Sing to me von Sahm ================================================================================ Kapitel 3: Tag 4 ---------------- Tag 4 „Ich hab mich blendend mit ihm unterhalten. Ich hab ihm jedes schmutzige Detail von GZSZ erzählt und beide waren begeistert, Miguel und Juan. Jetzt kam es mir endlich mal zugute, dass meine Mutter jeden Tag GZSZ schaut. Vor allem den Strumpfhosenmörder fanden sie klasse, auch wenn ich nicht wusste, was das auf Englisch heißt.“ Er lachte. Laut. Tom ebenfalls. „Dann hast du es ihm verziehen? Also, die Sache mit Nuria?“ Sam zuckte zusammen. „Danke, dass du mich an die Scheiße erinnerst. Ich hab’s ihm verziehen, aber ich find es immer noch dumm ohne Ende.“ Tom klopfte ihm auf die Schulter. „Mach dir nichts draus. Es gibt bessere Typen. Witzigere. Liebere. Klügere. Schwulere.“ Sam nickte. „Ja. Ich bin drüber hinweg.“ Er log ihn an, aber das konnte Tom unmöglich wissen. Natürlich hatte Sam heute Nacht von Juan geträumt und nur der Anstand hatte ihn davor bewahrt, sich vorzustellen, wie Juan eigentlich nackt aussah. Hätte er gern getan. Und er würde ihn gern so sehen. „Du lügst“, stellte Tom gelassen fest. „Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du das tust. Hast du dir etwa vorgestellt, wie er nackt aussieht? Samantha, so was tut man nicht!“ Ertappt duckte sich Sam unter Toms Blicken hinweg. „Gar nicht wahr“, maulte er. „Ich hab von GZSZ geträumt und davon, dass ich ein Hauptdarsteller bin.“ „Das wär ich auch gerne“, mischte sich Simone aus ihrer Klasse ein. „Ich träum immer noch davon, Lenny wieder hetero zu machen, damit ich ihn vernaschen kann. Das ist ja durchaus möglich.“ „Nein, ist es nicht“, gab Sam pikiert zurück, „außer er war schon vorher bi.“ „Du musst es ja wissen“, gab Simones Freundin Lena zurück, die sich gerade ebenfalls vorgebeugt hatte, um mitzureden. „Findest du Juan auch heiß?“ „Was?“, stammelte Sam, „ich... ich versteh dich nicht so ganz.“ „Na ja, ich will einfach mal wissen, ob du ihn auch so hübsch findest wie wir alle. Du bist ja schwul und denkst von daher vielleicht ein wenig so wie wir.“ Sie lachte fröhlich, doch es war kein gemeines Lachen. Sam mochte Lena. „Ich denke nicht so wie ihr“, widersprach er ihr. „Es... ich muss aber gestehen, dass er gut aussieht. Sehr.“ Simone verdrehte ganz offensichtlich die Augen. „Er ist aber auch eindeutig sehr hetero. Er hat mit Nuria gevögelt und macht jetzt angeblich mit Carmen – also Isabelles Austauschpartnerin – rum.“ Sam nickte. „Ja. Aber trotzdem ist er echt gutaussehend. Und er war gestern bis elf Uhr nachts bei mir.“ Diesen neidischen Blick würde Sam niemals vergessen. Er kicherte und Lena verpasste ihm einen Nasenstüber. Während des Spanischunterrichts, in dem der Lehrer einen endlosen Monolog hielt – wie es im spanischen Unterricht leider so üblich war – , verfasste Sam einen leidenschaftlichen Liebesbrief an Juan, den er anschließend weit unten in seiner Tasche versenkte. Geliebter Juan, du + ich = die perfekte Beziehung. Willst du mit mir gehen? Das wäre bestimmt nicht gerade schlecht. Dein ebenfalls geliebter Sam Er war glücklich. Kurzzeitig. Bis ihm wieder einfiel, dass er den Brief ja nie an Juan übergeben konnte, weil der hetero war. „Verdammt“, fluchte er leise und Tom lachte, denn er hatte den Brief gesehen. „Was willst du damit bezwecken?“, fragte er ihn spöttisch. „Er wird es nicht so geil finden wie du.