Sing to me von Sahm ================================================================================ Kapitel 1: Tag 1 & Tag 2 ------------------------ Tag 1 „Der Typ, der mich dazu überredet hat, diesen Scheißaustausch mitzumachen, sollte erschossen werden!“ Schwach ließ sich Samuel in seinen Sitz zurückfallen und schob die Kotztüte weg. Sein Freund Tom, auch bekannt als der Typ, der Sam dazu überredet hatte, bei diesem Scheißaustausch mitzumachen, zuckte zusammen und schaute ihn mitleidig an. „Sorry, Alter“, bemerkte er dann, „ich wollte halt nicht unbedingt allein her.“ Sam nickte und zog eine neue Tablette hervor. „Diese Flugangstteile bringen irgendwie nichts, findest du nicht auch? Ich bin nur noch am Kotzen.“ Ehe Tom antworten konnte, unterbrach ihn – Gott sei Dank – der Pilot. „Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten setzen wir zur Landung in Sevilla an. Bitte schnallen Sie sich an. Wir bedanken uns für Ihr Vertrauen in die Lufthansa und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Spanien. Ladies and Gentlemen, in a few minutes...“ „Endlich!“, seufzte Sam auf und zog seinen Gurt um sich. „Ich dachte schon, dass das nie kommen würde. Hoffentlich kotz ich denen dann nicht auch noch vor die Füße.“ Tom nickte bekräftigend, auch dann noch, als das Flugzeug mit dem Landemanöver begann und Sam die nächste Papiertüte für sich beanspruchte. „¡Hola! ¿Eres Sam?“ Klar. Weit und breit war kein einziger Austauschtyp mehr zu sehen. Nur dieser Freak... der wohl seiner war... war noch hier und strahlte ihn gerade an. „Öh... sí“, antwortete er. Mehr konnte er eigentlich nicht auf Spanisch, außer „tengo una planta de energía solar“, was nicht einmal stimmte und was er dem Jungen auch gleich einmal mitteilte. Warum nur war er mitgekommen auf diesen beschissenen Austausch, obwohl er Spanisch hasste und eigentlich eher für Französisch war...? Er musterte den Typen von oben bis unten. Er war klein, etwas rundlicher, hatte seehr bunte Klamotten an – sprich: ein bunt gemustertes Hawaiihemd, gelbe Cargohosen und lila Schuhe – und seine Haare lagen ungefähr so, wie sie von J. K. Rowling in Harry Potter für ebendiesen vorgesehen waren. Nur noch schlimmer. Der Junge legte den Kopf schief und starrte ihn an. „¿Una... planta de energía solar? Umm... mis padres no tienen una planta de energía solar... ¿tienes una planta de energía solar aquí?" Sam hatte kein Wort verstanden und ebendies tat er auch nicht, als er bemerkte, dass der Junge auf einmal anfing zu lachen. „Muy bien. ¿Dónde está tu planta?“ Der Blonde starrte ihn an. „I don’t understand a single word. I am Sam and you?“ Der Typ starrte zurück. „¿Qué? No entiendo.“ „What? Please, could you tell me in English? I am Sam and you?“ „Me llamo Miguel. No entiendo.“ Miguel also. Immerhin etwas, was er verstand. Wenn er nur wüsste, was dieses no entiendo hieß... „Hey, are you my guy? I mean, are you my exchange partner?“ „¿Eres mi alumno de intercambio?“ „I don’t understaaaahaand you!“, rief Sam verzweifelt aus. Warum konnte dieser beknackte Miguel nicht einfach Englisch reden? Dass Miguel so etwas Ähnliches dachte, konnte Sam nur ahnen. „¡Bueeeenas tardes! ¿Cómo estás?“ Eine etwas... fette Frau rollte auf ihn zu und drückte Sam. Dann rief sie Miguel irgendetwas zu, das Sam nicht verstand. Er hatte es schon aufgegeben, sich mit Miguel zu verständigen und Harry Potter hatte wohl dito gedacht. „¿Tuviste un buen vuelo?“ „What?“, fragte Sam genervt nach. „¿Tuviste un buen vuelo?“, fragte sie einfach noch einmal und schaute ihn fröhlich an. „Sorry, I don’t speak Spanish.“ „¿Tuviste un buen vuelo?“ Hatte ihre Schallplatte einen Sprung? „I don’t understand a word.“ „¿Tuviste un buen vuelo?“ Definitiv. Jedenfalls hatten sie keinen weiteren Versuch mehr der Konversation gestartet. „Ahora miro la televisión“, murmelte Miguel nach zwei Minuten, in denen seine Mutter versucht hatte, sich mit Sam zu unterhalten. Dann schmiss er sich vor den Fernseher und winkte Sam zu sich. „No“, sagte Miguels Mutter dazwischen. „¿Quieres ver tu habitación?“ Sam stöhnte. Warum nur immer er? Anscheinend hatte sie sein Zimmer gemeint, denn nach kurzer Zeit standen sein Koffer und seine Reisetasche in einem monströs kleinen Raum, in welchen man ein französisches Bett und einen Schrank gestopft hatte. Zusätzlich dazu noch einen Schreibtisch, einen Fernseher und einen Computer. Konnte er sich hier überhaupt noch bewegen? Er konnte. Und zuallererst setzte er sich an den Computer und googelte die Worte, die er sich gemerkt hatte. Alles, woran er sich erinnern konnte, waren die Worte, die Miguels Mutter an ihn gerichtet hatte. Sie wollte wissen, ob er einen guten Flug gehabt hatte. Ironie des Schicksals, nicht? Nach zwei Stunden, in denen er vor Hunger beinahe gestorben war, wagte er sich endlich wieder nach draußen. Miguels Mutter war nirgends zu sehen und Miguel selbst saß immer noch vor dem Fernseher und sah sich etwas Seltsames an. Vorsichtig setzte sich Sam zu ihm und sah zu. Offenbar gestand eine Frau gerade einem Mann ihre Liebe... oder so. Sam zog die Augenbrauen hoch, als die Frau sich auf einmal vor den Mann kniete und ihren Kopf in seine Leistengegend presste. Anscheinend flehte sie ihn an, sie nicht zu verlassen... oder so. Sam begann zu kichern. Dann drehte er den Kopf, weil er wissen wollte, was Miguel davon dachte... und sah etwas höchst Eigenartiges. Miguel saß heulend da, mit angezogenen Beinen, wippte vor und zurück und murmelte: „No, no, ¡¡¡NOOOO!!! ¿Por qué? ¡No va, Pedro! María es diferente, pero no va, ¿sí?“ Doch offenbar half alles nichts. Pedro stieß María von sich und ging. Miguel heulte herzzerreißend. Und Sam lachte, bis Miguel ihm einen bitterbösen Blick zuwarf, der wohl in allen Sprachen dasselbe bedeutete. „Is there anything to eat in this house?“, fragte Sam. Dreißigmal. Dreißigmal vergebens, denn Miguel ignorierte ihn, seitdem er María ausgelacht hatte. „I am sorry, okay?“ Wieder nichts. Seufzend lief Sam zurück in sein Zimmer, schaltete den PC erneut an, ging auf leo.org, suchte etwas heraus, ging zu Miguel zurück, vergaß, wie der Satz ging, ging noch einmal zurück, wiederholte die PC-Prozedur, lernte den Satz auswendig, lief zu Miguel und sagte: „Lo siento muchísimo.“ Es tat ihm schrecklich leid. Miguel lächelte. Dann sagte er die magischen Worte, die Sam vorsorglich ebenfalls nachgeschlagen hatte: „¿Comida?“ Essen. Endlich. Es war ja auch erst halb elf... Seltsamerweise lief beim Essen die ganze Zeit Miguels Musik. Die Spice Girls. Tag 2 „Ich verstehe nicht, was die von mir wollen. Ich weiß ja nicht mal, was Toilette auf Spanisch heißt, Mann. Ich bin im Arsch. Total.“ Wütend zerkrümelte Sam etwas von dem Essen, das er von seiner Gastfamilie mitbekommen hatte. Paella. Miguel hatte schon am vorigen Abend sehr viel davon gegessen. Und jetzt sollte das sein Snack sein? Egal, Hauptsache Essen. „Entspann dich, Samantha. Du hattest doch immer eine fünf in Spanisch. So schlimm kann’s also nicht sein.“ Tom lächelte ihn an. Sam warf ihm einen Blick zu, der unter anderen Umständen zu seinem Tod geführt hätte. Sie saßen im Schulbus und Sam verfluchte sich schon wieder dafür, dass Tom ihn hierfür überredet hatte. Er konnte doch kein Spanisch, wieso musste er dann auch noch in die Schule gehen? Wieso hatte er die Sprache damals überhaupt genommen? Miguel, der auf der anderen Seite des Busses neben Toms Austauschschüler saß, schaute unglücklich eine Zeitschrift an, die Victoria Beckham auf der Titelseite zeigte. Ganz offensichtlich stand er auf sie. Eben ganz der Spice Girls Fan, der er zu sein schien. „Frag ihn, was er liest“, forderte Tom seinen Kumpel Sam grinsend auf. Der zeigte ihm nur den Mittelfinger. „Frag doch selbst, du Kretin.“ „Uuuh, jetzt werden wir hochnäsig. Na gut. Miguel, ¿qué lees?“ Der Angesprochene hob den Kopf und antwortete irgendetwas in sehr schnellem Spanisch. Tom grinste, nickte, hob den Daumen und lehnte sich zufrieden zurück. „Was ist los?“, wollte Sam müde wissen. „Victoria und David wollen doch zusammenbleiben. Miguel hat sich schon lange Hoffnungen gemacht, dass er einmal ein Spice Girl heiraten kann und sah seine Chance für gekommen. Leider hat es nicht geklappt und Vic und David machen wieder zusammen Urlaub.“ „Idioten. Ich bin umgeben von absoluten Idioten“, ächzte Sam und ließ sich in den Sitz zurückfallen. „¡Hola, chicos y chicas!“ Ein Lehrer betrat den Raum und Sam musste unwillkürlich loslachen. Laut. Sehr laut. Normalerweise war das nicht schlimm, aber normalerweise waren alle anderen Schüler ebenfalls laut. Leider war das in Spanien – zumindest in dieser Klasse – anders, wie es schien, denn dort redete keiner. Und so starrte jeder Sam an, der den schrägen Lehrer auslachte. Bitte. Wer würde nicht lachen bei so einem Typen? Er hatte lila gefärbtes Haar, mehrere Piercings, ein Tattoo, auf dem „Look! At! Me!“ stand und Harleyklamotten. Gab es etwas Seltsameres? Leider verstand er anscheinend keinen Spaß, wie Sam nach seiner Bestrafung feststellen musste. „Mann, wie die hier abgehen“, murmelte Sam, als er sich wieder auf seinen Platz setzen durfte. Tom musterte ihn grinsend und Miguel mitfühlend. Sam nickte. „Wie lange geht diese Stunde noch?“ Anscheinend noch genau... fünfundfünfzig Minuten. Von sechzig. Sams Kopf schlug auf dem Tisch auf. Wie scheiße... Irgendwann hatte er es geschafft, saß mit Tom in der Sonne und aß seine Paella. Jeder, der ihn sah, grinste und fragte dann mit Blick auf die Paella, ob er Miguels Austauschschüler war, was er nie, nie, nie verstand. Woher wussten die das überhaupt? Und dann geschah... es... „¿Entendéis castellano?“, wurden sie auf einmal von der Seite angesprochen. Sam wandte den Kopf und sah außer einer verzückten Mädchenschar, die seufzte, zunächst gar nichts mehr. Er erkannte die Mädels aus seiner Klasse, seinen Parallelklassen und der Klasse unter ihm. Sie alle schmachteten einen Jungen an, der ziemlich in der Nähe von ihnen stand. Er war dunkelhaarig – wie jeder Spanier hier eben – und hatte ein unglaublich schönes Gesicht. Er war, um es mit einem Wort zu sagen, heiß. Und wie. Und wieder einmal wurde Sam daran erinnert, dass er schwul war. Ihm klappte der Mund auf, als er diesen unglaublich heißen Spanier vor sich sah, der offensichtlich gerade ihn angesprochen hatte. Er war unfähig, irgendetwas zu sagen – okay, seien wir fair. Er konnte es so oder so nicht, wenn es Spanisch war. Gott sei Dank gab es noch seinen besten, wahren, tollsten und einzigen Freund Tom. Der reagierte nämlich irgendwann. „No, sorry. I understand everything but Sam not. So if you could talk to us in English we would be very pleased about this.“ Der Typ lächelte auf einmal nett und alle Mädchen fingen an zu kichern. Peinlich. „Vale. I am Juan and you?“ „I am in love with you“, hätte Sam jetzt gerne geantwortet. Doch er ließ es bleiben. Sicher ist sicher. Stattdessen sagte er einfach nur, dass er Sam war. Weiter nichts. „So... wie gefällt es euch in Spanien?“ Juan lächelte. Er lächelt wie ein Engel, schoss es Sam durch den Kopf und er kicherte ganz leicht. Tom verdrehte genervt die Augen. Er hatte gleich gemerkt, was los war. Mist. Da konnte sich Sam auf was gefasst machen... „Mir ganz gut, eigentlich. Meine Familie ist auch echt nett und ich versteh wenigstens was. Aber ich glaub, bei Sammy ist es nicht so gut. Nicht wahr?“ Sam zuckte zusammen. „Äh... ja. Die sind ein wenig komisch und ich versteh kein Wort. Keiner redet Englisch und ich kann kein Spanisch.“ „Und weshalb bist du dabei?“, fragte Juan lächelnd und seine dunklen Augen funkelten lebhaft. Sam deutete auf Tom. „Seinetwegen. Der Depp hat mich überredet. Dumm, was? Und meine Familie ist seltsam. Miguel...“ „... steht auf seltsame Dinge, das wissen hier alle“, unterbrach Juan kichernd und die Mädchen in der Nähe giggelten mal wieder. Juan ließ sich nichts anmerken und fuhr fort: „Mach dir nichts draus, die sind okay. Du darfst nur nichts gegen Seifenopern, die Spice Girls, Paella und seine Mamá haben, dann ist mit Miguel alles in Ordnung.“ „Aha“, sagte Sam. „Mir kam er etwas komischer vor, als du es beschreibst. Und er versteht nicht, was ich sage.“ „Er kann doch Englisch“, sagte Juan verständnislos und starrte zu Miguel hinüber, der in irgendeiner Ecke saß und mit verschleiertem Blick Paella aß. Tom und Sam schüttelten unisono den Kopf. „Aber er hat doch mit meiner Cousine Englischunterricht. Wie... dumm ist das denn? Ich dachte, er kann es.“ Tom lachte. „Ich hab mich vorhin mal kurz mit dem unterhalten. Ich glaub, er interessiert sich nicht so für Sprachen. Außer, die Spice Girls singen auf Englisch, da ist er dabei. Aber nicht mal da versteht er was.“ Juan zuckte die Schultern. „Egal. Ähm... habt ihr Lust, nach der Schule noch Basketball zu spielen? Wir gehen oft noch zu einem Platz in der Nähe. Kommt ihr da auch mit?“ Sam nickte, bevor Tom auch nur sein übliches „aber Sport ist doch Mohord“ zum Besten geben konnte. „Warum denn?“ Juan fing an zu grinsen wie ein Gott. „Die letztjährigen Deutschen waren totale Genies im Basketball. Wir wollen wissen, ob alle von euch so gut seid oder ob das nur einmal so war. Dann hätten wir nämlich mal wieder eine gute Chance gegen die Abschlussklasse. Find ich klasse, dass ihr mitmacht! Um sechs auf dem Platz hinter der Schule, ja?“ Damit verschwand er und Tom fing sofort an, Sam zu beschimpfen. „Verdammte Scheiße! Du weißt genau, wie sehr ich Sport hasse. Warum ziehst du mich in so was rein??“ Sam zuckte die Schultern. „Ich bin mit dir in Spanien, oder nicht? Da hab ich eindeutig was gut bei dir. Und wie. Und wie! Und wenn es dir nicht passt, kannst du ja gerne Miguel mit nach Hause zum Soapgucken begleiten. Soweit ich das verstanden habe, will sich María heute umbringen. Haben sie in der Vorschau vom GZSZ für Megaarme gezeigt.“ Den Basketballplatz mussten sie nicht lange suchen. Sie folgten einfach den kreischenden „Oh, Gooooott, ist Juan süüüüß“-Mädchen und waren umgehend da. Tom nörgelte ununterbrochen, doch Sam hörte schon lange nicht mehr zu. Er hatte nur noch Juans Lächeln im Kopf und hätte am liebsten mit den Mädchen mitgekreischt. Juan war ja soo toll! So hübsch und klasse und so. Okayy, er wusste genau null Dinge über ihn, aber trotzdem... Er war ja so... Doch dann wurden seine Gedanken abgelenkt. Mit einem Mal hörte Tom nämlich auf zu nörgeln und sagte stattdessen etwas anderes. „Was wird Juan denn machen, wenn er mitkriegt, dass wir beide weder einen Ball fangen noch ihn werfen können?“ Ach du Scheiße. Sam hatte seine Ballphobie vergessen. Wann immer sich ein Ball in seiner Nähe befand, drehte er beinahe durch. Er fing vor lauter Angst, einen Zahn zu verlieren oder sich die Nase zu brechen, keinen einzigen Ball und traute sich nicht einmal, sie vom Boden aufzuheben, selbst wenn das ganze Team danach brüllte. Nein, er war wirklich kein guter Spieler. Nur von Tom wurde er noch übertroffen. Beinahe. Doch es wurde nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte... Es wurde sogar noch schlimmer. „¡¡¡PAJERO!!!“, kam es einstimmig von der Seite, an der die Spanier versammelt waren, die Juans Team unterstützten. Sam verstand zwar kein Spanisch, ihm war aber klar, dass es zumindest eine Beleidigung sein musste. Sogar Miguel, der ungeduldig vom Rand aus zusah – und dafür sogar seine Serien schwänzte – und vorgab, ein Buch zu lesen, vergrub am Ende den Kopf in den Händen und stöhnte. Nur Juan war offenbar noch optimistisch. „Komm schon, das klappt schon noch. Du schaffst das. Hol einfach den Ball und wirf ihn zu mir. Nun komm schon! Wirf doch, du kannst das. Ich weiß es.“ Er war ihm einen vertrauensvollen Blick zu und Sam schüttelte den Kopf. „Ich bin viel zu schlecht darin“, murmelte er dem vorbeitrabenden Tom zu. Der keuchte nur. „Was denkst du denn, wie ich bin? Die beschimpfen mich nur nicht als Wichser, weil es bei dir viel stärker auffällt. Ich renn nicht so viel in die entgegengesetzte Richtung wie du.“ Sam widersprach spöttisch: „Tu ich gar nicht. Nur, wenn die alle mit ihrem dummen Ball in meine Richtung kommen. Da muss ich eben aus dem Weg gehen. Außerdem... wieso Wichser?“ Sein Freund lachte nur und wich einer Bananenschale aus, die ganz offensichtlich für Sam bestimmt war. Egal. Ein paar Minuten später, in denen Sam immer vom Ball weggelaufen war, fingen die Mädchen wieder an zu kreischen. Kurze Zeit lang war es still gewesen in Juans Fanriege, doch jetzt begann sie erneut. Sam verschnaufte gerade an der Seite – es war ja auch anstrengend, allen die ganze Zeit auszuweichen – und da hörte er zwei Mädchen aus seiner Parallelklasse zu, die sich darüber unterhielten, dass Juan bestimmt perfekte Bauchmuskeln hatte. „Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er einen Sixpack hat. Einhundert Prozent!“, rief Melanie aus, während Jule skeptisch blieb. „Nee, Muskeln hat er bestimmt, aber keinen Sixpack.“ Melanie kicherte. „Er könnte ja einfach sein Shirt ausziehen, dann würde es passen.“ Sam grinste. Da wäre er sofort dabei. „Häng dich an den Korb, Juan!“, rief Jule laut aus, als ebendieser den Ball hatte. Er war einen irritierten Blick zu den kichernden Mädchen hinüber und verlor genau deshalb den Ball. Fluchend rannten seine Teamkollegen dem Ball hinterher, während Juan stöhnte. Dann warf er einen Blick zu Sam, der immer noch grinste, lächelte ebenfalls und lief los. Wie besessen starrte Sam vor sich hin und ließ Juans Lächeln Revue passieren. So merkte er natürlich nicht, was auf dem Spielfeld so vor sich ging und bekam auch nicht mit, dass ihm irgendein Schwachkopf den Ball zuspielte. Das Nächste, woran er sich erinnern konnte, war, dass sein Schädel von einer dicken, fetten, spitzen Axt gespalten wurde und er das Gleichgewicht verlor. Ficken. Das war alles, was Sam dachte, als er die Augen wieder aufschlug. Er sah nicht richtig was, sondern konnte nur dumpfe Schemen erkennen. Also kniff er die Augen schnell wieder zusammen und ächzte. Sein Kopf schmerzte. Nein, das war nicht richtig. Sein Kopf tat so sehr weh, dass er ihn am liebsten abreißen würde!!! Am liebsten würde er eine Kuhherde über ihm weiden lassen wollen, damit sie seine schmerzende und pochende Beule abkauen konnten. Am liebsten... – ach, lassen wir das, bevor Sam in Fahrt kommt. Er hörte Stimmen über sich. Irgendjemand flüsterte ein „¿Por quéééé?“ und eine andere Stimme murmelte: „Der Trottel. Der dämliche Trottel.“ Als er die Augen das nächste Mal öffnete, traute er ihnen nicht und machte sie wieder zu. Er hatte nämlich gerade echt geglaubt, dass Juan über ihm knien würde. Aber Juan würde nicht über ihm knien. Denn wenn Juan über ihm knien würde, hieße das, dass sie Sex hätten. Und von daher kniete Juan nicht über ihm. Er atmete tief durch und riss seine Augen ein drittes Mal auf. Da. Juan. Er kniete wirklich... neben ihm. Sam quiekte auf. Er war ja sooooo süüüüüüß. Und er lächelte... Erleichtert? „Endlich wieder wach!“, sagte er laut und ganz bestimmt etwas erleichtert. „Ja, du Idiot. Was schaust du auch irgendwo ins Blaue rein, anstatt dem Ball auszuweichen?“, mischte sich eine andere Stimme ein und Sam erkannte Tom, der ihn ziemlich spöttisch musterte. Eigentlich wollte er ihm jetzt schlagfertig etwas antworten, aber in diesem Moment schoss ein stechender Schmerz durch seinen Schädel und er stöhnte nur. Er hätte viel lieber aus anderen Gründen gestöhnt als aus diesem. Vor allem hätte er gerne gestöhnt, wenn Juan in der Nähe gewesen wäre. Vorzugsweise, wenn er dafür verantwortlich wäre... Auf einmal sah er Miguel vor sich stehen, der ihn mit panischer Miene anstarrte. Seine Haare waren noch zerzauster als sonst und er hatte – wie Sam erst jetzt bemerkte – ein T-Shirt an, auf dem „Free María“ stand. Was sollte das denn bitte bedeuten? Er jammerte irgendetwas und Tom, der Sams verwirrten Blick richtig deutete, übersetzte für ihn, dass Miguels Mutter ihn killen würde und dann könnte er heute nicht seine Soap sehen und auch nicht, wie María sich umbringen wollte und anschließend doch lieber Pedro und deshalb im Knast landen würde. Dann machte das T-Shirt auch Sinn... „Ist doch alles halb so wild“, sagte Sam seufzend zu Miguel. „Deine Mamá bringt dich schon nicht um.“ Irgendjemand übersetzte für Miguel, der Sam zeternd nach oben zog. „Vale. Salimos a casa, ¿sí?“ Tom winkte dem überraschten Blonden zu, als der von Miguel hochgezogen wurde, der anscheinend stärker war, als er aussah. Auch Juan winkte. „Wir sehen uns morgen, ja? Halt die Ohren steif und die Beule gekühlt.“ Er zwinkerte und Sam schwebte auf einmal über den Wolken – ayayay. Sam bekam nicht einmal mehr mit, dass sich Paco dafür entschuldigte, ihm den Ball an den Kopf gehauen zu haben. Er lief schweigend mit Miguel mit. Ab und zu befühlte er die Beule und seufzte. Miguel warf ihm seltsame Blicke zu, während sie gingen. „¿Quieres a Juan?“, kam es auf einmal von Sams Austauschpartner. Ach, noch so ein Wort, das Sam konnte. Querer. Das hieß mögen. Und er hatte es sich gemerkt, weil er gerade zu dieser Zeit in einen Typen aus der Nachbarschule verliebt gewesen war und es ihm auf Spanisch sagen wollte, da der Typ Sprachen liebte. Also wollte Miguel wissen, ob er Juan mochte. Sehr? „¡¡¡NO!!!“, rief er sehr entrüstet aus. Miguel grinste nur. „Sí, sí, quieres... umm... you like Juan.“ „Also redest du doch Englisch?“, fragte Sam begeistert und malte sich schon aus, wie schön es hier doch noch werden könnte, wenn Miguel Englisch könnte. Sie könnten zusammen tratschen, sich Zöpfchen flechten, ihre Barbies frisieren, sich die Nägel... okay, falscher Film. Egal. Erwartungsvoll lachte Sam Miguel an. Der schaute nur verunsichert zurück und sagte dann: „¿Qué? No entiendo.“ Hätte Sam eine Tischplatte vor sich gehabt, hätte er jetzt gerne mit dem Kopf darauf gehauen. Er macht mich wahnsinnig. Ich versteh einfach null. Wahrscheinlich ging es Tom tausendmal besser als ihm. Immerhin hatte er, wie er behauptet hatte, in der Nachbarschaft sogar jede Menge heißer Mädchen. Für Tom war das wichtig. Schlag es nach, was du sagen willst. Bis morgen. Miguel saß fröhlich vor dem Fernseher und sah sich erneut eine Soap an. Diesmal sah er jedoch keine María, sondern ausschließlich Typen. Vielleicht war Miguel ja auch schwul? Es würde erklären, warum im Hintergrund in Miguels Wohnzimmer Viva forever vor sich hin plätscherte. Vorsichtig setzte sich Sam neben Miguel, der nach dem Heimweg keinen Versuch mehr gestartet hatte, mit ihm zu reden. Miguel lächelte ihm kurz zu, dann schaute er wieder in den Fernseher. Sam dachte an Juan. Konnte man sich nach gerade mal einem Nachmittag in einen Typen verlieben? Wenn ja, war das garantiert passiert. Juan war aber auch total heiß! Er erinnerte ihn ein bisschen an einen seiner früheren Lieblingssänger, Torry Jasper von A Change of Pace. Aber nur ein bisschen. Juan war nämlich noch viel heißer. Tausendmal. Und Juan hatte so ein schönes Lächeln... so etwas hatte er bis jetzt noch nie gesehen. Und dabei war er schon öfters verliebt gewesen. Nur eben nie so... ach, er konnte es nicht ausdrücken. Sam hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Nun jedoch war er davon überzeugt. Jetzt gab es nur noch ein Problem: Wie man an seiner Fangemeinde sah, war Juan hundertprozentig hetero. Kapitel 2: Tag 3 ---------------- Vielen Dank für die Revs :) Weiter geht's! Tag 3 Noch so ein spätes Abendessen würde Sam nicht überleben! „Tohomm, es ist nicht zum Aushalten. Ich dachte, ich müsste verrecken. Gestern gab es noch später was zu essen als vorgestern.“ Tom nickte. „Bei mir auch. Ich hab mir gestern nach der Schule, als ich mit Fernando nach Hause gegangen bin, gleich einen Jahresvorrat Marsriegel gekauft. Nur dank denen habe ich das gestern geschafft. Wie war es noch mit Miguel?“ Sam verdrehte die Augen. „Als María Pedro umgebracht hat, ist er laut schreiend im Zimmer rumgerannt und hat Pedro ausgelacht. Dann kam seine Mamá und hat wohl wissen wollen, was war. Er hat es gesagt und dann sind sie beide rumgerannt und haben Pedro ausgelacht.“ „Ach ja?“, fragte Tom interessiert nach. „Und was passierte dann?“ Sam konnte ihm nicht mehr richtig antworten, denn in diesem Moment entdeckten er und die anderen Mädchen aus seiner Klassenstufe Juan. Die Mädchen begannen sofort zu kichern und fingen an, sich gegenseitig auf ihn aufmerksam zu machen. Sam wäre jetzt gerne ein Mädchen. Er krallte seine Finger in Toms Arm und seufzte laut. „Sieht er nicht guuut aus?“, fragte er ihn mit verklärter Stimme und schaute in Juans Richtung. „Äh, bitte?“, fragte Tom vorsichtshalber noch mal nach. „Redest du etwa von Juan?“ Sam nickte. „Jaaa. Er ist so toll!“ Tom blies die Luft aus seinen Wangen heraus. „Ja, kann schon sein. Weiß ich nicht.“ „Ich aber“, entgegnete Sam. „Ich bin schwul. Und ich finde, dass er absolut toll ist. Außerdem war er soo nett zu mir gestern, selbst nachdem ich im Basketball so schlecht gewesen bin.“ Er seufzte und Tom verdrehte ziemlich offensichtlich die Augen. Lass lieber die Finger von ihm, ja?“ Verwundert blickte Sam seinen besten Freund an. „Hö? Warum denn das?“ „Weil...“, murmelte Tom und schaute alles und jeden an, nur nicht Sam. „Ach, egal.“ „Nee“, meinte Sam. „Sag schon. Wird schon nichts Schlimmes sein, oder?“ Er kicherte und musterte Juan, der gerade über einen Witz lachte, den ihm ein Kumpel erzählt hatte. Er konnte einfach so schön lachen... „Weil...“, begann Tom noch einmal, „weil... er gestern Abend... mit... dieser komischen Nuria, die wohl auch in seiner Klasse ist, öhm... nachHausegegangenistunddortsollwohlsoeinigespassiertsein“, sagte er ohne Luft zu holen. Sam sagte nichts mehr und Tom wunderte sich, dass nichts mehr von ihm kam. Als er zur Seite blickte, sah er, dass Sam ohnmächtig auf dem Boden lag. Juan war, ebenso wie einige andere, sofort zur Stelle. „Was ist passiert?“, fragte er Tom, der seufzend neben Sam stand. „Nichts. Bin ich schon gewohnt. Lasst ihn einfach alle liegen, er wacht gleich wieder auf.“ Sams Schockmomentsohnmachtsanfälle waren in ihrer Klasse schon legendär. Vor allem vor Klassenarbeiten versuchte man regelmäßig, ihn mit irgendetwas so zu erschrecken, dass er umkippte und die Klausur verschoben werden musste. Das zog allerdings inzwischen bei kaum mehr einem Lehrer, weil Sam sowieso nach drei Minuten wieder aufwachte. Immer und immer. Nur anscheinend diesmal nicht. „Sahm?“, fauchte Tom nach zehn Minuten, in denen diverse Schüler, Lehrer und Krankenschwestern versucht hatten, ihn aufzuwecken. „Sam, du kannst wieder aufwachen! Es bringt jetzt eh nichts, einfach zu pennen, davon wird er auch nicht schwuler.“ „Lass mich noch eine Minute liegen“, seufzte Sam und kniff die Augen fester zu. „Nur die Ohnmacht bewahrt mich davor, zu sterben.“ „Pff.“ Tom pfiff ein wenig in der Luft herum, während die Leute weiterhin versuchten, ihn aufzuwecken. „Was ist denn mit ihm?“, fragte Juan noch einmal und grinste Tom an. Der zuckte die Schultern. „Typisch für ihn. Liebeskummer und so. Er verknallt sich immer sehr schnell, musst du wissen, und wenn die Liebe dann nicht erwidert wird, kippt er um. Und jetzt hat er wieder eine schlechte Nachricht erfahren, weswegen er umkippen musste.“ Juan lachte. „Der Arme. Geht mir auch oft so.“ Sam richtete sich auf einmal auf. „Diiiiir? Du bist doch hier derjenige, der jedes Mädchen auf der ganzen Welt kriegen kann.“ Er wirkte ernsthaft sauer. Die anderen um ihn rum aber auch. Tom hörte, dass einige etwas von „mal actor“ murmelten. Empört schaute Tom hoch. „Oh, Gott. Ein Wunder ist geschehen! Er ist wieder wach!“ Dann fiel er auf die Knie, um dem Herrn zu danken. Das zog. Einige andere fielen sofort ebenfalls auf die Knie. Andere, wie Melanie aus der Parallelklasse, verzogen nur den Mund und gingen kopfschüttelnd davon. „Mach das nicht noch mal“, fauchte Tom Sam an, als sie ins Englischklassenzimmer gingen. „Es war berechtigt“, verteidigte sich Sam bockig. „Er hat kein Recht, einfach so mit irgendeiner Nuria zu ficken.“ „Wer sagt denn, dass sie Sex hatten? Außerdem ist er nicht schwul und auch nicht mit dir zusammen. Es ist also sein volles Recht.“ Sam warf ihm einen wütenden Blick zu. „Du. Na und? Ich kann ihn ja noch umdrehen. Und die hatten sicherlich was. Du hast doch gesehen, wie die ihn alle umgarnen.“ „Ja, aber bis jetzt hat es ihn nicht gekratzt. Lass ihn doch einfach in Ruhe, du kennst ihn doch gar nicht.“ Sam zog einen Flunsch. „Wohol. Er ist nett. Und er hat mich gefragt, ob ich mit ihm Basketball spielen will.“ Tom seufzte und ließ sich auf einen Stuhl im Zimmer fallen. „Und? Mich auch. Das war, bevor er wusste, wie scheiße du spielst.“ „Halt doch deine Fresse“, entgegnete Sam beleidigt und tat etwas, was er nur tat, wenn er richtig, richtig böse war: Er streckte ihm die Zunge raus. Dann setzte er sich ganz nach hinten neben Miguel, um von Juan zu träumen und um Toms Hinterkopf böse anstarren zu können. „Dis is may catt. Is dis may catt?