Drei weise Affen von inkheartop (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen) ================================================================================ Kapitel 1: EINS --------------- EINS Der Gang war voller Schüler, die in die Pause strömten. Trotzdem entdeckte Daphne sie. Ihre Gesichter waren wie Magnete und Daphne war das Eisen, das von ihnen angezogen wurde. Deshalb sah sie sie in der Menge. Ray ging etwas abseits, drückte sich an den anderen vorbei, er hatte die Tür schon fast erreicht. Vermutlich würde er gleich hinter das Schulgebäude verschwinden, rauchen. Dann wusste sie ja, wo sie ihn später finden würde. Der Gedanke schoss Daphne durch den Kopf, ungefragt. Bei Felix war das schwieriger, aber nur ein bisschen. Sie hatte drei Kurse mit Felix, zwei davon heute. Er war im Eingangsbereich stehen geblieben, Daphne hörte sein Lachen. Und es kam ihr falsch vor. Aber vielleicht interpretierte sie da auch zu viel hinein. Luka war bei ihm, natürlich, Luka und die ganzen anderen Schulbekanntheiten. Bekannt aus dem ein oder anderen positiven und negativen Grund. Daphne wusste davon. Man bekam viel mit, wenn man unsichtbar war. Als sie an der Treppe vorbeiging, die nach oben Richtung Sekretariat führte, huschte ihr Blick automatisch zur Heizung an der Wand. Noch so ein Magnet. Marlon war immer mit allen gut ausgekommen, eigentlich. Marlon war nett und witzig, ganz passabel in Mathe und ziemlich gut in Sport. Marlon war mit allen gut ausgekommen. Daphne sah noch immer, wie er auf der Treppe stand, auf genau dieser Treppe. Mutig, fand sie. Fand sie immer noch. Und so verdammt leichtsinnig, das sah selbst sie. An der Heizung stand Freya. Allein. Sie sah so verloren aus. Einsam. Daphne fragte sich, ob sie es schon vorher gewusst hatte. Und: Wie war das, wenn die bessere Hälfte fehlte? Am liebsten wäre Daphne zu ihr hingegangen, am liebsten hätte sie gefragt, hätte sie vielleicht sogar in den Arm genommen. Aber Daphne war Daphne. War unsichtbar. Und Unsichtbare handeln nicht, sie schauen zu. Schauen einfach zu. Oder schauen weg. Handeln. Das machten andere. Daphne wollte weg, wollte raus und vielleicht Vokabeln lernen, vielleicht las sie auch einfach nur noch ein wenig. Die Sonne schien und der Platz am hinteren Teil der Mauer würde warm sein. Eine Hand packte sie an der Schulter, gerade als sie den Hof halb überquert hatte. Als Felix’ Augen sie anblitzten, über sie hinwegblitzten, wurde ihr ganz anders. Die Hand lag schwer und kalt und heiß auf ihrem Arm, er zerrte sie davon, ohne weiter zu erklären. Und Daphne fragte nicht. Unsichtbarsein hieß auch: Keine Rechte. Keine Fragen. Jetzt waren sie außerhalb des Schulgeländes und das war verboten, aber Felix riss sie mit sich. Er war stärker als sie. Und er war mächtiger. Hinter dem Gebäude stand ein riesiger Baum, ein breiter Stamm und dahinter kamen sie zum Stehen und Daphne war sehr nah dran, einfach los zu schreien, als sie Ray sah. Er lehnte an dem Baum, hatte sich eine Zigarette angesteckt und blinzelte grade mal kurz. So unnahbar. Sie standen im Dreieck, Ray direkt am Baumstamm, Felix vor ihm mit dem Rücken zur Schule, Daphne nebendran. „Ihr wisst… warum ihr hier seid?“ Felix leckte sich über die Lippen, das war ein Tick von ihm; Nervosität. „Kann’s mir denken“, brummte Ray, paffte den Rauch aus dem Mund, Felix entgegen. „Ich hab dich gesehen. Freitagnacht.“ Gesehen. Freitag. Nacht. Daphne schluckte, schluckte ihre Angst hinunter, ihre Unsichtbarkeit. Ihren Schutzschild. „Was willst du?“, fragte sie, leise, er könnte sie überhört haben, er könnte… Felix hatte sie gehört. Ray auch. Sie starrten sie an, undurchdringlich und als wäre sie verrückt geworden. Sie sahen sie an. „Schweigen“, sagte Felix. Vielleicht fragte er sogar, vielleicht klang er unsicher. „Wir werden nichts davon erzählen.“ Ray hob eine Braue, die Zigarette wippte lose in seinem Mundwinkel, als er lächelte. „Ich misch mich da nicht ein. Garantiert nicht.“ Daphne sah von einem zu anderen. „Aber… ihr habt sie doch auch gesehen. Oder? Die Gesichter, ich meine…“ „Was?