Lilienjäger von Flordelis (Custos Vitae II) ================================================================================ Kapitel 5: Zertrennte Familienbande ----------------------------------- Als ich aus der Tür trat, erblickte ich nicht nur meine Schwägerin sondern auch Laurence. Das schmale Gesicht, die geschmeidige Gestalt und sein hellblondes, fast schon silbernes Haar, war mir Erkennungsmerkmal genug, obwohl unsere letzte Begegnung drei Jahre zurücklag. Früher hatte ich ihn stets um seine Haarfarbe beneidet. Silber wäre mir sehr viel lieber gewesen als dieses Dunkelgrün, das mein Haar seit jeher zierte. Laurence stand an der Spitze der Soldaten und blickte mich abfällig an. Ich hasste diesen Blick mit Leib und Seele, weil in ihm das einzige Gefühl meines Bruders in Bezug auf mich lag. Er hasste mich nicht, es war reine Abscheu, die er mir entgegenbrachte. Ich wusste nicht, warum, das war schon immer so gewesen, seit ich zurückdenken konnte. Wir waren nie wirklich Brüder gewesen. „Du bist also wirklich hierher gekommen“, sagte er amüsiert. „Als wir die verkohlte Hütte fanden, dachte ich schon, dass du dich selbst in die Luft gesprengt hättest. Aber dann fanden wir neue Spuren von dir und ich dachte mir, dass du hierher kommen würdest.“ Mein Blick huschte über die Soldaten. Sie wirkten alle grimmig, kein einziger war mir vertraut. Ausgehend von den Uniformen war ich mir aber sicher, dass sie zur offiziellen Armee von Monerki gehörten – für meine Zukunft in diesem Land sah das jedenfalls nicht gut aus. „Ich gehe davon aus, dass du dich nicht aus Einsamkeit mit Soldaten umgibst“, merkte ich an. „Möchtest du mich vielleicht einweihen?“ „Ungern“, erwiderte Laurence. „Aber da ich dich ohnehin nicht mehr lange sehen muss, kann ich es dir sagen. Mhm, ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Ich wollte ohnehin dabei sein, wenn es dir gesagt wird.“ In Gedanken ging ich die letzten Jahre durch, aber mir fiel beim besten Willen kein Verbrechen ein, wofür ich verantwortlich sein könnte. Auch nichts in der Art. Wenn, dann musste ich unbewusst irgendetwas getan haben, aber ob das wirklich der Fall war? „Du bist doch so clever, kannst du mir sagen, was vor fünf Jahren in diesem Dorf geschah?“ Was für eine Frage, aber das war typisch für meinen Bruder. Er stellte mir eine Frage, damit ich zu erklären begann und er mir einen Strick daraus drehen konnte. Das war schon immer so gewesen, deswegen erwachte ein ungutes Gefühl in mir, als er es dieses Mal tat. „Vor fünf Jahren“, begann ich zögernd, die Erinnerung daran war nicht angenehm, „suchte ein Sturm dieses Dorf heim. Es war kein gewöhnliches Unwetter, es waren Monster, die aus dem Inneren des Foris kamen. Sie...“ Ich stockte, als sich vor meinem inneren Auge wieder die Szenen jenes Tages abspielten. Die vielen toten Menschen, der Geruch von Blut, die Schreie der Angst... es verfolgt mich heute noch in meinen Träumen. Meine Eltern waren diesen Ungeheuern zum Opfer gefallen, so wie ein großer Teil der anderen Dorfbewohner. Laurence nickte. Keinerlei Trauer oder Schmerz war in seinem Gesicht zu erkennen, das Geschehene ließ ihn völlig kalt. „Und weißt du auch, wer für diesen Angriff verantwortlich ist?“ Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Er würde nicht das sagen, was ich in diesem Moment dachte, oder? Nein, das würde nicht einmal Laurence mir antun. Zumindest glaubte ich das, doch offensichtlich wurde ich durch unsere Familienbande zueinander getäuscht. Ein kaltes, aber durch und durch zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Natürlich weißt du es. Du selbst hast an diesem Tag diesen Wesen Tür und Tor geöffnet.