“ „Tief in seinem Inneren hat er Gefühle für mich“, wiedersprach Sam und vergaß dabei ganz zu flüstern. „Er wird es schon noch rausfinden.“ „Schön für ihn“, rief Kai von hinten vor, „leider interessiert uns nicht gerade sehr, was in deinem kranken Kopf für Fantasien vorherrschen.“ „Wer ist denn der Glückliche?“, fragte jemand anders wiehernd vor Lachen nach. „Hoffentlich hat er keine Ahnung von den Gefühlen, die er für dich hat. Er kann einem ja jetzt schon leid tun.“ Sam lief rot an und drehte sich zu seinen Klassenkameraden um. Bevor er etwas erwidern konnte, spürte er einen Tritt von Tom und drehte sich empört wieder zurück zu ihm hin. „Was soll das denn?“, fauchte er und schaute ihn sehr entrüstet an. „Ich wollte denen gerade meine Meinung sagen. Und die ist seeehr schmerzhaft. Ich würde ihnen allen die volle Wahrheit ins Gesicht schleudern, sodass sie hinterher heulend nach Hause laufen würden. Ich würde...“ „Ihnen sagen, dass da sowieso nichts läuft und dein einziger Anhaltspunkt ein dämlicher Liebesbrief ist, den ein Erstklässler besser hätte schreiben können?“, unterbrach ihn Tom – gnädigerweise so leise, dass nur Sam es hören konnte. Das reichte auch schon. Er wurde röter als rot, so sehr, dass es sogar für Sam seltsam war. Und das musste etwas heißen. „Hey, das stimmt doch gar nicht. In der ersten Klasse hab ich noch nicht solche gefühlsbetonten Briefe geschrieben! Ich mein, klar ist er kurz und so, aber ich finde ihn sehr gut, okay?“ Tom nickte. „Armer Irrer“, murmelte er dann, bevor der Spanischlehrer sie alle auf einmal dafür bestrafte, dass sie zu laut waren. „¿Vamos a la cocina ahora?“ Sam starrte Miguel ausdruckslos an, der ihn anstrahlte. „Was will er?“ Er beugte sich zu Tom hinüber, der verwirrt aussah. „Er will, dass ihr jetzt zusammen in die Küche geht. Was sollt ihr da?“ Er richtete die Frage an Miguel, der ihm offenbar erklärte, dass sie heute Küchendienst hätten, weil das leider bei Schülern so üblich war, nicht genug Geld für die halbstaatlichen Schulen hatten. Zumindest sei es vor einigen Jahren an ihrer Schule so eingeführt worden. Und Miguel hatte gleich gesagt, dass sein Austauschpartner auch mitmachen würde beim Spülen. „Dafür ist das Essen umsonst“, presste Tom unter lautem Lachen hervor, ehe ihn Sams Turnschuh am Kopf traf. „Du Arsch! Frag ihn, wer da noch ist.“ Doch Tom presste nur beleidigt die Lippen aufeinander und lief davon. „Umm... who’s there except you and me?“ Miguel zuckte nur die Schultern. „No entiendo.“ Dann zog er Sam mit sich, der protestierte. „Aber ich mag das nicht. Ich kann doch nicht mal eine Tasse spülen, ohne dass sie mir auf den Boden fällt. Ich kann gar nichts, okay? Es wäre besser, wenn du mich lassen würdest. Echt. Ich bin dumm und so.“ Leider half nichts. Miguel zerrte ihn unbarmherzig vor sich hin und plapperte währenddessen noch irgendetwas Zusammenhangloses. Sam überlegte gerade, was Fick dich doch einfach! auf Spanisch hieß, doch es wollte ihm nichts einfallen. Nicht mal Ausdrücke kann ich, dachte er wütend und starrte auf den Boden, während Miguel und er sich bewegten. So sah er nicht, wer oder was sich vor ihm bewegte, bis Miguel auf einmal „¡¡¡SAM!!!“ schrie, Sam seinen Kopf hob und direkt in jemanden hineinkrachte, der so ein Tempo draufhatte, dass er selbst einen ICE noch hätte einholen können. „Au, verdammte Scheiße, kannst du nicht aufpassen?