“ Sam kicherte. Die konnten ja wirklich noch weniger Englisch als ein Erstklässler in einer baden-württembergischen Grundschule, wo vor einigen Jahren mit dem G8 auch das Englisch in der Grundschule eingeführt wurde. Normalerweise kamen die Schüler heraus und konnten genau zehn Worte auf Englisch. Miguel schaute ihn verwirrt von der Seite an. Auch der Englischlehrer musterte ihn spöttisch. „Problems with aur English?“ Sam schüttelte den Kopf und verkniff sich das Lachen. Diesen Moment nutzten alle anderen Deutschen, um ihren eigenen Lachanfall in die Welt zu schicken, allerdings sehr leise. Es war wirklich eine interessante Stunde. Vor allem Miguel war... interessant. „Miguel, do iu haf a pet?“ Miguel schüttelte den Kopf. „In Inglish, please.“ Miguel nickte. „Inglish?“ „No, no tengo un animal doméstico.“ „Inglés, por favor.“ „Yo no have an animal doméstico.“ „¡¡¡INGLÉS!!!“ Jetzt war der Lehrer wirklich verzweifelt. „Umm...“ Hilfesuchend blickte Miguel in Sams Richtung. Der kritzelte die Antwort auf ein Blatt Papier und reichte es Miguel unauffällig rüber, als der noch weiterüberlegte. Entrüstet starrte der auf das Blatt und dann zu Sam hinüber. Sein Blick besagte so viel wie: „Im Unterricht schiebt man sich keine Zettel zu.“ Dann warf er ihn in den Papierkorb und warf wieder einen hilfesuchenden Blick zu Sam hinüber, der sich ein Buch an den Kopf donnerte, um sich selbst zu bestrafen, nach Spanien gekommen zu sein. Miguel hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er war zwar immer noch sauer auf Tom, aber das musste er begraben. Er wollte in Spanien ja nicht komplett ohne Freunde dastehen – und er brauchte immer noch jemanden, der ihm alles übersetzte. Also schrieb er in der nächsten Stunde, Chemie, ein Briefchen. Tom. Es tut mir doch leheid. Echt. Vergib mir, ja? Der Zettel, den er zurückbekam, war etwas aussagekräftiger: Tom hatte eine Hand daraufgemalt, die zur Faust geballt war und deren Mittelfinger nach oben gereckt war. Darunter stand Okay. Sam strahlte. „Glaubst du, er hat wirklich mit dieser Nuria geschlafen?“, fragte Sam Tom noch einmal mit leiser Stimme, als der Unterricht endlich aus war und sie den Käfig, der sich Schule nannte – auf gut Deutsch hieß das, dass das ganze Gelände bis Unterrichtsschluss abgesperrt war – endlich verlassen konnten. Tom zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich kann ja mal heimlich nachfragen oder so.“ „Heimlich?“, wiederholte Sam tonlos. „Wie denn das?“ Tom lachte nur. „Auf zum Basketball.“ „Ich fasse es nicht, dass wir schon wieder Basketball spielen müssen!“, fauchte Sam und sah sich um, ob wenigstens Miguel in der Nähe war. Fehlanzeige. „Hier weiß doch schon jeder, dass wir es nicht können. UND ich kann nicht mehr nach Hause, weil ich den Weg ohne Miguel nicht finde.“ „Das ist doch Teil des Plans“, erklärte Tom noch einmal geduldig. „Wir spielen nicht mehr mit, sondern feuern nur an. Danach stellst du fest, dass du den Weg nach Hause nicht mehr finden kannst und Juan, Fernando und ich begleiten dich dorthin. Auf dem Weg frage ich Juan, wie es denn mit Nuria so war. Dann weißt du alles. Ist es jetzt klar?“ Sam musste einen Moment nachdenken. Dann nickte er. „Ich glaub schon.“ Tom nickte zufrieden. „Los, Juan. Zeig’s ihnen!“ Das war so ziemlich alles, was die Mädels während des Spiels brüllten. Wahrscheinlich wollten sie aber eher „Zeig’s uns!“ brüllen, damit sie seine Muskeln bewundern durften. Natürlich verlor Juans Team haushoch. Hätte Sam mitgespielt, hätte man ihn dafür verantwortlich gemacht. Leider hatte er eben nicht mitgespielt und man konnte ihn nicht dafür verantwortlich machen. Missmutig kam Juan nach dem Spiel in ihre Richtung und wehrte die Horden von Mädchen ab, die ihn gleich trösten wollten. „So eine Scheiße“, murmelte er und nahm dankend einen Schluck der Cola, die Sam ihm gerade angeboten hatte. Entzückt hielt Sam sie in den Händen und beschloss, dass diese Colaflasche von nun an ein heiliges Relikt sein sollte. Er würde sie zu Hause ins Bücherregal stellen und immer, wenn er Sehnsucht nach Juan hatte, würde er die Flasche kurz öffnen und einen Schluck daraus nehmen. Es würde ihn für immer und ewig mit Juan verbinden. Wenn gar nichts mehr ging, würde er die Flasche jede Sekunde seines Lebens mit sich herumtragen und jedem von der traurigen Liebesgeschichte zwischen ihm und Juan erzählen. Er würde sich mit ihr beerdigen lassen und Juan würde an seinem Grab erkennen, wie sehr Sam ihn geliebt hatte. In diesem Moment nahm Tom ihm die Flasche weg, trank sie in einem Zug leer und warf sie in den Müll. So viel zur Theorie. „Mach dir nichts draus“, sagte Tom und warf Sam einen vielsagenden Blick zu. Da dieser jedoch noch seiner Flasche nachtrauerte, bemerkte er es nicht. Tom seufzte. Immer musste er alles selbst tun. „Öhm, ich fürchte, dass Sam den Weg zu sich nach Hause nicht mehr finden kann. Miguel ist nicht hier, aber wir wollten unbedingt bei euch zusehen.“ An dieser Stelle verfinsterte sich Juans Blick wieder. „Könntest du ihn vielleicht hinführen?“ Einen quälenden Moment lang sagte Juan gar nichts. Dann: „Ja, klar. Gerne. Lenkt bestimmt von der Niederlage ab.“ Jetzt wäre wieder ein perfekter Moment, um in Ohnmacht zu fallen. „Mann, das war vielleicht ein Scheißtag“, beschwerte sich Juan auf dem Weg zu Miguels Haus. „Erst haben wir Spanisch geschrieben, was ich schon mal komplett verkackt habe. Danach hab ich eine fünf in Mathe bekommen und mündlich steh ich wahrscheinlich auch nicht viel besser da. Schlussendlich dachte ich, beim Basketball könnte ich das alles vergessen und einfach gewinnen und hab es erst versaut. Verdammte Kacke.“ Juan kickte nach einem Stein, der im Weg lag und Sam, der nur auf Juans Gesicht geschaut hatte, wurde voll von ihm getroffen. „Macht nichts“, sagte er lächelnd und rieb sich den Knöchel. Tom verdrehte die Augen. „Wir muntern dich schon noch auf.“ Juan lachte. „Okay. Dann fang mal an.“ Fernando, Toms Austauschpartner, grinste und platzte dann mit der Frage heraus, die ihm seit einer Weile auf der Zunge lag: „Ist Nuria gut im Bett?“ Sam starrte Tom an, der nur mit den Schultern zuckte. Das lief ja toll, dann mussten sie nicht mal selbst fragen. Juan selbst starrte ebenfalls, allerdings in Fernandos Gesicht. „¿Qué?“ Der grinste nur. „War sie heiß?“ „Woher weißt du...?“ Juan lief rot an. Komisch. Fernando lachte. „JEDER weiß es. Also? War sie heiß?“ Sam spitzte die Ohren. „Sí, sí, naturalmente“, murmelte Juan. Erinnert sich jemand daran, dass Sam vorhin vor Freude an eine Ohnmacht gedacht hatte? Jetzt dachte er wieder daran – aber nicht aus Freude. Und er dachte nicht nur daran. „Hey, du Schwachkopf. Was ist denn los?“ Tom musterte ihn besorgt und Juan und Fernando sahen nicht minder hilfsbereit aus. „Alles vorbei“, nuschelte Sam und eine Träne rollte seine Wange hinunter. „Ich will nach Hause.“ „Nichts ist vorbei“, sagte Tom leise. „Nichts. Das ist es doch nicht wert. Steh auf, du Trottel.“ „Ich will nach Hause“, wiederholte Sam. „Und damit mein ich nicht Miguels Heim.“ Natürlich gingen sie dorthin zurück. Wohin denn auch sonst? Sam sagte kein Wort mehr. Er wollte Juan durch Schweigen bestrafen. Der schwieg jedoch ebenfalls. „Das ist es, oder?“, fragte Fernando nach einer Weile und sie blickten hoch. In gewisser Weise sah Sam es zum ersten Mal bei Tageslicht... und schreckte zurück. „Was ist das?“, fragte Tom zweifelnd und machte einen Handstand, um zu sehen, ob das Haus andersrum vielleicht besser aussah. Tat es nicht. Es war pink. „Öhm... wir gehen besser, oder, Nando?“, fragte Tom und schaute entschuldigend zu Sam hinüber. „Sorry, Kumpel. Aber jetzt wird mir klar, warum Miguel so komisch ist. Bis morgen.“ Er hob die Hand zum Gruß und ging eilends mit Fernando davon. Zehn Meter weiter fingen sie an zu lachen. Juan war stehengeblieben. „Soll ich noch mit reinkommen?“, fragte er leise. Sam wollte den Kopf schütteln und „Ich finde den Weg“ sagen. Doch sein Kopf nickte einfach und sein Mund sagte „Ja, sehr gerne“. Verräter, aber alle beide. Juan grinste. „Okay. Ich mag Miguel, weißt du? Ich war schon mal bei ihm, als wir in einer komischen Projektwoche mit der unteren Klasse zusammenarbeiten mussten und ich ihn dabei bekommen habe. Das war... denkwürdig. Schaut er immer noch diese Serien?“ Sam nickte und musste widerwillig ebenfalls grinsen. „Ja. Ich weiß nicht genau, um was es geht, aber es ist zum Schreien.“ Juan lächelte zufrieden. „Dann mal los.“ Miguels Mamá begrüßte sie schon an der Tür. „Ahhh, buenos días. La comida está en la cocina y voy al aerobic. ¡Hasta luego!“ Sie verschwand. „Was ist los?“, fragte Sam verwirrt und schaute ihr nach. Dann blickte er zu Juan, der sich vor Lachen kaum noch halten konnte. „Sie... sie wihill... hahaha... zum... Aerobic... hahahah.“ Er wälzte sich inzwischen schon auf dem Boden und Sam schaute der Frau nach, die sicherlich zwei Tonnen auf die Waage brachte. Sachen gab’s. „Komm rein“, sagte Sam, nachdem Juan sich irgendwann wieder beruhigt hatte. Sie streiften die Schuhe ab und gingen ins Wohnzimmer, in dem sie sich aber nicht lange aufhielten, weil Miguel gerade einen dicken Heulkrampf wegen María hatte, die im Gerichtssaal saß und ebenfalls heulte. Juan besah sich Sams kleines Zimmer und schüttelte den Kopf. „Die haben dir wirklich diese mickrige Bude gegeben? Du Armer. Na ja, soweit ich das das letzte Mal gesehen habe, ist Miguels Zimmer auch nicht viel größer. Der sitzt aber eh meistens vor dem Fernseher oder isst Paella.“ Juan setzte sich aufs Bett und – legte sich hin. Streckte sich aus und seufzte. „So ein beschissener Tag“, wiederholte er dann und schaute zu, wie sich Sam auf den Stuhl quetschte, der vor dem Schreibtisch stand. Sam nickte. „Du sagst es.“ Juan drehte den Kopf zur Decke. „Was war bei dir? Warum bist du in Ohnmacht gefallen?“ Der Blonde, der durch seine hellen Haare in Spanien sehr auffiel, seufzte und überlegte, ob und wie er es Juan sagen sollte. „Ich... bin verliebt. Seit ein paar Tagen. Und... die Person, in die ich verliebt bin, macht mit einer anderen Person rum.“ Die geschönte Version. Juan seufzte. „Ich kenn das. Glaubt mir zwar keiner, aber ich bin oft unglücklich verliebt. Die Mädels um mich rum... die find ich eher nervig als toll, weißt du?“ Interessant, fand Sam. „Ja, versteh ich.“ „¡Alemanes!“, sagte Juan augenverdrehend. „Immer, wenn die kommen, sind da noch mehr Mädchen auf meinen Fersen. Die nerven. Dabei gibt es im Moment nur eine Person, bei der ich es gut fände, wenn sie auf meinen Fersen bliebe.“ Juan redete ebenfalls von Personen, wenn er beschrieb, dass er jemanden gerne bei sich hätte. Lustiger Zufall. „Wer ist es bei dir?“, fragte Sam fröhlich und setzte sich neben Juan aufs Bett, der sich wieder aufrichtete. Von daher bemerkte er auch, wie er errötete. „Ninguno“, murmelte er. „Was?“, fragte Sam lachend nach. „Nuria?“ Juan zuckte zusammen. „Ach, die. Die ist doch scheiße.“ Dann versank er in Schweigen. „Und warum hast du dann mit ihr geschlafen?“, fragte Sam verblüfft nach. Juan zuckte die Schultern. „Weil sie und alle anderen es von mir erwartet haben. Da muss ein Juan eben tun, was ein Juan tun muss. Egal, ob er Lust drauf hat oder nicht.“ Sam war entsetzt. Er könnte nie Sex mit jemandem haben, den er nicht liebte. „Ich bin entsetzt. Ich könnte nie Sex mit jemandem haben, den ich nicht liebe“, teilte er Juan auch gleich mit. Juan machte gerade den Mund auf, um etwas zu entgegnen, als es auf einmal klopfte und sich Miguel ins Zimmer schob. „Juan, ¿puedes llegar un momento?“ Juan nickte und folgte Miguel nach draußen. Sam konnte hören, dass sie sich sehr schnell auf Spanisch unterhielten und startete keinen Versuch, ihnen zuzuhören. Stattdessen ließ er Juans Worte von vorhin auf sich wirken. Er hatte einfach mit dieser Nuria geschlafen, weil alle es so wollten? Das war einfach schrecklich. Wirklich. Er würde niemals mit jemandem Sex haben, wenn er nicht in diesen verliebt wäre. Deshalb war er auch bis zu diesem Tag Jungfrau. Juan kam mit Miguel wieder ins Zimmer zurück. Miguel strahlte und warf sich aufs Bett, während Juan sich auf den Schreibtisch setzte. „Was will er?“, fragte Sam lächelnd. Juan grinste, während Miguel vertrauensselig lächelte. „Er will wissen, ob in Deutschland auch so gute Soaps laufen wie hier. Leider konnte er es dich bis jetzt nicht fragen, weil ihr euch ja nicht versteht.“ Sam fing an zu lachen. „Unheimlich gute Sendungen. Ich erzähl dir mal was von der Mamá aller Serien. Die beste Soap aller Zeiten. Geil ohne Ende. Superklasse und hammertoll. Der Name dieser besten Sendung aller Zeiten ist... GZSZ.“ Kapitel 3: Tag 4 ---------------- Tag 4 „Ich hab mich blendend mit ihm unterhalten. Ich hab ihm jedes schmutzige Detail von GZSZ erzählt und beide waren begeistert, Miguel und Juan. Jetzt kam es mir endlich mal zugute, dass meine Mutter jeden Tag GZSZ schaut. Vor allem den Strumpfhosenmörder fanden sie klasse, auch wenn ich nicht wusste, was das auf Englisch heißt.“ Er lachte. Laut. Tom ebenfalls. „Dann hast du es ihm verziehen? Also, die Sache mit Nuria?“ Sam zuckte zusammen. „Danke, dass du mich an die Scheiße erinnerst. Ich hab’s ihm verziehen, aber ich find es immer noch dumm ohne Ende.“ Tom klopfte ihm auf die Schulter. „Mach dir nichts draus. Es gibt bessere Typen. Witzigere. Liebere. Klügere. Schwulere.“ Sam nickte. „Ja. Ich bin drüber hinweg.“ Er log ihn an, aber das konnte Tom unmöglich wissen. Natürlich hatte Sam heute Nacht von Juan geträumt und nur der Anstand hatte ihn davor bewahrt, sich vorzustellen, wie Juan eigentlich nackt aussah. Hätte er gern getan. Und er würde ihn gern so sehen. „Du lügst“, stellte Tom gelassen fest. „Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du das tust. Hast du dir etwa vorgestellt, wie er nackt aussieht? Samantha, so was tut man nicht!“ Ertappt duckte sich Sam unter Toms Blicken hinweg. „Gar nicht wahr“, maulte er. „Ich hab von GZSZ geträumt und davon, dass ich ein Hauptdarsteller bin.“ „Das wär ich auch gerne“, mischte sich Simone aus ihrer Klasse ein. „Ich träum immer noch davon, Lenny wieder hetero zu machen, damit ich ihn vernaschen kann. Das ist ja durchaus möglich.“ „Nein, ist es nicht“, gab Sam pikiert zurück, „außer er war schon vorher bi.“ „Du musst es ja wissen“, gab Simones Freundin Lena zurück, die sich gerade ebenfalls vorgebeugt hatte, um mitzureden. „Findest du Juan auch heiß?“ „Was?“, stammelte Sam, „ich... ich versteh dich nicht so ganz.“ „Na ja, ich will einfach mal wissen, ob du ihn auch so hübsch findest wie wir alle. Du bist ja schwul und denkst von daher vielleicht ein wenig so wie wir.“ Sie lachte fröhlich, doch es war kein gemeines Lachen. Sam mochte Lena. „Ich denke nicht so wie ihr“, widersprach er ihr. „Es... ich muss aber gestehen, dass er gut aussieht. Sehr.“ Simone verdrehte ganz offensichtlich die Augen. „Er ist aber auch eindeutig sehr hetero. Er hat mit Nuria gevögelt und macht jetzt angeblich mit Carmen – also Isabelles Austauschpartnerin – rum.“ Sam nickte. „Ja. Aber trotzdem ist er echt gutaussehend. Und er war gestern bis elf Uhr nachts bei mir.“ Diesen neidischen Blick würde Sam niemals vergessen. Er kicherte und Lena verpasste ihm einen Nasenstüber. Während des Spanischunterrichts, in dem der Lehrer einen endlosen Monolog hielt – wie es im spanischen Unterricht leider so üblich war – , verfasste Sam einen leidenschaftlichen Liebesbrief an Juan, den er anschließend weit unten in seiner Tasche versenkte. Geliebter Juan, du + ich = die perfekte Beziehung. Willst du mit mir gehen? Das wäre bestimmt nicht gerade schlecht. Dein ebenfalls geliebter Sam Er war glücklich. Kurzzeitig. Bis ihm wieder einfiel, dass er den Brief ja nie an Juan übergeben konnte, weil der hetero war. „Verdammt“, fluchte er leise und Tom lachte, denn er hatte den Brief gesehen. „Was willst du damit bezwecken?“, fragte er ihn spöttisch. „Er wird es nicht so geil finden wie du.“ „Tief in seinem Inneren hat er Gefühle für mich“, wiedersprach Sam und vergaß dabei ganz zu flüstern. „Er wird es schon noch rausfinden.“ „Schön für ihn“, rief Kai von hinten vor, „leider interessiert uns nicht gerade sehr, was in deinem kranken Kopf für Fantasien vorherrschen.“ „Wer ist denn der Glückliche?“, fragte jemand anders wiehernd vor Lachen nach. „Hoffentlich hat er keine Ahnung von den Gefühlen, die er für dich hat. Er kann einem ja jetzt schon leid tun.“ Sam lief rot an und drehte sich zu seinen Klassenkameraden um. Bevor er etwas erwidern konnte, spürte er einen Tritt von Tom und drehte sich empört wieder zurück zu ihm hin. „Was soll das denn?“, fauchte er und schaute ihn sehr entrüstet an. „Ich wollte denen gerade meine Meinung sagen. Und die ist seeehr schmerzhaft. Ich würde ihnen allen die volle Wahrheit ins Gesicht schleudern, sodass sie hinterher heulend nach Hause laufen würden. Ich würde...“ „Ihnen sagen, dass da sowieso nichts läuft und dein einziger Anhaltspunkt ein dämlicher Liebesbrief ist, den ein Erstklässler besser hätte schreiben können?“, unterbrach ihn Tom – gnädigerweise so leise, dass nur Sam es hören konnte. Das reichte auch schon. Er wurde röter als rot, so sehr, dass es sogar für Sam seltsam war. Und das musste etwas heißen. „Hey, das stimmt doch gar nicht. In der ersten Klasse hab ich noch nicht solche gefühlsbetonten Briefe geschrieben! Ich mein, klar ist er kurz und so, aber ich finde ihn sehr gut, okay?“ Tom nickte. „Armer Irrer“, murmelte er dann, bevor der Spanischlehrer sie alle auf einmal dafür bestrafte, dass sie zu laut waren. „¿Vamos a la cocina ahora?“ Sam starrte Miguel ausdruckslos an, der ihn anstrahlte. „Was will er?“ Er beugte sich zu Tom hinüber, der verwirrt aussah. „Er will, dass ihr jetzt zusammen in die Küche geht. Was sollt ihr da?“ Er richtete die Frage an Miguel, der ihm offenbar erklärte, dass sie heute Küchendienst hätten, weil das leider bei Schülern so üblich war, nicht genug Geld für die halbstaatlichen Schulen hatten. Zumindest sei es vor einigen Jahren an ihrer Schule so eingeführt worden. Und Miguel hatte gleich gesagt, dass sein Austauschpartner auch mitmachen würde beim Spülen. „Dafür ist das Essen umsonst“, presste Tom unter lautem Lachen hervor, ehe ihn Sams Turnschuh am Kopf traf. „Du Arsch! Frag ihn, wer da noch ist.“ Doch Tom presste nur beleidigt die Lippen aufeinander und lief davon. „Umm... who’s there except you and me?“ Miguel zuckte nur die Schultern. „No entiendo.“ Dann zog er Sam mit sich, der protestierte. „Aber ich mag das nicht. Ich kann doch nicht mal eine Tasse spülen, ohne dass sie mir auf den Boden fällt. Ich kann gar nichts, okay? Es wäre besser, wenn du mich lassen würdest. Echt. Ich bin dumm und so.“ Leider half nichts. Miguel zerrte ihn unbarmherzig vor sich hin und plapperte währenddessen noch irgendetwas Zusammenhangloses. Sam überlegte gerade, was Fick dich doch einfach! auf Spanisch hieß, doch es wollte ihm nichts einfallen. Nicht mal Ausdrücke kann ich, dachte er wütend und starrte auf den Boden, während Miguel und er sich bewegten. So sah er nicht, wer oder was sich vor ihm bewegte, bis Miguel auf einmal „¡¡¡SAM!!!“ schrie, Sam seinen Kopf hob und direkt in jemanden hineinkrachte, der so ein Tempo draufhatte, dass er selbst einen ICE noch hätte einholen können. „Au, verdammte Scheiße, kannst du nicht aufpassen?“, fauchte Sam auf Deutsch und versuchte, aufzustehen. Leider lag jemand direkt auf ihm drauf und der war nicht gerade leicht. „Es tut mir so leid, es tut mir leid, tut mir echt leid, sorry, sorry, sorry“, unterbrach ihn eine Stimme auf Englisch und Sam schlug den Kopf auf den Boden. Dreimal. Dann war er gefasst genug, um Juan böse anzuschauen. „Stehst du jetzt bitte mal auf? Es tut weh.“ Juan rappelte sich auf und Sam stöhnte. Vielleicht konnte er sich ja so vor dem Abwaschen drücken. Seine Hand tat nämlich ganz schön weh. Juan war direkt draufgefallen. „Es tut mir wirklich leid!“, sagte Juan noch einmal und lächelte schon wieder leicht, während Miguel nervös von einem Bein aufs andere trat und ihm irgendetwas auf Spanisch mitteilte. Juan antwortete und dann verschwand Miguel mit einem letzten entschuldigenden Blick auf Sam. „Miguel muss dringend in die Küche. Ihr hättet schon vor zehn Minuten da sein sollen. Jetzt kriegt er Ärger. Es tut ihm leid, sagt er. Und mir auch“, setzte er noch hinzu. Sam setzte sich auf und stützte sich mit den Händen ab. Dabei schoss ihm ein bestialischer Schmerz ins Handgelenk und er schrie auf. „Verdammte Scheiße“, fluchte er. „Warum hattest du es überhaupt so eilig?“ Interessanterweise wurde Juan so rot wie Sam vorhin im Unterricht, als Tom seinen bösen Kommentar losgelassen hatte. „Och... ich... hatte was Dringendes zu erledigen.“ Sam verzog das Gesicht, als er sein Handgelenk betrachtete. Sah so aus, als hätte Juan es verstaucht. „Und was, wenn ich das so fragen darf?“ „Ähm, was Wichtiges. Was ist mit deiner Hand?“, fragte Juan schnell. „Lenkst du gerade ab?“, erwiderte Sam fasziniert und tat cool, obwohl seine Hand inzwischen schmerzhaft pochte. Juan seufzte. „Ja, ich lenk ab. Ich flüchte, weißt du. Vor Carmen, weil die mit mir schlafen will. Vor Nuria, weil die noch mal mit mir schlafen will. Vor den tausend deutschen Mädchen, die mich heiß finden. Vor anderen Mädchen aus dieser Schule. Ich halt das langsam nicht mehr aus.“ Er schnitt eine Grimasse und setzte sich neben Sam, der immer noch auf dem Boden saß und seine Hand betrachtete. „Versteh ich nicht“, sagte Sam leise. „Du wirkst immer so, als würdest du diese Aufmerksamkeit gut finden. Warum haust du dann ab?“ Juan blickte auf und schaute ihn aus unergründlichen dunklen Augen an. Er sagte längere Zeit lang nichts mehr – und in dieser Zeit schwoll Sams Handgelenk langsam an. Dann irgendwann seufzte er. „Ich... ich glaube, ich...“ Er brach ab und sah auf Sams Handgelenk. „Sag mal, sollen wir vielleicht zur Krankenschwester? Das sieht nicht so toll aus.“ Sam schüttelte den Kopf. „Ach was. In zwei Minuten ist das wieder weg. Ich muss Miguel helfen.“ Juan zog die Augenbrauen und danach Sam hoch. „Komm schon. Miguel wird es schon überleben.“ Sam überlegte. Miguel oder Juan? Da musste er nicht lange nachdenken. „Was wolltest du vorhin übrigens sagen?“, fragte er, nachdem er Juan zugestimmt hatte. Der lächelte nur. „Ein anderes Mal, ja?“ Wie sich herausstellte, war Sams Handgelenk nicht verstaucht. Es war nicht einmal angeknackst. Es war zweimal gebrochen. Juan war so ungünstig auf ihn gefallen, dass er es zweimal gebrochen hatte! „¡¡¡LO SIENTO MUCHÍSIMO!!! Ehrlich.“ Juan schaute ihn verzweifelt an und Sam zuckte nur die Schultern. „Kann doch mal passieren, Kumpel. Cool down. Ich überleb es. Ich hab mir schon oft was gebrochen.“ Na ja... das war gelogen. Aber es ging Juan auch nicht unbedingt viel an, dass er schon einmal eine Steißbein-Hodenprellung gehabt hatte. „Ja?“, fragte Juan ungläubig nach. „Du wirkst nämlich nicht so... ich mein, es kann ja jedem passieren, dass er ohnmächtig zusammenbricht, wenn der Arzt seine Hand untersucht, aber dass du danach noch mit den Füßen um dich geschlagen hast, fand ich schon etwas seltsamer. Und am besten wurde es, als du den Arzt als dreckiges Arschloch beschimpft hat, der nicht einmal eine schmerzstillende Spritze richtig in die Venen einführen könne.“ Sam hatte gehofft, dass Juan sich nicht mehr daran erinnern würde. Schade. „Na ja... ich war eben noch nie am Handgelenk verletzt.“ Juan grinste. „Kann passieren. Hättest eben hochschauen müssen.“ „Hättest eben nicht so rennen dürfen“, ätzte Sam zurück. Sie saßen im Krankenhaus und wollten nicht zurück in die Schule gehen. Ein Lehrer, der sie begleitet hatte, tigerte ungeduldig auf dem Gang auf und ab. Sie hatten ihm erzählt, dass Sam so schreckliche Schmerzen hatte, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Aus irgendeinem Grund hatte Señor García, den sie, wie alle Lehrer in Spanien, einfach nur Sergio nennen durften, es ihnen geglaubt. Aber laut Juan war er auch nicht der Hellste, wie er ihm verschwörerisch mitgeteilt hatte, als García alias Sergio gerade nicht zugehört hatte. Sam fand es trotz der Schmerzen nicht gerade schlimm, im Krankenhaus zu sein. Solange Juan hier war, der Englisch konnte, und er nicht wieder im beknackten Unterricht sitzen musste, war alles gut. „Was hast du jetzt eigentlich gegen die Aufmerksamkeit, die du von allen bekommst?“, versuchte es Sam erneut. Ja, verdammt, er war extrem neugierig. Und? Juan winkte ab. „Ist nicht so wichtig. Ich mein, ist es schon, aber ich mag nicht darüber reden. Ist nicht so geil. ¿De acuerdo?“ Sam zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, was du meinst.“ Wirklich nicht. Juan könnte genauso gut Taiwanesisch mit ihm reden – er hätte immer noch null Durchblick. „Ob es in Ordnung geht, dass ich nicht darüber reden will“, sagte Juan gelassen und grinste leicht. Sam nickte. „Ja, passt schon. Äh... kannst du bitte den Arzt fragen, ob er mir jetzt gefälligst gute Schmerzmittel geben kann? Die bringen nichts, fürchte ich. Und ich selbst kann ihm das ja nicht sagen.“ „Versuch es doch einfach“, schlug Juan vor und Sam verdrehte die Augen. Dann beschloss er, Juan einfach zu zeigen, wie gut er Spanisch wirklich konnte, stand auf – für den Lehrer stöhnte er noch einmal ganz laut auf, um zu zeigen, wie furchtbar es für ihn war – und ging auf einen Arzt zu. Sam zupfte ihn am Ärmel. „¿Sí?“ „Tengo una planta de energía solar.“ Warum Juan anfing, laut loszuprusten, wusste Sam nicht. Was war so falsch daran, ein Solarkraftwerk zu haben? „Oh, Saaaahm, was ist nur mit dir passiert?“ Von allen Seiten stürmten Leute auf ihn ein, die seine Hand begutachten wollten. Sam genoss es, endlich einmal beliebt zu sein. Das war er schon seit einer Weile nicht mehr gewesen. Vielleicht bekam er jetzt Fans. So richtige Groupiefans, die Schilder hochhielten, auf denen „SAM, ICH WILL EIN KIND VON DIR!!“ stand. Okay, er war schwul, aber das brauchten seine Fans ja nicht zu wissen. Er würde ein großer Weltstar werden, von allen geliebt. Und das nur, weil jetzt alle endlich bei ihm waren. Na gut, wahrscheinlich stürmten sie nur her, weil Juan neben ihm stand. Sam stöhnte herzzerreißend. „Juan hat mir meine Hand gebrochen. Zweimal gleich. Natürlich war es keine Absicht, aber weh tut es trotzdem.“ Er verdrückte ein paar Tränchen und freute sich, dass ihn alle mitleidig ansahen. Juan, der bis jetzt still dagestanden hatte, grinste und sagte dann: „Er war so brav, dass er sogar einen Lolly bekommen hat. Ein richtiger hombre.“ Sam warf ihm einen unterkühlten Blick zu und bevor er etwas erwidern konnte, drängelte sich leider Tom vor, der ihn angrinste. Es dauerte genau eine Minute, dann wurde Sam an den Rand gedrängt und alle Welt stürzte sich auf Juan, der missmutig hinter Sam herstarrte. „Neue Taktik, oder wie?“, fragte Tom seinen Freund verwirrt und besah sich dessen Hand genauer. „Sieht scheiße aus.“ „Was für eine Taktik?“, wollte Sam ebenfalls verdutzt wissen und winkte Miguel zu, der etwas weiter weg stand und riesige Augen machte, als er Sam erblickte. „Na, du lässt Juan dein Handgelenk brechen und dafür kommt er mit ins Krankenhaus. Ihr verbringt mehr Zeit miteinander und du kannst ihn schwul machen.“ Hmm... hörte sich nicht schlecht an. Vielleicht konnte er es ja sogar als seine Idee verkaufen. „Na ja... nicht direkt. Es war nicht so ganz beabsichtigt, aber ich hab mich echt gefreut, dass er mitgekommen ist. Wir haben uns total gut unterhalten und so. Er hat mir sogar gesteckt, dass ihn Carmen und so total nerven.“ „Ehrlich? Das hört sich komisch an. Ich dachte, der hat nichts gegen seine Verehrerinnen.“ Tom klang ehrlich überrascht. „Ich auch. Aber er klang total gelangweilt von denen. Ich weiß auch nicht...“ „Was genau hat er gesagt?“ Sam berichtete es ihm genau so, wie er sich erinnern konnte. Danach schaute sein Freund ihn seltsam an. „Was?“ Sam kratzte sich am Kopf und beobachtete Miguel, der sich gerade darüber aufklären ließ, warum Sam einen Gips trug. Tom seufzte. „Na ja... du sagst, Juan sagt, er sei genervt von den Mädchen?“ Sam nickte. „Ja. Hab ich dir doch jetzt schon zweimal gesagt. Was ist damit?“ „Erinnerst du dich noch daran, wie das war, bevor du dich geoutet hast?“ Komisch. Er hatte damals doch tatsächlich... er wagte kaum, dies zu denken... mit... Mädchen geknutscht!! Beim Gedanken daran wurde ihm kotzübel und er nickte angewidert. „Sie sind dir nachgerannt und wollten immer unbedingt mit dir Flaschendrehen spielen. Es hat dich immer mehr genervt als angemacht. Irgendwann hast du dann gemerkt, dass du schwul bist.“ „Ja. Das war eine seltsame Zeit. Kannst du es dir vorstellen, mit Mädchen rumzumachen? Man muss doch echt widerlich sein.“ Sams Blick schweifte auf dem Hof umher und so bemerkte er Toms wütenden Ausruf kaum. „Hey! Zufällig bin ich hetero.“ Sein Freund reagierte gar nicht erst. „Was willst du damit sagen?“ „Dass ich... Mädchen liebe?