“ Nein, das ist nicht wahr! Ich wollte es laut herausschreien, aber die Worte blieben in meinem Hals stecken. Tatsächlich erinnerte ich mich nicht daran, was ich an jenem Tag getan hatte. So viele andere waren mir glasklar im Gedächtnis geblieben, aber gerade bei diesem einen fehlte das Essentielle. Erst mitten im Angriff war ich wieder zu mir gekommen. Was davon geschah... wer weiß? Vielleicht war wirklich ich der Schuldige, aber selbst wenn: Es war nie meine Absicht gewesen, noch war es aus freien Stücken geschehen. Wollte er mich etwa wirklich deswegen diesen Soldaten ausliefern? Und was ging es die überhaupt an? Germe war ein winziges Dorf irgendwo am Rand von Monerki, warum interessierten die sich nach fünf Jahren plötzlich für diesen Vorfall? Hasste Laurence mich wirklich so sehr? Nein, ich konnte es nicht glauben. Auch wenn wir uns nicht so sahen, aber wir waren doch Brüder, in uns floss das selbe Blut, man tat seiner Familie so etwas nicht an! Ich musste nichts sagen, damit er wusste, was gerade in mir vorging. Nein, er antwortete mir auch so mit äußerst deutlichen Worten: „Bruder? Pah! Ich habe dich nie als Bruder gesehen, für mich warst du immer nur das schwarze Schaf in der Familie, nein, mehr noch! Du warst nie ein Mitglied der Familie!“ Seine Worte trafen mich ungewohnt hart. Ich hatte mich selbst nie als Teil der Familie gesehen, aber es von jemandem ins Gesicht gesagt zu bekommen war schmerzhaft. „Ich hoffe, unser König lässt dich dafür hängen.“ Keiner der Soldaten hatte sich bislang bewegt, doch kaum sprach er diesen Satz aus griffen sie alle nach ihren Schwertern. Ich wich einen Schritt zurück, spürte aber sofort die Hauswand in meinem Rücken. In aufkeimender Panik huschte mein Blick umher, doch jede Lücke, die ich bislang hätte nutzen können wurde sofort geschlossen. Laurence schien so vergnügt, dass er sicherlich leise summte, auch wenn ich es nicht bis zu meinem Standort hören konnte. Aber ich kannte diese Macke von ihm, sobald er amüsiert war, summte er vor sich her. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass es ihn einmal amüsieren würde, mich in dieser Situation zu sehen. Zwischen Abscheu und „Ich schicke meinen Bruder in den sicheren Tod“ lagen für mich Welten und bislang hatte ich gehofft, dass es bei ihm genauso war. Doch offenbar unterschied uns sogar das. Mein Kopf begann zu schmerzen, während die Soldaten näherkamen. Ich wusste, dass ich handeln, irgend etwas tun sollte, aber wie üblich konnte ich nicht. Aber was hätte ich auch tun können? Die einzigen Zauber, die ich beherrschte, würden niemals mit all diesen Soldaten fertig werden und Waffen besaß ich auch keine. Mir blieb noch die Möglichkeit, nach Aurea zu rufen, aber ob das geholfen hätte? Ich presste mich an die Wand, als ob ich mit dieser verschmelzen könnte, während die Männer näherkamen. Mein Blick ging zur Tür, aber mich ins Haus zu retten war keine Option. Es gab keinen anderen Ausgang, keinen Keller, sobald ich erst dort drin war, würde das Haus umstellt werden und ich saß in der Falle. Erst als der Soldat direkt vor mir schwankte und zu Boden fiel, richtete ich meinen Blick wieder auf die Geschehnisse vor mir. Weitere Männer sanken ohne ersichtlichen Grund zu Boden, Laurences Blick ging verwirrt von einem zum anderen, genau wie meiner. Erst als sechs Soldaten kampfunfähig