“, fauchte Sam auf Deutsch und versuchte, aufzustehen. Leider lag jemand direkt auf ihm drauf und der war nicht gerade leicht. „Es tut mir so leid, es tut mir leid, tut mir echt leid, sorry, sorry, sorry“, unterbrach ihn eine Stimme auf Englisch und Sam schlug den Kopf auf den Boden. Dreimal. Dann war er gefasst genug, um Juan böse anzuschauen. „Stehst du jetzt bitte mal auf? Es tut weh.“ Juan rappelte sich auf und Sam stöhnte. Vielleicht konnte er sich ja so vor dem Abwaschen drücken. Seine Hand tat nämlich ganz schön weh. Juan war direkt draufgefallen. „Es tut mir wirklich leid!“, sagte Juan noch einmal und lächelte schon wieder leicht, während Miguel nervös von einem Bein aufs andere trat und ihm irgendetwas auf Spanisch mitteilte. Juan antwortete und dann verschwand Miguel mit einem letzten entschuldigenden Blick auf Sam. „Miguel muss dringend in die Küche. Ihr hättet schon vor zehn Minuten da sein sollen. Jetzt kriegt er Ärger. Es tut ihm leid, sagt er. Und mir auch“, setzte er noch hinzu. Sam setzte sich auf und stützte sich mit den Händen ab. Dabei schoss ihm ein bestialischer Schmerz ins Handgelenk und er schrie auf. „Verdammte Scheiße“, fluchte er. „Warum hattest du es überhaupt so eilig?“ Interessanterweise wurde Juan so rot wie Sam vorhin im Unterricht, als Tom seinen bösen Kommentar losgelassen hatte. „Och... ich... hatte was Dringendes zu erledigen.“ Sam verzog das Gesicht, als er sein Handgelenk betrachtete. Sah so aus, als hätte Juan es verstaucht. „Und was, wenn ich das so fragen darf?“ „Ähm, was Wichtiges. Was ist mit deiner Hand?“, fragte Juan schnell. „Lenkst du gerade ab?“, erwiderte Sam fasziniert und tat cool, obwohl seine Hand inzwischen schmerzhaft pochte. Juan seufzte. „Ja, ich lenk ab. Ich flüchte, weißt du. Vor Carmen, weil die mit mir schlafen will. Vor Nuria, weil die noch mal mit mir schlafen will. Vor den tausend deutschen Mädchen, die mich heiß finden. Vor anderen Mädchen aus dieser Schule. Ich halt das langsam nicht mehr aus.“ Er schnitt eine Grimasse und setzte sich neben Sam, der immer noch auf dem Boden saß und seine Hand betrachtete. „Versteh ich nicht“, sagte Sam leise. „Du wirkst immer so, als würdest du diese Aufmerksamkeit gut finden. Warum haust du dann ab?“ Juan blickte auf und schaute ihn aus unergründlichen dunklen Augen an. Er sagte längere Zeit lang nichts mehr – und in dieser Zeit schwoll Sams Handgelenk langsam an. Dann irgendwann seufzte er. „Ich... ich glaube, ich...“ Er brach ab und sah auf Sams Handgelenk. „Sag mal, sollen wir vielleicht zur Krankenschwester? Das sieht nicht so toll aus.“ Sam schüttelte den Kopf. „Ach was. In zwei Minuten ist das wieder weg. Ich muss Miguel helfen.“ Juan zog die Augenbrauen und danach Sam hoch. „Komm schon. Miguel wird es schon überleben.“ Sam überlegte. Miguel oder Juan? Da musste er nicht lange nachdenken. „Was wolltest du vorhin übrigens sagen?“, fragte er, nachdem er Juan zugestimmt hatte. Der lächelte nur. „Ein anderes Mal, ja?“ Wie sich herausstellte, war Sams Handgelenk nicht verstaucht. Es war nicht einmal angeknackst. Es war zweimal gebrochen. Juan war so ungünstig auf ihn gefallen, dass er es zweimal gebrochen hatte! „¡¡¡LO SIENTO MUCHÍSIMO!!! Ehrlich.“ Juan schaute ihn verzweifelt an und Sam zuckte nur die Schultern. „Kann doch mal passieren, Kumpel. Cool down. Ich überleb es. Ich hab mir schon oft was gebrochen.“ Na ja... das war gelogen. Aber es ging Juan auch nicht unbedingt viel an, dass er schon einmal eine Steißbein-Hodenprellung gehabt hatte. „Ja?