“, sagte Tom tonlos. „Nein. Warum willst du das alles von mir wissen?“ „Nur so. Ist egal.“ Tom schüttelte den Kopf. „Ist wirklich egal. Hey, Miguel, ¡venga!“ Miguel, der gerade mit einer Klassenkameradin diskutierte und dabei hektisch auf sein María-T-Shirt deutete, schaute auf und fragte sich, wer ihn da rief. Als er Tom sah, winkte er und setzte sich in Bewegung. Seine Klassenkameradin sah nicht gerade traurig darüber aus. „¿Qué?“ Sam musste dringend herausfinden, was genau eigentlich qué hieß. Immerhin könnte Miguel ihn jedes Mal beleidigen, wenn er es sagte. Tom begann damit, schnell auf ihn einzureden und Sam sah, wie Miguels Augen auf seinem neuen Gips verweilten. „Er sagt, dass es ihm leid tut und er hofft, dass du keine Schmerzen hast.“ Seine Hand pochte gerade sehr schmerzhaft. „Sag ihm, ich verrecke gleich und ich hoffe, es hat ihm nichts ausgemacht, alleine zu spülen.“ „Ich hab ihm gesagt, es geht dir blendend und dass du ihn auslachst, weil er abwaschen musste.“ Tom grinste und Sam sah, wie Miguels Gesicht sich verzog. Begann er gleich zu heulen? „I am sorry, I am sorry, really, Tom’s just talking bullshit. Yeah, I am sorry!“ Tom sagte irgendetwas und eine Sekunde später kringelten sich er und Miguel beinahe auf dem Boden vor lauter Lachen. „Waswaswaswaswas?“ Sam war fassungslos und beobachtete, wie die beiden lachten. Dann sagte Tom noch einmal etwas, was Miguel eine Sekunde lang erstarren ließ. Dann lachten sie umso lauter. Sam hatte nur ein Wort verstanden: maricón, also schwul, was vermutlich in allen Sprachen dasselbe bedeutete. Hatte Tom ihn gerade geoutet? „Was ist denn mit den beiden? Están locos.“ Jemand war neben ihn getreten und instinktiv wusste Sam, dass es Juan war. Er zuckte zusammen und dann die Schultern. „Ich weiß es nicht. Sie sind auf einmal durchgedreht. Hast du dich von deinen Verehrerinnen losreißen können?“ Der dunkelhaarige Spanier, der übrigens auch noch äußerst heiß war, nickte. „Ja. Ich hab gesagt, ich mach mal Krankenpflege. Bin eben sozial. Also, warum sind die so verrückt?“ Sam wusste es nicht. Zum Glück hatten sich die beiden schnell wieder gefangen und Miguel wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Tut uns leid. Wir mussten gerade nur so lachen. Miguel ist echt witzig.“ Tom war einen gespielt geschmachteten Blick zu ihm hinüber. „Und worüber lacht ihr?“, fragte Juan. Sams Freund zuckte nur die Schultern. „Ist egal. Über Sam und... jemanden. Nicht so wichtig und so. Juan, machst du dir keine Vorwürfe, dass du Sam misshandelt hast? Er könnte dich anzeigen.“ Juan drehte sich zu Sam um. „Tust du es?“ Er dachte kurz nach. Würde er ihn verklagen, würde Juan ihn zwar nicht mehr mögen, aber immerhin könnte er ihn dann noch länger sehen, denn es würde ja nicht innerhalb der nächsten sechs Tage geschehen. Dann könnten sie noch länger zusammen sein. Aber dann würde Juan ihn eben nicht mehr mögen, wie schön erwähnt. Also, was sollte er tun? Er wollte Juan doch möglichst lange um sich haben. Deshalb: „Ja.“ Warum alle lachten, verstand er mal wieder nicht. Es war doch sein Ernst gewesen. „Was habt ihr über mich geredet?“, fragte Sam auf Deutsch und Tom zuckte die Schultern. „Nichts. Das verstehst du ohnehin nicht.“ „Du hast irgendwas von schwul geredet. Ich weiß es, ich hab das Wort rausgehört. Was war da?“ Tom grinste nur. „Nichts war da. Du glaubst auch, die ganze Welt dreht sich nur um deine Homosexualität, oder wie?“ Juan und Miguel verfolgten ihr Gespräch neugierig, doch so wie es aussah, konnte keiner von ihnen auch nur irgendetwas verstehen. Wie denn auch? Sie hatten kein Deutsch. Konnte man an dieser Schule überhaupt Deutsch wählen? „Hey, sag es mir jetzt! Ich hab doch ein Recht zu erfahren, was über mich gesagt wird.“ Zumindest, wenn es darum ging, dass er schwul war. Tom schüttelte den Kopf und grinste noch so lange, bis Sam ihn in den Arm zwickte. Und eine kleine Anmerkung hierbei: Sams Zwicker waren berüchtigt, denn er drückte so lange zu, bis es blutete, der andere eine Narbe hatte oder einfach losheulte. In Toms Fall war es meistens letzteres, denn dort wurde Sam richtig brutal. Immer. „Das hast du aber auch verdient“, sagte Sam mit schleppender Stimme und reichte Tom ein Taschentuch. Der schniefte nur. „Du Arschloch. Das tat weh. Warum hast du das getan?“ Auch Miguel und Juan schauten ihn verständnislos an. Juans Blick tat weh. Er bohrte sich in ihn hinein. „Weil du mir nicht gesagt hast, was du zu ihm gesagt hast. Das ist nicht fair, ich will wissen, um was es ging. Und wenn du dann meinst, mich anlügen zu müssen, werde ich eben sauer. Das ist doch logisch. Also bist du selbst schuld, oder nicht?“ Toms Augen wurden schmal und verrieten, dass er asiatische Vorfahren hatte, was man sonst nie sah. „Das liegt daran, dass ich es dir nicht sagen wollte, weil du selbst draufkommen könntest, du Vollidiot. Dir muss man auch immer alles dreimal sagen, bis du was kapierst. Aber hierbei helf ich dir nicht mehr.“ „Wobei?“, fragte Sam verblüfft und ignorierte Toms warnenden Unterton einfach. Tom jedoch seufzte nur, drehte sich zu Miguel um, sagte etwas auf Spanisch und stolzierte davon. „Find’s doch selbst raus“, waren die letzten Worte in Sams Richtung. Leider war sein Abgang nicht halb so cool, wie er es haben wollte, denn er stolperte über seine eigenen Füße, fiel hin und fluchte so sehr, dass ein deutscher Lehrer in der Nähe ihm eine Strafarbeit gab. „Was hat er gesagt?“, fragte Juan, der verwirrt betrachtete, wie Tom davonstapfte. Sam zuckte nur die Schultern. „Egal“, sagte er tonlos. „Miguel, kann ich nach Hause?“ Miguel nickte und konzentrierte sich weiter auf seine Serie. „Kann ich dazu ein Flugticket holen?“ Er nickte wieder. „Kann ich tausend Euro von dir haben?“ Miguel schaltete den Ton hoch. Sam seufzte. Er wusste, dass er nicht wegkonnte. Trotzdem wünschte er sich nichts sehnlicher, als die Spice Girls für einen Moment ausschalten zu können, damit Miguel ihm erklären konnte, was er und Tom geredet hatten. Wobei... warum eigentlich nicht? Beherzt stand er auf und griff sich die Universalfernbedienung; machte mit einem Schlag sowohl die Anlage als auch den Fernseher aus. Empört sprang Miguel auf und überschwemmte ihn mit einer Flut spanischer Schimpfwörter. Sam achtete nicht darauf – er verstand ja sowieso nichts und war sich nicht einmal sicher, ob es wirklich Ausdrückte waren – und zerrte ihn mit sich direkt in sein Zimmer hinein. Dort warf er (ja, warf) ihn aufs Bett und schaltete den PC an. Miguel wollte aufstehen, um zu María und Co zu gelangen, doch Sam drückte ihn zurück. „Wait a minute“, sagte er flehentlich und sah ihn dabei wahrscheinlich so beherzt an, dass Miguel es verstand. Er blieb sitzen. Sam öffnete Leo und winkte Miguel zu sich. Der rutschte zu ihm rüber und sah sich an, was Sam ihm sagen wollte. „¡Vamos, dime la verdad!“, wiederholte Sam, was vor ihm stand und schaute Miguel neugierig an. Ob er ihm nun wirklich die Wahrheit sagen würde, war fraglich. Miguel zog die Augenbrauen zusammen. „¿La verdad? Pero... de acuerdo.“ Dann senkte er die Stimme, bis er beinahe flüsterte. „Como María engañó a Pedro, Pedro estuve furioso y abandonadó a María. Es porque María ha liquidado a Pedro.“ Was? Sam verstand die Welt nicht mehr. Wieso redete er denn jetzt von María und Pedro? Er hatte doch nur wissen wollen, was zur Hölle mit Tom gewesen war. „Miguel, öh...“ Was hieß denn auf Spanisch, dass er etwas nicht verstand? Er gab es auf leo.org ein und ihm entfuhr ein überraschter Schrei, der sogar Miguel zum Verstummen ging. Endlich. Es machte alles einen Sinn. Er verstand auf einmal wirklich alles und er freute sich deshalb wie ein Schnitzel. Er wusste nämlich endlich, was los war. No entiendo hieß, dass jemand ihn nicht verstand! „Miguel“, sprach er die magischen Worte, „no entiendo.“ Verdutzt hielt der inne. „¿Qué? Als er Leo befragte, sagte es ihm, dass Miguel nur nach dem was fragte. Was war das Internet doch für eine herrliche Erfindung! Dieses Wort half ihm schon mal weiter und Stück für Stück fragte er Miguel nun, was er eigentlich mit Tom geredet hatte. Stolz beendete er dies und schaute Miguel an, der schweigend zurückschaute. Dann sagte er „Nada“ und ging hinaus, um eine weitere Soap anzuschauen. Auch ohne einen Übersetzer wusste Sam, was Miguel gerade behauptet hatte. Schnaubend vor Wut stand er auf und lief hinter Miguel her, der in Zeitlupe gerade den Fernseher wieder anstellte. „Was fällt dir eigentlich ein?“, schrie er ihn an und stelle sich vor den Fernseher. „Seit vier Tagen sitze ich hier rum, verstehe kein Wort, langweile mich ohne Ende und das einzig Gute, das ich hier habe, ist Juan. Und dann kommt Tom und lästert mit dir über mich, ohne dass ich auch nur ein Wort verstehe und ich komme mir vor wie ein Trottel, der nicht auf drei zählen kann! Ich hab es so satt, hier zu sein und würde mich am liebsten jede Sekunde lang übergeben. Also verrat mir, verdammt noch mal, endlich, was hier eigentlich LOS IST! ICH HAB ES ECHT SATT!!!“ Seine letzten Worte waren so laut, dass sogar Miguels Mamá aus der Küche gerannt kam, um nachzuschauen, was war. „Und noch was: Wenn ich noch einmal Paella bekomme, kotze ich euch auf den Fernseher!“ Miguel stand in der Zimmertür und wenn sich Sam nicht täuschte, hatte er ein Wörterbuch in der Hand. „Es tut mir leid“, sagte er auf Englisch. Oh. Du. Meine. Güte. Er sprach doch tatsächlich Englisch!!! Hatte er sogar verstanden, warum Sam vorhin ausgetickt war? Er saß schmollend auf seinem Bett und war froh, dass Miguel erst jetzt auftauchte. Vorhin hatte er nämlich geheult. Vielleicht hatte Miguel ja noch María anschmachten wollen. „Ich wollte nicht wehtun dir. Es war Schuld von Tom.“ Englisch konnte er wirklich nicht gut. „Ach ja? Ich hatte eher den Eindruck, es war auch deine Schuld“, gab Sam leise zurück. Miguel zog hektisch sein Wörterbuch heraus und suchte die Wörter zusammen. Sam diktierte ihm, was er gesagt hatte, und so bekam Miguel schließlich doch noch alles zusammen. Er schüttelte den Kopf und begann wieder, herumzusuchen. Währenddessen öffnete Sam für Miguel noch ein Übersetzungsprogramm, damit das Ganze etwas schneller ging. „Es war nicht meine Schuld. Tom hat gesagt, ich soll nichts sagen. Es geht dich auch nicht so viel an, dass Juan schwul ist, oder?“ „ER IST WAS???“ Miguel schaute schuldbewusst. „Tut mir leid, ich sollte dir ja nicht sagen.“ „Er ist schwuuuullll?“ Sam wollte es nicht glauben. Miguel nickte. „Ja, nur keiner weiß.“ Sam wollte es nicht glauben. Er packte Miguel und rüttelte ihn durch. „Bist du dir hunderprozentig sicher?? Bist du dir sicher??“ Miguel röchelte. „No recibo aire, Sam.“ „Bist du dir sicher??“ „¡Sí, sí, sí!“ „Definitiv?“ „¡Sí, sí, sí!“ Sam ließ Miguel los. Auf einmal fühlte er sich so frei, so leicht, so... ohnmachtsanfällig. Ehe er wusste, wie ihm geschah, fiel er in eine tiefe, dunkle Schlucht und freute sich des Lebens. Und endlich tat auch seine Hand nicht mehr weh. Kapitel 4: Tag 5 ---------------- Hey :) Es tut mir leid, dass ich hierfür immer so lange brauche, aber ich halt mich nicht wirklich oft auf Animexx auf xD Jedenfalls komme ich auch nie zum Antworten auf die Kommentare, aber ich freue mich über jeden einzelnen wie ein Schnitzel und möchte mal danke sagen. Also: DANKE!! Ihr seid toll Und jetzt das Kapitel. ________________________________________________ Tag 5 Schon bevor er die Augen aufschlug, konnte er das Pochen seiner Hand kaum ertragen. Nachdem er sich aber einmal bewegt hatte, wurde es beinahe unerträglich. Irgendwann fühlte sich Sam dazu in der Lage, einfach aufzustehen und ein paar Tabletten einzuwerfen. Irgendwie fing der Tag schon so richtig scheiße an. Erst im Badezimmer, als er sich mit der linken Hand die Zähne putzen musste, fiel ihm wieder ein, was gestern passiert war und die Zahnbürste fiel ihm aus der Hand. „Juan ist schwul!“, rief – brüllte – er seinen Badezimmerspiegel an. Der reagierte leider nicht, nicht einmal, als er es mit der Bloody Mary Geschichte versuchte, um mit irgendjemandem zu reden. Fehlanzeige. Seine Hand tat immer noch weh. Vielleicht würde Juan ja auf dem Gips unterschreiben? Das wäre toll. Seine Handynummer bräuchte er auch noch und das wäre doch die perfekte Gelegenheit, oder nicht? Sams Platz wurde von Fernando eingenommen. Tom ignorierte ihn komplett. Etwas irritiert grüßte Sam seinen Freund, der jedoch mit Fernando über irgendetwas fachsimpelte und Sam ließ sich in einen Sitz hinter ihm fallen. „Hey, Tom. Morgeeen. Rate mal, was ich rausgefunden habe!“ Tom ignorierte ihn immer noch. „Ich weiß, dass du sauer bist ohne Ende und es tut mir leid, okay?“ „Ich bin nicht nur sauer ohne Ende, ich hab einfach keinen Bock mehr auf dein Gejammer“, fauchte Tom nach mehreren Sekunden Stille. „Ich hab wirklich keine Lust mir, mir ständig diese Scheiße anzuhören. Ich hab dich nach Spanien mitgeschleppt, damit ich nicht so allein bin und damit ich meinen besten Freund dabeihabe, verdammt noch mal! Aber inzwischen hab ich das Gefühl, dass wir nie richtige Freunde waren.“ Sams Augen weiteten sich. „Was redest du denn da für eine Scheiße? Du bist mein einziger und bester Freund! Ich hab gestern sogar Miguel angeschrieen, weil ich so sauer war. Na gut, eigentlich hab ich es getan, weil ich wissen wollte, was ihr geredet habt, aber er wollte mir nichts sagen und dann war ich sauer und ich hab rumgeschrieen und als ich in meinem Zimmer war, hab ich geheult – das geb ich echt zu – und wollte mit dir reden. Aber es ging nicht und ich hab dich vermisst, weil du mein bester, einziger, ehrlichster, tollster Freund bist! So.“ Inzwischen drängelten sie sich aus dem Bus, sodass Sams Worte ein wenig untergingen. Trotzdem hörte Tom jedes einzelne davon. Er ging weiter. „Und morgen ist dir das alles wieder egal. Es geht immer nur um dich.“ Sam blinzelte. „Es ging nie um mich. Es geht nur jetzt um mich, weil ich hier ohne dich total aufgeschmissen wäre. Außerdem wäre ich sicherlich nicht nach Spanien mitgekommen, wenn ich egoistisch wäre ohne Ende, oder? Denk da mal drüber nach.“ Er drängte sich an Tom vorbei ins Gefängnis, das sich Schule schimpfte, und fühlte sich elend. Also doch ein Scheißtag, egal, ob Juan schwul war oder nicht. „Sam, warte“, hörte er Toms Stimme hinter sich. „Okay, es war scheiße von mir zu behaupten, dass du total egoistisch bist. Aber es nervt mich einfach, dass andauernd das Thema ist, dass irgendein Typ geil aussieht. Das find ich nicht gut. Wir reden nie über Dinge, die mir Spaß machen oder so. Ich kann es ja verstehen, dass du keine Mädchen magst, aber ich red auch mit dir über Juan und es stört mich normalerweise nicht. Du könntest das auch mal versuchen.“ „Ich rede doch mit dir über solche Dinge“, verteidigte sich Sam. „Es kommt eben nicht oft vor, dass du überhaupt über so was reden willst.“ „Ja, wie denn?“, gab Tom zurück und starrte ihn feindselig an. Sam blickte zurück. Einfach so. Lange. Sehr lange. So lange, dass die Schmerztablette, die er in der Wartezeit auf den Bus eingeworfen hatte, zu wirken begann und die Wirkung wieder abklang. Wahrscheinlich hatten sie die erste Stunde schon verpasst oder so – zumindest kam es Sam so vor. Das war jedoch unwahrscheinlich, denn auf einmal verpasste ihm jemand einen harten Schlag auf den Rücken. „Hallo, amigos. Was steht ihr hier so komisch rum?“ Juan. Tom seufzte. „Wir haben eine stille Auseinandersetzung, wer von uns am meisten benachteiligt wurde.“ Juan schaute verwirrt. „Und wer gewinnt?“ „Unentschieden“, sagten beide gleichzeitig. Und lächelten. Er ist schwul, hat Miguel gesagt. Ist das nicht geil? Mhh. Weißt du, was noch geil ist? María? Nee, Francesca. Siehst du ihre Brüste? Sam räusperte sich. Äh, ja. Sie sind... öhm... aus Fleisch. Tom lachte und unterbrach die sinnlose SMS-Schreiberei, indem er vorgab, der Frau vor ihnen ganz genau zuzuhören. Sie hatten vorhin ganz vergessen, dass sie heute nicht in die Schulen gehen, sondern einen sinnlosen Tagesausflug machen würden. Glück oder auch kein Glück. Glück für Tom, weil die Führerin, die sie durch die Kleinstadt führen sollte, einfach eine Monsteroberweite hatte, was Tom normalerweise nicht zufriedenstellte, in diesem Falle aber völlig ausreichte. Kein Glück für Sam, weil der doch eigentlich Juan zur Rede stellen wollte, da er schwul war und das nicht tun konnte. Seine Hand schmerzte, während er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was diese Frau da eigentlich sagte. Er hatte jedoch keine Ahnung, da ihr Deutsch klang wie auswendiggelernt von einem Menschen, der sonst keines konnte. „Tom, was will die uns sagen?“, nörgelte er, doch Tom scheuchte ihn nur weg. Er hörte zu oder zumindest starrte er ihre Brüste an. Also begnügte er sich damit, in der Luft herumzustarren und alle paar Minuten einen neuen Menschen damit zu nerven, was eigentlich gerade los war. Oder auch alle paar Sekunden. Kam ganz auf die Sichtweise an. Sie erzählt von der Stadtgeschichte. Und jetzt sei still. Danke. Glaubst du, dass Juan mit mir zusammen sein will, wenn er eh schwul ist? Keine Ahnung. Glaubst du, dass die ihr Oberteil auszieht, wenn ich sie frage? Irgendwie kam es ihm so vor, als ob sie aneinander vorbeiredeten. Er gähnte. Es nahm kein Ende; wurde immer noch schlimmer. Die Stimme der Frau wurde immer noch penetranter und die Spanier unter ihnen sahen ebenso verwirrt aus wie Sam sich fühlte. Ihre Austauschpartner hatten unbedingt mitkommen wollen, warum auch immer – wahrscheinlich hatten sie keinen Bock auf Schule gehabt – und so hatten sie sie jetzt auch noch an der Backe kleben. Miguel stand neben Sam und sah elend aus. Irgendetwas war mit ihm und Sam nahm sich fest vor, herauszufinden, was war. Er wollte kein Egoist sein. Ganz sicher nicht. „Frag ihn, was er hat“, forderte Sam Tom auf, der eigentlich direkt neben ihm stand. Sich Textnachrichten zu schreiben machte nur mehr Spaß. Tom tat das Gewünschte und Miguel gab anscheinend zurück, dass er Angst hatte. Sam starrte Tom an und Tom starrte Miguel an, der wiederum den Boden anstarrte. „¿Por qué?“ Tom lauschte der Antwort, dann drehte er sich wieder zu Sam um, der sofort sah, dass er sich das Lachen verkneifen musste. „Er macht sich Sorgen um María, musst du wissen. Er glaubt, sie ist selbstmordgefährdet und das belastet ihn sehr.“ Einen Augenblick lang schwiegen sowohl Tom als auch Sam. Dann fingen sie an zu prusten. „Weißt du“, sagte Sam, als sie sich einen Augenblick lang auf den Stufen irgendeiner Treppe ausruhten, „mit Miguel ist mein Leben hier zwar verdammt anstrengend, aber ohne ihn wäre es total langweilig.“ Tom nickte. „Ja. Und meines wäre langweilig ohne die Mädels in der Nachbarschaft. Und dich.“ Er lächelte und stupste Sam an, der rot anlief. Tom war ja soooo lieb. „Danke. Ohne dich wäre es auch scheiße“, gab Sam das Kompliment zurück. Einen Augenblick schwiegen sie und hörten den süßen Klängen von Nina und Isabella zu, die sich gegenseitig anbrüllten, nur weil Nina mit Isabellas Freund geschlafen hatte. Dann holte Tom tief Luft: „Wie willst du es eigentlich anstellen? Also, wie willst du das Thema auf Juans Sexualität lenken?“ Sam zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht genau. Ich dachte eigentlich, ich frag ihn einfach, warum er so tut, als wäre er hetero, und dann wäre alles okay.“ Tom verdrehte die Augen. „Du spinnst. Das kannst du nicht machen, wenn es um so was Wichtiges wie Sexualität geht.“ „Stimmt“, mischte sich Lena ein, die mit Simone ein bisschen weiter hinter ihnen saß und die garantiert gelauscht hatten, „Jungs sind da sehr empfindlich, wenn sie nicht wissen, dass der andere auch schwul ist.“ Mit einem Ruck drehte sich Sam zu Lena um. „Wie bitte?“ Wenigstens hatte sie den Anstand, verlegen zu wirken. „Na ja, ich lese ja viele Fanfictions und da...“ „Was liest du?“, kam es gleichzeitig von Sam, Tom und Simone, die ratlos schauten. „Wie jetzt, ihr kennt keine Fanfictions? Seid ihr ungebildet. Egal. Jedenfalls sind da viele Geschichten von Schwulen drin und die haben alle monstermäßige Probleme, anderen zu sagen, dass sie schwul sind, wenn sie nicht wissen, dass die es ebenfalls sind. Um wen geht es bei euch eigentlich genau?“ Das Thema umging Sam lieber, da Lena und Simone glühende Juananhängerinnen waren und es seinem Ruf sicherlich nicht gut tat, einfach so geoutet zu werden. „Äh... ich hab damit aber keine Probleme, damit ihr das wisst.“ Simone und Lena schauten sich bedeutend an. Dann: „Weiß Miguel davon?“ „Öh...“ Sam stutzte. Wusste Miguel etwas? Er hatte ihn schon gefragt, ob er Juan sehr mochte und auch, dass Juan schwul war. Aber... hmm... „Ja“, antwortete Tom an seiner Stelle. „Erst gestern haben wir davon gesprochen.“ Erst jetzt fiel der Groschen bei Sam. „Aber Miguel ist doch nicht schwul!“, sagte er entrüstet und Lena und Simone schauten sich wieder auf die gleiche Art und Weise an wie vorhin. „Nicht?“, fragte dann Tom grinsend und Sams Kinnlade fiel auf die Erde. „Nee, oder?“ „Ach, komm. Hast du nichts gemerkt? Ich dachte, du seiest der Experte“, schrie Simone heraus und kringelte sich vor Lachen. „Wie jetzt?“ „Ach, ist dir das etwa nicht aufgefallen? Die Soaps, das Essen, die Spice Girls? Na, klingelt’s?“ Tom sah ihn gespannt an und Sams Kinnlade fiel, falls das möglich war, noch weiter runter als vorhin schon. Er warf einen Blick zu Miguel hinüber, der in einer Zeitschrift blätterte, um sich darüber zu informieren, was in der nächsten Woche so alles in seinen Soaps passieren würde. Er merkte nicht, dass gerade über ihn gesprochen wurde. „Neiin“, sagte Sam gedehnt, „ich dachte, der sei einfach so erzogen worden. Seine Mamá ist ja etwas seltsam.“ „Das bestimmt auch“, vermutete Lena. „Nur ist dabei ganz gewiss auch ein dickes, fettes Maß an Homosexualität.“ „Noch mal zurück zu ihm“, bat Sam nach fünf Minuten, in denen immer wieder lautes Lachen ihre Gespräche unterbrach. „Kennt ihr den schon? Da sind zwei Bauarbeiter. Einer arbeitet im Erdgeschoss und einer im zweiten Stock. Der im zweiten Stock merkt, dass ihm eine Säge fehlt. Da er zu faul ist, runterzugehen, signalisiert er dem anderen, der nichts hört: ‚Hey, ich’, dabei deutet er auf sich, ‚brauche’, er reibt über seinen Magen, ‚eine Säge’ und sägt in der Luft herum. Der Mann unten beginnt damit, sich einen runterzuholen. Der Obere dreht beinahe durch und rennt nach unten. ‚Hey, was soll das???’ Der andere grinst und meint: ‚Ja, ich wollte nur sagen, dass ich gleich komme.’“ In dem Fall musste sogar Sam mitlachen. „Willst du davon ablenken, dass ich noch mal darüber sprechen will?“, versuchte es Sam erneut. „Hey, seht ihr das? Da hinten ist eine gute Tapasbar. Ich glaub, die hat mir Fernando empfohlen. Wollen wir mal hin?“ Im Nu waren Lena, Simone und Tom weg. Sam saß alleine da und fragte sich, mit wem er jetzt reden sollte, wenn sonst nichts mehr ging. Vielleicht konnte er sich ein Schild basteln. Schwuler, alleingelassener Junge sucht nette Freunde zum Zuhören und Helfen. Alle, die interessiert sind, sollen mir einfach auf die Schulter klopfen. Ich bin pflegeleicht und jammere nur, wenn man mich nicht will. Käme das nicht gut an? Es wäre bestimmt... „So, Samuel, alleine? Das ist aber nicht gut, wir sind doch auf diesem Austausch, weil wir alle die Austauschpartner kennenlernen wollen, die wir so haben“, unterbrach einer seiner Lehrer seine Gedanken. Dieser Freak. Und immer sprach er von wir.[i/] „Dein Austauschpartner ist Miguel Rojo Perez, ja?“ Sam nickte. „Ja. Das war vorgesehen. Sein Englischlehrer jammert anscheinend immer, dass er kein Wort Englisch kann und ich jammere immer, dass du kein Wort Spanisch kannst. Wir dachten, es wäre vielleicht ein interessantes Projekt, euch zusammenzustecken, was meinst du?“ Sam verzog unmerklich das Gesicht. Lehrer und ihre Projekte. „Ist schwer. Wir reden immer aneinander vorbei. Äh, wo wir gerade davon reden: Ich geh mal zu ihm vor und schau, ob es ihm gut geht und so.“ Er brauchte eine Ausrede, weil es für ihn immer schrecklich war, mit Lehrern zu reden. Der nickte seufzend und winkte ihn davon. Gerettet. „Hey, Miguel. Du bist also schwul?“ „¡Hola! ¿Que? No entiendo.“ „Ja ja, du verstehst mal wieder nichts, schon klar. So you are gay?“ „¿Quieres una patata?“ Er hielt ihm eine Kartoffel hin – war er krank? Er hatte gar keine Paella dabei. „Seit wann denn? Ich weiß es seit ungefähr drei Jahren, aber schon vorher war es komisch für mich, mit Mädchen zusammenzusein.“ „Las patatas están muy bien. ¿Catas una?“ Er pries die Kartoffel erneut an. „Hattest du schon Freunde? Also, keine Händchenhalttypen, sondern richtige? Ich nämlich nicht so wirklich.“ „La paella está abombarsa.“ Er sah traurig aus. „Ich bin total verknallt in einen von hier, du weißt ja schon, in wen. Hmm... irgendwie hab ich das Gefühl, wir reden aneinander vorbei. Da fällt mir ein: Ich dachte, du stehst auf Victoria Beckham? Wie kannst du dann schwul sein?“ „Das nennt man bisexuell“, kommentierte Sarah, die eben vorbeiging. „Auf Spanisch heißt das so: Miguel, ¿eres bisexual?“ Miguel nickte und erwiderte etwas, das Sarah mit „aber nur wegen Victoria Beckham“ übersetzte. Komische Leute waren das hier. „Mann, warum bist du nicht mitgekommen?“ „Ihr wart zu schnell weg. Ich hatte keine Lust mehr, euch hinterherzurennen.“ Sam gähnte demonstrativ. „Guut, ich hab vielleicht etwas abgelenkt, aber das nur, weil es mich ein bisschen genervt hat, vor den Mädchen über Juan zu sprechen, ¿comprendes?“ „Was?“, fragte Sam genervt nach. „Ob du das kapiert hast, wollte ich wissen.“ Sam nickte. „Passt schon. Ich wollt vor Lena und Simone auch nicht unbedingt darüber reden, dass es Juan ist, den ich mag und so.“ „Siehst du ihn heute noch?“, wollte Tom neugierig wissen. Sam zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab ihm gestern im Krankenhaus meine Handynummer gegeben. Mal sehen, ob er sich meldet oder so.“ „Musst wahrscheinlich noch eine Weile warten“, vermutete Tom. Da lag er falsch. Kaum eine Stunde später las Sam ihm während eines Kurzaufenthaltes in einem Museum folgende SMS vor: Hey, Sam. Hoffe, der Hand geht’s gut. Dir auch? Lust auf ein erneutes Basketballspiel bei mir zu Hause? Juan :) Sam grinste. „Wow. Eine SMS von Juan! Ihr werden weitere folgen. In den letzten wird es darum gehen, dass unser letzter Telefonsex sehr...“ Er brach ab, als er Toms irritierten Blick spürte. „Bleib auf dem Teppich, Mann! Er will nur mit dir Basketball spielen. Wie willst du das überhaupt machen mit deiner Hand?“ „Ich bin Cheerleader“, sagte Sam überzeugt. „Ich feuere Juan an, damit er schon mal einen Vorgeschmack auf mich bekommt.“ Diesmal konnte Sam sogar etwas verstehen, warum Tom lachte. „Das war ja wohl Kultur hardcore“, stöhnte Tom und warf sich auf die Erde. Sam tat es ihm gleich. „Die Spanier haben’s gut, die durften wenigstens nach der Mittagspause wieder in die Schule gehen. Aber wir... das ist doch einfach ekelhaft. Was interessieren mich Museen und Kunstgalerien?“ Tom streckte einen Arm in die Luft. „Dito. Aber so was von. Haben die eigentlich eine Ahnung, wie sehr es mich kratzt, dass hier im Mittelalter mal irgendwas passiert ist?“ Er seufzte. „Egal, es ist endlich vorbei.“ Nach einer langen und friedlichen Stille fragte Sam leise, ob Tom wisse, wo Juans Haus sei. „Keine Ahnung. Müsste irgendwo in der Nähe von Miguel sein, oder? Er hat dich ja letztes Mal begleitet.“ Sam nickte. „Ja, aber das war was anderes. Meinst du, Miguel weiß, wo er wohnt?“ „Frag ihn doch.“ Tom lachte leise. Leider nicht leise genug für Sam. „Haha. Lustig, echt. Ich kann Juan auch selbst fragen. Immerhin hab ich jetzt seine Nummer. Damit kann ich sooooo viel machen.“ Tom drehte sich zu Sam rüber und verdrehte die Augen. „Verschon mich mit deiner Telefonsexnummer, ja? Er wird sowieso nicht mir dir zusammenkommen.“ Sam zog einen Flunsch. „Was soll das? Das weißt du doch gar nicht.“ „Doch, weiß ich. Denn dazu müsstest du ihm erst mal sagen, dass du schwul bist und dass du weißt, dass er es ebenfalls ist.“ Sam wollte etwas erwidern und machte schon den Mund auf. Dann fiel ihm ein, dass es der Wahrheit entsprach und schloss ihn wieder. Verdammt! „Trotzdem hab ich seine Nummer“, sagte er trotzig und wählte sie. „¿Dígame?“, meldete sich Juan mit seiner gewohnt tiefen Stimme. „Äh, nein, hier ist Sam.“ Juan lachte. „Hi, Sam. Wie geht’s dir?“ „Och, ganz gut. Und diiir?“ Er lauschte gespannt, wie Juan schilderte, was er heute getan hatte. „Und, kommst du zum Spielen?“, fragte er irgendwann. Sam reckte einen Daumen in Richtung Tom und strahlte. „Ja, gerne. Nur kann ich ja nicht wirklich spielen, wie du weißt.“ „Ich weiß.“ Es klang, als ob er sich das Lachen verbeißen müsste. Warum? „Ich meinte auch, dass wir Playstation spielen. Dazu brauchst du zwar beide Hände, aber damit kann man leben. Was meinst du?“ „Find ich gut“, gab Sam erleichtert zu. „Jetzt musst du mir nur noch sagen, wo du wohnst, ja?