Lilienjäger von Flordelis (Custos Vitae II) ================================================================================ Kapitel 8: Ein trauriger Ort ---------------------------- Entgegen meiner Erwartung führte Aurea uns nicht in eine Stadt oder ein Dorf, sondern einen Bergpfad entlang. Mir war zwar eher danach, mich auszuruhen, aber meine Neugier überwog die Erschöpfung, ich wollte unbedingt wissen, wohin sie in dieser menschenverlassenen Gegend wollte. Als sie schließlich wieder stehenblieb und sich suchend umblickte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich auf einen Felsen zu setzen und mich zumindest ein wenig auszuruhen. Ich beneidete Glace, der nach wie vor auf meiner Schulter saß und sich kein bisschen anstrengen musste. Ich war immerhin ein Gelehrter und kein Läufer, so etwas war ich nicht im Mindesten gewohnt. Wie Aurea das anstellte, ohne auch nur ein wenig Erschöpfung zu zeigen, war mir schleierhaft. Sie strich über die Felsen des Berges als suchte sie etwas, aber natürlich weihte sie mich nicht ein, so dass ich ihr auch nicht helfen konnte. Also beobachteten Glace und ich sie nur, dabei klagte das Frettchen über seinen leeren Magen. „Hunger~“ „Du benimmst dich wie ein Kleinkind.“ Für meine Erwiderung schlug er mich mit der Pfote in den Nacken, glücklicherweise aber mit eingefahrenen Krallen. Auf noch mehr Schmerzen konnte ich verzichten, auch wenn die Verletzungen auf meinem Oberkörper offenbar bereits zu heilen begonnen hatten. Was auch immer Aurea mit mir angestellt hatte, es war äußerst effektiv. Wenn sie hier fertig war, würde ich ihr vorschlagen, Ärztin oder Krankenschwester zu werden. Plötzlich griff Aurea an einen bestimmten Felsen – worauf sich ein Durchgang in der Mauer öffnete. „Wow~“, entfuhr es Glace. „Das ist der Wahnsinn, ein Geheimgang~“ „Mitten in den Bergen?“ Wer baute denn sowas hier, wo weit und breit nichts zu sehen war? Und warum wollte Aurea dort hinein? Es dauerte einen ziemlich langen Moment, bis mir etwas einfiel, was sie mir kurz davor gesagt hatte. Sie wollte die Nymphe Lilium aufsuchen, also war es doch gut möglich, dass diese sich hier in der Gegend aufhielt – stellte sich nur noch die Frage, woher Aurea davon wusste. Als ich das allerdings laut aussprach, reagierte sie nicht darauf, sondern gab mir nur zu verstehen, dass ich ihr folgen sollte. Langsam war ich das wirklich gewohnt, deswegen stand ich auf und ging ihr schweigend hinterher. Die Dunkelheit im Inneren der Höhle wurde von Aurea verdrängt... Ja, das liest sich wirklich seltsam, wenn ich das nun betrachte, doch es war wirklich so. Aureas Körper glühte in einem farblosen Licht und erhellte die Umgebung notdürftig, eine Quelle dafür konnte ich auch nicht ausfindig machen, aber ich sah es mit meinen eigenen Augen. Ich fragte sie sofort danach, wie sie das anstellte, doch – ja, ich glaube, ab sofort verzichte ich darauf, zu erwähnen, dass ich sie etwas frage, wenn sie ohnehin nicht antwortete. Im Nachhinein wirkt das nämlich ziemlich erbärmlich, wie mir auffällt. Die Höhle verlief überraschend gerade und schien dabei immer dunkler zu werden, im Gegensatz dazu wurde das Licht von Aurea immer heller. Nach einer halben Ewigkeit – so schien es mir zumindest – machte der Gang einen Knick nach rechts, aber ohne meine Begleiterin wäre mir das nicht einmal aufgefallen, trotz Aureas Glühen. Am Endes dieses neuen Weges konnte ich ein Licht sehen, das mich spontan an die Metapher mit dem Licht am Ende des Tunnels erinnerte. Jemand anderes hätte möglicherweise eine sarkastische Erwiderung vorgebracht, aber ich schwieg lieber – schon allein weil außer Glace mit Sicherheit niemand gelacht hätte. Also beschäftigte ich mich eher mit der Frage, was sich wohl jenseits des Lichts befinden würde. Aber man kennt das wohl, man