“, fragte Juan ungläubig nach. „Du wirkst nämlich nicht so... ich mein, es kann ja jedem passieren, dass er ohnmächtig zusammenbricht, wenn der Arzt seine Hand untersucht, aber dass du danach noch mit den Füßen um dich geschlagen hast, fand ich schon etwas seltsamer. Und am besten wurde es, als du den Arzt als dreckiges Arschloch beschimpft hat, der nicht einmal eine schmerzstillende Spritze richtig in die Venen einführen könne.“ Sam hatte gehofft, dass Juan sich nicht mehr daran erinnern würde. Schade. „Na ja... ich war eben noch nie am Handgelenk verletzt.“ Juan grinste. „Kann passieren. Hättest eben hochschauen müssen.“ „Hättest eben nicht so rennen dürfen“, ätzte Sam zurück. Sie saßen im Krankenhaus und wollten nicht zurück in die Schule gehen. Ein Lehrer, der sie begleitet hatte, tigerte ungeduldig auf dem Gang auf und ab. Sie hatten ihm erzählt, dass Sam so schreckliche Schmerzen hatte, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Aus irgendeinem Grund hatte Señor García, den sie, wie alle Lehrer in Spanien, einfach nur Sergio nennen durften, es ihnen geglaubt. Aber laut Juan war er auch nicht der Hellste, wie er ihm verschwörerisch mitgeteilt hatte, als García alias Sergio gerade nicht zugehört hatte. Sam fand es trotz der Schmerzen nicht gerade schlimm, im Krankenhaus zu sein. Solange Juan hier war, der Englisch konnte, und er nicht wieder im beknackten Unterricht sitzen musste, war alles gut. „Was hast du jetzt eigentlich gegen die Aufmerksamkeit, die du von allen bekommst?“, versuchte es Sam erneut. Ja, verdammt, er war extrem neugierig. Und? Juan winkte ab. „Ist nicht so wichtig. Ich mein, ist es schon, aber ich mag nicht darüber reden. Ist nicht so geil. ¿De acuerdo?“ Sam zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, was du meinst.“ Wirklich nicht. Juan könnte genauso gut Taiwanesisch mit ihm reden – er hätte immer noch null Durchblick. „Ob es in Ordnung geht, dass ich nicht darüber reden will“, sagte Juan gelassen und grinste leicht. Sam nickte. „Ja, passt schon. Äh... kannst du bitte den Arzt fragen, ob er mir jetzt gefälligst gute Schmerzmittel geben kann? Die bringen nichts, fürchte ich. Und ich selbst kann ihm das ja nicht sagen.“ „Versuch es doch einfach“, schlug Juan vor und Sam verdrehte die Augen. Dann beschloss er, Juan einfach zu zeigen, wie gut er Spanisch wirklich konnte, stand auf – für den Lehrer stöhnte er noch einmal ganz laut auf, um zu zeigen, wie furchtbar es für ihn war – und ging auf einen Arzt zu. Sam zupfte ihn am Ärmel. „¿Sí?“ „Tengo una planta de energía solar.“ Warum Juan anfing, laut loszuprusten, wusste Sam nicht. Was war so falsch daran, ein Solarkraftwerk zu haben? „Oh, Saaaahm, was ist nur mit dir passiert?“ Von allen Seiten stürmten Leute auf ihn ein, die seine Hand begutachten wollten. Sam genoss es, endlich einmal beliebt zu sein. Das war er schon seit einer Weile nicht mehr gewesen. Vielleicht bekam er jetzt Fans. So richtige Groupiefans, die Schilder hochhielten, auf denen „SAM, ICH WILL EIN KIND VON DIR!!“ stand. Okay, er war schwul, aber das brauchten seine Fans ja nicht zu wissen. Er würde ein großer Weltstar werden, von allen geliebt. Und das nur, weil jetzt alle endlich bei ihm waren. Na gut, wahrscheinlich stürmten sie nur her, weil Juan neben ihm stand. Sam stöhnte herzzerreißend. „Juan hat mir meine Hand gebrochen. Zweimal gleich. Natürlich war es keine Absicht, aber weh tut es trotzdem.