waren, erblickten wir gleichzeitig das Wesen, das zwischen all den Gefallenen stand. Es war vollkommen weiß, die Haut, die Kleidung, das Haar, so weiß und rein wie Schnee. Lediglich die mandelförmigen Augen im Gesicht des Wesens waren pechschwarz. Es wirkte wie ein Mensch, aber gleichzeitig viel zu perfekt. Die schmalen Gesichtszüge, das Kleid, das sich blütenförmig an ihren zierlichen Körper schmiegte, das über ihre Schultern fallende Haar; diese Perfektion schien direkt aus einem makellosen Marmorblock gehauen worden zu sein. Sie stand auf ihren Zehenspitzen, wie eine Ballerina, die sich gerade auf ihren Tanz vorbereitete und sah sich dabei aufmerksam um. Ihre schwarzen Augen waren das einzige, was ihre Erscheinung beeinträchtigte. Sie blickten in meine Richtung, schienen sich in meine Seele zu bohren und diese zu erforschen. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören, während ich ihren Blick erwiderte. „W-was ist das?“, kreischte meine Schwägerin plötzlich. Ihre schrille Stimme durchbrach die eingetretene Stille. Ruckartig wandte das Wesen ihr den Kopf zu, was dazu führte, dass sie noch einmal schreckerfüllt kreischte. Laurence stellte sich vor seine Frau und herrschte die verbliebenen Soldaten an, ihn zu schützen. Doch bevor die Männer sich anhand ihrer gefallenen Kameraden entscheiden konnten, ob sie helfen oder wegrennen sollten, holte die Frau mit einem Arm aus. Doch statt mit ihrer Hand nur das zu treffen, was ihr am nächsten stand, verlängerte sich der Arm plötzlich. Laurence starrte sie genauso ungläubig an wie ich, als sie damit die Soldaten kurzerhand niederstreckte. Mir erschien die Situation so unwirklich wie in einem Traum, es musste einfach einer sein! Wo sonst tauchten Zeichen solcher Perfektion auf und rissen einfach Soldaten um? Kaum lagen die Männer auf dem Boden, nahm ihr Arm wieder eine normale Länge an, sie konzentrierte sich erneut auf Laurence und seine Frau. Statt Furcht erwachte in mir plötzlich Hoffnung. Bislang hatte es mir nichts getan, stattdessen kümmerte es sich um diejenigen, die ich als Bedrohung ansah. Vielleicht war dieses Wesen, wo auch immer es herkam, auf meiner Seite? Ehe das Wesen allerdings meinen Bruder angreifen konnte – wenn es das überhaupt vorhatte – fiel es mit einem schrillen Kreischen zu Boden. Verwirrt sah ich darauf hinunter. Silbernes Blut floss aus einer Wunde. Je mehr Flüssigkeit aus ihrem Körper lief desto leiser wurde ihr Kreischen und desto kleiner wurde sie. Es dauerte nicht lange und statt dieser perfekten Gestalt lag eine Lilie auf dem Boden, die sich noch ein letztes Mal aufbäumte und dann verdorrte. Dann musste... Ich hob den Blick und entdeckte Aurea, die gefühllos auf die Überreste der Blume hinuntersah, das Frettchen saß wie üblich auf ihrer Schulter. Das war es also, wovon Glace gesprochen hatte. Die Lilien waren offenbar machtvolle Wesen, aber welche Ziele verfolgten sie? Mir blieb allerdings keine Zeit, mir weiter Gedanken darüber zu machen. Noch ehe Laurence die Situation hatte erfassen können, griff Aurea nach meiner Hand und zog mich wieder mit sich. Ich konnte nicht einmal widersprechen, zum Glück stand mir aber auch nicht der Sinn danach. „Alphons!“ Als ich einen Blick über die Schulter warf, konnte ich Laurence sehen, sein Gesicht war wutverzerrt. „Denk nicht, dass du einfach so damit davonkommst!“, schrie er. „Du kannst dich nicht immer hinter jemandem verstecken!