“ Er hörte den Ball schon von weitem, bevor er auch nur in die Nähe von Juans Haus kam. Juan warf einen Korb nach dem anderen und... trug dabei kein T-Shirt!! Oh, Wahnsinn!! Keuchend blieb Sam stehen und starrte fasziniert Juans Oberkörper an. Er glänzte in der Sonne. Juan war unheimlich muskulös. Zwar hatte er keinen extremen Sixpack, aber das störte Sam unter keinen Umständen. Er starrte einfach so vor sich hin, und sah zu, wie Juan seinen Ball in den Korb warf. Immer wieder. „Hey. Was starrst du hier vor dich hin?“ Juan hört damit auf, seinen Ball zu werfen und grinste Sam an. Der schüttelte sich kurz und lächelte dann ebenfalls. „Nichts. Hattest du Sehnsucht nach deinem geliebten Basketball?“ „Nee, wieso?“, fragte Juan verwirrt und zog die dunklen Brauen zusammen. Wortlos deutete Sam auf den Basketball. Juans Blick fiel kurz darauf, dann wurde er rot. „Upps. Ja, hatte ich. Ähm, wollen wir reingehen?“ Er warf den Ball achtlos nach hinten und bat Sam hinein. Eigentlich hatte der Tom versprochen, heimlich ein paar Bilder von Juans Haus zu machen, das die anderen in der Schule liebevoll „Palast“ nannten. Aber er vergaß es, sobald er das Haus betreten hatte. „Wow“, brachte er nur stockend hervor. Juan seufzte. „Ja, so reagiert jeder hier. Komm einfach mit hoch in mein Zimmer, dann ist alle deine Bewunderung verflogen.“ Sam nickte. „Ähm... okay.“ Er trat so vorsichtig auf, als würden seine Schritte den Boden zerstören, wenn er fest aufstampfte. „Och, mach dir nichts aus dem Marmor-, Glas- oder was-auch-immer-Boden, ja? Ich renn da immer mit voller Absicht drüber und lass total schwere Sachen fallen und so. Macht nichts und so.“ Sam nickte. „Okay. Ich geb mir Mühe.“ Juan geleitete ihn nach oben in sein Zimmer. Das war schon eher nach Sams Geschmack. Überall lag Zeugs verstreut, viele Klamotten, Hefte, Bücher, halbleere Pizzaschachteln, Sportschuhe, Taschen und tausend Sachen mehr. Das einzige, was frei von Dreck war, war Juans großes – nein, riesiges! – Bett. Wahnsinn. Außerdem hatte er einen Megaflachbildfernseher im Zimmer und eine Playstation 3. Ungefragt ließ sich Sam auf das Bett fallen. „Mann, das ist der Wahnsinn. Ich kann mein Spiegelbild im Fernseher sehen. Das ist geil.“ Er winkte sich selbst zu und schaute sein Ebenbild entzückt an. Juan nickte grimmig. „Ja. So was krieg ich immer. Ansonsten sind meine Eltern nie da.“ Sams Lächeln verblasste. „Tut mir leid für dich. Ich kenn das.“ Juan drehte den Kopf und sah ihn traurig an. „Ja? Wirklich? Kennst du das, wenn sie deinen Geburtstag vergessen und an Weihnachten mal schnell in die Staaten rüberfliegen, um irgendeine Modenschau zu sehen? Ich hab noch nie ein Osterei bekommen oder Silvester mit ihnen gefeiert und noch mal Geschenke bekommen. Geschenke bekomme ich nämlich immer nur dann, wenn sie ihr schlechtes Gewissen betäuben wollen.“ Er hielt inne, um Luft zu holen. Sam schüttelte schnell den Kopf. „Nein. Ich kenn nur, dass sie nie da sind. Und wenn sie es mal sind, ignorieren sie mich komplett. Sie haben seit der dritten Klasse nicht mehr nach meinen Noten gefragt und als ich eine Empfehlung fürs Gymnasium bekam, haben sie das nicht mal gerafft. Wahrscheinlich bin ich in Spanisch nur so schlecht, um ihnen zu zeigen, dass ich auch noch lebe. Hat leider nichts gebracht und ich hab es nach einer Weile bereut. Da konnte ich es allerdings schon nicht mehr rückgängig machen, dass ich so schlecht war.“ Sie schwiegen. Lange. Irgendwann holte Juan tief Luft und lächelte wieder. „Sieht so aus, als hätten wir beide beschissene Eltern, was? Wollen wir es einfach mal vergessen und spielen?“ Leider stellte sich schnell heraus, dass Sam mit seiner Hand nicht spielen konnte. Sie begann nämlich wieder zu pochen. Immerhin war der Bruch erst einen Tag alt und von daher war es nicht gerade sinnvoll, Playstation zu spielen. Also legten sie die Controller wieder weg und begannen einfach so damit, irgendetwas zu reden. Zuerst über die Schule. Dann Miguel. Danach über Musik. Es stellte sich heraus, dass sie einiges gemeinsam hatten. Vor allem die Liebe zu Bands wie A Change of Pace... Sam überlegte fieberhaft, wie er das Thema auf Juans Sexualität lenken sollte, doch wie sich herausstellen sollte, war das gar nicht nötig, da Juan von selbst darauf zu sprechen kam. „Weißt du, ich mag es seit einiger Zeit einfach nicht mehr, von tausend Mädchen umschwärmt zu werden.“ Juan spielte mit einem Zipfel seiner Bettdecke herum und starrte angestrengt darauf, so als ob sie gleich damit beginnen würde, mit ihm ein Duett zu schmettern. „Ja, hast du erwähnt“, sagte Sam und versuchte, auf keinen Fall zu neugierig zu klingen. Juan nickte. „Ja. Gestern, im Krankenhaus. Und davor. Da wusste ich nicht, ob ich es dir sagen soll. Aber irgendetwas sagt mir, ich soll es tun. Na gut, irgendjemand. Dein amigo Tom, um genau zu sein. Weiß nicht, warum.“ Sams Gedanken rasten. Was hatte Tom ihm gesagt, dass er es ihm sagen wollte? Was war los mit Juan? Und wieso sah er ihn so komisch an mit seinen wunderschönen, dunklen Augen? „Sag es mir einfach. Ich töte dich ja bestimmt nicht oder so.“ Juan sah ihn verlegen an. „Na ja. Es ist mir ein bisschen peinlich, um ehrlich zu sein. Vor allem kenn ich dich ja kaum und so. Vielleicht ist das besser. Meinen Freunden hier kann ich jedenfalls nichts sagen, die würden mich danach nicht mehr wollen.“ Er sagte es nicht einmal traurig, sondern einfach sachlich und bestimmt. Sam suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen von Wut oder sonst etwas, doch da war nichts, einfach nur Ausdruckslosigkeit. „Okay, peinlich ist das falsche Wort. Eher unangenehm. Und ich verstehe das Ganze nicht so richtig. Ist noch neu für mich und ich versteh vieles noch nicht.“ Er blinzelte Sam verzweifelt zu. „Verstehst du?“ „Öhm...“ „Ich wusste es!“, schrie Juan los. „Ich hätte es nicht sagen sollen. Jetzt hasst du mich und so. Scheiße! Wenn du mich eklig findest, solltest du jetzt besser gehen.“ „Hö?“, setzte Sam an, doch Juan jammerte weiter, dass Sam ihn jetzt bestimmt überhaupt nicht mehr mochte und wollte – wieso wollen? – und dass doch alles Scheiße sei. „Stopp mal!“, unterbrach ihn Sam irgendwann verwirrt, „worum geht es hier eigentlich?“ Juan hielt mitten in der schönsten Klage inne und starrte Sam überrascht an. „Wie bitte?“ „Du hast mir gar nicht gesagt, warum ich dich jetzt hassen sollte.“ Sam grinste. Was sollte er denn bitteschön sonst tun? Juan schaute verwirrt aus der Wäsche. „Ich hab dir nicht gesagt, warum ich mich so aufführe?“ Sam nickte. „Ja. Aufklärung, bitte.“ Juan lächelte ganz leicht. „Hab ich dann eine Chance, dass du mich noch magst?“ „Kommt drauf an“, erwiderte Sam grinsend und streckte sich auf dem Bett aus. Juan lehnte sich gegen die Wand. „Worauf?“, wollte er dann wissen. „Weiß nicht. Auf die Nachricht. Sag schon.“ Der dunkle Spanier nickte. „Ja... gut. Ich bring es jetzt ganz schnell hinter mich. Es ist das erste Mal, dass ich es überhaupt jemandem sag, der persönlich vor mir steht. Ich fürchte, ich bin... schw...“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „... ul“, beendete Sam locker den Satz und schaute Juan herausfordernd an. „War das jetzt so schwer?“ Juans Mund klappte auf. „Www... was? Woher...“ „Miguel hat es mir gesagt. Und der weiß es von Tom. Woher der es wusste, kann ich dir nicht sagen. Der hat für so was eine Art achten Sinn. Wofür Sinn sechs und sieben stehen, weiß ich nicht mehr, aber acht ist für die Sexualitätsbestimmung von Menschen. Das heißt...“ „Moment mal“, unterbrach ihn Juan einfach so. „Du wusstest es? Heißt das, du wusstest es und willst trotzdem noch was mit mir zu tun haben????“ Sam blinzelte. „Natürlich. Oder glaubst du, ich brech den Kontakt ab, nur weil du schwul bist?“ „Ich dachte, du magst vielleicht keine Schwulen“, flüsterte Juan mit heiserer Stimme. „Ich dachte, du würdest mich dann nicht mehr mögen.“ „So ein Quatsch, dann dürfte ich mich selbst ja auch nicht mehr mögen. Wieso sollte ich...“ „WIE JETZT?“, schrie Juan auf einmal los und sprang auf, wobei er sich den Kopf an die Decke schlug, da er immer noch auf dem Bett stand. „Autsch! Was meinst du damit? Bist du etwa auch schw...“ „... ul“, ergänzte Sam noch einmal. „Du scheinst Probleme mit dem Wort zu haben. Ja, bin ich. Schon lange.“ Juans Kinnlade musste inzwischen schon im unteren Stockwerk angekommen sein. „Zur Hölle, warum sagst du das?!“ „Was?“ Sam setzte sich wieder auf und starrte Juan an, der sich eben wieder fallengelassen hatte und ihn irgendwie misstrauisch ansah. „Wenn du mich verarschen willst, bring ich dich um. Ich merk so was schnell.“ Sam gähnte. „Wenn ich dich verarschen wollte, wäre das hier alles ganz anders abgelaufen, nicht?“ Juan kniff die Augen zusammen und verzog den Mund. „Kann schon sein“, murmelte er dann recht verschlossen. „Ich muss aber gestehen, dass ich dir immer noch nicht so recht glaube. Um genau zu sein, gar nicht.“ Endlich! Sams große Stunde war gekommen. „Würde einer, der dich nur verarschen will, das hier tun?“, fragte er mit sanfter Stimme, beugte sich vor und küsste Juan mitten auf den Mund. Zuerst schien es so, als würde er gar nicht darauf reagieren. Doch mit einem Mal schlang er seine Arme um Sam und hielt ihn so fest, um ihn besser küssen zu können. Anfangs war es nur ein trockener Kuss auf den Mund, doch dann fanden automatisch ihre Zungen zueinander und es wurde ein unheimlich langer Kuss, der Sam ein wunderbarsupertollesunheimlichschönessagenhaftesgigantisches Bauchkribbeln einbrachte. Er lächelte in den Kuss hinein und wünschte sich, dass es nie enden würde. Leider tat es das irgendwann. Sam kostete noch einen Moment den Geschmack von Juans Lippen aus, dann zog dieser sich zurück und starrte ihn an. „Das war...“ „... unglaublich“, beendete Sam den Satz. Juan lächelte scheu. „Eigentlich wollte ich der beste Kuss meines Lebens sagen, aber unglaublich trifft es wohl besser.“ Sam nickte; noch berauscht von diesem Kompliment und Juans Lippen. „Ich hab schon lange nicht mehr so gut geküsst“, gab er dann zu und lief rot an. „Und ich noch nie“, gab Juan gelassen zurück und musterte Sam ruhig. Der fing auf einmal an zu lachen. Sofort wurde Juans Blick misstrauisch und wütend. „Du hast mich doch nur verarscht!“ Sam schüttelte den Kopf, immer noch lächelnd. „Nein, ich hab gerade nur daran gedacht, dass ich mir das seit einiger Zeit wünschte. Selbst als ich dich noch nicht kannte, wollte ich das unbedingt. Vielleicht war es Schicksal, dass du mir die Hand gebrochen hast oder so. Sonst hätte ich deine Handynummer sicherlich nie bekommen.“ Juan entspannte sich wieder. „Ich hätte sie dir auch so gegeben, denke ich. Ich habe die letzten Nächte immer nur von dir geträumt, weißt du das? Normalerweise interessieren mich die Deutschen hier einen Scheißdreck, aber als ich dich das erste Mal sah, wusste ich sofort, dass ich es versuchen muss, mit dir zu reden.“ „Schade nur, dass da immer dein Hofstaat in der Nähe war“, murmelte Sam. Juan nickte. „Die nerven mich vielleicht, das kannst du mir glauben. Immer Juan hier und Juan da und Juan, kann ich dir die Schuhe ablecken, damit sie sauber sind? und so. Bäh.“ Sam lächelte leicht und unterbrach Juans Schilderung mit einem erneuten Kuss. Wie schön das Leben doch manchmal sein konnte! Natürlich lief im Wohnzimmer der Fernseher. Juan hatte ihn bis vor die Haustüre gebracht und wie es sich für einen Freund gehörte, hatte er ihm einen schönen Abschiedskuss gegeben. Ja, richtig. Freund. So richtig. Boyfriend. Novio – wie Juan ihm übersetzt hatte. Juans Eltern waren sie nicht mehr über den Weg gelaufen. Sonst hätte Sam ihnen wohl erzählt, dass er und Juan jetzt ein Paar waren. Ein echtes, wahres Liebespaar! Unglaublich, oder? Der einzige Nachteil war, dass sie in der Schule nicht zusammen rumknutschen konnten, weil Juan nicht wollte, dass ihn auf einen Schlag keiner mehr mochte. Obwohl Sam ihm versichert hatte, dass das nicht der Fall war, weil Juan einfach jeder immer mochte, wollte Juan es nicht und Sam verstand es trotz seiner Zweifel. „Hallo, Migueeel. Hallo, Maríííííííía.“ Beinahe schon singend sprang Sam auf die Wohnzimmercouch, auf deren anderem Ende Miguel saß. Na ja... jetzt saß er nicht mehr, sondernd war in die Luft gesprungen und hielt seine Hand an die Brust. „Mi corazón...“, murmelte er dabei, was auch immer das heißen sollte. „Migueel, Juan und iiich... wir sind zusahammen!“ Er sprang auf und ab und hin und her und hierhin und dorthin und freute sich einfach. Miguel lehnte sich ab und auf, her und hin, dort- und hierhin und freute sich einfach nicht. Er wollte seine Serie sehen und verstand sowieso nicht, was Sam ihm da mitteilen wollte. Als Sam das verstand, hörte er auf, sich zu freuen und raste zum PC. Miguel, der dachte, er sei nun aus dem Schneider, entspannte sich wieder und starrte weiterhin María an, die in der U-Haft gerade durchdrehte. Sam gab „ich“ ein „bin“, „zusammen“ und „mit“. Dann raste er zu Miguel zurück und sagte: „Yo estoy conjunto con Juan“, was nur ein klein wenig falsch war. Miguel reagierte zunächst gar nicht. Dann jedoch fiel ihm der Bissen Paella, den er gerade in den Mund geschoben hatte, aus ebendiesem wieder heraus und er begann zu würgen und zu husten. ¿¿¿QUÉÉÉÉ???“, schrie Miguel heraus und sprang auf. Jetzt verstand er auch Sams Tanz von vorhin und auf einmal begann er ebenfalls damit, auf und ab zu springen, hin und her, hierhin und dorthin und sich einfach zu freuen. Kapitel 5: Tag 6 ---------------- Haha! Der Beste taucht auf. Viel Spaß mit Dario, den ich sehr liebe Und danke für die Kommentaaaarrreee! __________________________________________________ Tag 6 „Ihr seid WAS?“ Vollkommen entgeistert starrte Tom seinen besten Freund an. Sam nickte. „Jaaa! Seit gestern Abend. Ist das nicht unglaublich?!!“ Tom nickte und echote: „Unglaublich. Ja. Unglaublich unglaublich. Ich glaub es nicht so ganz. Ihr seid wirklich... zusammen?“ Sam bestätigte es noch einmal. „Ich bin so glücklich. Ich hab gestern das erste Mal hier in Spanien so richtig gepennt, ohne ewig lange wachzuliegen und mich zu fragen, ob ich jemals auch nur ein Wort verstehe. Und wie er küsst... himmlisch.“ Sam verdrehte die Augen zum Himmel und merkte nicht, wie Tom grinste. „Und wer weiß noch davon?“ Sam fiel wieder auf die Erde zurück. „Nur du und Miguel. Sonst wollen wir es noch niemandem sagen. Ich mein, du weißt ja, wie beliebt er ist und so. Das kann ich nicht bringen, ihm innerhalb von ein paar Tagen oder so seinen ganzen Ruf zu zerstören, oder?“ Tom nickte. „Jaaa“, sagte er gedehnt, „aber ist dir klar, dass du in fünf Tagen in den Bus steigen wirst, der dich zum Flughafen bringen wird und dass du ihn dann nicht mehr sehen wirst?“ Sam zuckte zusammen. „Zerstör doch nicht meine Traumwelt. Bis dahin kann noch viel passieren.“ „Ja, du könntest zum Beispiel innerhalb von fünf Tagen so perfekt Spanisch lernen, dass du dadurch hier die Schule fertigmachen kannst, was?“, lästerte Tom. Sam zeigte ihm seine Finger. „Siehst du das? Ich hab dich schon mal gezwickt in dieser Woche und ich werde es wieder tun, wenn du dich nicht entschuldigst.“ Tom lachte nur. Einen Moment später heulte er. Sam winkte Juan leicht zu, der gerade vorüberging. Der winkte mit einem Finger zurück, ehe die übliche Meute ihn eingeholt hatte und anfing, ihn zu nerven. „Ich find ihn ja nett, aber deine Eltern und so werden sicherlich nicht so begeistert davon sein, dass ihr Schwiegersohn ausgerechnet ein Spanier sein wird. Immerhin ziehst du dann nach Spanien und sie können dich so viel ignorieren, wie sie wollen, das wird ihnen auffallen, meinst du nicht auch?“ Sam zuckte zusammen. „Meine Eltern wissen doch immer noch nicht, dass ich schwul bin“, erinnerte er Tom mit leiser Stimme. „Ach, richtig, da war ja was. Irgendwann werden sie es schon merken, meinst du nicht? Immerhin schleppst du nicht eines Tages mal ein Enkelkind an oder so.“ Sams Augen wurden wieder träumerisch. „Vielleicht könnten Juan und ich ja mal ein Kind adoptieren. Wir nennen es dann Juam.“ „Armer Irrer. Ob das ansteckend ist? Sollte ich Abstand zu dir halten?“ Tom rückte ein Stück weg und winkte einer Spanierin hinterher, die ihn mit verträumten Augen ansah. „Was ist denn mit der los?“, wurde Sam unsanft in die Wirklichkeit zurückgerissen und er sah ihr mit weitaufgerissenen Augen hinterher. „Och, nichts. Wir haben nur ein wenig rumgemacht gestern“, gab Tom lässig zurück, doch Sam sah genau, wie sehr er darauf brannte, ihm alles zu erzählen. Also schraubte er seine eigenen Erwartungen an dieses Gespräch ein wenig zurück und lernte in der folgenden halben Stunde jeden noch so kleinen Leberfleck an Anas Körper kennen... „Miguel, ¿qué haces?“ Nachdem Tom und Sam eine halbe Stunde lang im Unterricht zugeschaut hatten, wie Miguel den Kopf schüttelte, kurz etwas zu sich sagte, den Kopf wieder hob, ihn wieder fallen ließ, schüttelte, etwas sagte, den Kopf hob, ihn wieder fallen ließ und so weiter, beschloss Tom, ihn einfach anzureden. Miguel warf nur einen kurzen Blick zu Tom hinüber, dann riss er einen Zettel aus seinem Block heraus und begann, darauf herumzukritzeln. Was war denn jetzt los? Er fand es doch normalerweise nicht okay, im Unterricht Zettelchen zu schreiben. Irgendwann landete der Zettel in Toms Schoß und er begann damit, ihn vorsichtig zu entfalten. Estoy celoso... un poco... „Was?“, flüsterte Tom, während Sam neugierig das Spanischwörterbuch beäugte, das ganz vorne herumlag. Vielleicht sollte er es sich schnell schnappen. „Was’n los?“ ¿Por qué?, schrieb Tom zurück und sah irgendwie fassungslos aus. „Was’n los?“ Porque Sam y Juan son muy muy muy cucos. „Niedlich?“, wiederholte Tom verblüfft und ignorierte Sams leisen „Ich verstehe niiichts“-Singsang immer noch. „Sag mir, was los ist“, forderte der seinen Freund jetzt auf. Tom zuckte die Schultern. „Kurz gesagt, Miguel ist eifersüchtig auf dich und Juan.“ „WAS?!“ Sam sprang auf und ignorierte den Lehrer, der hergerannt kam und versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. „Was bringt ihm das denn?“ „Ich weiß es nicht und jetzt setzt dich hin, du Drama Queen.“ Schnaubend und wütend setzte sich Sam und Tom warf dem Lehrer eine Entschuldigung zu. Trotzdem konnten sie mit Nachsitzen rechnen. Na ja, konnten nicht, sondern mussten. „Da sind bestimmt nur Asoziale“, flüsterte Sam entsetzt in Toms Ohr. Der hielt sich genau dieses und verzog das Gesicht. „Erstens solltest du lernen, dass flüstern auch flüstern bedeutet und zweitens ist es ja wohl deine eigene Schuld, dass wir hier sind, also steh das auch durch!“ Sam nickte. „Jaa, aber da sind sicherlich nur gepiercte, tätowierte Irre.“ „Du warst noch nie nachsitzen, oder?“, fragte Tom ungläubig nach, der nicht jeden Kurs mit Sam hatte. Der nickte. „Meine Mama sagt immer, nur Menschen, denen ihr Leben nichts wert ist, müssen nachsitzen. Das glaub ich ihr. Da wird man nämlich ein Straftäter von.“ Tom verdrehte die Augen. „Du spinnst“, sagte er dann im Brustton der Überzeugung. „Sonst glaubst du auch nie, was deine Mutter dir sagt, wenn sie mal mit dir redet.“ „Aber in diesem Fall ist es wahr“, jammerte Sam erneut. „Ich will da nicht rein!“ „Dann hättest du nicht rumschreien sollen. Und jetzt mach endlich die verdammte Tür auf.“ Sie standen nämlich schon seit ungefähr fünf Minuten davor herum, weil Sam sie einfach nicht öffnen wollte. „Wer weiß, was da drin ist“, wiederholte Sam schon wieder. „Menschen“, gab Tom genervt zurück, schubste ihn beiseite und betrat den Raum; gefolgt vom bibbernden Sam. Zuallererst fiel Sams Blick auf Fernando – Toms Austauschschüler –, der sich anscheinend auch Nachsitzen eingefangen hatte. Er atmete erleichtert auf. Immerhin schon mal ein normaler Mensch. Außer er war ebenfalls asozial, dann waren nur noch Tom und er selbst normal. Tom grüßte lässig und setzte sich auf einen Platz irgendwo in der Mitte. Da es Einzeltische waren, musste sich Sam nach hinten durchschlagen, wo noch ein weiterer Tisch stand. Im Gehen schloss er die Augen und hielt sein verletztes Handgelenk krampfhaft, um sich selbst zu schützen. Er wollte nichts sehen und nichts hören. Gar nichts. Nachsitzen war scheiße. Aber so was von. Er krachte volle Kanne gegen einen Stuhl, Tisch oder Nachsitzer – so genau wusste er das ja nicht – und musste wohl oder übel doch noch die Augen öffnen... ... und starrte eine wunderschöne Kopie Juans an. „Was?“, rief er aus und stieß nun erst recht gegen den Tisch, den er gerammt hatte. „Was?“, wiederholte er noch einmal und stierte Juan Zwei verblüfft an. Auf den ersten Blick sah man zwar schon, dass es nicht Juan war, aber auf den zweiten Blick war man sich nicht mehr sicher, ob es nicht doch Juan war. Der Juantyp gähnte. War er es? „Nein, ich bin’s nicht“, sagte er dann auf Englisch und kratzte sich ganz unjuanhaft an der Nase. Oder popelte er? „Es ist nur mein Cousin Juan, der ich nicht bin. Ich bin Dario und nicht Juan, der ich nicht bin, weil der nur mein Cousin ist.“ Er gähnte noch einmal, herzhaft und laut und Sam stand immer noch wie betäubt da, bis Tom ihn irgendwann dadurch erlöste, dass er von hinten an ihn herantrat und ihm ins Ohr pustete. „Wsssss.“ Sam wandte sich und drehte sich weg von Tom, der nicht damit aufhören wollte. „Sorry, Macht der Gewohnheit“, sagte er nur kichernd. „Du... dududu...“ Weiter kam Sam nicht, weil er sich nicht blamieren wollte. „Ja, ich. Du bist nicht der Erste, der mich mit Juan verwechselt. Das kommt oft vor.“ Verstört setzte sich Sam an den Tisch neben Dario. „Ähm... ja? Es ist auch etwas verblüffend...“ Dario verdrehte die Augen. „Es ist nervig. Juan ist ja Mister Superbeliebt und ich bin der unbeliebte Trottel vom Dienst. Ständig verwechseln mich die Leute mit ihm und denken, ich sei er. Wenn sie dann bemerken, dass es nicht so ist, behandeln sie mich von einer Sekunde auf die andere wie einen nassen Lappen.“ Sam verstand den Vergleich nicht so ganz. „Sie werfen mich weg“, half ihm Dario nach und seufzte irgendetwas, das sich nach „Arschloch“ anhörte. Aber vielleicht hatte sich Sam auch nur verhört. „Ach, so richtig weit? Ich hatte ja mal beim Hochsprung das Problem, dass ich mit jemandem zusammengeknallt bin, da hat’s mich auch geschleudert. Aber höchstens fünf Meter oder so. Und bei dir?“ Dario schaute ihn perplex von der Seite an. „Jaa, genau. Mindestens zwanzig Meter. Sie machen so einen Contest, weißt du? Er heißt Wer bringt Dario am weitesten? und es geht darum, wer mich am weitesten wegwerfen kann.“ Sam keuchte atemlos und fing an, an seinen Fingernägeln zu knabbern. „Echt jetzt? Und was passiert dann?“ „Dann fliege ich“, sagte Dario mit unbarmherzigen Blick. „Meist so an die neunzehn, zwanzig Meter.“ „Wooooow“, sagte Sam begeistert. „Zwanzig Meter? So weit komm ich nicht. Ich kenn gar niemanden, der das schaffen kann.“ Er verstand nicht so ganz, warum Dario anfing zu kichern. Er kicherte einfach mit. „Also, du bist ein Kumpel von Juan?“, fragte Dario beiläufig. Sam verschluckte sich an seiner Paella und begann zu husten. „Wahass?“ Hust. „Wie kommst du daharauf?“ Hust. Hust. Dario zog die Augenbrauen zusammen. „Weil du mich sofort erkannt hast. Normalerweise passiert es zwar auch immer, aber nur bei seinen Kumpels ist es so extrem. Also, bist du einer?“ Mehr als das, wollte Sam am liebsten sagen, doch er hielt sich zurück. Noch. Er kannte Dario ja noch nicht so gut. Vielleicht in fünf Minuten, wenn sie sich ihre größten Geheimnisse erzählten und den Freundschaftseid schworen. „Ja, ich kenn ihn ein bisschen“, entgegnete er daher lässig und bemühte sich, in eine andere Richtung zu schauen als Dario. „Ich sag dir mal was.“ Dario beugte sich zu Sam hin, der ihm neugierig sein Ohr präsentierte. „Ja, was?“ „Halt dich fern von ihm. Er ist ein Blender. Hier, meine Nummer. Du kannst anrufen, wenn er dich gelinkt hat. Er ist falsch wie sonst keiner.“ Damit ließ Dario den sprachlosen Sahm zurück. Ach du grüne Neune. „Was meinte er damit?“ Sam verzog die Unterlippe und Tom schürzte ebendiese. „Ich weiß nicht. Ich hab’s ja nicht mitbekommen. Frag doch einfach Juan, bevor du was Falsches denkst. Vielleicht ist er nur eifersüchtig oder so, weil Juan doch so beliebt ist und er nicht.“ Sam schüttelte den blonden behaarten Kopf. „Nee, das nicht. Er hat irgendwie so... echt gewirkt.“ „Heidi Klum wirkt auch kurz echt. Dann sieht man sie von nahem und lacht sich selbst aus, weil man dachte, sie sei echt.“ „Heidi Klum ist auch eine Schlampe. Aber weder Juan noch Dario sind welche, denk ich mal.“ „Du kennst doch Dario gar nicht. Du hast ihn eine Stunde lang beim Nachsitzen vollgequatscht. Sonst weißt du nichts von ihm.“ „Ich hab in sein Innerstes geschaut und erkannt, dass er ein Mensch ist.“ „Jeder ist das. Aber er ist bestimmt nicht so nett, wie du denkst. Geh nach Hause, ruf Juan an und frag ihn zu Dario aus.“ Sam schüttelte den Kopf. „Nein, mach ich nicht. Da ist eh nichts mit Juan.“ „Sag ich doch“, entgegnete Tom wütend. Sam zuckte nur die Schultern. „Mir doch egal.“ „Was? Grade eben war’s doch noch...“ „Wovon redest du?“, gab Sam unschuldig zurück. „Ich... du hast eben... noch warst du dagegen... hä?“ „Dagegen?“ Sam zwinkerte. „Du bist komisch.“ „Juuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuannnnnnnnnnnn!“ Sahm breitete die Arme aus und lief in Zeitlupe auf seinen Freund zu. Seinen festen Freund. Juan grinste und lief ebenfalls auf Sam zu. Dann schloss er fest die Arme um ihn und roch an seinem Haar. „Ich hab dich heute vermisst“, nuschelte Juan in seine Haare hinein. „Wo warst du?“ Sam seufzte und drückte sich widerwillig von Juan weg. „Beim Nachsitzen“, sagte er dann leise. Juan streckte ihn von sich weg. „Und du hast überlebt? Sind da nicht lauter Asoziale?“ „Ja.“ Juan lächelte, doch bei Sams nächsten Worten verdüsterte sich sein Gesicht. „Und dein Cousin Dario.“ „Halbcousin“, verbesserte Juan und sein Gesicht nahm einen missmutigen Ausdruck an. „Nur von der doofen Seite der Familie.“ Er warf sich ins Gras und starrte in den Himmel hinauf. „Geht so was? Halbcousin? Ich hab ja eine Halbschwester, obwohl ich sie manchmal nur als Viertelsschwester bezeichne. Interessiert die eh nicht, die ist vier. Wie ist das mit Dario? Weißt du, was er über dich gesagt hat?“ „Ja. Dass ich so eine Art hinterfotzig bin.“ Sam strahlte. „Genau! Und ein Blender und falsch und dass du mich linken würdest.“ Seine Miene wurde misstrauisch. „Hast du das vor? Wenn du doch nicht schwul bist, bring ich mich um. Und davor oder danach eventuell dich.“ „Danach?“, echote Juan verwirrt. „Ja, wenn’s nicht geklappt hat. Als würde ich mich umbringen. Du kommst auf Ideen.“ Sam lachte. Was seine Freunde – besser: sein fester Freund – doch manchmal für Einfaltspinsel waren! „Ja“, seufzte Juan, „der Teil der Familie ist echt scheiße, sag ich dir. Auf Familienfeiern ist das immer total beschissen. Vor allem Dario ist ein Arsch.“ „Warum?“, fragte Sam interessiert nach und ließ sich neben Juan auf den Rasen fallen. Sie waren im hinteren Teil des Gartens und keiner konnte sie von der Straße aus sehen oder sie auf die Straße. „Er ist nicht mein Halbcousin, weil er mir natürlich auch noch ähnlich sieht. Er ist mein normaler Cousin, aber ein Satansbraten. Ausgeburt der Hölle, weißt du?“, sagte er mit Bezug auf Sams fragenden Blick. „Aber... aber... aber so hat er gar nicht gewirkt“, maulte Sam und Juan legte eine Hand auf seine. Das war schön. „Ja, er tut auch nicht so. Aber du kannst jeden beliebigen Menschen an der Schule fragen, sie alle wissen, wie er ist. Einfach grau-en-haft.“ Juan schüttelte sich gespielt und seine Hand wanderte weiter an Sams Arm hoch und dann runter in Richtung Bauch. Dort schob er langsam sein Shirt hoch und ließ seine Hand auf Sams Magen ruhen. Der seufzte wohlig auf. „Ist gut, ich frag mal. Irgendwann.“ Er schloss die Augen. „Juan?“ „Hmm?“ „Was heißt Du Hurensohn machst mir nicht meinen Freund schlecht auf Spanisch?“ Juan zog Sam an der Hand nach oben in sein Zimmer. Würden sie jetzt übereinander herfallen? Würden sich ihre nackten Körper auf dem Laken reiben und sie sich an der Ekstase der anderen erfreuen, bis sie nicht mehr konnten? Würde Sam das erste Mal in seinem Leben jemandem sehrsehrsehr nahekommen können? Vielleicht würden sie es nicht direkt wild und heftig machen, aber bestimmt schon sehr gut. Er war schon sehr gespannt auf den Sex mit Juan. Abschiedssex wäre bestimmt nicht gerade schlecht, dachte sich Sam und auch, wenn er noch ein paar Tage hier wäre, wäre es trotzdem ein Abschied, nämlich bis zum nächsten Mal. Sie würden es so toll miteinander machen, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten danach. Sie würden... „Ein neues Playstationspiel ausprobieren??“ Entsetzt sah Sam auf das Spiel, das Juan hochhielt. „Ja. Genau. Es ist geil. Ich hab’s mir gestern gekauft, nachdem du weg warst, hab es aber noch nicht ausprobiert. Es soll anscheinend super sein, aber ich dachte, ich warte, bis du kommst.