“ Er verdrückte ein paar Tränchen und freute sich, dass ihn alle mitleidig ansahen. Juan, der bis jetzt still dagestanden hatte, grinste und sagte dann: „Er war so brav, dass er sogar einen Lolly bekommen hat. Ein richtiger hombre.“ Sam warf ihm einen unterkühlten Blick zu und bevor er etwas erwidern konnte, drängelte sich leider Tom vor, der ihn angrinste. Es dauerte genau eine Minute, dann wurde Sam an den Rand gedrängt und alle Welt stürzte sich auf Juan, der missmutig hinter Sam herstarrte. „Neue Taktik, oder wie?“, fragte Tom seinen Freund verwirrt und besah sich dessen Hand genauer. „Sieht scheiße aus.“ „Was für eine Taktik?“, wollte Sam ebenfalls verdutzt wissen und winkte Miguel zu, der etwas weiter weg stand und riesige Augen machte, als er Sam erblickte. „Na, du lässt Juan dein Handgelenk brechen und dafür kommt er mit ins Krankenhaus. Ihr verbringt mehr Zeit miteinander und du kannst ihn schwul machen.“ Hmm... hörte sich nicht schlecht an. Vielleicht konnte er es ja sogar als seine Idee verkaufen. „Na ja... nicht direkt. Es war nicht so ganz beabsichtigt, aber ich hab mich echt gefreut, dass er mitgekommen ist. Wir haben uns total gut unterhalten und so. Er hat mir sogar gesteckt, dass ihn Carmen und so total nerven.“ „Ehrlich? Das hört sich komisch an. Ich dachte, der hat nichts gegen seine Verehrerinnen.“ Tom klang ehrlich überrascht. „Ich auch. Aber er klang total gelangweilt von denen. Ich weiß auch nicht...“ „Was genau hat er gesagt?“ Sam berichtete es ihm genau so, wie er sich erinnern konnte. Danach schaute sein Freund ihn seltsam an. „Was?“ Sam kratzte sich am Kopf und beobachtete Miguel, der sich gerade darüber aufklären ließ, warum Sam einen Gips trug. Tom seufzte. „Na ja... du sagst, Juan sagt, er sei genervt von den Mädchen?“ Sam nickte. „Ja. Hab ich dir doch jetzt schon zweimal gesagt. Was ist damit?“ „Erinnerst du dich noch daran, wie das war, bevor du dich geoutet hast?“ Komisch. Er hatte damals doch tatsächlich... er wagte kaum, dies zu denken... mit... Mädchen geknutscht!! Beim Gedanken daran wurde ihm kotzübel und er nickte angewidert. „Sie sind dir nachgerannt und wollten immer unbedingt mit dir Flaschendrehen spielen. Es hat dich immer mehr genervt als angemacht. Irgendwann hast du dann gemerkt, dass du schwul bist.“ „Ja. Das war eine seltsame Zeit. Kannst du es dir vorstellen, mit Mädchen rumzumachen? Man muss doch echt widerlich sein.“ Sams Blick schweifte auf dem Hof umher und so bemerkte er Toms wütenden Ausruf kaum. „Hey! Zufällig bin ich hetero.“ Sein Freund reagierte gar nicht erst. „Was willst du damit sagen?“ „Dass ich... Mädchen liebe?“, sagte Tom tonlos. „Nein. Warum willst du das alles von mir wissen?“ „Nur so. Ist egal.“ Tom schüttelte den Kopf. „Ist wirklich egal. Hey, Miguel, ¡venga!“ Miguel, der gerade mit einer Klassenkameradin diskutierte und dabei hektisch auf sein María-T-Shirt deutete, schaute auf und fragte sich, wer ihn da rief. Als er Tom sah, winkte er und setzte sich in Bewegung. Seine Klassenkameradin sah nicht gerade traurig darüber aus. „¿Qué?“ Sam musste dringend herausfinden, was genau eigentlich qué hieß. Immerhin könnte Miguel ihn jedes Mal beleidigen, wenn er es sagte. Tom begann damit, schnell auf ihn einzureden und Sam sah, wie Miguels Augen auf seinem neuen Gips verweilten. „Er sagt, dass es ihm leid tut und er hofft, dass du keine Schmerzen hast.