“ Ich wusste, dass er es ernst meinte, dass er mich endgültig loswerden wollte. Es genügte ihm nicht, dass ich aus seiner Sicht war, er wollte die Gewissheit, dass ich nicht mehr existierte. Aber warum? Was hatte ich ihm getan? Ich konnte ihn nicht danach fragen, Aurea zog mich erbarmungslos weiter, weg von diesem Dorf, zurück in den Wald. Erst Stunden später hielten wir wieder an. Ohne etwas zu sagen entzündete Aurea geschickt ein Lagerfeuer. Am Tag zuvor hatte ich darüber noch gestaunt, doch diesmal stand mir nicht der Sinn danach. Ich saß mit angezogenen Beinen auf dem Boden und starrte in die zuckenden Flammen. Unzählige Fragen gingen mir durch den Kopf, rannten mit meinen Gedanken um die Wette und ließen mich verwirrter zurück als zuvor. Ich erinnerte mich nicht an die Ereignisse, die zum Sturm auf Germe geführt hatten. Es war also gut möglich, dass ich dafür verantwortlich war, auch wenn sich mir nicht erschloss, wie das möglich sein könnte. Jahrelang war das Foris vollkommen harmlos gewesen – allerdings hatte auch niemand es je berührt, außer diesem Besucher vor fünf Jahren. Er konnte aber nicht verantwortlich sein, denn das war ein Jahr vor dem Sturm gewesen. Nein, irgend etwas musste an diesem einen Tag geschehen sein. Nur was? Und warum erinnerte ich mich nicht daran? Meine Erinnerungen beinhalteten nur einen großen Teil des Sturms und das Ende – aber daran wollte ich gar nicht denken. Berührt hatte ich das Foris bestimmt nicht, das ging gegen all meine Prinzipien. Schon Rose hatte ich immer gepredigt- Ich seufzte schwer, als das Mädchen sich in meine Gedanken schlich. Das war einer der Gründe, warum ich es hasste, so viel zu denken. Irgendwann kam ich immer auf sie und das trübte meine Stimmung bis ins Unendliche. Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich zusammenzuckte, als Aurea mir plötzlich einen Apfel vor das Gesicht hielt. „Essen“, sagte sie knapp, als sie mir die Frucht in die Hand drückte. Schon allein beim Anblick des Obsts schnürte sich meine Kehle zusammen. Ich hatte weder Hunger noch Appetit, aber Aureas Blick sagte mir, dass sie keinen Widerspruch duldete, also biss ich zumindest einmal ab und kaute auf diesem Stück herum. Der süß-saure Saft sorgte immerhin dafür, dass mir nicht übel wurde. Aurea schwieg wieder. Genau wie ich starrte sie ins Feuer. Glace allerdings kletterte von ihrer Schulter, um zögernd zu mir zu laufen. Neben mir blieb er stehen, er musterte mich, bis ich ihm den Blick zuwandte. „He~ Dieser Mann da, woher kanntest du den?“ Mir war klar, dass er von Laurence sprach. Ich wollte ihm sagen, dass er mein Bruder war, ein Teil meiner Familie, doch ich konnte nicht. Die Ereignisse in Germe hatten mir deutlich vor Augen geführt, dass ich keine Familie mehr besaß, auch keine, die mich hasste und verabscheute. Dementsprechend nüchtern fiel meine Antwort aus: „Wir sind im selben Dorf aufgewachsen, das ist alles.“ Ich war nun ein Niemand, der noch dazu in diesem Land von Soldaten gejagt werden würde, dessen war ich mir sicher, ich kannte Laurence gut genug. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht mehr davon ab. Glace ließ sich nichts anmerken, aber ich bin sicher, dass er mir nicht glaubte. Anders könnte ich mir nicht erklären, dass er sich zu mir legte, als ich schließlich zu schlafen versuchte. Er schmiegte sich an mich, wie bei einem Versuch des stillen Tröstens. Diese unerwartete Geste rührte mich so sehr, dass ich nicht anders konnte als zu lächeln und so auch schließlich einschlief. Hosted by Animexx e.V. 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