“ Er strahlte und warf sich aufs Bett. Zögernd folgte Sam seinem Beispiel. Playstation. Gab es etwas Bescheuerteres? Er wollte Juan. Und nicht Playstation. Okay, Sex wollte er noch nicht, aber ein Spiel war definitiv auch nicht drin. Sam seufzte. Aber ein Samuel Firit ließ sich durch nichts so leicht aus der Fassung bringen. Also spielte er mit. Es würde bestimmt schlimm werden. Ganz sicher. „Kohomm, noch eine Runde! Nur eine. Ich hab den fetten Oger noch nicht umgebracht. Komm doch. Einmal nur noch, ja? Juaan, bitte!“ Der dunkelhaarige Spanier verdrehte nur grinsend die Augen. „Vergiss es. Noch einmal lass ich das nicht zu. Da entwickelst du ja Aggressionen oder so von.“ Sam verzog das Gesicht. „Mahann, du Idiot. ¡Venga!, wir müssen nach unten. Ich hab Hunger und sterbe gleich.“ „Hab ich dir nicht schon mal gesagt, dass ich Sam heiße? Außerdem brauch ich noch kurz. Nur noch einmal. Es macht Spaß.“ „Beweg dich jetzt, ich will nicht mehr.“ „Nein.“ „Los.“ „Nein.“ „Lohos, Sam.“ Jetzt bekam sein Tonfall einen nervösen Unterton. „Nein.“ „Doch.“ „Nein.“ „Schatz, mach schon.“ „Ne... Schatz?“ Ungläubig starrte Sam Juan an, ehe sich ein Lächeln in seinem Gesicht ausbreitete. „Du nennst mich Schatz?“ „Ja, wenn es dir gefällt.“ Juan zuckte die Achseln und grinste. „Schatz.“ Sam war sprachlos. Beinahe. „Ob es mir gefällt? Bist du blöd? Natürlich gefällt es mir; ich liebe es sogar. Mach es noch mal.“ „Ja, Schatz“, sagte Juan brav und Sam lächelte wieder. „Noch einmal“, verlangte er dann. „Schatz, lass uns nach unten gehen, um etwas zu essen, ja? Mein Kühlschrank hier ist leer.“ „Wie bitte?“ Sam schlug die Augen auf, die er eben noch geschlossen hatte, und sah ihn strafend an. „Mein Kühlschrank hier ist leer, Schatz.“ „Ich geh gern mit dir nach unten, öhm... äh...“ Er begann fieberhaft damit zu überlegen. „Juan“, half der ihm auf die Sprünge und runzelte die Stirn. Sam schüttelte den Kopf und blies die Wangen auf. „Doch. Oder soll ich mich umtaufen lassen?“ Juan lächelte ganz leicht. „Ich war ja schon immer dafür, mich einfach Gay-le Sau zu nennen, das entspricht so ungefähr meinem Naturell, findest du nicht?“ „Nein, du Idiot. Ich will dir auch einen Kosenamen geben. Aber mir fällt nichts ein außer mein süßer Schmusipusi.“ Da musste Sam sogar selbst lachen. „Ich könnte dich auch Jesús nennen, weil du auch so toll bist wie er“, spann Sam den Faden weiter. „Ja, oder einfach John. Das ist die englische Form von Jesús.“ Sam riss die Augen auf. „Eeeeeecht?“ Juan nickte. „John“, wiederholte Sam probeweise. Dann schüttelte er den Kopf. „Nä. Teddyschmusipusilusi klingt doch viel geiler.“ „Idiot“, ächzte Juan und riss die Kühlschranktür auf. „Wie bitte? Ich hör dich nicht.“ „Idiot, Schatz.“ Juan lachte und Sam schaute verzückt in sein Gesicht. Was hatte er doch nur für ein Glück mit seinem Geliebten! Kapitel 6: Tag 7 ---------------- Danke für die Reviews Ich hab mich sehr darüber gefreut. Ich brauch immer ewig, um hier mal was hochzuladen. Das tut mir echt leid! http://www.youtube.com/watch?v=_wSoR8p3eeQ&playnext_from=TL&videos=RdUac-d1hPY Das ist übrigens das Lied, dessen Namen ich geklaut habe ;) Nur so. Ähm, ja. Viel Spaß mit diesem Kapitel. ___________________________________________ Tag 7 Das erste, was Sam beim Aufwachen dachte, war: Nie. Wieder. Playstation.[i/] Seine Hand tat so dermaßen weh, dass er sich am liebsten umbringen würde. Gestern hatte wohl das Adrenalin, das er während des Spieles ausgeschüttet hatte, dafür gesorgt, dass er seine Schmerzen vergaß. Nun aber kehrten sie mit voller Wucht zurück. „Aaaah.“ Selbst zum Fluchen war er zu schwach und ließ sich erschöpft in seine Kissen zurücksinken. Dann begann er zu niesen. Konnte man sich in Spanien bei dreißig Grad im Schatten erkälten? Konnte man. Laut Miguels Mamá zumindest – und soweit Sam das verstanden hatte, natürlich. Er seufzte und genoss das erste Essen seit beinahe einer Woche, das nichts mit Paella zu tun hatte. Miguels Mamá, die scheinbar keinen Vornamen hatte, hatte ihm einen Schokopudding gegeben, da auch sein Hals angefangen hatte zu kratzen. Dies hatte er ihr via Zeichensprache mitgeteilt. „Pobre hombre“, sagte sie mitfühlend und reichte ihm ein Taschentuch, in das er gleich einmal hineinnieste. „¡Jesús!“, rief Miguel aus, der gerade das Zimmer betrat. Sam stöhnte. „Noch bin ich nicht an ein Kreuz genagelt worden, also kannst du das ja auch lassen und mir lieber ein Aspirin bringen.“ Miguel setzte sich fröhlich aufs Bett und scheute seine Mamá hinaus. „María está embarazada“, murmelte er aufgeregt und kicherte vor sich hin. „¡El padre es Pedro!“ Der Deutsche im Bett verdrehte die Augen. „Ich versteh dich nicht, weißt du noch? No entiendo.“ Miguel seufzte. Dann wiederholte er alles, diesmal in beschissen klingendem, aber wenigstens grammatikalisch richtigem, Englisch: „María is pregnant. The father is Pedro.“ Er schaute stolz drein; offensichtlich hatte er die zwei Sätze einige Zeit lang vor dem Spiegel geübt. „Toll“, sagte Sam emotionslos. „Arme María. Pech, dass Pedro schon tot ist, was? Aspirin?“ Er lächelte Miguel an und zeigte auf seine Hand. „¿Jugamos charada? Sí. Empiezo.“ „Aspirin, Mann.“ „Euh... a bird?“ „Bring mir bitte eine Schmerztablette.“ Sam überlegte, was es auf Spanisch heißen könnte, während Miguel noch überlegte, welche Scharadefigur Sam darzustellen versuchte. „¿Ah, un león. A... lion?“ „Ähm... una tabletta anti Schmerza?“ „¿Qué?“ Sam deutete auf den PC. Miguel schien nicht so ganz zu verstehen. „Es un ordenador y no tabletta. Y... ¿qué es una tabletta?“ „Mach den PC an, Spast“, fauchte Sam und nieste noch einmal, woraufhin er schon wieder als Jesus bezeichnet wurde. Sorgen hatte der Junge. Musste der nicht in der Schule sein? An Sams Tonfall hatte Miguel wohl erkannt, was war, denn er spurtete zum PC. Doch statt dass er ihn anmachte, machte er kehrt und raste aus dem Zimmer hinaus. Hatte den ein Floh gebissen, der auf einem Affen wohnte? Zwei Minuten später kam Miguel wieder zurück, unterm Arm ein Notebook. „Der Himmel muss dich gesandt haben“, lobte Sam ihn strahlend und Miguel strahlte ebenfalls, bevor er sich neben Sam aufs Bett quetschte. Miguel öffnete die spanische Wordversion und schrieb einen Satz auf. Dann schob er das Notebook in Sams Richtung, der den Satz anstarrte und daraufhin Leo.org öffnete, was Miguel auch vorgesehen hatte. Stück für Stück übersetzte er den Satz und am Ende kam heraus, dass Miguel fragte, ob es denn nun ein Bär sei bei der Scharade. Sam zeigte auf die spanische Übersetzung des Wortes für Schmerztablette und Miguel spurtete noch einmal los. Nach fünf Minuten hörte der Schmerz in Sams Hand auf und er lehnte sich bequem zurück. Doch irgendwas war anders. Er fühlte sich so locker, leicht und frei. So hatte er sich erst einmal gefühlt, nämlich, nachdem er versehentlich in den Genuss eines Joints gekommen war – high. Was hatte Miguel ihm denn da gegeben? „Hee, Tom, ich bin krank. Und Miguel bleibt auch zu Hause, weil er auch krank tut. Dann kann er die Wiederholungen der Soaps von gestern anschauen.“ „Du bist krank? Wie geht das, wenn es dreißig Grad im Schatten hat?“ Tom klang ehrlich überrascht. „Ich weiß es auch nicht. Ich niese total rum und meine Hand tut so sehr weh, als hätte man sie mir noch ein drittes Mal gebrochen. Miguels Mamá sagt, ich muss zu Hause bleiben.“ „Miguels Mamá? Verstehst du die überhaupt? Sie hätte dir auch gesagt haben können, dass du für sie strippen sollst und du hättest noch gelächelt.“ Sam schüttelte sich. „Uäh. Ich glaub nicht, dass die noch an Sex denkt. Kann man, wenn man so fett wie die ist, überhaupt noch Sex haben? Ich glaub ja nicht...“ Tom lachte. „Wer weiß? Wie lief es übrigens gestern noch?“ „Echt super. Wir haben rumgeflirtet, Kosenamen erfunden, Playstation gespielt – weshalb meine Hand jetzt auch wehtut –, geknutscht und so weiter.“ „Äh“, sagte Tom irritiert, „ich meinte eigentlich in der Soap. Was ist mit María? Aber wenn das mit Juan so gut lief, ist es auch gut.“ Er war inzwischen ein glühender Fan von María. „María sei schwanger von Pedro, meinte Miguel vorhin. Weiß auch nicht. Frag ihn doch nachher selbst. Was war bei dir gestern noch?“ Nach einem kurzen Aussetzer wegen María klang Tom selbstzufrieden, als er ihm schnell von seinem Abenteuer mit Eva aus der Paraklasse erzählte, die er gestern Abend bezirzt hatte. Nach einer Weile jedoch musste er unterbrechen, da er am Schultor angekommen war und ab dort Handys verboten waren. „Bis morgen dann hoffentlich. Gute Besserung. Du hast Glück, dass du die Führung heute nicht mitbekommst.“ Oh ja. Er war kein Fan der Milchproduktion Spaniens. Da Sam keine Lust hatte, im Bett rumzuliegen, gesellte er sich irgendwann zu Miguel aufs Sofa, der ebenfalls zum ersten Mal keine Paella aß. Wahrscheinlich schmeckte sie einfach nicht morgens. Sam setzte sich und sah sich mit Miguel eine Telenovela an, die er bis jetzt noch nicht kannte. Das war aber auch nicht schwer, weil Miguel jeden Tag gefühlte neun neue Serien entdeckte. Allerdings war diese anders als andere. Irgendwie... aufregend. Und... was anderes. Einfach... wow. Mit angehaltenem Atem verfolgte Sam die Handlung, sah zu, wie der miese, fiese Betrüger Pedro (nicht zu verwechseln mit Marías Pedro) einfach so seine Sue abservierte, um anschließend sofort mit Sofia zu schlafen. Danach wurde ihm zwar von seinem Vater, einem Priester, die Hölle heiß gemacht, doch Pedro zwei schien das nicht zu interessieren. Im Gegenteil, er lachte ihn aus und fickte anschließend heimlich in der Kirche mit der Haushälterin. Was für eine überaus tolle Serie. Und das, obwohl Sam kein Wort verstand. Vielleicht konnte er ja so sein Spanisch verbessern? Immerhin wusste er nun, was ficken auf Spanisch hieß. Er gähnte, dann nieste er. Miguel bezeichnete ihn daraufhin schon zum sechsunddreißigsten Mal heute als den Heiland und so langsam begann Sam zu glauben, dass diese Jesússache irgendetwas mit dem deutschen Ausruf „Gesundheit!“ zu tun hatte. Unauffällig googelte er es während der Werbepause von „¡Eres mi vida, hombre!“ und stellte fest, dass es tatsächlich so war. Außerdem wusste er nun, was der Titel der Sendung bedeutete. Seufzend zog Sam sein Handy aus der Tasche und starrte sehnsüchtig darauf. Er wusste, dass Juan im Unterricht nicht auf sein Handy schauen konnte, da seine Lehrer es sofort merken würden. Dennoch wäre es schön gewesen, wenn Juan einfach auf die Toilette abhauen könnte, damit er ihm zurückschreiben konnte. Geliebter Juan, dein Sam vermisst dich und will, dass du ihn heute noch besuchen kommst. Dahinter ein schönes Herzchen. Zufrieden starrte er die SMS an, dann löschte er alles wieder, was er geschrieben hatte und fing von vorne an. He, Juan, kommst du heute zur Krankenpflege? Sam. Nein, auch nicht. Das klang zu wenig verliebt. Mein Juan, schrieb er, kannst du heute bitte mal vorbeikommen und mich gesundpflegen? Ich bleib doch nicht mehr lange hier... Sam. Perfekt. Jetzt senden und alles war gut. Der Scheiß war nur, dass er null Cent auf dem Handy hatte... also musste Juan wohl oder übel noch warten müssen, bis er seine Eltern angerufen und um Geld angebettelt hatte. „Miguel, kann ich ein Telefon haben?“ Miguel zeigte nur wortlos irgendwohin und starrte dann weiterhin seine Serie an, in der gerade jemand live (!) ein Kind bekam. Das war wohl dann eher eine Art Realitysoap, oder wie? „Miguels Mamá, kann ich ein Telefon haben?“ Sam stand in der Küche und sah ihr beim Paellamachen zu. Schon wieder... „Ángel, no entiendo.“ Sie lächelte. Ich dich auch nicht, dumme Kuh, ergänzte Sam stumm und drehte sich mit einem gequälten Lächeln weg, um das Telefon auf eigene Faust in diesem Haushalt zu suchen. Dabei entdeckte er interessante Dinge. Zuerst mal das Schlafzimmer von Miguels Mamá. Kein Kommentar. Dann ein großes Bad, das tausendmal größer war, als das, das sie Sam zugewiesen hatten. Dieses hatte sogar eine Badewanne und – was tausendmal wichtiger war – einen Schrank mit Medikamenten drin!!! Sam konnte die Engel voller Freude singen hören, als er nach kurzem Suchen drei Schachteln Aspirin fand, die er gleich einsteckte. Als nächstes fand er Miguels Schlafzimmer, in dem er bisher nicht einmal gewesen war. Sams Kinnlade klappte nach unten. Als er sie wieder befestigt hatte, verzog er das Gesicht. Miguels Tapete bestand aus Fotos von María, gemischt mit Posh Spice. Unter Marías Gesichtern stand wieder einmal der Spruch, den Sam schon von Miguels T-Shirt kannte. Posh Spice sagte nur, dass sie David für immer lieben, aber für Miguel gerne eine Ausnahme machen würde. Miguels Bett war komplett... grün. Grün. Seltsamerweise. Der Rest des Zimmers war nämlich pink. Ja, pink. Knallpink. Ultrapink. Pinkpink. Gab es noch eine Steigerungsform? Seine Bettwäsche bestand aus Fotos von Brian und Justin aus Queer as folk (wenn da mal nicht einer absolut schwul war...) und seine Kopfkissen waren mehrere Herzchen. Würde Sam mehr als zwei Minuten in diesem Raum verbringen müssen, würde er sofort eine Allergie auf pinke Dinge bekommen. Denn hier war man vor nichts sicher. Sogar sein Schreibtisch war pink angemalt. Sams Nase kribbelte und er kniff die Augen leicht zusammen. Irgendwo in diesem Durcheinander von pinken Dingen musste doch ein... „Ah!“ Da war es. Ein Telefon. Und es war... schwarz. Wie die Nacht. Aufatmend zog Sam es heraus und verschwand schnell aus diesem todbringenden Raum. „Hi, Mama.“ „Wer ist da?“, fragte eine keifende Stimme zurück. „Öh, Sam“, antwortete der verdutzt. „Dein Sohn.“ „Samuel. Du bist es... hmm... wo bist du denn? Irgendwie türmt sich hier im Kühlschrank das Essen und keiner isst es. Bist du bei einem deiner Freunde?“ Sam runzelte die Stirn. „Neeein. Ich bin seit sechseinhalb Tagen in Spanien, das weißt du doch.“ „In Spanien?“ Jetzt klang seine Mutter wirklich verwundert. „Was machst du denn da? Zivildienst?“ Er stöhnte auf. „Machst du das mit Absicht? In meinem Alter macht man noch keinen Zivildienst. Ich bin auf einer Klassenfahrt, weil Tom mich überredet hat.“ „Klassenfahrt, ach soooo.“ Es klang kein bisschen so, als könnte sie sich daran erinnern. „Ähm... und wer ist Tom?“ Sam kniff die Augen zusammen und zählte auf zehn. Dann erst sprach er weiter: „Mein bester Freund seit ungefähr sechzehn Jahren. Er ist so ziemlich jeden zweiten Tag bei mir und an den anderen Tagen bin ich bei ihm. Der, den du dann immer mit durchfüttern musst. Erinnerst du dich?“ „Tom, ach sooooooo.“ Da sie das „so“ noch länger zog als vorhin, wusste Sam, dass sie sich nicht erinnerte. „Mama, ich ruf aus einem bestimmten Grund an.“ „Sollen wir dich aus Neuseeland abholen? Das wird aber ein wenig teuer, oder?“ Sie klang abwesend. „Erstens bin ich nur in Spanien, zweitens will ich garantiert noch nicht weg und drittens brauch ich nur ein wenig mehr Handyguthaben.“ „Das lässt sich einrichten“, sagte seine Mutter auf einmal konzentriert. Sobald irgendetwas mit Geld auftauchte, war sie wieder voll dabei. Ging ja gar nicht anders als Buchhalterin. „Ich überweise das Geld jetzt gleich, dann hast du in weniger als einer halben Stunde alles drauf.“ „Danke.“ Er zögerte einige Sekunden. „Richte Grüße aus. An die Kleine und an Papa, ja?“ „Mache ich“, sagte seine Mutter, nun wieder etwas abweisender. „Ruf noch mal an, wenn es dir in Papua-Neuguinea zu schlecht gehen sollte.“ „Spanien“, korrigierte Sam. Doch da hatte seine Mutter schon aufgelegt. Eine Viertelstunde später hatte er wieder Geld auf dem Handy und konnte endlich die SMS an Juan abschicken. In der Mittagspause erhielt er endlich eine Antwort. Zuerst einmal eine SMS von Tom, der ihn anflehte, in übers Telefon anzustecken, weil die Führung so furchtbar war. Dann eine von Unbekannt, die ihm mitteilte, dass Sex mit ihm/ihr nur noch die Hälfte kostete (Sam hatte einmal den Fehler gemacht, seine Handynummer irgendwo anzugeben und seitdem erhielt er oft so was) und eine von Juan. Ich kann auch die letzten Stunden schwänzen und zu dir kommen. Dann können wir noch mal spielen und eventuell ziehe ich ein Krankenschwesternoutfit an. Sam quietschte. Ja, schwänzen! Mach :) Spielen geht hier nicht (Miguel), aber auf das Outfit kommen wir noch mal zurück, ja? Eine halbe Stunde später stand Juan vor der Tür. „¡Hola! Quiero visitar a Sam“, hörte Sam irgendwann Juans Stimme und begann glücklich zu strahlen. Dann wurde er sich seines Outfits bewusst und sprang auf, um seinen Bärenschlafanzug gegen etwas Cooleres zu tauschen und seine Haare noch schnell zu kämmen. „Samuél está en su habitación“, hörte er Miguel murmeln. „Un momento, por favor.“ „¿Sí?“ Juan und Miguel entfernten sich von der Tür und somit auch von Sams Zimmer und der konnte jetzt nicht mehr hören, was gesprochen wurde. Da er aber auch schon davor nichts verstanden hatte, war es nicht weiter schlimm und er konnte sich weiterhin seiner Schönheitspflege widmen. „Ich bin schön“, hauchte er irgendwann seinem Spiegelbild entgegen; dann drehte er sich weg und überraschte Juan und Miguel, die sich im Wohnzimmer lautstark... stritten? „Was ist denn hier los?“, fragte Sam aufgebracht und ließ Juan mitten im Wort erstarren. „Sam. Was machst du denn hier?“, fragte er lahm. „Was soll ich hier schon machen? Wohnen im Moment. Was macht ihr hier? Wieso streitet ihr euch?“ Und warum sah Miguel äußerst zufrieden und Juan äußerst unglücklich aus? „Dein Mitbewohner hier“, Juan fuchtelte mit den Armen, „hat mir gerade gesagt, dass ich nicht gut genug für dich bin und ich mich verpissen soll!“ Sams Augen wurden so groß, dass jeder Amateurschütze sie aus tausend Metern Entfernung getroffen hätte. „Er hat was?“ Ungläubig starrte Sam vom einen zum anderen. „Er hat mir gesagt, ich bin nicht gut genug für dich und ich soll mich verpissen“, wiederholte Juan geduldig. „Ich weiß, was er gesagt hat!“, fauchte Sam. „Aber warum?“ „Weiß ich doch nicht“, fauchte Juan zurück und starrte jetzt wieder Miguel an. „¿Por qué?, war alles, was er sagte. Und dann noch: ¿Quieres a Sam?“ Sam verfolgte verwirrt, die Miguels Augen erst tellergroß wurden und er dann heftig den Kopf schüttelte. „¡¡¡NO!!!“ Juan schüttelte den Kopf. „Ich glaube dir nicht“, sagte er beinahe tonlos auf Englisch. „Was ist los?“ „Juan, ¡no me lo quiero!“ „Síííí“, sagte Juan mit spöttischem Unterton. Und im Nu waren sie schon wieder in einen Streit vertieft. Hätte Sam Spanisch gekonnte, wäre er sicher entsetzt gewesen wegen der vielen Schimpfwörter, die Juan und Miguel füreinander übrig hatten. So aber war er nur entsetzt, weil er nicht wusste, was genau war. „Hey“, versuchte er es irgendwann. Keiner hörte ihn. „Hey, Jungs... Jungs... hee... sagt mal... halllloooo?... Juhungs... hallo... ihr... hey, hört ihr mich?... ich glaub, ihr... hey... Mann, hört doch mal zu... hmm, okay, dann nicht... äh?... haaallloo??... JUNGS!!! HEY!!!!!!!“ Er hatte so laut gebrüllt, dass die Fensterscheiben anfingen zu klirren und Miguels Mamá erschrocken den Kopf ins Zimmer steckte. „Was ist denn?“, fragte Juan verblüfft. Sam ließ sich mürrisch aufs Sofa fallen. „Worum geht’s, warum taucht mein Name in euren Streitereien auf und wieso heult Miguel gleich?“ „Es geht um dich, weil Miguel nicht mehr will, dass ich dich sehe. Dein Name taucht auf, weil ich glaube, dass er in dich verliebt ist und er heult gleich, weil er seine Serie verpasst und mir außerdem klarmachen will, dass er dich nicht liebt“, stellte Juan klar und Sam nickte. „Ahhh, okay. Dann ist ja jetzt alles klar. Und... äh... was sagt Miguel?“ Juan seufzte und verzog das Gesicht. „Dass María auf ihn wartet, dass er mich nicht versteht und dass er unter keinen Umständen in dich verliebt sein kann. Ich glaube ihm nicht“, fügte er grimmig hinzu. Sam zog die Augenbrauen hoch. „Ich schon.“ „Wie bitte?“ Juan klang ehrlich sauer. „Komm mal mit.“ Sam nahm Juan bei der Hand und zog ihn vor Miguels Zimmer. Dann stieß er die Tür auf und Juan hinein, verschloss die Tür und hielt sie fest, damit Juan nicht rauskonnte. Er hörte einen erstickten Schrei und schon nach wenigen Sekunden versuchte Juan, aus dem Zimmer freizukommen. „Bitte, Sam, bitte, bitte, bitte, por favor, prego, s’il te plaît, pleaase!!!!! LASS MICH RAUS! Bihihihihitte! Es tötet mich, Sam.“ Doch so sehr es ihn auch schmerzte, er blieb hart. Mindestens zwei Minuten. Das war seine Bedingung gewesen, die er heimlich im Kopf abgeschlossen hatte. Nach eineinhalb Minuten hielt er es nicht mehr aus und öffnete die Tür für Juan, der sofort mit dem Ruf nach „HILFFEE!!!“ herausstolperte. „Ich bin bliind!“ schrie er. „Hilf mir, Sam. Bitte.“ „Ich bin doch hier“, erwiderte Sam gelassen und mit einer heftigen Brise von Mitleid. „Tut mir leid, das musste sein.“ Juan nickte und hatte die Augen immer noch geschlossen. „Ich glaube dir jetzt. Miguel ist garantiert nicht verliebt in dich. Never ever! Tut mir leid.“ Dasselbe wiederholte er auch noch für Miguel, der es nickend zur Kenntnis nahm und dann schnell zum Fernseher verschwand. Juan musterte Sam. „Sag mal, bist du nicht krank?“ Sam nickte. „Ja, bin ich. Aber für dich hab ich mich aufgetackelt. Wie bist du aus der Schule rausgekommen?“ „Bin hinten beim Basketballplatz über den Zaun geklettert. Hoffe nur, es kommt nicht raus.“ Juan umarmte Sam und gab ihm das, was er sich schon seit einer Weile gewünscht hatte: Einen Kuss. Endlich. Sahm seufzte. Er hoffte nur, dass er Juan jetzt nicht anstecken würde. Juan löste sich sanft von seinem Freund und lächelte. „Kann ich jetzt Krankenpflege machen? Nur deshalb schwänz ich grade die Schule.“ Sam lächelte; hingerissen von Juans Tollheit – falls das ein positives Wort war. „Du darfst alles tun, was du willst“, sagte er mit einem verqueren Lächeln. Juan nickte und legte den Kopf schief. „Alles?“, fragte er mit hoher Stimme. Ein wenig quietschig sogar. Bevor Sam antworten konnte, dass er es nicht ganz genau so gemeint hatte, wie Juan dachte, kam Miguel angestürmt, stieß Juan ungeduldig weg und zerrte Sam am Arm mit ins Wohnzimmer. „Miguel, was soll das?“, versuchte der, sich loszureißen. Doch er hielt ihn eisern fest, schmiss ihn auf die Couch und deutete auf den Fernseher. Sam starrte ausdruckslos darauf und ebenso tat es Juan, der Sam und Miguel gefolgt war. Der einzige Deutsche im Raum – Sam, um seinen Namen nicht tausendmal zu verwenden – starrte immer noch ohne jegliche Regung nach vorne, um nicht zu verraten, dass er Miguel jetzt am liebsten erwürgen, wiederbeleben und dann aufknüpfen würde, nur um ihn wieder auferstehen zu lassen und ihm dann endgültig ein Messer ins Herz zu rammen. Er überlegte, wie er das am besten anstellen könnte, bis ihm klar wurde, was da gerade auf dem Bildschirm geschah. Miguel war so ausgeflippt, weil... „Ich dachte, er sei...?“, fragte Sam mit offenem Mund und bei Juan, der eben nähergekommen war, klappte ebenfalls die Kinnlade herunter. „Ich auch!“, sagte er dann komplett verwirrt. Immerhin hatte es dank Miguel inzwischen jeder mitbekommen, was im spanischen GZSZ so passierte. „¡¡¡No entiendo!!!“, schrie Miguel den Fernseher an. Dann brach er weinend in Sams Armen zusammen, der die Schultern zuckte und zu Juan hinsah. Der sah ebenfalls so aus, als würde er gleich losheulen, doch er riss sich gerade noch so zusammen. „Saaaaaahm, was soll das? Wieso machen die das?“, klagte sein Freund und verzog das Gesicht. Damit hatte er sich eindeutig als ein Fan geoutet und Sam verdrehte die Augen, während er gleichzeitig Miguels Kopf tätschelte und dem auferstandenen Pedro im TV wütende Blicke zuwarf. Da würde sich María aber freuen... „Wollen wir nicht in mein Zimmer gehen? Ich bin immer noch ein wenig krank und meine Hand tut auch echt weh.“ Juan schüttelte den Kopf. „Nein. Ich muss erst über Pedro hinwegkommen. Ich dachte, María sei den Mistkerl endgültig los!“ „Seit wann stehst du denn darauf?“, fragte Sam leise und verblüfft. Da dachte man, alles sei normal und dann so was... Juan schniefte und überlegte nicht lange. „Seit acht Jahren. Seit dem ersten Tag, an dem es gesendet wurde. Ich erzähl nur keinem davon. Zu peinlich. Obwohl es einem echten Fan eigentlich nicht peinlich sein sollte.“ Sam stöhnte. Diese Idioten um ihn rum brachten ihn noch um. Zum Glück war er selbst keiner. Miguel, der natürlich kein Wort verstanden hatte davon, was sie gerade geredet hatten, kam langsam wieder von Sams Schoß hoch und zog die Nase hoch. Dann fragte er Juan irgendetwas, in dem die Worte María und Pedro vorkamen. Juan nickte, antwortete und dann geschah etwas höchst Eigenartiges: Miguel, der Juan bis gerade eben noch gehasst hatte – warum auch immer – stand auf, ging um Sam herum und... umarmte Juan! Sam sprang auf. „Das ist mein Typ, du Arsch! Lass ihn los!!“, brüllte er, doch weder Sam noch Juan störten sich daran. Ja, sie hielten sich sogar noch fester. „Ich zähle jetzt auf drei, dann hört ihr auf“, befahl Sam. „Eins.“ Miguel begann, dem schluchzenden Juan über den Rücken zu streicheln. „Zwei.“ Juan vergrub sein Gesicht in Miguels Haaren und murmelte dabei „¡Pehehehehedrooo, no!“. „Dreeeeeiiiii......“ Nichts geschah, außer dass Miguel in Juans Jammern einstimmte. Da Sam konfliktscheu war, blieb ihm nichts anderes übrig, als heulend in sein Zimmer zu rennen und dabei „ihr seid so scheiße!“ zu rufen. „Sam, das war doch nicht böse gemeint.“ Juan stand in der Tür und sah Sam liebevoll an. Der blies nur die Wangen auf und drehte sich wieder zum PC und seinem ICQ-Gespräch – oder eher Geheule – mit Tom zurück. „Sam, ich hab dich trotzdem total lieb. Nur hat Miguel eben grade entdeckt, dass uns doch irgendetwas verbindet. Das heißt aber nichts.“ „Ach, und du wusstest das schon vorher?“, fauchte Sam und tippte wütend ein paar Worte an Tom ein. „Ja, natürlich“, sagte Juan selbstüberzeugt. „Ich hab doch schon öfters mal was mit ihm zu tun gehabt und jeder weiß von seinem Faible für diese Serien. Ich hab mich nur nie vor ihm geoutet, dass ich sie ebenfalls liebe.“ Der verletzte Sam drehte sich nicht um, als er weitertippte. „Ich find’s jetzt nicht gerade toll, dass du mich grade so ignoriert hast.“ Er tippte inzwischen nur noch mit einer Hand weiter, da seine andere so sehr schmerzte, dass er erst wieder Schmerzmittel einwerfen musste. Gott sei Dank hatte er jetzt welche parat! Juan schlich sich von hinten an ihn heran und umarmte ihn einfach. Sam machte sich steif. So lange, bis Juan sagte: „Saaaahm, ich schwänz nur wegen dir gerade die Schule. Ich hatte sicher nicht vor, dich einfach so zu ignorieren, ja? Also mach den PC jetzt aus und leg dich ins Bett, damit ich dich endlich gesundpflegen kann.“ Was blieb Sam anderes übrig, als zu gehorchen? Er hätte auch gar nicht anders reagieren wollen. Seufzend kuschelte Juan sich an Sam, der ihm übers Haar strich. „Du bist die geborene Krankenschwester“, flüsterte er dabei. Juan nickte. „Das war auch mein Traumberuf, als ich klein war, muss ich dir gestehen. Ich wollte zwar nie eine Frau sein, aber dafür eine Krankenschwester. Ich weiß auch nicht genau, warum. Ich glaub, mir gefielen die Klamotten.“ Sam lachte. „Also, ich wollte immer Dressurreiter werden. Das war, bevor ich meine angeborene Abneigung gegen Pferde entdeckt habe.“ „Wie denn das?“, fragte Juan und legte sich auf die Seite, damit er Sam besser ansehen konnte. „Oh, als ich sechs war, hatte ich meine Eltern soweit, dass ich Reitstunden nehmen durfte. Gleich in der ersten Stunde hat ein Pferd mir so sehr in den Magen getreten, dass ich ins Krankenhaus musste. Den Hufabdruck konnte man drei Jahre sehen und noch heute sind die Umrisse leicht zu erkennen. Wie eine Art Narbe. Danach hab ich jedenfalls nie wieder ein Pferd angefasst und esse mit Vorliebe Pferdesalami. Da stell ich mir immer vor, es ist das Pferd, das mir damals so wehgetan hat.“ Juans Gesicht verzog sich zu einem mitleidigen Grinsen. „Das Pferd hat eben gespürt, dass du was Besonderes bist. Zeigst du mir mal den Abdruck?“ Sam nickte und zog sein T-Shirt hoch – was übrigens auch beantwortete, was die beiden getrieben hatten (obwohl getrieben das falsche Wort war): Nämlich nichts. Wenn man Geknutsche und Gefummel als nichts ansah zumindest. „Siehst du den Ring da? Da war es.“ Juan nickte und strich mit seinem Finger über den Abdruck. „Da hat es dich ganz schön erwischt“, sagte er mitfühlend und Sam nickte. „Ja. Einen Zentimeter weiter und irgendwas wär geplatzt. Was weiß ich, ich bin in Bio nicht so gut, aber ich hatte höllisches Glück. Ich musste auch nur eine Woche im Krankenhaus bleiben.“ Er zögerte kurz, dann grinste er. „Da hätte ich so jemanden wie dich gut gebrauchen können.“ Juan küsste ihn kurz, aber leidenschaftlich, wobei er nicht aufhörte, über die Narbe zu streichen. „Damals wusstest du bestimmt nicht, dass du schwul bist, oder?“, vermutete er. Sam nickte. „Sí. Da hab ich noch Mädchen gemocht. Es kam erst vor ein paar Jahren, dass ich gemerkt habe, dass Mädchen mir nicht so viel geben können wie Jungs.“ Juan nickte. „Bei mir auch. Aber ich hab das nie ausgelebt bis jetzt. Mit meiner Beliebtheit wäre es hier leider vorbei, wenn ich mich outen würde. Die sind ziemlich katholisch hier und so.