“ Seine Hand pochte gerade sehr schmerzhaft. „Sag ihm, ich verrecke gleich und ich hoffe, es hat ihm nichts ausgemacht, alleine zu spülen.“ „Ich hab ihm gesagt, es geht dir blendend und dass du ihn auslachst, weil er abwaschen musste.“ Tom grinste und Sam sah, wie Miguels Gesicht sich verzog. Begann er gleich zu heulen? „I am sorry, I am sorry, really, Tom’s just talking bullshit. Yeah, I am sorry!“ Tom sagte irgendetwas und eine Sekunde später kringelten sich er und Miguel beinahe auf dem Boden vor lauter Lachen. „Waswaswaswaswas?“ Sam war fassungslos und beobachtete, wie die beiden lachten. Dann sagte Tom noch einmal etwas, was Miguel eine Sekunde lang erstarren ließ. Dann lachten sie umso lauter. Sam hatte nur ein Wort verstanden: maricón, also schwul, was vermutlich in allen Sprachen dasselbe bedeutete. Hatte Tom ihn gerade geoutet? „Was ist denn mit den beiden? Están locos.“ Jemand war neben ihn getreten und instinktiv wusste Sam, dass es Juan war. Er zuckte zusammen und dann die Schultern. „Ich weiß es nicht. Sie sind auf einmal durchgedreht. Hast du dich von deinen Verehrerinnen losreißen können?“ Der dunkelhaarige Spanier, der übrigens auch noch äußerst heiß war, nickte. „Ja. Ich hab gesagt, ich mach mal Krankenpflege. Bin eben sozial. Also, warum sind die so verrückt?“ Sam wusste es nicht. Zum Glück hatten sich die beiden schnell wieder gefangen und Miguel wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Tut uns leid. Wir mussten gerade nur so lachen. Miguel ist echt witzig.“ Tom war einen gespielt geschmachteten Blick zu ihm hinüber. „Und worüber lacht ihr?“, fragte Juan. Sams Freund zuckte nur die Schultern. „Ist egal. Über Sam und... jemanden. Nicht so wichtig und so. Juan, machst du dir keine Vorwürfe, dass du Sam misshandelt hast? Er könnte dich anzeigen.“ Juan drehte sich zu Sam um. „Tust du es?“ Er dachte kurz nach. Würde er ihn verklagen, würde Juan ihn zwar nicht mehr mögen, aber immerhin könnte er ihn dann noch länger sehen, denn es würde ja nicht innerhalb der nächsten sechs Tage geschehen. Dann könnten sie noch länger zusammen sein. Aber dann würde Juan ihn eben nicht mehr mögen, wie schön erwähnt. Also, was sollte er tun? Er wollte Juan doch möglichst lange um sich haben. Deshalb: „Ja.“ Warum alle lachten, verstand er mal wieder nicht. Es war doch sein Ernst gewesen. „Was habt ihr über mich geredet?“, fragte Sam auf Deutsch und Tom zuckte die Schultern. „Nichts. Das verstehst du ohnehin nicht.“ „Du hast irgendwas von schwul geredet. Ich weiß es, ich hab das Wort rausgehört. Was war da?“ Tom grinste nur. „Nichts war da. Du glaubst auch, die ganze Welt dreht sich nur um deine Homosexualität, oder wie?“ Juan und Miguel verfolgten ihr Gespräch neugierig, doch so wie es aussah, konnte keiner von ihnen auch nur irgendetwas verstehen. Wie denn auch? Sie hatten kein Deutsch. Konnte man an dieser Schule überhaupt Deutsch wählen? „Hey, sag es mir jetzt! Ich hab doch ein Recht zu erfahren, was über mich gesagt wird.“ Zumindest, wenn es darum ging, dass er schwul war. Tom schüttelte den Kopf und grinste noch so lange, bis Sam ihn in den Arm zwickte. Und eine kleine Anmerkung hierbei: Sams Zwicker waren berüchtigt, denn er drückte so lange zu, bis es blutete, der andere eine Narbe hatte oder einfach losheulte. In Toms Fall war es meistens letzteres, denn dort wurde Sam richtig brutal. Immer. „Das hast du aber auch verdient“, sagte Sam mit schleppender Stimme und reichte Tom ein Taschentuch. Der schniefte nur. „Du Arschloch. Das tat weh. Warum hast du das getan?