malt sich die schönsten Dinge aus und rätselt und überlegt und am Ende ist man von der Wahrheit nur enttäuscht. So wie ich an diesem Tag. Als meine Augen sich nach dem Laufen durch das Lichttor wieder an die Umgebung gewöhnt hatten, sah ich mich erwartungsvoll um, doch der Anblick war eher deprimierend. Einst mussten unzählige Blumen in diesem Raum geblüht haben, doch inzwischen waren sie alle verdorrt, nur noch einige Blüten waren zurückgeblieben, vertrocknet, einsam... Die Wände schienen aus Wasser zu bestehen, das von einer unsichtbaren Macht zurückgehalten wurde. Aber es war nicht hell, es war trüb, wie bei einem Aquarium, das lange nicht gereinigt worden war. Die Decke zeigte einen bewölkten Himmel, der die bedrückte Stimmung dieses Raumes äußerst gut wiedergab. Was immer hier geschehen war, es musste schrecklich gewesen sein, immerhin war es mit Sicherheit einmal ein wunderschöner Ort, so viel konnte ich auch von diesen traurigen Resten sagen. Glace schüttelte sich. „Deprimierend...“ Ich sah zu Aurea hinüber und stellte überrascht fest, dass sie ebenfalls traurig wirkte. Es war die erste Spur von Emotion, die ich auf ihrem Gesicht sehen konnte und dann war es gerade eine solche. Ich fragte mich, was sie mit diesem Ort verband, warum sie so deprimiert von diesem Anblick war. „Wen wollten wir hier besuchen?“, fragte ich, um sie zum Sprechen zu bringen. „Lilium...“ Entgegen ihrer Mimik war ihr Tonfall neutral wie eh und je. Also hatte ich recht gehabt und es war ihr Ziel gewesen, diese Nymphe aufzusuchen. Ich wunderte mich, wo sie hin war. Wenn jemand diesen Ort verwüstet hatte, musste ebenfalls ein übernatürliches Wesen dafür verantwortlich gewesen sein, Menschen kamen hier wohl kaum zufällig vorbei. Aber warum war das geschehen? Da Aurea offenbar den gesamten Raum erkunden wollte, tat ich es ihr nach und lief einige Schritte weiter, den Blick auf den Boden gerichtet. Die verdorrten Blumen und die toten Blüten knisterten unter meinen Schritten und ließen mir Schauer über den Rücken laufen, als ich mir vorstellte, was hier geschehen sein mochte. Da blieb aber noch eine viel wichtigere Frage: Was war mit Lilium geschehen? Von der Nymphe war weit und breit nichts zu sehen, aber als Naturgeist konnte sie auch nicht einfach gestorben sein. Offenbar war unsere Reise also noch lange nicht vorbei. An einer Mauer angekommen, konnte ich etwas zwischen den verwelkten Pflanzen ausmachen. Es war ein kleiner, grauer Kasten, seine Oberfläche erinnerte mich an zu Hause. Durch das Foris, als es noch offen gewesen war, waren oft Dinge von der Welt jenseits davon gekommen. Die glatten, kalten Oberflächen waren genau dieselbe gewesen, wie bei diesem Kasten. So etwas gab es in dieser Welt nicht, also musste dieses Ding auch von irgendwo anders kommen. Glace sprang von meiner Schulter. „Ah, das ist toll~ So etwas habe ich auch zu Hause.“ „Und was ist es?“ Das Frettchen antwortete nicht, was für mich bedeutete, dass es selbst auch keine Ahnung hatte. Eigentlich war es aber auch unerheblich – und unbedeutend, als Glace auf einen Knopf drückte und der Kasten plötzlich aufsprang. Ich zuckte erschrocken zurück, befürchtete fast, dass ein weiterer Dämon herausspringen würde – doch stattdessen konnte ich nur etwas im Inneren glitzern sehen. „Was ist das?“ „Eine De Vau De“, antwortete Glace. „Oder eine Zeh De. Ist beides rund, glänzend und hat ein Loch in der Mitte.“ „Es ist... jedenfalls ein Datenträger, ja?“ Das Frettchen hob den Kopf, um mich überrascht anzublicken. „Du kennst dich damit aus?“ „Ein wenig“, antwortete ich ausweichend. Derlei fremdartige Elektronik war früher mein Steckenpferd gewesen, aber nach dem Sturm in Germe war es mir natürlich unmöglich geworden, diese Dinge zu untersuchen und mein Interesse hatte sich anderem zugewandt. Aber ein paar Sachen wusste ich noch. „Das hätte ich nicht erwartet... Aber na ja, lass uns dieses Ding lieber mitnehmen.