“ Sein Freund strich ihm tröstend über die Wange. „Du musst es ja nicht tun. Meine Eltern wissen zum Beispiel bis heute nicht, dass ich schwul bin. Gut, sie hören mir auch nie zu, aber es hat sich noch keine perfekte Gelegenheit dazu ergeben. Die gibt es nämlich nie. Dass es meine Klassenkameraden erfahren haben, war auch ein totaler Zufall.“ „Erzähl“, forderte Juan ihn auf. Sam kratzte sich am Kopf und überlegte. „Öh... da war ein Typ aus meiner Klasse, der mich zu Hause besucht hat, damit wir ein Projekt zusammen fertigmachen. Irgendwie hat er mich angemacht. Zumindest kam es mir so vor. Dann hab ich ihn dummerweise total begeistert gefragt, ob er auch schwul sei. Im ersten Moment fing er an zu lachen. Dann fiel ihm das auch auf und er fragte mich aus. Es stellte sich raus, dass er mich garantiert nicht angemacht hatte. Am nächsten Tag wusste die ganze Schule, dass ich schwul war.“ Juans Augen wurden groß. „Mierda“ kommentierte er trocken. „Und dann?“ Sam zuckte die Schultern. „Erst machten sie Witze, dann wurde ich gemieden und danach war wieder alles okay. Es kommen zwar hin und wieder noch doofe Kommentare und einige Leute kommen immer noch nicht damit klar, dass ich schwul bin, aber sonst ist alles okay. Ich war bis dahin ein Mädchenschwarm, aber damit hörte es zum Glück auf. Freunde hatte ich leider nie, aber kurz darauf kam Tom, mein Nachbar und bester Freund, seitdem ich lebe, von der Nachbarschule zu uns, weil er dort nicht mehr zurechtkam von den Leuten her und so, und dann wurde alles besser.“ Er sagte nicht direkt die ganze Wahrheit, aber da Juan so erleichtert aussah, konnte er ihm nicht mehr erzählen. „Gesegnet sei Tom“, lächelte Juan. Dann drückte er Sam fest an sich. „Schön, dass es bei dir so gut verlaufen ist. Ich hab deine Klassenkameraden beobachtet. Die scheinen dich echt zu mögen.“ „Echt?“, fragte Sam überrascht nach. Juan nickte. „Ja. Die reden echt gut über dich. Ich hab mit... ähm... genau, Lena und Simone über dich geredet und die sagen beide richtig nette Dinge über dich. Und ein paar andere auch.“ Sams Gesicht lief rot an. „Wirklich?“, fragte er gerührt nach. „Sogar Simone? Ich dachte immer, sie mag mich überhaupt gar nicht.“ Sein Freund schüttelte den Kopf. „Nein, sie findet dich echt nett. Und witzig. Ich auch“, fügte er hinzu und küsste Sam. Der schaute zuerst, als würde sein ganzes Leben nun einen Sinn machen und dann verwirrt. „Du redest mit anderen über mich?“ Er grinste. Juan ebenfalls. Um einer Antwort zu entgehen, küsste er ihn noch einmal heftig. Sam wiederholte die Frage einige Minuten später noch einmal und Juan schmunzelte leicht. „Ich musste doch wissen, wie du drauf bist und so“, gestand er dann. „Ich wollte wissen, ob du so toll bist, wie ich dachte. Du bist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seitdem ich dich das erste Mal gesehen habe. Nur deshalb habe ich euch gefragt, ob ihr mit uns Basketball spielen wollt.“ „Das hast du schnell bereut“, sagte Sam lachend und Juan nickte schmunzelnd. „Ja. Aber es war niedlich, wie dir dann der Ball an den Kopf geknallt ist.“ „Wahnsinnig niedlich“, maulte Sam und berührte die Beule, die er immer noch am Kopf hatte und Juan nutzte die Gelegenheit, um diese zu küssen. „Autsch“, beschwerte sich Sam und zog einen gespielten Flunsch. Juan seufzte und kuschelte sich dich an Sam hin. „Ich wünschte, das hier würde nie enden“, sagte er nach einigen Momenten der Stille und riss Sam somit aus einem angenehmen Dahinschlummern, in das er eben gefallen war. „Was?“ Er sah Juan aus großen Augen an, der seufzte. „Na, das hier. Dieses Daliegen und sich einfach festzuhalten. Das geht vorbei. In drei Tagen spätestens ist das hier alles nur noch Erinnerung.“ Sam strich ihm sanft über die Wange. „Bist nicht du derjenige, der normalerweise jede einzelne Sekunde des Tages ausnutzt und sich darüber freut, dass er am Ende noch Zeit hat, einfach so dazuliegen und über all das nachzudenken, was er so getan hat?“ Juan seufzte. „Könnte sein. Aber ich will trotzdem nicht, dass du gehst.“ „Ich doch auch nicht. Kannst du nicht einfach mitkommen? Meine Eltern würden...“ „Es sicherlich doch noch irgendwann merken, dass da einer mehr im Haus ist, selbst, wenn sie normalerweise nicht ganz so schnell sind, so was zu checken“, sagte Juan und seine Stimme hatte einen wütenden Unterton bekommen. Sam seufzte. „Ich weiß. Lass es uns doch einfach genießen, ja?“ Juan nickte. Was sollte er auch sonst tun? Sam starrte an die Decke. Nachdem Juan gegangen war, waren auch seine Schmerzen zurückgekehrt und jetzt versuchte er, nicht daran zu denken, dass sein Handgelenk zweimal gebrochen, er so dumm gewesen war, damit Playstation zu spielen und am PC rumzutippen. Außerdem fing er jetzt wieder an zu niesen, was er gar nicht gebrauchen konnte. Miguel rannte ins Zimmer rein. „¿Dónde está Juan? María... María está loca.“ Sam starrte weiterhin nach oben und versuchte, Miguel zu ignorieren. Was hatte er diesmal? Er beobachtete, wie er im Zimmer rumhüpfte und dabei krampfhaft etwas mitteilen wollte. Ob Sam auch so zugenommen hatte wie Miguel dick war? Guut, er war nicht fett, sondern nur etwas rundlicher, aber wenn er weiterhin so viel Paella aß, hatte das sicherlich keine guten Folgen. Außerdem brauchte Miguel dringend einen Haarschnitt, vielleicht sah er damit dann nicht ganz so nach Pilzkopf aus. Während Sam überlegte, was Miguel alles an sich ändern könnte, überlegte Miguel, wie er Sam dazu bringen konnte, ihm zuzuhören. Sterben erschien ihm am besten, also warf er sich röchelnd auf den Boden und schrie die einzigen Worte, die er brav auswendiggelernt hatte, falls er im Urlaub mal draufgehen sollte: „Help me! I’m dying!“ Dann beobachtete er stolz, wie Sam aufsprang und weniger stolz, wie Sam anfing, ihm eine Mund-zu-Mund-Beatmung zu verpassen und dabei beinahe kotzte. „Ist alles wieder okay?“, fragte Sam angewidert und spuckte die letzten Paellareste aus, die er im Mund hatte – Miguel hatte gerade einen Paellateller in der Hand gehabt, bevor ihm der Trick mit dem Sterben einfiel. Miguel nickte und sagte erneut röchelnd: „¿Televisión?“ Sam überlegte. Wenn man den Begriff ein wenig dehnte, konnte man daraus das englische Wort television ableiten, also Fernsehen. Wollte Miguel fernsehen? Sam nickte, zog Miguel an den Achseln hoch und ins Wohnzimmer hinein. Dann organisierte er ihm einen erneuten Teller Paella, sich ein Müsli, und er sah sich zusammen mit Miguel an, wie María Pedro erneut abstechen wollte, allerdings erst, nachdem sie ihm gesagt hatte, dass er Vater werden würde. Pedro schaffte es noch zu entkommen, und drohte María damit, das alleinige Sorgerecht für das Baby zu bekommen. Komisch, dass Sam hierbei alles verstand. Aber Serien wie GZSZ verstand auch jeder, der kein Deutsch konnte. Obwohl es seltsam war, dass er die Worte für „alleiniges Sorgerecht“ kannte, aber nicht wusste, wie man jemanden darum bat, dass man aufs Klo gehen konnte. Kapitel 7: Tag 8 ---------------- So. Jetzt geht es endlich in die heiße Phase. Aarmer Sahm xD Reviews sind wieder erwünscht, so btw. Ähm, ja. Ach ja: Das ist mir jetzt schon öfters aufgefallen. Ihr mögt alle Juan nicht xD Gebt ihm eine Chance. Auch wenn er nach diesem Kapitel wohl noch unsympathischer ist. Viel Spaß! __________________________________________________ Tag 8 Schon am Morgen was es unerträglich heiß. Miguels Mamá befand wohl, dass sie sie für einen Tag genug genervt hatten; jedenfalls schickte sie Miguel und den triefenden Sam wieder in die Schule. Triefend deshalb, weil seine Nase immer noch lief und lief und lief und nicht mehr aufhören wollte. Missmutig starrte er an der Bushaltestelle vor sich hin und nur eine SMS seiner kleinen Halbschwester konnte ihn aufheitern. Er behauptete immer, er mochte sie nicht, weil ihm seine Eltern so auf den Senkel gingen, aber das stimmte nicht. Sie war fünf und lernte gerade das Schreiben einer SMS. Daher war der Text auch etwas confusing für Außenstehende, aber Sam verstand ihn bestens. Halo Säm ich vermis dih kom züruck gans schnell ich hap dih lip fon Sarah (shwester) Sam schmunzelte. Mit dem Schreiben hatte sie es natürlich noch nicht so, dafür war sie noch zu klein. Aber er freute sich trotzdem wie ein Schnitzel und hielt die SMS im Bus auch gleich Tom unter die Nase. Er grinste. „Sarah lernt genau die richtigen Medien kennen. Es ist natürlich äußerst wichtig, eine SMS schreiben zu können, bevor man normal schreiben lernt. Hat sie ein eigenes Handy?“ „Natürlich nicht“, gab Sam hochnäsig zurück. „Das kommt vom Handy meiner Mutter. Und nur weil sie hochbegabt ist, brauchst du sie nicht zu verarschen.“ „Aaaach, ich vergaß, sie ist ja sooooo begabt“, verspottete Tom Sams kleine Schwester, allerdings mit einem lieben Unterton, sodass Sam nicht reagierte. Er wusste ja selbst, dass er Unsinn redete. „Geht’s dir jetzt eigentlich wieder besser?“ Tom deutete auf Sams Hand und der seufzte. „Heute Nacht hat sie ekelhaft gepocht. Die ganze Zeit. Ich konnte nicht gerade gut schlafen, aber Miguels Mamá war ja dagegen, dass ich zu Hause bleibe.“ „Ganz recht“, sagte Tom steif, „ich bin total ihrer Meinung. Es war total unfair, dass du gestern mit deinem Gollum rumschmusen konntest und ich mir diesen Vortrag antun musste.“ „Mit... Gollum?“, fragte Sam verblüfft nach. Er glaubte, sich verhört zu haben. „Bist du sicher? Sogar Frodo fänd ich geiler als Gollum. Oder Aragorn, der ist doch ganz knackig. Aber Gollum?“ „Ohh, du bist doch so doof. Mit Gollum assoziier ich doch nur zwei Worte. Eines dieser Worte wollte ich nicht aussprechen, weil sonst doofe Fragen von den anderen kommen könnten. Klar soweit?“ Sam überlegte. Dann schüttelte er den Kopf und zu seiner pochenden Hand gesellte sich auch noch ein schmerzender Hinterkopf hinzu. Sam lehnte den Kopf an die Lehne des Sitzes – soweit es noch ging, dank seiner Beulen – und lauschte den Geräuschen des Busses. Hinter ihnen verprügelten gerade zwei fies aussehende Typen einen Zwölfjährigen. Rechts von Sam gähnten einige Leute sich gegenseitig an, um ihren Mundgeruch zu testen. Vor den beiden vögelte ein Pärchen beinahe miteinander. Der Busfahrer schimpfte laut vor sich hin. Es war – kurz gesagt – harmonisch ohne Ende. Und doch fehlte etwas. Oder eher jemand. Juan. Sein Juan. Sie hatten noch genau zwei Tage miteinander. Am dritten Tag würde er um fünf Uhr morgens den Bus besteigen, der sie alle nach Sevilla zum Flughafen und somit nach Hause bringen würde. Nach Hause. Ein komisches Wort. Er hatte nicht das Gefühl, dorthin zurückzukehren. Denn sosehr er Spanien am Anfang gehasst hatte... inzwischen fühlte er sich hier pudelwohl und wollte nicht mehr gehen. Komisch, oder? Es lag nicht nur an Juan, sondern auch daran, dass hier endlich mal jemand war, der sich dauerhaft mit ihm beschäftigte. Miguel war rund um die Uhr bemüht, ihn zu einem Serienjunkie zu machen. Tom war ebenfalls ständig da (zu Hause zwar ebenfalls, aber dort war es anders), er hatte seinen Juan, der sich um ihn sorgte und Miguels Mamá ohne Namen, die ständig für ihn kochte. Zwar hatte er mittlerweile eine Abneigung gegen Paella in jeglicher Form entwickelt, aber ihre Tortilla war klasse. Die hatte sie gestern überraschend serviert und Miguel war vor lauter Sorge darüber, dass etwas mit seiner Mutter nicht stimmen konnte, nicht imstande gewesen, etwas zu essen. Sam lächelte leicht und stieg seufzend aus dem Bus. Er wollte einfach nicht, dass alles endete. Juan winkte ihm im Vorbeigehen leicht zu und deutete auf seine Hand. Sam zuckte die Schultern und versuchte, sein Grinsen nicht allzu dämlich ausfallen zu lassen. Toms Hand landete hart auf Sams Schulter. „Alter, lass das nicht zu offensichtlich ausfallen. Die schauen schon alle komisch.“ Tom hatte recht; ein paar Mädchen warfen ihnen wirklich ein paar schräge Blicke zu, weswegen Sam seinen eigenen schnell wieder von Juan abwandte. Wenn auch bedauernd. Dabei huschte er noch einmal schnell mit den Augen zurück zu Juan, der heute einfach unverschämt gut aussah. Mit was wusch er eigentlich seine Haare? Sie glänzten an diesem Tag beinahe schwärzer als schwarz. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich jemals mit ihm streiten könnte. Ja, obwohl er ihn erst seit sechs Tagen kannte, wollte er für immer und ewig mit ihm zusammen sein. Punkt. Lena kam ihnen mit einem trauernden Gesicht entgegen. Tom legte den Kopf schief und sah sie verwirrt an. „Was hast du?“, wollte er wissen, während Sam überlegte, ob er wohl kurz vor dem Flug abhauen könnte, sodass man ihn nicht zurückholen konnte und er bei Juan blieb. Sie schüttelte den Kopf. „Ich hab da so was Schlimmes gehört... ich kann es noch nicht so recht glauben, aber es stimmt wohl...“ Sie atmete tief ein und dann wieder aus. „Was ist denn genau los?“, hakte Tom nach, während Sam überlegte, ob er Juan irgendwie nach Deutschland einschleusen könnte, sodass man ihn nicht mehr zurückholen konnte und Juan bei ihm blieb. Lena zuckte mit den Schultern. „Ich hab da grade so ein Gerücht gehört... und es macht mich etwas fertig.“ Tom zog die Augenbrauen hoch. „Jaaa?“, fragte er gedehnt nach, während Sam überlegte, ob Juan und er einfach nach Kanada ausreisen sollten, sodass sie dort bleiben konnten und Juan bei ihm blieb. „Ich... über... Juan...“, sagte Lena stockend. „Jaaaaaa?“, fragte Tom und zog das Wort immer noch mehr in die Länge, während Sam über... Moment mal. „Juan?“, fragte Sam nach, der glaubte, sich verhört zu haben. Wer würde schon Gerüchte über seinen Juan in die Welt setzen wollen? Mit großen Augen musterte er Lena und fragte sich, was in aller Welt los war. „Aaaalso... ein paar Mädchen... ähm... die sagen gemeine Dinge über ihn, weil er sie nicht mehr an sie ranlässt.“ Sie rang nach Worten. Tom und Sam tauschten einen wissenden Blick aus. „Gemeine Dinge?“, echote Sam und lächelte sie leicht an. „Die spinnen doch. Der mag sie bestimmt einfach nur nicht. Was sagen die denn?“ Lena begann, mit ihrem T-Shirt-Saum zu spielen und seufzte leise. „Sie behaupten, er würde sich nicht mehr auf sie einlassen, weil er jetzt vergeben sei... aber... nicht mit einem... Mädchen.“ Die letzten Worte flüsterte sie so leise, dass Sam sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. „Du meinst“, nahm Tom den Faden auf, „... die sagen, dass er... schwul sei?“ Lena nickte ganz leicht. „Ja“, murmelte sie dann. „Die... das geht grade in der ganzen Stadt rum, weil er noch nie eine richtige Freundin hatte, sondern nur ein paar kurze Beziehungen, die nie lange dauerte.“ „Aber er hat doch Sex mit Frauen“, sagte Tom und versuchte, die Situation zu retten. Lena zuckte die Schulten. „Sagt doch nichts aus, oder? Ich weiß jedenfalls nicht mehr, was ich glauben soll.“ Verzweifelt musterte sie ausgerechnet Sam. „Sam, was sagst du? Denkst du, er könnte schwul sein?“ Der Angesprochene zuckte zusammen. „Warum fragst du das ausgerechnet mich?“, fragte er kläglich. Innerlich verfluchte er sich, dass er Miguels Mamá beachtet hatte und in die Schule gekommen war. „Weil du schwul bist und mir sagen kannst, ob er es auch ist.“ Sam rang mit sich selbst. „Woher soll ich das denn wissen?“, versuchte er es noch einmal. Lena seufzte. „Du hast Ahnung und Erfahrung. Was denkst du also?“ Wenn er ihn jetzt ans Messer lieferte, würde Juan keine ruhige Minute mehr haben. Aber alle würden wissen, dass er und Sam zusammengehörten. Das wäre schön. Sie müssten in der Schule nicht mehr so, als würden sie sich eher weniger kennen und könnten allen zeigen, dass sie sich liebten. Andererseits wäre es für Juan nicht so gut, oder? Sam überlegte. Wenn Juan nicht einverstanden mit seinem Coming-Out war – und das war er bestimmt – dann würde Sam ein riesiges Problem haben. Er wusste, dass Lena seine Antwort überall rumposaunen würde und wenn er ihr sagen würde, dass Juan schwul war, würde der – schneller als er auf drei zählen konnte – zum Gespött der ganzen Schule werden. Sam wusste nur zu gut, wie das war. Er hatte Juan nämlich nicht die ganze Wahrheit gesagt. Zwar war es in seiner Schule inzwischen vollkommen normal geworden, dass er schwul war, aber ernst nahm ihn trotzdem kaum einer. Eigentlich war es das erste Mal seit langer Zeit, dass jemand gut über ihn redete. Deshalb durfte er Juan nicht verraten. „Er ist nie und nimmer schwul. Der ist total interessiert an euch. Und auch vom Verhalten her und so, ist er es absolut nicht.“ Lenas Gesichtsausdruck wechselte von verzweifelt zu ungläubig zu überrascht zu fröhlich. „Meinst du echt?“, fragte sie begeistert und wartete kaum Sams Nicken ab, ehe sie sich davonstürzte, um es allen zu erzählen. Tom lächelte Sam von der Seite her leicht schräg an. „Was?“, fragte Sam leise. Er fühlte sich elend. Irgendwie. Tom zuckte die Schultern. „Das war nett von dir. Du hättest Juan alles ruinieren können.“ Sam nickte. „Hätte ich.“ Tom sah ihm den dringlichen Wunsch in den Augen an und klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Hey, du hättest ihm wirklich schaden können ohne Ende. Manchmal muss man eben zurückstecken. Eines Tages wirst du jedem sagen können, dass du jemanden liebst, ohne dass du etwas zu befürchten hast.“ „Eines Tages?“ Sam klang trotzig. „Ich möchte das alles jetzt erleben. Ich möchte, dass Juan derjenige ist, von dem alle wissen, dass ich ihn liebe.“ Tom seufzte. „Du weißt, dass es nicht geht, oder?“ Sam nickte leicht. Dann – weil er ohnehin schon den ganzen Morgen über leicht angeschlagen und sensibel war – brach er in Tränen aus. Ihr Lehrer verstand, dass Sam einige Zeit für sich brauchte und erlaubte, dass sie die erste Stunde draußen verbringen durften. Sie hätten jetzt ohnehin nur eine seltsame Klassenlehrerstunde, in der sie die Ereignisse der letzten Tage ein wenig ausdiskutieren wollten. Tom strich Sam leicht über den Rücken und sagte dabei nichts. Als seine Bewegungen zu mechanisch wurden, stieß Sam seine Hand weg. „Sahm“, sagte Tom verzweifelt, „ich weiß, dass du fertig bist. Aber ich kann dir doch nicht helfen. Das kann nur Juan.“ Sam nickte leicht und schniefte verzweifelt. „Ich will doch einfach nur zeigen, dass ich auch jemanden finde. Ich bin immer der Loser, bei allem werd ich immer nur ausgelacht. In der Klasse wird behauptet, dass ich im Leben keinen Typen finde und dass ich selbst unter Schwulen ausgelacht werde. Kriegst du das nicht mit?“ Tom schwieg kurz. „Nein“, sagte er dann entschieden, „ich krieg nur mit, was gut ist. Sie mögen dich. Sie reden nicht so über dich.“ Sam lachte trocken auf. „Oh doch. Du kriegst es wirklich nie mit, weil du es nicht mitkriegen willst. Jedes Mal, wenn sie reden, verschwindest du oder sonst was. Du hast keine Ahnung, was die alles über mich sagen, selbst wenn ich im Raum bin.“ Tom runzelte die Stirn. „Sie sagen nichts Böses. Sie meinen es doch nicht so. Und wenn du solche Probleme damit hast, warum sagst du dann immer, alles sei bestens? Du widersprichst dir ziemlich.“ Sam verzog seinen Mund zu einer wütenden Grimasse. „Es geht nicht. Ich kann es nicht sagen, verstehst du? Es mag ja sein, dass die Lästereien nicht schlimm sind, aber ich empfinde es als störend ohne Ende. Aber wie kommt das denn, wenn du dich unwohl fühlst, weil du schwul bist?“ Sein bester Freund legte den Kopf schief. „Es kommt ganz normal. Und ich kann nur wiederholen, was Juan gesagt hat: Die mögen dich. Über jeden wird mal gelästert, oder nicht?“ Sams Antwort war ein erneutes Schluchzen. Er wusste nicht mehr, wie lange er schon nicht mehr so richtig geheult hatte. Er wusste nicht mehr, ob es ihm gut ging oder nicht. Und er wusste nicht mehr, warum er eigentlich heulte. Eigentlich ging es ihm doch nicht schlecht, oder? „Tom?“, murmelte er leise. „Hmm?“, fragte sein Freund zurück und legte den Arm leicht um ihn. Sam lehnte sich an Tom und seufzte. „Glaubst du, das mit Juan und mir hat eine Chance?“, fragte er dann und schielte Tom an. Dessen Gesichtsausdruck blieb unleserlich. „Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich. „Ich hab echt keine Ahnung.“ „Danke.“ Sams Stimme wurde leiser und er blickte nach vorne. Das Gras verdorrte langsam wegen der Hitze. „Wofür?“, fragte Tom nach, obwohl er es im Grunde genommen schon wusste. „Dass du ehrlich bist.“ Dann stand Sam auf und lief ins Gebäude hinein. Sie störten den Unterricht. Doch das war egal. Herr Biermann drehte sich irritiert zur Tür um, als Sahm und Tom den Raum betraten. Dann lächelte er. „Ahhh, ihr seid wieder da. Alles wieder klar bei Ihnen, Firit?“ Hatte Sam schon erwähnt, dass er seinen Vor-, wie auch seinen Nachnamen hasste? Sam nickte und Herr Biermann winkte sie herein. „Kommen Sie, kommen Sie. Thomas, setzen Sie sich hierhin, da ist noch was frei. Samuel, da hinten hätten wir auch noch einen Tisch, direkt neben Kevin. Ach, was weis ich euch Stühle zu? Ich wollte eh gerade einen Stuhlkreis machen. Los, hopp, hopp. Stühle rücken, Leute.“ Biermann strahlte. Er war in seinem Element. Stuhlkreise waren sein Ein und Alles. Eine Weile lang hörte man nur das Gemurre der Schüler, die ihre Stühle umherschoben und ebendieses Kratzen. Dann saßen alle und Sam fand sich zwischen Lena und – ausgerechnet! – Herrn Biermann wieder. Dieser Idiot legte ein Tuch in die Mitte und darauf eine Kerze, die er sofort anzündete. Er war nicht nur Sams Klassen- und Spanischlehrer, nein, er war auch Religionslehrer mit einem Faible für Stuhlkreise mit Kerzen. So ziemlich jeder stöhnte jetzt heimlich und nicht so heimlich. Auch das noch. Sam überlegte, ob er noch mal einen Heulkrampf kriegen sollte, damit er das nicht auch noch durchstehen musste. „Sooo... jetzt entspannt ihr euch alle mal und denkt über eure bisherige Zeit hier nach.“ Keiner rührte sich; Sam nahm an, dass die meisten ohnehin schon schliefen. Er gähnte. Ein paar Leute kratzten sich oder fingen leise an, sich zu unterhalten. Keiner machte Anstalten, das zu tun, was Biermann wollte. „Hattet ihr bisher mehr gute oder schlechte Ereignisse?“, durchbrach auf einmal dessen Stimme die „Stille“ und verwirrt drehten sich so ziemlich alle Leute zu ihm hin. Normalerweise ließ er sie eine halbe Stunde lang in Ruhe und versuchte, nichts mehr zu sagen, damit sie „genug Zeit zum Denken hatten“, wie der Lehrer es oft ausdrückte. Herr Biermann saß lächelnd auf seinem Stuhl und musterte sie alle. „Erzählt mir mal der Reihe nach. Was war gut bei dir; Samuel?“ Sam zuckte zusammen, als er so auf einmal angesprochen wurde. Jeder musterte ihn grinsend und Lena stupste ihn in die Seite. „Äh... gut... ähm... das... äh...“ „Das Essen war bestimmt gut, oder?“, half Biermann nach. Sam überlegte. Die Paella hatte am Anfang ja noch geschmeckt, aber dann... „Nein“, sagte er entschieden. „Eigentlich nicht.“ Die Leute, die wussten, was Sam so gegessen hatte, kicherten. Biermann verzog den Mund verwirrt. „Okayy... und... äh, deine Spanischkenntnisse haben sich doch sehr stark verbessert, oder?“ Keiner gab sich mehr Mühe, nicht zu lachen, denn jeder wusste, wie Sam in Spanisch war, selbst die Leute, die nicht in seiner Klasse waren. Biermann grinste ebenfalls und Sam nickte. „Ein wenig, ja. Aber nur so allgemeine Dinge.“ Sein Lehrer strahlte. „Vielleicht kommst du dann ja noch auf eine Vier im Zeugnis, wer weiß? Erzähl, welche Dinge“, forderte er ihn auf. „Ähm... ich bin jetzt gut in Sorgerechtsstreiten, Mordfällen, einseitigen Liebeserklärungen und Sexgeflüster“, sagte er stolz. Sein Lehrer sah irritiert aus. Konnte Sahm nicht verstehen. Immerhin wusste er nun etwas mehr als vorher. Biermann vergrub in den Kopf in den Händen. „Okayyy... und die Leute, waren die wenigstens nett?“, versuchte er, die Situation zu retten. Aussichtslos. Die meisten lagen inzwischen am Boden, lauschten jedoch auf Sams erneute Antwort. „Na ja... ich hab ja nur die Leute in den Soaps verstanden. Die waren nicht nett. Aber ich glaub, mein Austauschpartner ist ganz nett. Er kann nur kein Englisch, von daher versteh ich ihn nicht. Aber er hat mir gestern Abend nach seinen Soaps noch ein paar Schimpfwörter beigebracht.“ Sam sah stolz in die Runde und verstand nicht, warum ihn jeder auslachte. „Und... äh... Sport“, sagte Biermann erleichtert. „Ich hab gehört, du hast Basketball gespielt. Wie war das denn?“ Entsetzt sah Sam ihn an. „Spricht sich das jetzt schon bis zur Lehrerschaft durch? Ist ja voll peinlich! Ich kann doch nichts dafür, dass ich mieser als ein Waschbär mit Augenklappe bin und einen Ball an den Kopf bekommen habe. Glauben Sie bloß nicht, dass ich mir das hier“, er hielt seinen verletzten Arm hoch, „auch vom Basketball geholt hab, ja? So war es nicht. Das war Juan.“ Biermann schob frustriert die Unterlippe nach vorne. „Äh... was ist mit...“ Er überlegte, was er tun konnte, damit sie aufhörten zu lachen. Es schien ihm nichts Wirkliches einzufallen. „Gut, Lena. Machen Sie doch weiter.“ Er lächelte und schien seine Beherrschung wiederzufinden. Lena lächelte zuckersüß zurück. „Sam war noch nicht fertig, glaube ich. Lassen Sie ihn doch ausreden.“ Großes Gelächter. Biermann schloss die Augen und verfluchte laut sein Leben. Nach der Stunde erntete Sam von allen Seiten Anerkennung. „Wie du ihn beinahe zum Heulen gebracht hast, das war einfach göttlich“, befand Peter, der seinerzeit Sam geoutet hatte. Kevin klopfte ihm auf die Schulter. „Schön, dein subtiler Humor. Echt. Ich dachte schon, jetzt schmeißt er alles hin oder so.“ Subtiler Humor? Er hatte doch gar nicht witzig sein wollen. „Das war ernst gemeint“, empörte er sich. Einen Moment lang war es still in der Klasse, die darauf wartete, dass irgendjemand sie in die Klassen einteilen würde. Dann kicherten alle los. „Dann bist du aber selbst unbeabsichtigt echt witzig“, befand Simone, während Sam rot anlief. Tom stieß ihm in die Rippen und flüsterte: „Siehst du, sie lachen mit dir, über das, was du gesagt hast. Sie mögen dich, du Dussel.“ Sam wurde schon wieder rot. Bevor noch irgendjemand mehr sagen konnte, kam ein spanischer Lehrer herein, von dem Sam wusste, dass er Pedro hieß – wie 90 Prozent aller männlichen Lehrer hier. „¡Buenas días!“, rief er aus. „Es un día fantástico.“ Er zog eine Liste aus der Tasche heraus und teilte ihnen mit, welchen Unterricht sie heute zu besuchen hatten. Eigentlich war dies jedem schon klar, denn meist hatte man die Kurse mit dem eigenen Austauschpartner. Sam seufzte und ließ Tom alles übersetzen, während er im Geiste noch einmal all die Ausdrücke durchging, die Miguel ihm gestern gesagt hatte. Diese hatte Sam leicht im Kopf behalten. Vielleicht wäre es allgemein mit Spanisch so gewesen, wenn er sich reingehängt hätte? Französisch konnte er doch auch einigermaßen... Er gähnte, während Tom ihn mitzog. Wie üblich hatten sie dieselben Kurse zusammen. „War geil grade“, sagte Tom grinsend und sie liefen gemeinsam mit einigen anderen durch die Gänge. Sam nickte. „Ja. Hast du gesehen, wie verzweifelt Biermann am Ende war? Der ist sofort abgehauen danach. ¡Qué coño!“ Tom blieb stehen und musterte ihn überrascht. „Was? Woher kennst du das?“ „Was?“, fragte Sam fröhlich. „Tu nicht so!“, fauchte Tom beleidigt. Es wurmte ihn, dass Sam etwas konnte, was er nicht konnte. „Was heißt das?“ „Was für eine Scheiße“, übersetzte Sam strahlend. „Hat mir Miguel gestern beigebracht.“ Tom zog die Stirn kraus. „Wie, so was merkst du dir und dann kannst du nicht mal jemanden auf Spanisch begrüßen?“ Sam nickte. „Ja.“ Tom schüttelte den Kopf. „Idiot“, murmelte er tonlos. „Angenehm, Sam“, zitierte Sam einen seiner Lieblingsfilme, allerdings mit einem anderen Namen. Tom nickte nur. Dann langweilten sie sich gemeinsam durch den Schulmorgen. Am Nachmittag fiel der Unterricht aus. Die Temperaturen waren auf ekelhafte vierundvierzig Grad gestiegen und keiner konnte mehr normal gehen, ohne den eigenen Schweiß in Eimern aufzufangen. Angewidert stapfte Sam mit Miguel vom Bus nach Hause. Jede Sekunde fürchtete, er würde sterben. Er hatte Durst ohne Ende und er verfluchte diese furchtbare Sonne. Es. War. Heiß. Ohne. Ende. Auch Miguel quengelte ohne Ende vor sich hin. Da er sich gestern so viel Mühe gemacht hatte, Sam zu unterrichten, erkannte dieser einige der Kraftausdrücke wieder. Anderes war ihm neu. Die ganzen sieben vorherigen Tage lang war ihm der Weg von der Bushaltestelle zu Miguels Haus viel zu kurz vorgekommen. Er dachte gerne nach auf seinem Nachhauseweg. Das beruhigte ihn. Doch an diesem Tag war es furchtbar lang. Die fünf Minuten zogen sich wie Stunden dahin. Miguels Haus wollte einfach nicht auftauchen. Sam ächzte nach Luft und Wasser. Hoffentlich hatte Miguels Mamá keine Paella gekocht, denn etwas Warmes würde er jetzt nicht ertragen. Seine Hand pochte ekelhafter als vor vier Tagen, als er sie sich gebrochen hatte. War sie hitzeempfindlich? Vielleicht würde sie eine Art Magnet werden, der ihm sagen konnte, wann es gutes Wetter geben würde. Das wäre toll. Aber wenn nicht bald dieses verdammte Haus kühlenden Schatten spenden würde, wäre alles egal! Sam stöhnte. „Migueeeel, ich sterbe.