Lilienjäger von Flordelis (Custos Vitae II) ================================================================================ Kapitel 4: Fremde Heimat ------------------------ Auch am nächsten Tag schien Glace mir meine Frage nicht verzeihen zu wollen. Schmollend saß er auf Aureas Schulter und sah aus Prinzip woandershin, was mir aber auch gleichgültig war. Ich besaß glücklicherweise kein Interesse, mich mit einem Frettchen anzufreunden oder gar sympathisch für dieses zu sein. Aurea befand sich stets zwei Schritte hinter mir, aber ich konnte ihren Blick nicht in meinem Rücken spüren. Als ich den Kopf wandte, entdeckte ich, dass sie sich umsah. Sie wirkte dabei aber keineswegs interessiert, sondern so gefühllos wie eh und je. Egal, wann ich sie ansah, ihre Mimik war immer dieselbe. Ich fragte mich, wie sie das machte. Jeder Mensch, dem ich bislang begegnet war, hatte stets seine Emotionen zur Schau getragen – egal wie sehr versucht worden war, sie zu verbergen. Selbst wenn man es sein Leben lang übte war es nicht möglich, sie vollständig zu unterdrücken. Aber diese Frau schaffte es und das faszinierte mich. Ich wollte herausfinden, wie sie das tat und mir das dann zu eigen machen. Glace seufzte plötzlich laut. „Ist es noch weit, Aurea?“ Dass er mich nicht ansprach, erschien mir logisch, wenngleich auch lächerlich. Es waren bereits über zwölf Stunden seit meiner Bemerkung vergangen, von einem angeblich so tollen Dämon konnte man doch erwarten, dass er auch verzeihen konnte. Aber vielleicht war das keine Eigenschaft von ihnen. Möglicherweise waren sie rachsüchtig und nachtragend. Aurea antwortete nicht, weswegen ich das übernahm: „Es dauert nicht mehr lange, der Wald lichtet sich bereits ein wenig.“ Vor ungefähr einer halben Stunde waren wir aus dem Unterholz auf den Pfad gewechselt, der uns direkt nach Germe führen würde. Je näher wir dem Dorf, das als meine Heimat galt, kamen desto unwohler wurde mir. Vor vier Jahren hatte ich es verlassen, eigentlich mit dem Vorsatz, nie wieder dorthin zurückzukehren. Allerdings war ich zuletzt vor drei Jahren dort gewesen, damals hatte ich bei einem Experiment meine Hand verletzt und brauchte dringend medizinische Versorgung. Dieser kurze Besuch diente vor allem dazu, meinen Vorsatz, nicht mehr hinzugehen, noch einmal zu verstärken. Zumindest solange mein Bruder auch noch dort lebte. Aber nun waren es andere Umstände, die mich hinführten – und vielleicht war Laurence auch gar nicht mehr da. Wer wusste schon, wo es ihn hinverschlug? Solange es weit weg von mir war, sollte es mir recht sein. Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkte, dass Glace mir nicht antwortete, sondern erneut zu schmollen begann. Als ich die ersten Häuser erblickte, wollte ich mich sofort wieder ins Unterholz begeben und so weit wie möglich weglaufen. Allerdings war das auch nicht sonderlich erwachsen, also würde ich der Situation einfach ins Auge sehen – vielleicht erkannte mich auch keiner mehr. Wisst ihr, wie es ist, nach langer Zeit wieder heimzukommen? Ja? Schön, ich weiß es nicht. Bislang fehlte mir der Ort, den ich wahrhaft Heimat nennen konnte, der sich auch danach anfühlte. Ich fühlte mich überall fremd und in Germe sogar unerwünscht. Wenn Aurea nicht gewesen wäre, hätte mich so schnell nichts zurückgebracht. Stille umgab das kleine Dorf, als wir eintrafen. Es war kurz nach dem Mittag, so dass außer dem Rauschen des Flusses nichts zu hören war. Das Gewässer lief quer durch das Wohngebiet hindurch, mein Blick fiel auf die glatte Felsfläche jenseits des Dorfes, aus dem das Wasser entsprang. Glace warf einen interessierten Blick umher. „Sieht ja nicht so aufregend aus.“ „Was hast du erwartet?