“ Ich fragte ihn, was er damit vorhätte, immerhin standen Geräte, um diese Träger abzuspielen in dieser Welt immerhin nicht an jeder Ecke – und bis er wieder in seine Heimat kommen würde, konnte noch einiges an Zeit vergehen. Glace schnaubte. „Wenn es hier ein Gerät gibt, um dieses Ding zu bespielen, gibt es bestimmt auch irgendwo eines, wo wir uns ansehen können, was drauf ist. Wir müssen es nur finden – vielleicht sind die Daten ja wichtig.“ Ich musste zugeben, es war sehr eigenartig, dass es gerade in der Heimat der Nymphen so etwas gab. Es musste einem bestimmten Zweck dienen, möglicherweise war auch unsere Entdeckung hiervon ein Wink des Schicksals und dieses Gerät hatte nur auf uns gewartet. „Gut, machen wir das.“ Ich nahm den Datenträger an mich, wickelte ihn vorsichtig in ein Stück Baumwolle und verstaute ihn dann so sicher wie möglich in meiner Tasche. Ich hoffte, sie würde es aushalten, bis wir ein Gerät zum Abspielen fanden. Glace kletterte auf meine Schulter zurück, ehe ich mich wieder aufrichtete und mich nach Aurea umsah. Sie stand vor einer der Wände und betrachtete das Wasser, so interessiert, dass ich mich einfach neben sie stellen musste, um herauszufinden, was sie so sehr faszinierte. Auch an dieser Stelle war das Wasser trüb und kaum etwas darin zu erkennen. Aber wenn man lange genug hineinstarrte... ja, ich bekam tatsächlich das Gefühl, dass ich darin Umrisse und Bewegungen erkennen konnte. Aber worum es sich dabei handelte, war mir nicht klar. Ich war so sehr in die Betrachtung dieses Anblicks vertieft, dass ich erschrak, als Aurea plötzlich nach meiner Hand griff. „Gehen“, sagte sie tonlos. „Und wohin?“ Bei ihr würde mich nichts mehr überraschen, selbst wenn sie ein neues Reiseziel aus dem Ärmel schüttelte als ob sie darauf vorbereitet gewesen wäre, dass wir hier niemanden antreffen würden. „Maycroft.“ Király war mir nicht sonderlich bekannt, weswegen ich keine Ahnung hatte, wen oder was sie damit meinte. Glücklicherweise sprang Glace für mich ein und erklärte mir, dass es sich dabei um ein Kriegerdorf handeln würde – also kein Ort, an dem ich mich unbedingt wohlfühlen würde. Aber so wie ich Aurea bislang kennen gelernt hatte, würde sie ohnehin nicht lange dort bleiben, also... „Gut, dann gehen wir. Du kennst den Weg?“ Sie nickte und fuhr bereits herum, um vorzugehen. Glace schmiegte sich an meinen Nacken. „Weißt du, als ich noch allein mit ihr unterwegs war, schien sie mir weniger kühl. Ich glaube, sie mag dich nicht sonderlich.“ „Muss sie das denn?“ Ich folgte ihr ja auch nicht, weil es mir Spaß machte, sondern weil sie mich dazu zwang – und weil ich an ihren fehlenden Emotionen interessiert war. Mir war es egal, ob sie mich mochte. Nein, eigentlich hoffte ich, sie würde mich tatsächlich nicht mögen, immerhin erhöhte das meine Chancen, aus ihrem Zauber herauszukommen und wieder frei zu sein. Im Moment frage ich mich aber, ob das ein wirklich guter Wunsch war. Was soll ich ohne sie schon tun? Wo sollte ich hin? Besser, ich folge ihr erst noch weiter. „Nein, natürlich nicht“, erwiderte das Frettchen. Aurea war bereits so weit vorausgelaufen, dass ich ein Ziehen an meinem Arm verspürte, das mich dazu zwang, ihr endlich zu folgen, wenn ich nicht erneut stürzen wollte. Da ich lieber darauf verzichtete, setzte ich mich in Bewegung – außerdem bestand auch die Möglichkeit, dass ich mich ohne Lichtquelle im Gang irgendwie verletzte und darauf konnte ich auch verzichten. Aber das ungute Gefühl in meinem Inneren wollte einfach nicht vergehen, auch nicht als wir diesen deprimierenden Ort endlich hinter uns ließen, um in eine Stadt zu kommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)