“ Zu mehr reichte ihm der Atem nicht mehr. Miguel seufzte, warf seine Schultasche auf den Boden, schaute sich um, ob ihn auch ja keiner sehen konnte und dann zog er sich einfach so sein María-T-Shirt über den Kopf, das er schon wieder getragen hatte (seine Mutter wusch im Eiltempo). Sam mochte nackte Oberkörper von Jungs. Allerdings nicht Miguels. Es war ja nicht so, als ob er hässlich wäre. Er sah... na ja, nicht direkt gut aus, aber hässlich war er auch nicht. Er hatte nur ein kleines bisschen zu viel Paella gegessen und zu wenig Sport gemacht. Moppelmiguel störte das nicht. Ihm war heiß und Sahm konnte es verstehen. Nach gefühlten sechsunddreißig Stunden hatten sie endlich das schützende, kühle, wunderbare rosa Haus erreicht, das Miguel sein Heim nannte. Erleichtert fielen Sam und Miguel praktisch ins Haus hinein und Miguels Mamá rannte ihnen in einem lächerlichen Gymnastikanzug entgegen. Nach einem kurzen Gefecht mit Miguel verschwand Miguels Mamá fröhlich winkend durch die Tür nach draußen. In diesem Aufzug würde sie keine hundert Meter weit kommen. Im Moment war das Sam aber auch egal, weil er einfach nur noch nackt durchs Haus rennen und sich Eis auf den Körper schütten wollte. Stattdessen ging er sich umziehen, dann in die Küche und aß mit Miguel zusammen je eine ganze Eispackung auf. Sam seufzte; diesmal vor Glück. Dann fiel ihm auf, dass er sich die ganze Zeit problemlos mit Miguel unterhalten hatte; Sam sprach Deutsch und Miguel Spanisch. Und trotzdem klappte es perfekt. Sam lächelte zufrieden. Dann trank er seine Fantaflasche leer und sagte Miguel, er würde jetzt Juan anrufen. Miguel nickte und sagte ihm, dass er sich Zeit lassen sollte. All das verstand Sam, ohne auch nur einen Funken Spanisch zu können. Cool. Sam schnappte sich das Telefon, das auf einer Kommode vor Miguels Zimmer herumlag und wählte Juans Nummer, die er aus lauter Langeweile heute im Englischunterricht auswendiggelernt hatte. Er wartete und wartete. „Díga“, erklang dann fröhlich Juans Stimme aus dem Hörer. „Hallo, hier ist Sam“, sagte der strahlend und freute sich, Juan zu hören. Der ebenfalls, denn er versprach ihm, noch vorbeizuschauen, wenn er nicht vorher auf dem Weg sterben würde. Sam lächelte voller Vorfreude. Leider durfte die nicht mehr lange anhalten... Nach zwanzig Minuten klingelte es an der Tür und Miguel bedeutete Sam, sie zu öffnen. Er selbst sah sich gerade ein Special zu María und Pedro an. Eventuell würde man eine Art Spin-Off zur Serie drehen, das sich nur um María und ihr Baby drehen würde. Eventuell. Sam machte die Tür lächelnd auf und ein verschwitzter Juan schob sich durch die Tür. Dann gab er Sam einen schnellen Kuss. „Sorry, es ging nicht schneller. Mein Roller hat eine Macke; bei so heißem Wetter fährt er nicht. Deshalb musste ich gehen und das ist nicht gerade ein Vergnügen.“ Sam nickte und schob ihn in sein Zimmer. „Wenn du magst, kannst du dir Klamotten von mir leihen“, bot er ihm an, doch Juan winkte ab. „Geht schon. Kann ich was zu trinken haben? Oder gleich unter die Dusche springen?“ Sein Freund grinste und deutete an, wo sich das Bad befand. Dann holte er doch noch kurze Hosen und ein Shirt heraus, da Juan sicherlich nicht in seine verschwitzten Sachen zurückwollte, wenn er geduscht hatte. Er hatte recht behalten. Juan wechselte seine Sachen nach der schnellen Dusche sehr dankbar. Dann ließ er sich neben Sam aufs Bett fallen und genoss die kurze Ruhe, die eintrat. „Hast du mitbekommen, was die heute über mich geredet haben?“ Sam schaute Juan nicht an, als er nickte. „Ja. Die haben mich sogar um Rat gefragt.“ Juan seufzte. „Hab ich mitbekommen. Danach waren sie total euphorisch, dass ich nicht schwul bin.“ Sam bejahte steif. Juan strich ihm über den Arm. „Tut mir leid. Das war toll von dir, dass du nichts verraten hast.“ Sam seufzte, richtete sich auf und lehnte sich an die Wand. Juan blieb liegen. „Mag ja sein. Ich hätt es aber gerne.“ Juan schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ja, kann sein, aber ich bin tot, wenn die es erfahren.“ Sam blies die Luft aus. „Eines Tages werden sie es so oder so erfahren, nicht?“ Juan setzte sich nun ebenfalls hin und sah Sam verärgert an. „Wie kommst du drauf?“ „Na ja“, versuchte Sam zu erklären, „du wirst ja jetzt nicht auf einmal wieder hetero, wenn ich weg bin. Sie werden es auf jeden Fall mitbekommen, dass was nicht mit dir stimmt. Sie fanden es ja jetzt schon komisch. Wie sind die dann erst, wenn ich weg bin und du auf einmal mit niemandem mehr was hast?“ „Wer sagt das?“ Jetzt sah Juan richtig wütend aus und Sams Herz stach ekelhaft. „Wie meinst du das?“, stotterte er. „Willst du damit sagen, dass...“ Er beendete seinen Satz nicht, sondern starrte Juan nur noch sprachlos an. Der zuckte die Schultern. „Ich mag dich wirklich. Ich werde dich auch weiterhin so sehr mögen wie bisher, wahrscheinlich noch mehr. Ich möchte auch mit dir zusammen sein. Aber ich weiß nicht, ob das alles eine Zukunft hat. Wenn du weg bist...“ Er holte tief Luft, um sich darauf einzustimmen, was er jetzt sagen wollte. „Wenn du weg bist“, begann er erneut, „dann sollte ich wieder so leben wie vorher. Wir könnten doch immer noch eine Beziehung führen, aber... ich... muss doch wenigstens den Schein wahren, oder?“ Sam wollte ihm entsetzt in die Augen schauen, doch Juan fixierte krampfhaft einen Punkt hinter ihm. „Willst du... meinst du... du willst doch nicht... Juan!“ Mehr brachte Sam nicht heraus, ohne loszuheulen. Er konnte die Tränen gerade noch so zurückhalten. Auch Juans Unterlippe zitterte. „Sam, es tut mir leid. Du weißt gar nicht, wie furchtbar das für mich ist. Ich...“ „Ach, weiß ich nicht?“, unterbrach ihn Sam wütend. „Ich glaub, ich weiß es sehr wohl. Zufällig...“ „Lass mich doch bitte ausreden“, bat Juan mit leiser Stimme und sah Sam diesmal an. Er verstummte und als Juan die Hände ausstreckte, um ihn zu berühren, verschränkte Sam seine Arme vor seinem Körper und blockte Juan ab. „Hör zu, du hast wirklich keine Ahnung. Du bist öffentlich schwul, alle wissen es und haben seltsamerweise kein Problem damit. Aber diese Situation heute in der Schule hat mir gezeigt, dass es bei mir nicht mal annähernd so leicht wäre! Verdammt, die reden über mich als wär ich ein Stück Scheiße, nur weil ich den Anschein erweckt hab, schwul zu sein. Ausgerechnet dank dir denken sie es nicht mehr. Was für eine Ironie des Schicksals!“, rief er spöttisch aus und sein Gesicht bekam einen seltsamen Ausdruck. „Ich kann das alles nicht. Ich bin nicht wie du, nicht mal annähernd. Ich hab dich wahnsinnig gerne, wahrscheinlich bin ich so verliebt wie noch niemals in meinem Leben zuvor, aber das hier wird mir alles zu viel! Wenn ich nicht genauso bin wie vor dem Schüleraustausch, bringen die mich um. Verstehst du das nicht? Die zerpflücken mich, bis sie wissen, was passiert ist. Und dann bin ich nicht mehr Juan, der Frauenheld! Dann bin ich der widerliche, schwule Juan. Das kann ich nicht!“ Die letzten Worte hatte er beinahe gebrüllt und sah Sam so vorwurfsvoll an, als wäre es dessen Schuld. Gut, das war es wohl auch, aber... „Es ist doch nicht gesagt, dass sie dir die Hölle heiß machen oder es herausfinden oder so. Du machst dich unnötig verrückt.“ Sam musterte ihn mit unterdrückter Wut. Wieso drehte er jetzt so durch? Juan schüttelte den Kopf. Ungläubig. „Du verstehst es nicht. Du verstehst es einfach nicht. Du könntest dir doch mal Mühe geben und einfach versuchen, mich zu verstehen, oder nicht? Aber was tust du? Du suchst Ausflüchte und tust so, als wäre alles okay. Nichts ist okay.“ Er schaute ihn wütend an und dann wiederholte er: „Nichts ist okay! Nichts ist okay, verdammt noch mal!! ¡¡¡MIERDA!!!“ Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Sam schreckte zurück, als es polterte. „Was ist eigentlich mit dir los? Vorhin warst du noch ganz normal und auf einmal brüllst du hier so rum und demolierst alles und machst mich fertig und mir Angst und...“ Er brach ab, sah nur Unverständnis in Juans Augen. Der stand auf. „Weißt du, ich dachte, du könntest mir helfen. Würdest mir sagen, dass es okay ist, was ich tun will, wenn du weg bist. Aber stattdessen artet das hier in einer verdammten Scheiße aus.“ „Warum wohl?“, gab Sam leise zurück. Juan schüttelte den Kopf. „Das ist mir zu blöd. Ehrlich. Ich verschwinde. Ich hab keine Lust mehr auf dich.“ „Dann verpiss dich doch“, fauchte Sam zurück. „Ich hab keine Lust darauf, mir von dir irgendwas anhören zu müssen, weil ich ja ach so scheiße bin. Es ist nicht meine Schuld, dass du so abgehst jetzt. Du musst kein Drama aus so was machen, aber stattdessen artet es hier total aus.“ Juans Blick wurde kalt. „Fick dich doch einfach selbst, ja? Ich hab wirklich keine Lust mehr auf das Ganze hier.“ Er riss sich Sams Klamotten runter und zog seine eigenen wieder an. „Oh, es könnte dich ja jemand damit sehen, oder?“, fauchte Sam wütend. Juan zuckte nur die Schultern. „Lass es einfach, ja?“ Er rauschte durch die Tür und war so schnell weg, dass Sams Schuh nur noch die Tür traf. Sein Cousin hatte ja so was von Recht gehabt, als er gesagt hatte, dass Juan scheiße war. Schade nur, dass das Sam nicht im Geringsten tröstete... Kapitel 8: Tag 9 ---------------- Okayy... Endspurt. Noch dieses hier und dann noch eines und Sahm ist für euch Geschichte :’( Schade. Ein doofes Gefühl. Ähm... die folgenden Songs werden weiter unten erwähnt. Ihr könnt sie euch ja gerne anhören oder so. Viel Spaß :) http://www.youtube.com/watch?v=I70mp0eKWlI und http://www.youtube.com/watch?v=LAPNqokteb0 Obwohl ich Echt nie hören würde xD Viel Spaß beim Lesen und viel Spaß mit Dario! Grüße. Tag 9 Gegen vier Uhr morgens befand Sam, dass es besser wäre, endlich aufzustehen. Er hielt es nicht mehr aus und beschloss, duschen zu gehen. Allerdings stand er nur vor der Dusche und beobachtete, wie das Wasser aus dem Duschhahn lief. Angezogen stand er da und sah den Tropfen beim Verrinnen zu. Sie passten zu den Tropfen, die ständig von seinem Gesicht auf den Boden fielen. Er war so blöd. Er war so blöd. Er war doch so was von blöd! Wieso hatte er Juan so angepflaumt? Er hätte ihn verstehen müssen, immerhin wusste er, was ein Coming-Out bedeutete. Stattdessen schrie er ihn an und wirkte so, als würde er sich nicht mehr selbst an die Probleme erinnern, die ihm damals begegnet waren. Sam stöhnte leise auf und die Tränen verstärkten sich. Er war so dumm. Er. War. So. Dumm. Am Anfang dieser Reise hatte er gedacht, das Schlimmste würde sein, dass er kein Spanisch konnte. Wie mickrig dieses Problem doch war im Vergleich zu dem, das er jetzt hatte. Sam begann zu schluchzen. Dann ging er in die Knie. „Scheiße. Was hab ich getan? Was hab ich nur getan?“ Er flüsterte nur, doch kam ihm seine eigene Stimme so schrecklich laut vor. Sie klang hohl in seinem Kopf wider. Passte ja zum Inhalt dessen. Die Tür ging leise quietschend auf und Miguel betrat das Badezimmer. Überrascht blieb er vor Sam stehen. Er hatte gestern mitbekommen, dass er und Juan einen Streit gehabt hatten, aber dessen Inhalt war ihm nicht bekannt. Miguel drehte das Wasser ab und kniete sich neben Sam. „¿Qué haces aquí?“ Sam gab keine Antwort und Miguel nahm den schluchzenden Deutschen in den Arm. „Was hab ich nur getan?“, murmelte Sam. „Was hab ich nur getan?“ Miguel wiegte ihn hin und her und murmelte dabei etwas vor sich hin. Das konnte Sam leider nicht im Mindesten trösten. „Weißt du noch, wie schön es war? Und alles war aus Gold“, sang Tom vor sich hin und warf Sam einen vorsichtigen Blick zu. Der starrte apathisch aus dem Busfenster und empfand Toms Gesang als ekelhaften Seitenhieb. „Es ist vorbei, bye-bye, Junimond, es ist vorbei.“ Toms Gesang wechselte ins Jämmerliche und Sam hielt sich die Ohren zu. „Doch jetzt tut’s nicht mehr weh, jetzt tut’s nicht mehr weh...“ Er sang weiter und Sam liefen langsam wieder die Tränen übers Gesicht. Tom hörte abrupt auf zu singen und strich Sam leicht über die rechte Schulter. „Hey, hör auf“, murmelte er ihm zu. „Lass es sein, das ist es nicht wert. Du kennst ihn doch nicht mal.“ Sam schluchzte erneut auf. „Ach ja? Und wie erklärst du es dir dann, dass ich heute keine Sekunde geschlafen hab und Miguel mich um vier oder so im Bad gefunden hat? Ich kannte ihn sehr wohl, ich weiß wahrscheinlich mehr über ihn als jeder andere hier. Immerhin kenn ich sein Geheimnis, verdammte Scheiße!“ „Und andere werden es kennenlernen“, widersprach Tom gelassen. „Du warst nur der Erste. Eines Tages wird er es in die Welt rausposaunen. Du hast nur getan, was jeder getan hätte: Du wolltest, dass es alle wissen, dass ihr zusammen seid. Aber deshalb brauchst du dich jetzt nicht so scheiße zu heulen und dich für alles verantwortlich machen. Du hast gehandelt, wie du immer handelst: Normal. Hör auf zu heulen und sing einfach mit bei diesen beschissenen Liedern, die ich nur für dich höre und singe.“ Er hielt Sam auffordernd einen Teil des Kopfhörers hin und in der folgenden Stunde, die sie noch im Bus und vor der Schule verbrachten, quälten sie sich durch das gesamte zweite Album von Echt und als „Belohnung“ hörten sie noch einmal „Alles war aus Gold“ an, was bei Sam prompt wieder einen Tränenfluss auslöste. Juan sah übrigens nicht besser aus. Er schaute Sam zwar nicht einmal mit dem Arsch an – zumindest tat er so –, aber der sah trotzdem, wie es Juan ging. Mit einem Wort: Beschissen. Wäre er ein trockener Alkoholiker, würde man sagen, er hätte Sehnsucht nach dem Alkohol. Er war unrasiert (was zwar bei ihm noch nicht viel ausmachte, aber trotzdem auffiel), hatte seine Haare offenbar nicht gewaschen und trug irgendwelche bunt zusammengewürfelten Klamotten. Kurz: Er sah auf eine groteske Art besser aus denn je und Sam wünschte sich, er würde sich zu ihm umdrehen und ihm sagen, dass er ihn lieben würde. Doch er wusste, dass genau das nicht passieren würde, denn er hatte es verbockt. Und zwar gründlichst. Als Juan vorbeiging, zerbrach Sam beinahe Toms mp3-Player. Juan warf ihm keinen einzigen Blick zu; trotzdem wusste Sam, dass er ihn aus den Augenwinkeln ansah, so wie es Sam auch tat. Tom klopfte ihm auf den Rücken, während die Mädchen zu Juan rannten und schockiert wissen wollten, was mit ihm los war. Er winkte nur damit ab, dass er schlecht geschlafen und sich zudem noch gestern mit „irgendsonem Vollidioten gestritten“ habe. Das sagte er natürlich extralaut, damit Sam es auch mitbekam. Er knirschte mit den Zähnen und wandte sich wütend und traurig von Juan und seinen Hoffnungen ab. Es klingelte und alle verschwanden ins Schulgebäude hinein. Man spürte noch an diesem Tag die Nachwirkungen der Hitze des gestrigen Tages, dennoch war es nicht mehr so furchtbar. Die Schüler waren trotzdem froh, ins kühle Schulgebäude zurückgehen zu können. Sam kümmerte sich nicht darum, auch nicht, als Tom anfing, ihn zu schlagen, um ihn in die Schule zu bringen. Es war doch eh alles scheiße und unnötig und dumm und hässlich und einfach nur beschissen hier. Sam schniefte und bekam nur undeutlich mit, wie Tom ins Gebäude lief. Sollte er doch. Der wollte nur nicht zu spät kommen. Es war okay von ihm, Sam in seinem Elend sitzen zu lassen. Tom hatte ja keine Probleme. Er hatte nie welche. Er bekam oft, was er wollte. Vor allem bei Mädchen. Wie sehr sich Sam in diesem Moment wünschte, einfach nicht schwul zu sein, wusste nicht mal er selbst. Ein paar Minuten später kam Tom zurück, diesmal in Begleitung von Herrn Biermann, der ihn schüttelte. „Samuel, steh auf. Alles ist okay, ja?“ Sein Lehrer lächelte ihn leicht an. Sam schüttelte teilnahmslos den Kopf. „Nichts ist okay“, flüsterte er dann, „alles ist im Arsch. Er liebt mich nicht und jetzt hasst er mich sogar. Es ist vorbei, es ist vorbei, bye-bye.“ Herr Biermann warf einen verwirrten Blick in Toms Richtung, der die Schultern zuckte. „So ist er seit gestern Abend. Ich kann nichts tun. Er hört nicht auf mich.“ „Kann mir mal jemand erzählen, was hier los ist? Du, Tom?“ Er vergaß vor lauter Ärger gerade sogar, seine Schüler zu siezen und sie beim vollen Namen zu nennen. „Säm, was ist passiert?“ Er war nur Spanisch- und kein Englischlehrer, daher kam ihm Sams Name nicht sehr gut über die Lippen. Der reagierte jedoch nicht, sondern überlegte nur, ob er Juan zurückbekommen könnte. Tom zählte mit heiserer Stimme die wichtigsten Fakten auf. Dass Sam sich verliebt hatte, der andere ebenfalls, dass sie ein paar Tage lang total glücklich gewesen waren und sie gestern einen furchtbaren Streit gehabt hatten, der alles verändert hatte. Herr Biermann schwieg kurz, bevor er Sam über die Haare strich, was für ihn eine beachtliche Leistung war, weil er normalerweise immer mindestens fünf Meter Abstand zwischen sich und seine Schüler brachte. „Samuel, das ist doch kein Weltuntergang. Sprich einfach mit ihm und es wird sich aufklären. Wenn du nicht mit ihm sprichst, wirst du lange Zeit unglücklich sein. Also versuch es. Trau dich und sei glücklich, ja?“ Sam nickte, auch wenn er wusste, dass er nicht mit Juan sprechen konnte. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht hier. Niemals. Biermann strich ihm noch einmal über die Haare. „Sehr schön.“ Er überlegte kurz. „Eigentlich sollte ich dir Nachsitzen geben, weil du den Unterricht aufhältst und so, aber das wäre nicht fair.“ Beim Nachsitzen... da wäre aber... Dario... vielleicht... „Nein, andere kriegen es auch immer. Ich geh gerne zum Nachsitzen“, sagte Sam tapfer und Biermann nickte verwirrt. „Sehr... äh, nobel. Los jetzt, der Unterricht beginnt.“ Der schniefende Sam folgte dem Lehrer und seinem besten Freund. Einige Stunden später war Sam mit den Nerven am Ende und registrierte das Klingelzeichen mit einem erleichterten Ausruf. Endlich! Nur noch das Nachsitzen und dann konnte er endlich nach Hause gehen und dort packen. Morgen ging es nach Hause zurück und er freute sich schon verdammt darauf! Alles, was er wollte, war, sich in sein Bett zu legen und mit seiner kleinen Schwester zu kuscheln. Vielleicht erwischte er Dario ja wirklich, damit er ihm sagen konnte, wie recht er gehabt hatte. Er hoffte es wirklich, weil es wichtig für ihn war, von irgendwoher wirkliche Unterstützung zu bekommen. Seufzend machte sich Sam auf den Weg zum Nachsitzen. Eigentlich war es schon recht scheiße von ihm gewesen, dorthin zu gehen. Er hätte jetzt bei Miguel sein können. Jetzt. Stattdessen hängte er dem bescheuertem Wunsch nach, mit Dario zu sprechen und nahm dafür Nachsitzen auf sich. Sam stieß die Tür auf, die in den Raum für Nachsitzer führte. Er grüßte cool in die Runde – immerhin kannte er schon alle – und sah sich um, ob Dario zufällig da war. Er war. Sam lächelte und bewegte sich durch den Raum nach hinten zu Dario, der mit dem Stuhl kippelte und an die Decke starrte. Die Ähnlichkeit mit Juan verpasste Sam einen Stich in den Magen, dennoch ging er weiter und ließ sich schwungvoll neben ihn fallen. „Hey“, sagte er leise und Dario drehte sich grinsend zu ihm hin. „Na, hat sich meine Prognose bewahrheitet?“, begrüßte er Sam, welcher zerknirscht nickte. Dario lachte leicht auf. Dann murmelte er: „Tut mir leid für dich. Du magst ihn sehr, was?“ Überrascht sah Sam in Darios Gesicht und war unfähig, etwas zu sagen. Der lächelte. „Was glaubst du, warum Juan mich nicht mag?“ Sam zuckte vorsichtig die Schultern. Dario beugte sich vor und flüsterte in dessen Ohr: „Weil ich als einziger über Juan Bescheid wusste und er das nicht gebrauchen konnte. Es hat ihn fertiggemacht.“ Sam wich zurück und schaute ihn verwirrt an. „Wieso denn das?“ Dario lächelte nur und wischte sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Sollen wir woanders drüber reden?“ Er deutete auf die anderen, die jedes Wort mitbekommen könnten. Sam nickte. Dario stand auf. „Was machst du?“, fragte Sam verwirrt nach. „Na, rausgehen. Komm schon, es taucht eh nie ein Lehrer hier auf. Ich muss es wissen, immerhin hock ich hier seit einem Jahr regelmäßig rum. Da war noch nie ein Lehrer da. Eigentlich ist es egal, ob man hier ist oder nicht, aber ich hab sonst eh nichts zu tun. Also, ¡venga!“ Sam nickte zögernd, sammelte seine Sachen ein und folgte Dario, der auf den Gang hinaustrat und noch in den Raum hineinrief, dass er sich etwas zu essen holen würde. Er nahm die Essensbestellungen einiger Mitschüler auf und knallte dann die Tür zu. „Komm. Wir besuchen jetzt McDonald’s.“ Sam nickte. Was blieb ihm auch anderes übrig? Dario war sehr überzeugend, ja, es ging sogar in eine bestimmende Richtung. Dennoch war es Sam im Moment egal. Außerdem hatte er Hunger. Er hatte bei Mittagessen keinen Bissen runterbekommen. Erstens, weil nicht nur Miguels Mamá ihm Paella mitgegeben hatte, sondern auch, weil es in der Mensa ebenfalls nur Paella gab. Zweitens, weil Juan in seiner Nähe gewesen war und ziemlich offensichtlich mit einem Mädchen aus dessen Klasse geflirtet hatte. Zum Kotzen. Jetzt spürte er seinen Magen und war dankbar dafür, dass Dario ihn entführen wollte. Sam und nicht den Magen. Kurze Zeit später saßen sie im McDonald’s und genossen ihre Hamburger. Sam, der nicht mehr länger warten, konnte, fragte Dario schüchtern, warum genau Juan denn so wütend auf Dario sei, nur weil der über ihn Bescheid wusste. „Weißt du“, erwiderte Dario und biss noch ein Stück seines vegetarischen Burgers ab, „er glaubte damals, dass ich es allen weitererzählen würde. Ich hab es zufällig raugefunden – na jaaa, nicht ganz so zufällig, wenn man bedenkt, dass ich es zuuuufäällig in seinem Tagebuch gelesen habe, nachdem das zuuuuuufäääällig herumlag – und daraufhin wurde er so wütend, dass wir seitdem nicht mehr so richtig miteinander geredet haben. Verdammt, ich bin einfach extrem neugierig und wollte ein wenig über ihn wissen.“ Dario blickte traurig auf seinen Burger und seufzte. „So eine Scheiße. Wir haben nur noch einmal danach geredet, nachdem er mich mit seinem Tagebuch erwischt hatte, nämlich, als er mir sagte, wenn ich es auch nur einem erzählen würde, würde er sich umbringen und davor einen Killer auf mich ansetzen. Ob er es ernst gemeint hat, weiß ich nicht, aber er klang echt so.“ Er seufzte und Sams Augen wurden riesig. „Du hast in seinem Tagebuch geblättert und er hat dir deshalb... gedroht? Er wusste doch gar nicht, was passieren würde.“ Dario nickte. „Er ist übervorsichtig, musst du wissen. Das ist sein größtes Problem. Und seit dieser Geschichte wird er immer noch ekliger zu Leuten, die es herausfinden könnten. Das ist sein Problem.“ Sam seufzte und setzte den Strohhalm an die Lippen, trank jedoch nichts. „Ich verstehe ihn nicht. Ich bin auch schwul und bin nie so durchgedreht wie er.“ Dario zuckte nur die Schultern. „Weiß auch nicht. Hier ist einfach alles anders als in Deutschland, weißt du? Wenn du hier schwul bist, bist du ekelhaft. Wenn du in Alemania schwul bist, bist du es eben.“ Sam schüttelte entrüstet den Kopf. „Stimmt gar nicht. Ich wurde oft angefeindet zu Hause.“ Dario lächelte leicht. „Ach, komm schon. Es kann nicht so schlimm sein wie hier.“ Sam trank einen Schluck seiner Cola. Dann seufzte er erneut. „Glaubst du? Ich darf nicht mehr in unsere Kirche gehen, weil unser Pfarrer jedes Mal anfängt, gegen Homosexualität zu wettern, wenn er mich sieht.“ „Und?“, gab Dario verständnislos zurück. „Meine eigene Mutter mag mich nicht mehr, seitdem ich es ihr gesagt habe, dass ich vielleicht mehr auf Jungs als auf Mädchen steh.“ Er nahm gelassen einen Bissen zu sich, bevor Sam auch nur aufging, was Dario ihm gerade mitgeteilt hatte. „Du... du... du bist auch sch...wul?“, stotterte er begeistert und verschluckte sich sofort. Er fing an, sich die Lunge aus dem Leib zu husten, während Dario ihn ungerührt beobachtete. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte Dario nur achselzuckend: „Was heißt hier auch? Ich kenn hier sonst keinen. Außerdem bin ich bi.“ „Bisschen bi schadet nie“, zitierte Sam begeistert und Dario nickte. „Kann schon sein.“ Er grinste. „Willst du den Burger noch?“, fragte er dann und fixierte Sams Burger mit hungrigem Blick. Seufzend schob der ihn rüber zu Dario, der in seinen Augen und in seiner Coolheitsskala deutlich gestiegen war. „Hier, für dich, dich, das hier ist für dich und du kriegst noch das da und...“ Dario verteilte das Essen an seine Nachsitzkumpels, während Sam seufzend wartete. Er wollte unbedingt noch mehr über Dario wissen. Der dagegen hatte unbedingt alles über Juan und Sam wissen wollen, was dieser auch erfüllte. Im Gegenzug dazu hatte Dario ihm versprochen, noch mehr über Juan zu erzählen und ihm eventuell dabei zu helfen, dass Juan nicht mehr böse auf ihn war. Das konnte er ihm jedoch nicht versprechen. Nachdem Dario alles verteilt hatte, drehte er sich wieder zu Sam zurück und winkte ihn nach draußen. „Ich schlag vor, wir gehen zu dir, oder? Ich hab ja schon mal gesagt, dass mich meine Mutter nicht mehr mag. Die freut sich, wenn ich weg bin.“ „Bist du deswegen so oft beim Nachsitzen?“, wagte Sam schüchtern zu fragen. Dario nickte. „Auch. Aber auch, weil da meine Kumpels sind und es mir Spaß macht, da rumzuhocken. Besser als Schule und da kann ich auch in aller Ruhe meine Hausaufgaben machen und so.“ Sam zog die Augenbrauen zusammen. „A...haa. Wenn man bei mir in Ruhe Hausaufgaben machen will, schließt man einfach die Zimmertür. Leider bringt das nichts, weil Miguel jede Sekunde reinplatzt und mir was Neues über María erzählt oder so. Und wenn ich wirklich zu Hause bin, schließ ich ab. Es bringt allerdings nicht wirklich viel, weil meine kleine Schwester immer reinkommt und irgendwas von mir will. Wenn ich sie rauswerfe, steht ganz sicher eine Minute später meine Mutter im Zimmer und mault rum deswegen. Deswegen gibt es in meinem Haus keine Ruhe.“ Sam kicherte. Dario sah ihn verwirrt an. Dann beschloss er jedoch, einfach nichts zu sagen und hielt den Mund. „Ist Juan wirklich so schlimm, wie du es behauptet hast?“ Sam saß auf dem Bett, schrieb Darios Deutschaufsatz und balancierte einen Stift auf seinem Zeigefinger. Konzentriert blickte er darauf, während Dario auf dem Drehstuhl begeistert seine Runden drehte. Sam blickte nicht auf. Dario kicherte. „Quaaaaaaaaaaatsch.“ Er drehte sich weiter, während er redete, weshalb sich seine Worte etwas verzerrten. „Ich waaaaaar doch nuuuuur wüüütend, weiiil du ihhhn so toll fandessst uuund er miiich nicht meeehr.“ Er stoppte kurz; dachte nach. Dann: „Ich glaub, er ist nicht so, wie ich es behauptet hatte. Aber ganz so toll, wie du es dachtest, ist er auch nicht. Sonst hätte er nicht so überreagiert, oder?“ Er begann wieder damit, herumzurollen. Sam seufzte. „Es kann schon sein. Ich hab ihn ziemlich provoziert, fürchte ich.“ Dario zuckte die Schultern. „Weiß ich nicht. Hört sich einfach nach der üblichen Panik an, wenn man sich nicht outen will. Bei Juan ist das eben echt ausgeprägt.“ Sam blies die Wangen auf und schrieb den Schlusssatz des Aufsatzes. Hoffentlich würde es nicht zu sehr auffallen. Sam hatte nämlich eine glatte Eins in Deutsch und Dario... nicht. Egal. „Diese übliche Panik ist ja wohl bei jedem vorhanden, sonst wären Outings ja wahnsinnig einfach. Das liegt einfach in der Natur eines Menschen, dass er vor so was Angst hat“, entgegnete Sam leise und hoffte, Dario würde jetzt nichts Blödes erwidern, denn eigentlich waren seine Einwände schon dahingeschwunden. Er war nun mal nicht der Eloquenteste. Dario überlegte kurz. Dann nickte er. „Kann schon sein. Es ist eben hier ein größeres Risiko. Es ist in jedem Land ein Risiko, in dem die Bewohner heftig an Gott und diesen ganzen Kram glauben. Was glaubst du denn, warum Brasilianer alle nicht schwul sein sollen?“ Sam lächelte „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Juan seltsamer reagiert hat als alle anderen und dass ich jetzt alles über ihn wissen will, was du weißt.“ „Alles?“, fragte Dario mit nervösem Unterton nach. Sam nickte. Dario stöhnte. „Ich weiß aber eine Menge über ihn.“ „Dann die Kurzform“, beschloss Sam auffordernd und Dario nickte resigniert. „Früher waren wir die besten Freunde, bis ich so dumm gewesen bin, sein Tagebuch zu lesen. Wir waren immer zusammen, haben alles zusammen gemacht, waren zusammen im Urlaub, haben uns immer nur zu dritt bei seinen oder meinen Freunden getroffen und sind einfach immer aufeinandergehockt. Das erste Mal, dass wir getrennt waren, war, als er in die Schule kam. Er ist ja ein Jahr älter als ich und ist früher reingekommen. Hat mich fertiggemacht, weil wir dann auch nicht mehr so wahnsinnig viel tun konnten. Aber wir waren immer noch tolle Freunde. Er hat mir einfach alles erzählt und so. Ich weiß, wann er seinen ersten Kuss und den ersten Sex gehabt hat, ich weiß, in wen er angeblich verknallt war und ich weiß, wann er das erste Mal getrunken hat und wann er was geschrieben hat und welche Noten er bekommen hat. Das Einzige, was ich nicht wusste, war, dass er schwul war. Das hab ich ja dann rausgefunden. Ist das genug?