“, erwiderte ich. „Eine Touristenhochburg?“ Zu meinem Erstaunen sah er mich sogar wieder direkt an. „Immerhin gibt es hier ein Foris, da kann man doch einiges erwarten, oder?“ Waren diese Portale wirklich so bekannt? Ich erinnerte mich an einen Besucher vor sechs Jahren, der die Foris nur aus Erzählungen seiner Mutter kannte, allerdings nicht an deren Existenz glaubte, bevor er das bei uns gesehen hatte. Seitdem war ich mir ziemlich sicher gewesen, dass die meisten Menschen gar nichts von den Foris wussten oder nicht daran glaubten, so wie dieser junge Mann. Wie war sein Name gewesen? Es fiel mir nicht ein, aber im Moment war das auch egal. Aurea wandte sich ebenfalls mir zu. „Foris?“ Ihre Art zu sprechen war mir inzwischen ein wenig vertraut, weswegen ich wusste, dass sie hingeführt werden wollte. Obwohl es mir keineswegs zusagte, bedeutete ich ihr, mir zu folgen. Ich wusste von Anfang an, dass sie dieses Tor sehen wollte, also musste ich sie nun auch hinführen, alles andere wäre inkonsequent gewesen. Außerdem interessierte mich auch, was sie dort wollte, ich wollte nur diesen Ort nicht mehr aufsuchen. Durch eine Öffnung in der Felswand kamen wir ins Innere. Sonnenstrahlen fielen durch mehrere, kaum sichtbare Löcher hoch über uns. Um diese Zeit des Tages erhellten sie damit die Höhle mehr als sonst, allerdings war genau wie in meiner Erinnerung nicht viel zu sehen. Von vier höher gelegenen Plattformen stürzte Wasser, das im einfallenden Licht glitzerte und sich auf dem Boden zum Fluss sammelte, der sich durch das Dorf bahnte. Wie oft war ich hier gemeinsam mit ihr gesessen? Damals, als noch alles in Ordnung war und ich nichts davon ahnen konnte, was geschehen würde. Ich blickte zum Foris, das sich an der Wand direkt gegenüber des Eingangs befand. Es war eine ovale Öffnung, ich erinnerte mich noch gut daran, wie es früher ausgesehen hatte, bis zu dem Zwischenfall vor fünf Jahren... „Was ist denn das?“, fragte Glace irritiert. Kurzentschlossen sprang er von Aureas Schulter und lief zu dem Foris hinüber. Blauer Kristall hatte sich wie eine dicke Schicht Eis über das Portal gelegt und verhinderte somit einen direkten Kontakt damit. Der Anblick deprimierte mich... Ehe ich meine Erinnerung vertiefen konnte, holte Glace mich wieder in die Wirklichkeit. Er lief näher und wollte den Kristall berühren. Allein beim Gedanken daran überkam mich Wut. Nein, ich würde nicht zulassen, dass irgendjemand – und schon gar kein Frettchen – diesen Kristall berührte! Dieser wundervolle, reine Kristall... besudelt durch die Berührung eines verfluchten Dämons in Gestalt eines Nagers... Nein, solange ich hier war, würde das nicht geschehen! Ich packte Glace am Nacken und hob ihn hoch. Wütend begann er zu zappeln, in einem verzweifelten Versuch, sich von mir loszureißen. „Du wirst es nicht anfassen!“, herrschte ich ihn an. Er hörte auf damit, sich zu wehren und sah mich dafür missmutig an. „Was ist denn mit dir los? Ich wollte es mir nur aus der Nähe anschauen.“ Ein tiefes Knurren kam aus meiner Kehle. „Ich warne dich!“ Mein Verhalten schien ihm tatsächlich Furcht einzujagen, zumindest wenn ich das bei seinem pelzigen Gesicht richtig einschätzte. Jedenfalls schluckte er. „Sch-schon gut, ich werd's nicht anfassen, versprochen.“ Ehe ich ihn wieder runterließ, schenkte ich ihm noch einen warnenden Blick. Eingeschüchtert kletterte Glace wieder auf Aureas Schulter hinauf. Die Wut verflog sofort wieder, dafür bekam ich plötzlich Atemnot, mein Herz schlug schneller, ich musste so schnell wie möglich aus dieser Höhle raus. „Ich werde mein früheres Zuhause aufsuchen. Was immer ihr macht, berührt nicht den Kristall!