“ Felix baute sich vor ihr auf, er war so viel größer. „Was meinst du? Was meinst du, passiert, wenn du zur Polizei gehst? Die werden dich nicht in Ruhe lassen. Die werden mit dir machen, was sie mit der Schwuchtel gemacht haben.“ Schwuchtel. Daphne mochte das Wort nicht, aber sie hielt den Mund, wollte zu Boden sehen, aber Felix hielt ihren Blick fest, gefangen. Du bist nur das Eisen. „Dann wär das ja geklärt“, murmelte Ray, nahm noch einen Zug, spuckte den Rauch aus und zerdrückte den Glimmstängel im Gras. „Raushalten. Wie immer.“ Er ging, ohne noch etwas zu sagen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, schlurfende Schritte. Daphne hörte die Klingel zum Ende der Pause. Sie bewegte sich kein Stück, Felix stand noch immer da, seine Augen huschten vom Schulgebäude zu Daphne und dann zum Baum, zum Himmel… Er wirkte seltsam gehetzt. Das Ganze ging nicht so spurlos an ihm vorbei, wie er vorgab. „Kein Wort. Niemals. Okay?“, sagte er schließlich. Daphne nickte nur. Die nächsten Stunden kritzelte Ray in seine Schulbücher, malte Albert Einstein einen Zungenpiercing und dem Mädchen im Englischbuch einen Joint. Er sah so abwesend aus, dass selbst die Lehrer ihn nicht ansprachen. Dabei war er vollkommen da. Körperlich, geistig. Hörte zu, passte auf, aber… sein Kopf tat weh. Am Wochenende hatte er es wirklich übertrieben mit dem Alkohol, nicht nur einmal. Verdammt, er war müde. Kaum geschlafen. Die Nächte waren düster geworden, dunkel. Noch dunkler als sonst. Ray sah auf sein neuestes Kunstwerk hinab. Blut floss über die bedruckten Seiten, tropfte zwischen den Buchstaben hervor. Nur rote Farbe, aber er klappte das Buch trotzdem schnell zu. Das schlimmste war, dass er eigentlich wusste, dass er es falsch machte. Was er falsch machte. Ihm war so klar, dass er zur Polizei müsste, zu den Bullen rennen und diese Volltrottel anzeigen, die nicht mal so schlau gewesen waren, ihre Gesichter zu verstecken. Als sie… Einer saß nur zwei Reihen von ihm entfernt. Er war einer der besseren Schüler, großes Maul, aber scharfe Freundin. Franky. Wenn Ray nicht solche Kopfschmerzen hätte. Wenn Ray nicht so besoffen gewesen wäre, in der Nacht. Wenn. Dann wäre er vielleicht so schlau gewesen, einen anderen Weg zu nehmen. Oder wegzusehen. Es geht dich nichts an, schrieb er auf die Rückseite seinen Blocks. Wieder und wieder und wieder: Es geht dich nichts an. Sollten sie ihn doch in Ruhe lassen mit ihrem Scheiß. Mit ihrem Hass und mit ihrer verdammten postpubertären Wut auf Alles und Jeden. Na ja, nicht auf jeden Jeden. Nur auf Marlon. Weil er so gut in ihr Muster passte. Halt dich da raus, schrieb er. Und: Sie sind dir egal. Egal. Egal. Die Deutschlehrerin rief Franky auf – Frank hieß er eigentlich – und der sagte etwas, aber Ray hörte nicht hin. Hörte nicht zu, hörte weg. So sollte das sein, so sollte das immer sein. Taub sein, und blind. Jetzt steckten die Bilder in seinem Kopf. Zwei halten ihn fest, zwei schlagen drauf. So richtig, so fest. Warum musste er nur unbedingt diesen Weg gehen? Den er sonst auch immer nahm. Warum mussten diese nichts blickenden Affenhirne – sorry für die Tiere – ausgerechnet an diesem Tag ihre überschüssige Energie loswerden? Warum? Ray rieb sich über die Augen, übers Kinn – musste sich mal wieder rasieren. Wenn Felix nicht aufgetaucht wäre, wäre alles einfacher gewesen. Vielleicht, vermutlich. Wenn Felix die Klappe gehalten hätte, wäre alles einfacher gewesen. Ray hatte ihn gesehen, wie er sich an die Hausmauer gepresst hatte, in die Schatten, ähnlich wie er selbst. Das mit dem Mädchen – wie hieß sie noch gleich? – hatte er nicht gewusst. Sie hatte blass ausgehen vorhin. Kalkwandweiß. Wenn Felix nicht da gewesen wäre – wenn Felix und das Mädchen nicht da gewesen wären, wäre alles einfacher gewesen. Dann hätte er sich zumindest einreden können, dass nichts passiert war. Nichts. Nichts. Shit, Felix. Dieser Arsch. „Wir werden nichts davon erzählen.