“ Auch Miguel und Juan schauten ihn verständnislos an. Juans Blick tat weh. Er bohrte sich in ihn hinein. „Weil du mir nicht gesagt hast, was du zu ihm gesagt hast. Das ist nicht fair, ich will wissen, um was es ging. Und wenn du dann meinst, mich anlügen zu müssen, werde ich eben sauer. Das ist doch logisch. Also bist du selbst schuld, oder nicht?“ Toms Augen wurden schmal und verrieten, dass er asiatische Vorfahren hatte, was man sonst nie sah. „Das liegt daran, dass ich es dir nicht sagen wollte, weil du selbst draufkommen könntest, du Vollidiot. Dir muss man auch immer alles dreimal sagen, bis du was kapierst. Aber hierbei helf ich dir nicht mehr.“ „Wobei?“, fragte Sam verblüfft und ignorierte Toms warnenden Unterton einfach. Tom jedoch seufzte nur, drehte sich zu Miguel um, sagte etwas auf Spanisch und stolzierte davon. „Find’s doch selbst raus“, waren die letzten Worte in Sams Richtung. Leider war sein Abgang nicht halb so cool, wie er es haben wollte, denn er stolperte über seine eigenen Füße, fiel hin und fluchte so sehr, dass ein deutscher Lehrer in der Nähe ihm eine Strafarbeit gab. „Was hat er gesagt?“, fragte Juan, der verwirrt betrachtete, wie Tom davonstapfte. Sam zuckte nur die Schultern. „Egal“, sagte er tonlos. „Miguel, kann ich nach Hause?“ Miguel nickte und konzentrierte sich weiter auf seine Serie. „Kann ich dazu ein Flugticket holen?“ Er nickte wieder. „Kann ich tausend Euro von dir haben?“ Miguel schaltete den Ton hoch. Sam seufzte. Er wusste, dass er nicht wegkonnte. Trotzdem wünschte er sich nichts sehnlicher, als die Spice Girls für einen Moment ausschalten zu können, damit Miguel ihm erklären konnte, was er und Tom geredet hatten. Wobei... warum eigentlich nicht? Beherzt stand er auf und griff sich die Universalfernbedienung; machte mit einem Schlag sowohl die Anlage als auch den Fernseher aus. Empört sprang Miguel auf und überschwemmte ihn mit einer Flut spanischer Schimpfwörter. Sam achtete nicht darauf – er verstand ja sowieso nichts und war sich nicht einmal sicher, ob es wirklich Ausdrückte waren – und zerrte ihn mit sich direkt in sein Zimmer hinein. Dort warf er (ja, warf) ihn aufs Bett und schaltete den PC an. Miguel wollte aufstehen, um zu María und Co zu gelangen, doch Sam drückte ihn zurück. „Wait a minute“, sagte er flehentlich und sah ihn dabei wahrscheinlich so beherzt an, dass Miguel es verstand. Er blieb sitzen. Sam öffnete Leo und winkte Miguel zu sich. Der rutschte zu ihm rüber und sah sich an, was Sam ihm sagen wollte. „¡Vamos, dime la verdad!“, wiederholte Sam, was vor ihm stand und schaute Miguel neugierig an. Ob er ihm nun wirklich die Wahrheit sagen würde, war fraglich. Miguel zog die Augenbrauen zusammen. „¿La verdad? Pero... de acuerdo.“ Dann senkte er die Stimme, bis er beinahe flüsterte. „Como María engañó a Pedro, Pedro estuve furioso y abandonadó a María. Es porque María ha liquidado a Pedro.“ Was? Sam verstand die Welt nicht mehr. Wieso redete er denn jetzt von María und Pedro? Er hatte doch nur wissen wollen, was zur Hölle mit Tom gewesen war. „Miguel, öh...