“ Glace nickte hastig, statt Widerspruch einzulegen, Aurea reagierte dafür gar nicht. Ich fuhr herum und verließ die Höhle fluchtartig. Eigentlich wollte ich gar nicht mein Elternhaus aufsuchen, aber ich konnte auch nicht dort drinnen bleiben. Der Gedanke an sie suchte mich wieder heim, obwohl ich ihn bislang erfolgreich verdrängen konnte. Selbst die hellen Sonnenstrahlen schafften es nicht, mein deprimiertes Gemüt zu erhellen. Meine Füße setzten sich in Bewegung und trugen mich durch das Dorf. Zuerst kam es mir ziellos vor, doch schon bald erkannte ich, wohin mich meine Gedanken führten. Nicht in die Bibliothek, die ich damals gepflegt hatte und die mir heute noch manchmal fehlte, sondern zu meinem alten Zuhause. Die Häuser lagen alle gewohnt still da, die meisten Bewohner des Dorfes pflegten das Ritual des Mittagsschlafs, der mir nie sonderlich geläufig gewesen war. Ich schlief ohnehin weniger als andere, die ich kannte, das dann auch noch tagsüber? Nein, das war nicht meine Welt. Vor meinem Elternhaus blieb ich wieder stehen. Ich spürte keinerlei Sehnsucht nach meinem alten Zimmer, kein Verlangen, das Haus überhaupt zu betreten. Warum ich überhaupt hier war, entzog sich meinem Verständnis. Andererseits könnte ich vielleicht noch einige Dinge aus meinem alten Zimmer holen, wenn ich schon hier war – wenn Laurence die Sachen nicht alle weggeworfen hatte. Doch ehe ich mich entscheiden konnte, ob ich reingehen oder zurück zu Aurea sollte, öffnete sich die Tür und ich stand meiner Schwägerin gegenüber. Wie war ihr Name noch einmal? Es war immer nebensächlich für mich gewesen, deswegen hatte ich es mir nie gemerkt, aber im Moment war das auch egal – sie erkannte mich allerdings sofort. „Oh, Alphons. Hast du dich wieder verletzt?“ Die Frage täuschte – sie war nicht besorgt um mich, nur neugierig, genau wie ich es bei Laurence war. Zur Antwort schüttelte ich mit dem Kopf. „Nein... na ja, eigentlich doch, aber deswegen bin ich nicht hier. Darum wurde sich bereits gekümmert.“ Sie taxierte mich von oben bis unten, aber da sie keine Verletzung erblickte, verzog sie enttäuscht ihr Gesicht. Es dauerte einen Moment, bevor ihr das bewusst wurde und sie wieder einen geheuchelt besorgten Blick aufsetzte. „Das ist schön.“ Ich wusste, sie lechzte geradezu danach, zu erfahren, was geschehen war und wer sich um die Verletzung gekümmert hatte und ich genoss es, darüber zu schweigen. Zu meinem Erstaunen schaffte sie es, sich zu beherrschen, genauer nachzuhaken, dafür wartete sie allerdings mit einer Überraschung auf: „Ich bin froh, dass du hier bist.“ War sie etwa krank? Solche Worte hatte ich in Bezug auf mich noch nie gehört, jedenfalls nicht aus ihrem Mund oder dem meines Bruders. Bislang war ich sicher gewesen, dass beide sogar in einer lebensgefährlichen Situation lieber gestorben wären, statt sich von mir retten zu lassen und dann diese Worte oder gar ein Dank auszusprechen. „Wieso denn?“ Vielleicht war ja doch etwas geschehen und nun brauchte man mein überragendes Wissen, um die Situation zu bereinigen. ... Ja, ich weiß, aber manchmal sind Tagträume doch ganz schön. „Heute kam ein seltsamer Mann, der dich sprechen wollte.“ Überrascht hob ich eine Augenbraue. Jahrelang war ich allen egal und plötzlich tauchte nicht nur Aurea auf, sondern auch ein seltsamer Mann. Woher kam dieses Interesse an mir? „Ich sagte ihm, dass du nicht mehr hier wohnst, aber er war überzeugt, dass du heute wiederkommen würdest. Er wartet in deinem alten Zimmer.“ Wenn er das gewusst hatte, bedeutete das vielleicht, dass er Aurea kannte. Falls er so war wie sie, würde das auch das seltsam erklären. „Ist Laurence da?