“ Schon klar. Er war ja nicht blöd. Und außerdem: Was ging es ihn an, zum Teufel. Ray war nie der Gruppentyp gewesen, der sich einsetzte für die Armen und Schwachen. Er war nicht Robin Hood, verdammt. War er nicht, wollte er nie sein. Aber. Marlon. Er hatte Marlon nicht gesehen, nicht richtig. Sagte er sich. Gehört hatte er ihn. Nur zu gut. Flüche. Schreie. Wimmern. Und dann. Nichts. Nichts. Mehr. Montagnachmittag. Nach dem Training. Sonnenschein, Frühlingswetter, ein bisschen kalt und windig, aber sonst. Ganz gut. Ganz gut alles. Felix schlurfte eher hinter Luka und Panne her, die zwei hatten schon ordentlich an Vorsprung gewonnen, aber er konnte sie immer noch reden hören. Über Maltes miese Verteidigung und Frankys grandiose Kondition. Nur ganz kurz blickte Felix auf bei dem Namen, nur ganz kurz und er sah, wie Luka mit den Armen in der Luft wedelte, wie Panne den Kopf in den Nacken warf und scheppernd lachte. Was war denn so lustig? Sein Knöchel tat weh, umgeknickt war er vorhin, so richtig wie ein Anfänger, wie ein Mädchen auf Absätzen. Er steckte die Hände tiefer in die Hosentaschen und ließ sich noch ein Stück zurückfallen. Bis, bis er die Stimmen seiner besten Freunde nicht mehr verstand. Über ihm der Himmel. Blau, grau an den Rändern und Wolken, dick und dicht und fliegendfederleicht. Mit der Fußspitze kickte er einen Stein vor sich her und ignorierte den Schmerz dabei, aber wieder kam der Gedanke. Der böse Gedanke, der in letzter Zeit immer öfter durch seinen Schädel geisterte. Den er versuchte zu verdrängen. Es klappte nicht, natürlich klappte es nicht. Felix war einfach nicht gut darin, Gedanken ungedacht zu lassen. Sein Hirn war ein einziges Pulverfass. Kam es ihm manchmal vor. Böse Gedanken. Hör auf. Damit. Mit dem Fußball. Hör auf. Böse. Ihm war kalt, die Jacke hatte Löcher, gerissen von den vielen Stürzen, wenn er und die anderen nichts Besseres zu tun hatten, als Streetsoccer zu spielen. Wo sie doch den Rasen hatten. Lieblingsjacke. Seit Ewigkeiten, an den Ärmel zu kurz inzwischen. „Felix?“ Luka sah ihn an, stirnrunzelnd, und Panne war irgendwie weg, verschwunden. Sie standen vor Lukas Haus. „Hm?“ „Ich hab gefragt, ob ich Mathe bei dir abschreiben kann?“ „Bin noch nicht fertig.“ Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie hier gelandet waren, Panne war sicher schon vor fünf Minuten abgebogen. Hatte Luka nichts gesagt? Warum? „Oh“, machte er, zog die Stirn in noch tiefere Falten und seine Nasenflügel blähten sich. Felix wusste, was jetzt kommen würde. Wusste es immer. Immer. Er kannte Luka schon länger als sich selbst, dachte er manchmal. „Ich komm noch mit rein“, sagte er. Grinste. Verhalten, aber breit genug. Und Lukas Gesicht entspannte sich vor Erleichterung. Weil er viel konnte. Sport und Sprachen, da war er gut drin, Chemie und Bio, da kam er klar. Nur wenn’s um Mathe ging. „Hab ich dir schon mal gesagt, dass du mein Held bist?“, sagte Luka. Verzog die Lippen und zeigte Zähne. Held. Autsch. „Viel zu selten“, meinte Felix, dann drängte er sich an ihm vorbei zur Haustür. „Los, jetzt mach schon.“ Sie machten Mathe – Felix machte Mathe, erklärte es Luka. Versuchte es zumindest. Scheiterte. Und Luka schrieb ab. So lief das. Freunde. Kumpels. Ewig schon. „Whoa“, stöhnte Luka dann. „Wozu brauch ich den Scheiß eigentlich?“ Er stöhnte und Felix lächelte und hätte fast angefangen, all das aufzuzählen, wo man Mathe brauchte, aber. Er ließ es dann und Luka wäre dankbar, wenn er es gewusst hätte. Wenn. Luka wusste so viel nicht. Er redete wieder von Fußball und von Jelly. Jelly. Jelly hier. Jelly da. Jelly. Felix hätte fast gelächelt. Vermutlich hätte Luka es sowieso nicht bemerkt, er war ja so verknallt. Lange schon, nach der Abfuhr vor sechs Monaten noch mehr. „Ey, ich schwör dir, wenn Franky die Frau auch nur schief anguckt. Ich mach ihn fertig!“ Und er klang, als meinte er es wirklich ernst. „Gegen den hättest du keine Chance“, sagte Felix. Und meinte es wirklich ernst. Trotzdem war es aus ihm einfach rausgerutscht. Hätte gedacht bleiben sollen. Nur ein dummerdummer Gedanke. „Hä?“ Luka sah ihn an. „Wieso?“ Wieso? Weil er dich totschlägt. Weil er mit drei anderen kommt und dich totschlägt. Verdammt. Dümmster, bösester Gedanke. Hello, again. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)