich nach ihrem Ableben in Aschepartikel auflösten und restlos verschwanden. Ich selbst hatte allerdings noch gegen keines gekämpft, daher wusste ich nicht, ob das wirklich der Wahrheit entsprach. Mir blieb nur noch die Frage, ob wirklich ein Naturgeist dafür verantwortlich sein konnte. Immerhin waren sie eigentlich für den Schutz der Menschen verantwortlich, würden sie da wirklich etwas tun, was eben diesen schaden würde? Allerdings fiel mir kurz nach dieser Frage das Gefühl wieder ein, das mich seit Anfang des Jahres immer wieder überkam. Diese Ahnung, dass etwas sich in der Welt verändert hatte. Ob das im Zusammenhang mit den Naturgeistern oder diesen Lilien stand? Als ob Glace meine Fragen ahnen würde, antwortete er bereits darauf: „Diese ganze Naturgeist-Sache ist komplex. Ich versteh's selber nicht.“ Ich verkniff mir die Bemerkung, dass das kein Kunststück war, da es sich bei ihm immerhin nur um ein Frettchen handelte. Mit Sicherheit hätte er mir das übel genommen. „Aber Aurea sagt, es könnte sein, dass es was mit einer zu tun hat. Darum suchen wir sie und wenn wir sie gefunden haben, kommt die Welt hoffentlich wieder ins Lot.“ Das Schmunzeln konnte ich allerdings nicht unterdrücken. „Also retten wir die Welt?“ „Nein, nein“, widersprach Glace. „Sie rettet die Welt. Du kochst den Tee.“ Wieder einmal sank meine Stimmung schlagartig. Nicht, weil ich nicht bei der Weltrettung eingeplant war, immerhin entsprach ich nicht dem typischen Heldenschema und das wollte ich auch gar nicht. Mich ärgerte dabei mehr, dass ich den Tee kochen sollte. Meine Fähigkeiten gingen weit über die eines Dieners hinaus, ich war ein Denker, ein Gelehrter, ein junger Forscher, ich wollte mich nicht mit so etwas Niedrigem abgeben. Glace schien meine Abneigung deutlich spüren zu können. „Das muss ziemlich blöd sein für dich. Ist immerhin ein ganz schöner Rückschritt.“ Rückschritt? Das war noch untertrieben. Es fühlte sich eher so an als hätte man mich mal eben von einer Führungsposition ins Putzkomitee verbannt – was nur als gönnerhafte Geste aufgrund großer Verdienste zu sehen war. Ein Almosen, das ich niemals annehmen würde. Bei Aurea jedoch schien mir nichts anderes übrig zu bleiben. Das auf meiner Haut glühende Sigil, das mir allein beim Gedanken an eine weitere Ablehnung schmerzende Impulse durch den Körper sendete, verriet mir das. Doch Glaces folgende Worte sorgten dafür, dass ich diese Sache plötzlich in einem ganz neuen Licht sah: „Aber sieh's doch mal so: Aurea reist sehr viel und du dann natürlich auch. Du wirst sehr viel erleben, entdecken und auch erforschen.“ Etwas zu erleben gehörte nicht so wirklich zu meinen Wünschen, das Entdecken und Erforschen dagegen schon. Wenn ich ersteres dafür in Kauf nehmen musste, sollte es eben so sein. Außerdem würde ich auf dieser Reise auch Aurea haben, hinter der ich mich verstecken konnte, wenn irgendetwas geschehen würde. Eine Gefährdung für mich war also praktisch ausgeschlossen. Vielleicht war also doch etwas Gutes an diesem Unglück zu finden. Möglicherweise war dies Schicksal, auch wenn ich bislang nicht daran hatte glauben wollen. Aber konnten all die Ereignisse dieses Tages wirklich Zufall sein? Die Wahrscheinlichkeit war immerhin äußerst gering. Aber wie auch immer, mein Entschluss stand nun fest. Ich würde die beiden auf jedem Fall bis nach Germe begleiten und dort entscheiden, wie ich weiter vorgehen würde. Bis dorthin sollte die Zeit ausreichen, um mir ein vernünftiges erstes Bild von ihnen zu verschaffen. Sobald ich von ihren Absichten überzeugt war, würde ich ihrer Reise weiterhin beiwohnen. Wie ich mir aus dieser Sache heraushelfen würde, falls ich mich entschied, sie zu verlassen, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber ich beschloss, in diesem Fall mir einfach spontan etwas einfallen zu lassen, in der Hoffnung, dass dies besser laufen würde, als bei dem Zwischenfall mit dem Oger. „Also gut, ich werde euch begleiten“, verkündete ich Glace. Das Frettchen schien tatsächlich glücklich darüber zu sein, ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Sehr gut! Mit dir dürfte alles bestens klappen.“ „Was denn genau?“, hakte ich verwundert nach. „Keinen Schimmer“, gab es freimütig zu. „Aber Aurea meinte, es wäre ganz wichtig, dass wir dich finden und du mit uns gehst. Wir waren gezielt auf der Suche nach dir, weshalb sonst sollten wir hier durch den Wald rennen?“ Ich erinnerte mich, dass Glace vor meiner Ohnmacht bereits angegeben hatte, dass sie auf der Suche nach mir gewesen waren. Allerdings war ich bislang davon ausgegangen, dass sie nur einen Führer nach Germe brauchten. Nun schien es allerdings doch mehr zu sein – und wenn ich ehrlich sein musste, so interessierte es mich tatsächlich sehr, was genau diese Aurea mit mir vorhatte. „Du gehst mit?“, hörte ich plötzlich eine Stimme sagen. Ich zuckte zusammen, mein Blick ging zum Höhleneingang, wo ich die junge Frau erblickte. Im Gegensatz zu Glace hatte sie sich vollkommen lautlos genähert und stand womöglich schon länger da. Oder war ich so sehr in die Konversation und meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich einfach alles andere nicht bemerkt hatte? Statt mich weiter mit dieser Frage zu beschäftigen, nickte ich ihr zu. „Ja, das habe ich vor.“ Nichts an ihrem Gesichtsausdruck änderte sich. Nicht das kleinste bisschen Zufriedenheit war darin zu erkennen, selbst ihre Augen blieben absolut stumpf – und das freudige Glitzern der Iriden, das oft nur für Bruchteile von Sekunden anhielt, war etwas, was kein Mensch unterdrücken konnte, egal wie lange er übte. „Aber ich glaube, das wird noch etwas dauern“, bemerkte Glace. „Phons scheint erst einmal nicht sonderlich gut auf den Beinen zu sein.“ Gleichgültig hob sie die Schultern. Ich fragte mich, wo sie wohl gewesen war, denn sie schien nichts zu essen gesucht zu haben - ihre Hände waren leer. Kaum traf mich diese Erkenntnis, spürte ich wieder meinen leeren Magen. Hunger und Appetit kehrten gleichzeitig mit voller Wucht zurück – und auf einmal betrachtete ich Glace mit völlig neuem Interesse. Irritiert war er es diesmal, der meinen Blick erwiderte: „Was ist?“ Ich schwieg für mehrere Sekunden, in denen ich ihn nur weiter ansah, ehe ich mit einer Gegenfrage antwortete: „Sind sprechende Frettchen, die vielleicht ein verfluchter Dämon sind, essbar?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)