“, fragte ich, ehe ich das Haus betrat. Wäre er das würde ich nicht hineingehen, nicht einmal einen Fuß würde ich hineinsetzen. Doch sie schüttelte mit dem Kopf und erklärte mir, dass mein Bruder bei der Arbeit wäre. Sie sagte mir auch, was er tat, aber das interessierte mich nicht im Mindesten. Da ich nun aber sicher war, dass er nicht da war, betrat ich das Haus und legte den Weg zu meinem alten Zimmer zurück. Ein abgestandener, stickiger Geruch empfing mich, als ich die Tür öffnete. Offenbar betrat niemand je diesen Raum. Das erklärte auch, warum alles genauso war wie an dem Tag, an dem ich dieses Haus verlassen hatte. Das Bett war fein säuberlich gemacht, als wartete es darauf, dass sich am Abend jemand hineinlegen würde; die wenigen Dinge auf dem Schreibtisch waren akkurat angeordnet; das Bücherregal gut gefüllt und pflichtbewusst nach Alphabet geordnet; der Schrank war verschlossen. Aber eine Sache war anders: Als ich damals ging, saß kein braunhaariger Mann im Zimmer, der leise summend aus dem Fenster sah. Da er mich nicht bemerkte, nutzte ich die Zeit, ihn so lange zu mustern, aber ich konnte mich nicht erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben – vielleicht aber auch nur deshalb weil er auf den ersten Blick so normal aussah. Das einzig Seltsame war die warme Kleidung an diesem Sommertag. Er trug einen weißen Streifenpullover mit Rollkragen und eine braune Jacke, ein schwarzer Schal war um seinen Hals geschlungen. Dazu noch die braune Hose und die dunklen Schuhe... In einem kälteren Gebiet oder einer anderen Jahreszeit wäre er vollkommen normal gewesen. Hier kam er mir allerdings absolut fehl am Platz vor. „Darf ich fragen, wer du bist und was du hier suchst?“ Ich hatte ihn lange genug angesehen, nun wurde es Zeit, mehr über ihn herauszufinden. Er wandte mir den Kopf zu, fasziniert sah ich ihn an. Sein linkes Auge war grün, während das rechte braun war. Ich kannte Tiere mit verschiedenfarbigen Iriden, aber bei Menschen hatte ich es bislang für ein Gerücht gehalten. Dann gab es noch etwas an seinem Gesicht, das in mir ein seltsames Gefühl erzeugte, dessen Bedeutung mir nicht bewusst war. „Ich habe auf dich gewartet, Alphons.“ Schön, das beantwortete meine zweite Frage, aber nicht die erste. „Wer bist du?“ Seine wegwerfende Handbewegung wurde von einem Lächeln begleitet. „Das ist nebensächlich und kümmert dich daher nicht.“ Woher wusste er so viel über mich? Nicht mal meine Schwägerin wusste, dass ich mir keine nebensächlichen Namen merkte und ihrer gehörte immerhin dazu. „Darf ich dann wenigstens erfahren, was du von mir willst?“ Das interessierte mich auch wesentlich mehr als sein Name, wenn ich ehrlich sein musste. Der Mann ging zum Tisch hinüber. Ein mir fremdes Paket, das bei Betreten des Zimmers noch nicht da gewesen war, lag nun dort, er deutete direkt darauf. „Ich wollte dir das hier bringen. Es ist ein Geschenk, gesegnet von den Naturgeistern.“ Welch Zufall. Wir waren auf der Suche nach einem solchen Wesen und dann bekam ich ein von ihnen gesegnetes Geschenk überbracht. Was geschah nur mit meinem Leben? „Warum sollte ich das annehmen?“ „Du musst nicht“, antwortete der Fremde auf meine Frage. „Aber ich würde es dir dennoch raten. Man weiß nie, welche Gefahren einen auf dem Weg erwarten.“ Er verschob das Paket auf dem Tisch, so dass es näher bei mir lag. Meine Neugier übernahm mein Denken. Es war lange her, seit ich zuletzt ein Geschenk bekommen hatte, selbst wenn es Gift wäre, hätte ich es liebend gern angenommen. Ich öffnete das Paket und nahm das Stück Stoff heraus. Es war ein weißer Umhang mit grünen und rot-braunen Applikationen an den Rändern. Zwei silberne Spangen dienten zur Befestigung. Der Mann betrachtete mich lächelnd, nachdem ich den Umhang angelegt hatte. „Er steht dir. Sieht wirklich gut aus.