“ Was hieß denn auf Spanisch, dass er etwas nicht verstand? Er gab es auf leo.org ein und ihm entfuhr ein überraschter Schrei, der sogar Miguel zum Verstummen ging. Endlich. Es machte alles einen Sinn. Er verstand auf einmal wirklich alles und er freute sich deshalb wie ein Schnitzel. Er wusste nämlich endlich, was los war. No entiendo hieß, dass jemand ihn nicht verstand! „Miguel“, sprach er die magischen Worte, „no entiendo.“ Verdutzt hielt der inne. „¿Qué? Als er Leo befragte, sagte es ihm, dass Miguel nur nach dem was fragte. Was war das Internet doch für eine herrliche Erfindung! Dieses Wort half ihm schon mal weiter und Stück für Stück fragte er Miguel nun, was er eigentlich mit Tom geredet hatte. Stolz beendete er dies und schaute Miguel an, der schweigend zurückschaute. Dann sagte er „Nada“ und ging hinaus, um eine weitere Soap anzuschauen. Auch ohne einen Übersetzer wusste Sam, was Miguel gerade behauptet hatte. Schnaubend vor Wut stand er auf und lief hinter Miguel her, der in Zeitlupe gerade den Fernseher wieder anstellte. „Was fällt dir eigentlich ein?“, schrie er ihn an und stelle sich vor den Fernseher. „Seit vier Tagen sitze ich hier rum, verstehe kein Wort, langweile mich ohne Ende und das einzig Gute, das ich hier habe, ist Juan. Und dann kommt Tom und lästert mit dir über mich, ohne dass ich auch nur ein Wort verstehe und ich komme mir vor wie ein Trottel, der nicht auf drei zählen kann! Ich hab es so satt, hier zu sein und würde mich am liebsten jede Sekunde lang übergeben. Also verrat mir, verdammt noch mal, endlich, was hier eigentlich LOS IST! ICH HAB ES ECHT SATT!!!“ Seine letzten Worte waren so laut, dass sogar Miguels Mamá aus der Küche gerannt kam, um nachzuschauen, was war. „Und noch was: Wenn ich noch einmal Paella bekomme, kotze ich euch auf den Fernseher!“ Miguel stand in der Zimmertür und wenn sich Sam nicht täuschte, hatte er ein Wörterbuch in der Hand. „Es tut mir leid“, sagte er auf Englisch. Oh. Du. Meine. Güte. Er sprach doch tatsächlich Englisch!!! Hatte er sogar verstanden, warum Sam vorhin ausgetickt war? Er saß schmollend auf seinem Bett und war froh, dass Miguel erst jetzt auftauchte. Vorhin hatte er nämlich geheult. Vielleicht hatte Miguel ja noch María anschmachten wollen. „Ich wollte nicht wehtun dir. Es war Schuld von Tom.“ Englisch konnte er wirklich nicht gut. „Ach ja? Ich hatte eher den Eindruck, es war auch deine Schuld“, gab Sam leise zurück. Miguel zog hektisch sein Wörterbuch heraus und suchte die Wörter zusammen. Sam diktierte ihm, was er gesagt hatte, und so bekam Miguel schließlich doch noch alles zusammen. Er schüttelte den Kopf und begann wieder, herumzusuchen. Währenddessen öffnete Sam für Miguel noch ein Übersetzungsprogramm, damit das Ganze etwas schneller ging. „Es war nicht meine Schuld. Tom hat gesagt, ich soll nichts sagen. Es geht dich auch nicht so viel an, dass Juan schwul ist, oder?“ „ER IST WAS???“ Miguel schaute schuldbewusst. „Tut mir leid, ich sollte dir ja nicht sagen.“ „Er ist schwuuuullll?“ Sam wollte es nicht glauben. Miguel nickte. „Ja, nur keiner weiß.“ Sam wollte es nicht glauben. Er packte Miguel und rüttelte ihn durch. „Bist du dir hunderprozentig sicher?? Bist du dir sicher??“ Miguel röchelte. „No recibo aire, Sam.“ „Bist du dir sicher??“ „¡Sí, sí, sí!“ „Definitiv?“ „¡Sí, sí, sí!“ Sam ließ Miguel los. Auf einmal fühlte er sich so frei, so leicht, so... ohnmachtsanfällig. Ehe er wusste, wie ihm geschah, fiel er in eine tiefe, dunkle Schlucht und freute sich des Lebens. Und endlich tat auch seine Hand nicht mehr weh. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)