“ Er sah Sam auffordernd an. Der schüttelte den Kopf. „Genauer, bitte.“ Dario seufzte erneut. „Okay. Es war scheiße, als er in die Schule kam, weil er erstmals Freunde hatte, die ich nicht kannte. Er hat mir immer erzählt, was grade so passierte. Seinen ersten Kuss hatte er mit neun Jahren und es war scheiße. Sie hieß Nuria und mit ihr hatte er vor kurzem Sex. Das erste Mal hatte er mit dreizehn im Urlaub in Frankreich. Die Französinnen sind ja bekanntlich extrem schnell im Umgang mit Sex. Eine hat ihm gesagt, sie würde ihn gerne sofort entjungfern und da er genau dort das erste Mal getrunken hatte, war es ihm egal. Er fand es auch hinterher noch gut. Sie hieß Victoire und war extrem seltsam. Aber offenbar gut im Bett.“ Er lächelte leicht. „Er hatte immer die besten Noten und war immer ein Musterschüler. Reicht das?“ „Fürs Erste“, befand Sam lächelnd. Dario atmete erleichtert aus. „Ich mag es nicht, so lange zu reden“, gestand er dann. Eine Sekunde starrte Sam ihn nur an. Dann brachen sie beide in Gelächter aus. „Ich dachte, das meinst du ernst. Wie wenn das so wäre.“ Er kicherte und Dario nickte. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen. Zucker.“ Sam war beleidigt. Aber nur kurz. Dann lachte er wieder mit Dario, der ihn kurzzeitig an Juan erinnerte. Oh, Juan. Mit einen Mal war Sams Euphorie verflogen. Er vermisste Juan. So sehr. Sosososososo sehr! Dario spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, denn er musterte Sam nur verwirrt, ehe er es mit einem Mal begriff. „Juan“, sagte er dann. Sam nickte nur und Dario blies die Wangen auf. „Das ist... schlecht.“ Sam nickte nur. Er wollte zu Juan. Jetzt. Sofort. Auf der Stelle. „Tut mir leid“, sagte Dario leise. „Ich kann nichts dafür, dass ich ihm ähnlich sehe. Aber ich kann ja schnell eine Mütze aufsetzen und mit einer Sonnenbrille mein Gesicht verändern, wenn’s was hilft.“ Er lachte trocken auf und konnte sich kaum noch beruhigen, weil er die Idee so bescheuert fand. Als er aufhörte und sich die Lachtränen aus den Augen gewischt hatte, sah er, dass Sam ihm auffordernd eine Mütze und eine Brille entgegenstreckte. „Sahm“, sagte Dario verwirrt, „es war nur ein Scherz. Ich will das nicht und du willst es auch nicht, oder?“ Sam legte den Kopf schief. „Kann schon sein“, sagte er dann und seine Gedanken kreisten nur um Juan. Sein Lächeln, seine Augen, seine Küsse. Juanküsse. Juans Küsse waren die schönsten, die Sam je erhalten hatte. Er hätte gern noch mehr von ihm gespürt... aber es sollte wohl nicht sein. „Tut mir leid, dass ich die Stimmung hier so vermiese“, entgegnete er auf Darios abwartenden Blick. „Ich glaub grade nur, dass das mit Juan und mir sowieso nie geklappt hätte. Also bitte. Fernbeziehungen sind absolut scheiße und diese hier hätte nicht mal eine Chance gehabt, wenn ich hier leben würde, weil Juan absolut Angst davor hat, sich zu outen. Es ist also total sinnlos von mir, mich hier so aufzuregen, oder?“ Ehe Dario begeistert nicken konnte, sprach Sam weiter: „Trotzdem nervt es mich total, dass ich ihm so egal bin. Er hat mich ja sogar komplett ignoriert heute. Würde er mich toll finden, würde er um mich kämpfen, oder? Das zumindest ist das Einzige, was ich meiner Mutter je geglaubt habe: Dass man um seinen Geliebten oder“ – er würgte – „seine Geliebte kämpft, wenn man ihn oder sie wirklich liebt. Und das hat er ja nicht getan.“ Darios Blick wurde nachdenklich. „Woher... woher weißt du, ob er dich liebt?“, fragte er dann schüchtern nach. Sam kniff die Augen zusammen. „Das ist es ja: Es ist zu früh für so was gewesen. Wir waren grade mal ein paar Tage lang zusammen. Woher soll ich wissen, ob er mich liebt, wenn wir uns noch nicht mal kennen?“ Dario überlegte eine Weile. Dann: „Ich glaube, es ist einfach so. Du kennst doch den Begriff Liebe auf den ersten Blick, oder? Ich glaub, es war so was in der Art. Und du hast doch nicht wegen nichts und wieder nichts so geheult und machst so ein Drama draus, dass alles aus ist, bevor es angefangen hat, oder nicht? Denk mal drüber nach“, forderte Dario Sam auf. Er tat, wie es ihm geheißen. Er dachte nach. Lange. Lange. Länger. Noch länger. Dario fing nach zehn Minuten an, im Internet zu surfen vor Langeweile und sah sich irgendwelche seltsamen Seiten an. Wenn Sam es nicht besser wüsste, würde er sagen, Dario surfte auf Singlebörsen herum. Aber Sam wusste es besser. Na ja... Jedenfalls überlegte Sam weiter und weiter und weiter. Und weiter. Und weiter. Er kam jedoch zu keiner Lösung. Wirklich nicht. Dario schaute sich gerade das Bild eines äußerst attraktiven Mannes an, als Sam resigniert zugab, dass er keine Ahnung hatte, ob es stimmte, was Dario gerade gesagt hatte. Der zuckte mit den Schultern. „Ich doch auch nicht“, sagte er leise. „Es ist nur, was ich denke. A proprósito, wie findest du den Typen?“ Er verschob den Bildschirm ein wenig, sodass Sam ihn näher betrachten konnte. Sam zuckte die Schultern. „Nicht so ganz mein Typ, aber okay.“ Dann schwieg er wieder. Als er den Mund erneut öffnete, war er sich sicher, das Thema Juan nicht mehr anzuschneiden. Er konnte es verhindern! „Weißt du, als ich dich das erste Mal beim Nachsitzen getroffen hab und du so gemein über Juan hergezogen bist, da dachte ich, dass du dich vielleicht in mich verknallt hast oder mal in ihn verknallt gewesen bist.“ Sam lachte und so viel zu seinem Wunsch, das Thema zu beenden. Bitte, es war doch sowieso gleich klar gewesen, dass er das nicht durchhalten würde. Dario schaute ihn verwundert an. „Wieso sollte ich in dich verknallt sein? Du bist nicht mein Typ, wie du an den Bildern siehst, die ich grade anschaue.“ Sam beugte sich vor und musste wider Willen lachen. „Hahaha. Der Kerl da sieht ja so aus wie...“ Er kicherte und besah sich die Bilder genauer, während Dario auf einmal still wurde. Sam stutze und beugte sich noch näher hin, um sich das aktuelle Bild genauer anzusehen. „Äh, Dario... das ist doch jetzt nicht wirklich... oder?“ Darios Gesicht wurde knallpink und schnell wollte er die Bilder wegklicken, die er in irgendeinem Maríaforum (wahrscheinlich) geöffnet hatte. Doch Sam war schneller, stieß Dario weg und starrte fassungslos erst den Bildschirm an und dann Dario. „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, oder? Das ist ein Freak!“ „Er ist kein Freak“, verteidigte Dario ihn tapfer. „Er ist einfach nur... Miguel.“ Sam stöhnte. Dario brauchte dringend Hilfe. „Mensch, es ist MIGUEL!“, versuchte Sam es schon zum hundertdreiundachtzigsten Mal. Dario stellte sich taub und besah sich dümmlich grinsend noch ein Bild von Miguel. Jetzt war er in einer Art spanischem Schülervz namens Tuenti, das aber eher wie Facebook war und sich nach Tunte anhörte, und starrte immer wieder auf neue Bilder von Miguel. Kein Wunder, dass Dario unbedingt zu ihm gehen wollte... Jetzt machte das alles einen Sinn. „Uäääh.“ Sam schüttelte sich. Nicht, dass er Miguel nicht mochte, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass dieses asexuelle Wesen einen Verehrer haben konnte... „Hey, sei doch nicht so fies zu ihm. Er ist toll.“ Dario verzog das Gesicht und Sam lächelte. „Ich weiß. Er ist wirklich nett und so – soweit ich das kapiere –, aber er ist... na ja, er wirkt nicht gerade so, als wäre er auf eine Romanze aus“, versuchte Sam es erneut. Dario nickte heftig. „Das ist das Problem. Ich hab mal mit ihm geredet, als er nachsitzen musste, weil er wegen einer Soap seine Hausaufgaben nicht machen konnte. Da war er so toll. Er kam mir... unheimlich anders vor als er sonst so rüberkommt. Verstehst du?“ Sahm nickte nur. Wahrscheinlich kam er bei Dario sonst sowieso nicht durch. Der schwebte auf Wolke Sieben, weil er in Miguels Haus war und es himmlisch für ihn war. Dass das Sam nicht vorher aufgefallen war... Okay, er kannte Dario ja nicht wirklich, aber das hätte selbst einem Idioten kommen müssen, oder? Sam war doch eigentlich keiner. „Ich glaub einfach nicht so ganz, dass Miguel zu einer Beziehung bereit ist“, sagte Sam vorsichtig und Dario blickte nur kurz auf, ehe er antwortete. „Er ist es. Er weiß es nur noch nicht. Aber ich weiß, dass er es ist.“ Sam klickte nervös mit dem Stift herum, den er eben für Darios Aufsatz verwendet hatte. „Was hast du da mit ihm geredet?“ Dario lächelte verträumt. „Er hat sich darüber aufgeregt, dass seine Serien sich mit der Schule überschneiden und dass er immer zu spät zu einer kommt, sodass er nie weiß, wie die schlimme Situation vom Vortag ausgegangen ist. Und er meinte, dass er eigentlich gar nicht vorgehabt hat, die zwei Jahre fürs Abi noch draufzulegen, aber seine Mamá hat ihn dazu überredet. Er hätte viel lieber irgendwas anderes gemacht, damit er mehr Serien sehen kann.“ Sam lachte. „Kann ich mir vorstellen. Er dreht ja schon durch, wenn er mal eine Sekunde lang was anderes tun muss als María anzustarren.“ Dario lächelte leicht. Dann verwandelte sich sein Lächeln in eine Grimasse. „Du sagst es. Er denkt immer nur an seine Serien. Auf die Idee, dass jemand in ihn verknallt sein könnte, kommt er nicht mal! Er lebt nur für María und Pedro und Pablo und Angela und wie diese ganzen Idioten da alle heißen! Das nervt mich so extrem. Seit zwei verfickten Jahren versuche ich jetzt schon, ihn auf mich aufmerksam zu machen und nichts ist! Nichts, verstehst du? Nada. Ich werde noch wahnsinnig. Dass ich mal mit ihm länger reden konnte, ist schon ein Wunder. Normalerweise lässt er keinen an sich ran und keiner hat auch nur im Geringsten eine Ahnung, warum zur Hölle er überhaupt bei diesem Austauschding hier mitmacht. Nicht mal ich tu das und ich bin normalerweise gerne woanders. Ich frage mich, wie er überhaupt rausfinden konnte, dass er schwul ist. Er hockt doch eh nur vor dem Fernseher und nie tut er was anderes. Selbst ich geh manchmal mit auf Partys, und wenn es nur ist, um nicht alleine bei meiner Mutter rumzuhocken, die den Rosenkranz für mich betet und mich bittet, an Ostern ein Büßergewand umzulegen und mich zu geißeln, um mich dafür zu bestrafen, dass ich bisexuell bin.“ Er holte tief Luft und begann dann, weiterzuschimpfen. „Weißt du, wie das ist, wenn man einfach nur von jemandem geliebt werden will? Dieses Arschloch kennt wahrscheinlich nicht mal meinen Namen, geschweige denn weiß er, dass ich in derselben Klassestufe bin. Ich hab zwar einmal mit ihm so richtig geredet, aber selbst da war er abgelenkt und hat heimlich ständig auf sein Handy geschaut, um mitzubekommen, was mit seinen Soapstars so ist – seine Mamá hat es ihm geschrieben –, weil er ja nachsitzen musste und so eine Folge nicht sehen konnte. Er regt mich so was von auf und das Schlimme ist, dass ich ihm nicht böse sein kann, weil ich so was von verliebt in ihn bin, dass es für mich schon ein beknackter Erfolg ist, überhaupt in diesem Haus zu sein, ¿comprendes?“ Sam wusste nicht genau, was er erwidern konnte. Natürlich war es ihm schon des Öfteren so ähnlich gegangen wie Dario, aber nicht in diesem Ausmaß. Denn er musste zugeben, dass Miguel eine extrem harte Nuss war. „Hör zu“, sagte er bedächtig. „Ich weiß jetzt nicht genau, wie ich dir das sagen soll, aber: Schau dich doch mal um. Nicht hier“, sagte er spöttisch, als Dario anfing, seinen Kopf zu drehen. „Da draußen. Da laufen eine Menge guter Typen rum, oder nicht? Du könntest mal versuchen, mit einem von denen was zu tun. Du musst dich ja nicht gleich verlieben, aber es würde dir vielleicht helfen, Miguel ein wenig beiseitezudrängen. Denn... na ja, er... wird es in tausend Jahren nicht merken, was mit dir ist.“ Dario schaute ihn empört an. „Wie kannst du so was nur sagen? Hast nicht du vorhin mir erklärt, dass man kämpfen muss, wenn man jemanden liebt? Und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich verliebt bin, denn ich schwärme für ihn, seitdem ich weiß, dass ich bi bin. Na gut, eigentlich ist sogar er der Grund, dass ich es überhaupt rausgefunden hab. Und Johnny Depp. Und ich für meinen Teil werde um ihn kämpfen. Das solltest du bei Juan oder er bei dir auch tun.“ Sam schüttelte den Kopf. „Da hat es keinen Sinn. Morgen bin ich in Deutschland und er ist hier.“ „Wenn du das so sagst, hat es auch keinen Sinn“, sagte Dario leise und schaute ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. „Du könntest trotzdem noch mal mit ihm reden“, schlug er dann vor. „Sozusagen als... äh, Versöhnung oder so? Ihr müsst ja nicht zusammenkommen. Es reicht ja eine Freundschaftsebene, nicht?“ Sam schüttelte den Kopf und Dario wandte sich wortlos dem Bildschirm zu. Dario war recht schnell verschwunden. Er hatte Miguels Aufmerksamkeit nicht mehr erregen können und musste ohnehin noch einige Hausaufgaben erledigen. Sam war alleine und machte sich ans Kofferpacken. „Ich packe meinen Koffer mit komisch müffelnden Socken“, sagte Sam und packte komisch müffelnde Socken ein. „Ich packe meinen Koffer mit komisch müffelnden Socken und einem María-T-Shirt von Miguel“, sagte er und packte ein María-T-Shirt von Miguel ein. „Ich packe meinen Koffer mit komisch müffelnden Socken, einem María-T-Shirt von Miguel und einer kackbraunen Haarbürste von Miguels Mamá, die sie mir geschenkt hat“, sagte Sam und packte eine kackbraune Haarbürste von Miguels Mamá ein. „Ich packe meinen Koffer mit komisch müffelnden Socken, einem María T-Shirt von Miguel, einer kackbraunen Haarbürste von Miguels Mamá, die sie mir geschenkt hat und einem Schuh von Juan“, sagte Sam und brach zusammen. Juan hatte gestern einen Schuh vergessen, als er rausgerannt war. Wie genau er „einschuhig“ gegangen war, konnte Sam nicht sagen. Sam starrte auf den Schuh und fühlte sich elender als zuvor. Warum war er so dumm gewesen und hatte Juan nicht einfach versucht zu verstehen? Warum war er so ausgeflippt? War er völlig banane? Sam seufzte und blickte den dunklen Schuh weiterhin an, während er ihn befingerte. Dann war er ihn gegen die Wand. „Von vorne“, sagte er schniefend und zog ein paar neue Sachen hervor. „Ich packe meinen Koffer mit einem Bilderbuch von Miguel über María“, sagte Sam und packte ein Bilderbuch von Miguel über María ein. „Ich packe meinen Koffer mit einem Bilderbuch von Miguel über María und einem Haarreifen, der wohl Tom gehört“, sagte Sam und packte einen Haarreifen ein, der wohl Tom gehörte. „Ich packe meinen Koffer mit einem Bilderbuch von Miguel über María, einem Haarreifen, der wohl Tom gehört und einem fucking Liebesbrief an Juan, den ich nie abgeschickt habe.“ Fluchend warf er auf einmal alle Sachen kreuz und quer in seinen Koffer. „Scheiße, Scheiße, verdammte SCHEISSE!“ Kleidung, Erinnerungen, Souvenirs, alles landete irgendwie im Koffer. Am Ende musste Sam einsehen, dass er seinen Koffer wirklich nicht mehr in diesem Leben schließen konnte und wahrscheinlich auch nicht im nächsten. Wütend zog er alles wieder heraus und fing an zu schreien. So lange und laut, bis Miguel erschrocken hereinrannte und ihn fragte, ob er gerade abkratzte. „Ich kann meinen Koffer nicht packen, weil er die ganze Zeit meine Gedanken beherrscht und das nervt mich und ich will das nicht mehr und es macht mich fertig und... und...“ Er konnte nicht mehr weiterreden, sondern ließ sich in Miguels Arme sinken und fing an zu heulen, bis dessen Shirt komplett durchnässt war. Zumindest vorne. Dann half Miguel ihm, den Koffer zu packen und packte heimlich, als Sam im Badezimmer war, auch noch die Erinnerungen an Juan zuunterst ein. Wer konnte schon ahnen, ob er sie noch brauchen würde? Dann ging Sam ins Bett. Er musste immerhin noch früh genug aufstehen am nächsten Tag. Kapitel 9: Tag 10 ----------------- Gott. Ich hatte vergessen, dass ich's niemals beendet hatte hier auf Mexx... auf FF.de ist die Geschichte nämlich schon seit circa einem Jahr vorbei xD Tut mir wirklich leid... Ich hab auch nie auf Kommentare geantwortet. Das tut mir wahnsinnig leid, weil ich einfach mit Mexx nie klarkam - jetzt zwar schon, aber danken bringt jetzt wohl nichts mehr oO Trotzdem danke *_* Viel Spaß noch mit dem letzten Tag. Tag 10 – oder auch: Der letzte Tag Halb vier war definitiv keine gute Zeit, um aufzustehen. Schon halb sechs war für Sam jeden Morgen eine Qual, aber halb vier Uhr morgens war die reinste Folter. In eineinhalb Stunden würden Tom, er und all die anderen im Bus nach Sevilla sitzen. Er würde Miguel nie wieder sehen. Er würde Dario nie wieder sehen. Und er würde Juan nie wieder sehen... Sam seufzte leicht. Eigentlich wollte er nicht gehen. Wirklich nicht. Seufzend schlurfte er ins Badezimmer hinüber und wusch sich ein letztes Mal umständlich und mit nur einer Hand die Haare, während er in der Dusche langsam wach wurde. Sam fuhr sich durchs Gesicht und beschloss, seine Haare nicht mehr zu föhnen. Es interessierte sowieso keinen und sie lagen ohnehin komplett glatt da. Gewaschen sahen sie dunkler aus als sie waren; normalerweise war Sam strohblond und somit in Spanien ein Außenseiter. Er zog sich an und putzte sich die Zähne. Um die Zeit konnte er ohnehin nichts essen, weswegen er sie sich auch gleich putzen konnte. Danach verstaute er auch den Rest seiner Sachen im Koffer und schleppte ihn zur Tür. Bevor er sie schloss, sah er sich noch ein letztes Mal im Zimmer um. Obwohl es so klein war – ganz im Gegensatz zu Sams Zimmer zu Hause –, hatte er es ebenso liebgewonnen wie ganz Spanien. Alles, was er nicht mochte in Spanien war die Sprache. Sam fingerte an seinem Gips herum. Dann drehte er sich bedauernd weg und lief Miguel in die Arme. „¡Hola! ¿Cómo estás hoy?“, fragte Miguel sanft und hielt ihn mit beiden Händen fest. Sam lächelte gequält und teilte Miguel mit, dass es ihm jetzt besser ging. Sein Austauschpartner nickte begeistert und packte dann Sams Koffer, um ihm zu zeigen, wie nett er war. Nach zwei Sekunden ließ er ihn wieder los und massierte beinahe heulend seine Schulter. Sam lächelte und griff sich selbst seinen Koffer. Das bekam er mit einer Hand hin. Miguel kicherte und bedeutete Sam, seinen Koffer vor der Haustür abzustellen. Sam tat, wie ihm geheißen und folgte Miguel neugierig ins Wohnzimmer, wo Miguels Mamá stand und ihn erst mal an ihren üppigen Busen zog. Dann murmelte sie irgendetwas, was Sam nicht verstand. Wie immer eben. Sie schob ihn weg von sich, musterte ihn kurz und dann zog sie eine Tüte hervor, die sie Sam in die Hand drückte. Er wollte sie öffnen, doch Miguel legte eine Hand darauf, schüttelte den Kopf und sagte: „En el avión.“ Sam verstand zwar nicht, was Miguel wollte, doch ihm wurde der Sinn dessen klar. Er sollte erst im Flugzeug schauen, was drin war in dieser Tasche. Immerhin etwas, worauf er sich freuen konnte. Er wusste jetzt schon, dass er kotzen würde beim Flug. Es wurde Zeit. Es war halb fünf und Miguels Mamá hatte sich eben mit einer dicken Umarmung an der Bushaltestelle von ihm verabschiedet. Er wusste ihren Namen immer noch nicht; im Dankesschreiben würde er einfach nur Miguels Mamá schreiben. Vielleicht würde sie dann merken, dass sie etwas Grundlegendes vergessen hatte. Tom setzte sich gähnend neben den inzwischen hellwachen Sam. „Ich fühl mich nicht gut“, klagte er und schaute seinen besten Freund seufzend an. Sam zuckte die Schultern. „Ich mich auch nicht. Dann können wir ja nachher zusammen kotzen im Flugzeug, oder?“ „Ich fühl mich echt nicht gut“, sagte Tom wieder und Sam sah, dass er ganz bleich im Gesicht war. „Wirst du jetzt krank?“, fragte Sam vorsichtig. „Hast du dich bei mir angesteckt?“ „Ich will nicht gehen“, sagte Tom unvermittelt und seufzte. „Ich hab zum ersten Mal öfter als dreimal mit einem Mädchen geschlafen und will bei ihr bleiben.“ Sam seufzte und legte den Kopf auf Toms Schulter. „Ich auch. Ich will auch bleiben. Wir können ja gemeinsam weglaufen, was sagst du?“ Tom lachte leicht. Dann seufzte er. „Ich werd sie vermissen“, murmelte er. „Ich auch“, sagte Sam ebenfalls. „Ich auch.“ Langsam füllte sich die Haltestelle. Einige der Spanier würden nach Sevilla mitkommen, darunter Miguel, weswegen es jetzt noch nicht ganz so scheiße werden würde. Doch Toms Flamme Carmen konnte nicht mit, weil sie gleich an diesem Morgen noch einen wichtigen Termin hatte. Sie heulte Tom gerade an, als auf einmal Lena durch die Menge auftauchte und ihre Austauschpartnerin – ebenfalls eine Carmen – mitschleppte. „Sam, das glaubst du nicht!“, rief sie schon von weitem. Sam hob verwirrt den Kopf. Er hatte gerade an Juan gedacht, als sie aufgetaucht war. „Was ist denn?“, fragte er leise nach und Lena blieb atemlos vor ihm stehen. „Juan...“, japste sie und rang nach Luft. „Sam“, korrigierte der leise und wusste doch, dass sie nicht ihn, Sam, meinte. „Juan ist hier und...“ „Juan ist hier?“, unterbrach er sie überrascht. Lena nickte begeistert. „Er hat eine Gitarre auf dem Rücken und irgendwas geht da ab. Ich weiß auch nicht genau, was.“ Sams Augen wurden groß. „Wie jetzt? Was...“ Lena zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Und weißt du, was?“ Sam zuckte die Schultern und Lena sagte es ihm: „Er sucht dich. Er sucht dich!“ Sams Kinnlade klappte ungefähr auf Höhe des Erdkerns herunter, als Juan auf einmal wirklich vor ihm stand. Er sah... unglaublich aus. Seine Haare hingen ihm wirr, aber diesmal gewaschen, ins Gesicht. Er hatte tiefe Augenringe und sah aus, als hätte er sich die ganze Nacht über irgendetwas Gedanken gemacht. „Sam“, sagte er leise und Sam zuckte leicht zusammen. „Juan“, murmelte er. Der lächelte. „Sam“, wiederholte er. „Juan.“ „Sa... okay, das ist blöd. Lassen wir das. Du weißt, weshalb ich hier bin.“ Sam nickte. „Ja. Was willst du?“ Juan lächelte ganz leicht. Dann holte er seine Gitarre hervor. „Ich will singen. Und zwar nur für dich.“ Er starrte ihn unverwandt an und dann begann er auf einmal damit zu spielen. Und dann sang er. „I found out what I’ve been missing. You are enough to keep me wondering through the nights that I’ve spent alone.“ Seine Stimme war warm, sanft und melodisch und keiner bewegte sich mehr, während Juan sang. Nur für Sam. „Alone. In hotels we are only voices kept safe and sound in phone lines. The distance makes the stronger weaken. So many days we’ll never know.“ Seine Stimme wurde höher. „Don’t give away what we’ve tried so hard to keep.“ Juan lächelte. Und jetzt wusste jeder, für wen er sang. Vor allem Sam. Ganz besonders Sam. „All things aside. I will be enough for you. Afraid or not. I will be enough for you. When I am gone. I will be enough for you. All things aside. I will be enough for you.“ Er brach ab. Keiner sagte etwas, während Sam schweigend beobachtete, wie Juan die Gitarre weglegte. „Ich kann noch mehr“, sagte er mit heiserer Stimme, „aber ich weiß nicht, ob du noch mehr hören musst.“ Sam nickte. „Das muss ich nicht“, sagte er leise. „Und ich wollte dir sagen, dass...“ „... es tut...“ „... mir wahnsinnig...“ „... absolut...“ „... schrecklich...“ „... leid!“ Sie brachen ab und lächelten. Dann hielt Sam es nicht mehr aus und küsste Juan. Die Menge hielt den Atem an. Tom, der direkt neben Sam stand, nutzte die Gelegenheit und küsste seine Carmen ebenfalls, die gar nichts dagegen hatte. Sams Hände krallten sich in Juans Haaren fest, während Juan seine Arme fester um Sams Körper schlang, der leicht stöhnte und den Kopf etwas drehte. Juans Zunge berührte Sams und im Nu waren sie in einen kleinen Zungenkampf verwickelt, den jedoch keiner gewinnen konnte und wollte. Und dann zerriss ein Schrei die Stille, die eben noch eine Sekunde erhalten geblieben war. Juan riss sich von Sam los und sah den Mädchen aus Deutschland und Spanien beim entsetzten Kreischen zu. „Wie konntest du nur, Sam?“, kreischte Lena und boxte ihm in die Seite. „Hey, lass ihn in Ruhe!“, fauchte Tom, der sich von Carmen gelöst hatte, um Sam beizustehen. Seltsamerweise war es Juan, der mit einer Handbewegung all den Lärm um den Kuss stoppen konnte. Normalerweise wäre es eher er gewesen, der den Lärm noch angestachelt hätte. Juan griff nach Sams Hand. Dann sagte er: „Eure Vermutungen von vorgestern sind wahr. Ich bin schwul und total verliebt in Sam hier. Ihr solltet uns lieber in Ruhe lassen, denn eigentlich geht es euch nichts an und es gibt noch andere Jungs auf diesem Planeten, denen ihr hinterherrennen könnt.“ Mehr nicht. Er schwieg, drehte sich zu Sam um und packte seinen Kopf liebevoll. Dann küsste er ihn wieder. Lena war die Erste. Sie begann nicht etwa damit zu schreien oder zu toben oder sich angewidert abzuwenden. Nein. Sie murmelte ein „Ooooooooooooooooooooooooh!!!“ und dann fing sie an zu strahlen. Ihr folgte Simone, ihre beste Freundin. Auch sie begann zu lächeln und murmelte, dass Juan und Sahm ein wunderschönes Paar seien. Weitere folgten. Nicht alle fanden es schön, was dort gerade passierte, doch mindestens drei Viertel der Anwesenden begannen zu lächeln. Andere wandten sich ab und gingen. Doch das war nicht schlimm, denn der Großteil der Leute war begeistert. Trotz dessen, dass Juan beliebt war ohne Ende. Trotz dessen, dass die Mädchen nun ihren Lebensinhalt verloren hatten. Es war ein schönes Gefühl, fand Sam, als er sich von Juan löste und sah, dass so ziemlich alle geblieben waren. „Gott sei Dank bist du noch gekommen“, murmelte er Juan zu. Der nickte. „Wenn Dario mich nicht überredet hätte, um dich zu kämpfen... wer weiß, was passiert wäre...“ „Dario?“, fragte Sam überrascht. Juan nickte. „Er kam mich gestern Abend besuchen und sagte mir als allererstes, damit ich ihn nicht rausschmeiße, dass er in Miguel verliebt ist. Dann hab ich ihm zugehört und er hat mir erklärt, dass ich entweder das tun soll, was ich gerade getan habe oder dass ich es mein Leben lang bereuen werde.“ „Gott sei Dank hast du auf ihn gehört“, murmelte Sam, während der Bus vorfuhr. Juan nickte. Und dann sah er den Bus und sein Gesicht wurde blutleer. „Ich will, dass du eines weißt, bevor du da einsteigst: Ich liebe dich, werde dich immer lieben und werde versuchen, dich so oft wie möglich zu besuchen. Ich bin mir so was von sicher, dass wir das schaffen werden. Bist du es auch?“ Sam lächelte. „Ich liebe dich auch“, murmelte er dann. „Und ich bin mir zu tausend Prozent sicher, dass wir das schaffen werden!“ Juan schubste ihn in Richtung Bus, da alle auf ihn warteten. Kurz vor dem Einstieg krallte sich Sam noch einmal in Juans Haaren fest. Dann lief er davon, mitsamt seiner Gitarre und verschwand um die Ecke und Sam verschwand schluchzend im Bus, wo er sich auf den hintersten Plätzen zwischen Miguel und Tom quetschte, der ebenfalls heulte und Carmen zuwinkte, die weinend auf der Straße stand. Sich von Miguel zu verabschieden, war beinahe schwerer als von Juan, weil Miguel nicht einfach so wegrennen konnte. Sam umarmte ihn dermaßen fest, dass sich Miguel sicherlich einige Rippen angeknackst hatte. Doch das war dem egal. Er heulte ohne Ende und versprach Sam wohl, dass er in Zukunft besser in Englisch sein wollte, damit sie sich besser verständigen konnten. Außerdem wollte er sich eine Webcam anschaffen, damit es besser gehen würde, mit Miguel und auch mit Juan und Miguels Mamá und natürlich Dario zu reden. Miguel erinnerte ihn noch einmal an die Tasche, die er im Flieger öffnen sollte und Sam nickte. Dann verschwand er in Richtung Schalter, weil er es sonst nicht mehr ausgehalten hätte. Als der Flieger abhob, war Sam viel zu sehr mit Heulen beschäftigt, als dass es ihn interessiert hätte, dass er Flugangst hatte und das große Kotzen bekommen könnte. Erst nach einer knappen halben Stunde fiel ihm Miguels Tasche ein und er öffnete sie mit zitternden Händen und unter neugierigen Blicken. Keiner sprach ihn an, weil die meisten doch noch etwas verschnupft wegen Juan waren. Nach zwei Sekunden musste Sam leise lachen und seine Tränen waren vergessen. Miguel hatte ihm in die Tasche ein Fotoalbum gelegt, das die letzten Tage noch einmal zeigte. Außerdem befanden sich ein „Die, Pedro, die!“-T-Shirt darin, eine DVD, die Miguel selbst zusammengestellt hatte, und die die besten Szenen von María zeigte, ein Paellarezept, eine Spice-Girls-CD, ein Spanischwörterbuch und zwei Briefe. Hallo, Sam. Dario hat mir mit dem Brief hier geholfen. Ich hab ihn gestern Nacht noch gefragt, ob er mir hilft und komischerweise hat er sofort ja gesagt. Ich wollte dir nur sagen, dass du der beste deutsche Freund bist, den man sich wünschen kann und dass ich sehr hoffe, dass wir uns bald wiedersehen. Miguel Der zweite Brief war noch kürzer und ein Computerausdruck. Sam, das hier hab ich Miguel geschickt, damit er es dir sagt, falls ich es morgen nicht mehr zum Bus schaffe. Ich liebe dich, Sam. Ich liebe dich wirklich. Juan Sam lächelte ganz leicht. Dann küsste er den Brief und lehnte sich zufrieden zurück. Die Tasche war jetzt leer und Sam spürte nun auch, dass er in einem Flugzeug saß und dass er sie bald für etwas anderes brauchen würde. Und plötzlich freute er sich auf zu Hause. Dort würde er nämlich Juan wiedersehen. Wenn auch nur über eine Webcam. El fin Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)