“ Nun, wenn er das sagte. Von der Segnung durch die Naturgeister bekam ich allerdings nicht viel mit. Entweder war das gelogen oder es kam nur in besonderen Situationen zum Vorschein. Allerdings war mir das auch egal. Der Umhang kam mir tatsächlich vor, als ob ich ihn schon immer getragen hätte, als ob er ein wichtiger Teil von mir wäre – und praktisch wäre er sicherlich auch, wenn mir kalt werden sollte. „Nun... danke dafür.“ Der Fremde nickte lächelnd. „Nichts zu danken.“ Sein Blick huschte zum Fenster. „Ich muss gehen, aber davor wollte ich dir noch etwas sagen.“ Mahnend hob er den Zeigefinger, doch sein Blick sagte mir, dass es keine Lektion werden sollte, sondern nur ein äußerst gut gemeinter Rat. „Bevor man auf eine Reise aufbricht, sollte man alles mitnehmen, was man sonst vermissen könnte.“ Ehe ich fragen konnte, was er damit meinte, hob er zum Abschied die Hand und ging hinaus. Ich hielt ihn nicht auf, teilweise war ich sogar erleichtert, dass er fort war. Seine Augen hatten mich fasziniert, aber ansonsten war er ein wenig unheimlich gewesen. Nicht nur, dass er mich nicht hatte sagen wollen, wer er war, er brachte mir auch ein Geschenk und sprach in Rätseln und er wusste bereits vor meiner Ankunft, dass ich wieder ins Dorf kommen würde. Und dann war da noch ein Gefühl gewesen, vorhin konnte ich es nicht einordnen, aber inzwischen war es mir möglich: Ich kannte ihn. Ich war mir sicher, ihn nie zuvor gesehen zu haben – an solche Augen würde ich mich erinnern – und doch kam er mir bekannt vor, warum auch immer. Laute Geräusche von draußen rissen mich aus meinen Gedanken. Interessiert sah ich aus dem Fenster – und wünschte mir, ich hätte es nicht getan. Gut zwei Dutzend Soldaten standen vor dem Haus und mich überkam das Gefühl, dass sie nicht nur zufällig dastanden oder zu einer freundlichen Unterhaltung gekommen waren. Nein, noch schlimmer, da sie direkt vor diesem Haus standen, waren sie wohl wegen mir da. Woher wussten alle, dass ich hier war? Nein, nein, mit Sicherheit war das jetzt wirklich nur ein Zufall und sie waren wegen etwas ganz anderem hier. Es konnte sich ja nicht alles nur um mich drehen. Am ehesten würde ich das aber herausfinden, wenn ich hinausging und fragen würde. Ja, das war eine gute Idee. Aber zuerst... „Bevor man auf eine Reise aufbricht, sollte man alles mitnehmen, was man sonst vermissen könnte.“ Die Worte hallten in meinem Inneren nach und führten mir tatsächlich so etwas vor Augen. Warum hatte ich das eigentlich bislang hier gelassen? Andererseits, hätte ich es schon früher mitgenommen, wäre es wie der Rest der Hütte den Flammen zum Opfer gefallen. An meinem Bücherregal brachte ich nur einen einzigen gezielten Griff, als wäre ich nie weggewesen. Es war ein recht dünnes Buch mit einem roten Umschlag und einem Verschluss – letzterer war der Grund, warum ich es noch nie hatte aufschlagen können. Es befand sich kein Schloss daran, es war einfach nur eine Lasche mit einem Knopf, die beide Buchdeckel untrennbar miteinander verband. Jeder Versuch es zu öffnen, misslang, der Verschluss ließ sich aus unbekannten Gründen einfach nicht abmachen. Aber der Inhalt des Buches kümmerte mich auch nicht weiter, es war ein Geschenk von einer sehr wichtigen Person gewesen, deswegen wollte ich es unbedingt mitnehmen. Mein Gefühl sagte mir nämlich, dass dies wirklich der allerletzte Besuch in diesem Dorf war – ich würde ihm jedenfalls nicht hinterhertrauern. Noch einmal ausatmend verließ ich schließlich mein altes Zimmer, um herauszufinden, was die Soldaten hier wollten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)