Schachmatt von Ur (Turm & Springer) ================================================================================ Prolog: Anders -------------- Lieber Louis, wir kennen uns jetzt seit dem Kindergarten und ich habe mich dazu entschlossen, dir diesen Brief zu schreiben. Um genau zu sein, denke ich schon eine ganze Weile darüber nach. Aber über diese Dinge zu reden fällt mir nicht leicht und auch beim Schreiben ist es nicht besser. Ich habe keine Ahnung, ob man mit fünfzehn nicht schon zu alt für diese Dinge ist. Briefe. Meine Handschrift ist ja auch nicht die Beste. Aber ich merke, dass ich die ganze Zeit vom Thema ablenke. Was ich eigentlich sagen will, ist, dass wir uns ja nun wirklich sehr sehr lange kennen und wir uns ja tatsächlich ziemlich gut verstehen. Um genau zu sein sind wir ja beinahe beste Freunde, auch wenn natürlich Denise deine beste Freundin ist, aber vielleicht bin ich ja so etwas wie dein bester Freund. Irgendwie. Die Wahrheit ist jedenfalls, dass ich dein Lächeln mag. Und deine Grübchen, die du dabei hast. Und deine Haare, die du zwar kämmst – das weiß ich, weil ich ja ab und an bei dir übernachte – aber die trotzdem immerzu unordentlich sind. Weswegen du ja meistens eine Mütze aufhast. Was ich irgendwie verstehen kann, aber darum sollte es ja eigentlich gar nicht gehen. Ich hab mir nun also Gedanken darüber gemacht, dass man vielleicht nicht unbedingt das Lächeln seines besten Freundes mögen sollte. Also, man kann es schon mögen, aber vielleicht nicht unbedingt so, wie ich dein Lächeln mag. Und man sollte womöglich auch nicht bei jedem Lachen des besten Freundes eine Gänsehaut bekommen. Nicht, dass ich dein Lachen und dein Lächeln und deine Haare – und eigentlich sowieso alles an dir – nicht schon seit dem Kindergarten mögen würde. Versteh mich bitte nicht falsch. Es ist nur so, dass ich es jetzt irgendwie… anders mag. Mögen mit küssen und umarmen und anfassen und Händchen halten und so. Ich hab davon natürlich keine Ahnung. Immerhin hatte ich noch nie eine Freundin, aber ich bin mir sicher, dass ich mir das nicht einfach nur einbilde. Einbildung war ja noch nie meine Stärke. Wie du weißt. Also jedenfalls habe ich das Gefühl, dass du vielleicht auch nicht unbedingt was dagegen hast, dass ich dich mag. Nicht, dass du es schon offiziell weißt, aber ich dachte, ich hätte ab und an mal bemerkt, dass du mich anders anlachst, als du zum Beispiel Denise anlachst. Also… jedenfalls: Ich glaube, dass ich mich verguckt habe in dein Lächeln und dass ich dich anders mag, als ich andere Menschen mag. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du dir vorstellen kannst, eventuell mit mir… nun ja… zusammen zu sein. Und entschuldige bitte, dass ich mich nur so schlecht ausdrücken kann. Tut mir ehrlich Leid. Ich hoffe, dass du mir antwortest. Damian Kapitel 1: Rochade ------------------ Die Rochade [rɔˈxɑːdə, auch rɔˈʃɑːdə] ist der Spielzug im Schach, bei dem König und Turm einer Farbe bewegt werden. Es handelt sich um den einzigen Doppelzug (bei dem zwei Figuren zugleich bewegt werden), der nach den Schachregeln erlaubt ist. Indem ein Spieler die Rochade ausführt bzw. rochiert, verfolgt er das Ziel, den König in eine sichere Position zu bringen und den beteiligten Turm zu entwickeln. Die Rochade darf von jedem Spieler pro Partie nur einmal ausgeführt werden. ______________________________________ »Hey Leute, wir haben Neuzuwachs. Das hier ist Louis, er ist vom Gauß- Gymnasium. Die haben ja bekanntlich keinen Schachclub–« Mein Gehirn setzt aus, als ich ihn in der Tür unseres Raumes stehen sehe. Er hat sich nicht groß verändert. Nur gewachsen ist er ein ganzes Stück. Aber er trägt immer noch seine Mütze, hat immer noch diese Grübchen, während er in die Runde grinst… und ich kriege einen Herzinfarkt. Was macht er hier? Er spielt kein Schach. Warum zur Hölle taucht er nach drei Jahren einfach hier – in meinem Schachclub! – auf und grinst? Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Leute von anderen Schulen in unseren Club kommen. Wir spielen oft auf Meisterschaften und sind in der Stadt nicht unbekannt. Aber… Argh! Louis. Ist. Kein. Verfluchter. Schachspieler! »Hallo!« Er soll aufhören so zu strahlen. Und wieso bin ich plötzlich so aufgeregt? »Vielleicht kannst du einfach kurz was über dich erzählen… wo du herkommst, welche Klasse, seit wann du spielst.« Ich verkneife mir ein Schnauben. Seit wann er spielt? Seit nie! »Ich bin Louis, gehe in die letzte Klasse auf dem Gauß- Gymnasium«, meine alte Schule nebenbei bemerkt, »ich bin achtzehn und spiele noch nicht allzu lange Schach. Bin auch nicht besonders gut, fürchte ich.« Natürlich nicht. Er ist fürs Schachspielen einfach nicht geeignet. Er kann sich ja keine zwei Minuten auf dieselbe Sache konzentrieren. Hyperaktiv oder so was. »Man kann es ja lernen…« Blabla. Ich wende den Blick ab und starre aus dem Fenster. Mein Herz hämmert. »Wir haben diese Tradition, dass ein Neuer immer erstmal gegen den Besten spielt, den wir haben…« Oh nein! Das habe ich total vergessen! Verfluchter Dreck… »Damian sitzt da drüben…« Natürlich sitze ich hier. Unwillig drehe ich meinen Kopf wieder zum Ort des Geschehens. Und da steht er vor mir und lächelt mich an. Oh man. Meine Rippen brechen. »Hi Damian«, sagt er leise und reicht mir die Hand. Ich schnaube nur und wende mich dem Spielbrett zu, das vor mir auf dem Tisch steht. »Setz dich und lass uns anfangen.« Ich glaube es nicht. Es ist einfach inakzeptabel! Die Hoffnung, dass das alles nur ein mieser Traum ist, habe ich bereits aufgegeben. Denn dazu fühlt sich das alles viel zu real an und ich habe mich schon drei Mal in den Oberschenkel gekniffen. Er kann hier nicht einfach auftauchen. Wir haben uns seit drei Jahren nicht gesehen. Und das sollte eigentlich bedeuten, dass ich ihn sozusagen vergessen habe. Oder verdrängt. Aber nein, mein beknackter Körper belehrt mich eines besseren. Denn mein Herz wummert und meine Hände sind feucht und ich kann mich nicht konzentrieren, weil er mir zu allem Überfluss gegenüber sitzt und… Schach gegen mich spielt. Was schon mal total absurd ist, denn Louis hat nie Schach gespielt. Auch nicht gegen mich. Er ist auch gar nicht der Typ für Schach. Eher für Sport und Musik und lautes Lachen und Rumgezappel. Zappeln tut er übrigens schon die ganze Zeit, seit er mir gegenüber Platz genommen hat. Ich glaub’s echt nicht. Wer soll denn so anständig spielen? Um uns herum stehen die anderen und beobachten das Spiel mit fachmännischen Mienen. Ich starre auf den Spielzug, den Louis gerade gemacht hat. Hat der Kerl überhaupt ein System? Eher nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass er die Figuren nach Lust und Laune setzt. Und ich bin hauptsächlich so gut im Schach, weil ich ein guter Analytiker bin, der die Schritte des Gegners gut vorhersagen kann. Bei Louis funktioniert das kein bisschen. Er hat einfach keinen Plan, den ich vorhersehen könnte. Meine Laune hat ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. Ich will Antworten. Und doch wieder nicht. Eigentlich will ich nur, dass er wieder verschwindet und nie wieder auftaucht… oder? »Oh! Was ist das für ein Zug?«, fragt er erstaunt, als ich meinen Turm und meinen König Position tauschen lasse. »Eine Rochade«, sage ich abweisend. Louis scheint schwer beeindruckt. »Also ein Zug, mit dem man seinen König in einer Ecke versteckt, damit der andere möglichst schlecht dran kommt?«, resümiert er. »So in etwa«, gebe ich zurück. Mir fällt auf, dass Louis mit Vorliebe seine Springer benutzt. Passt irgendwie zu ihm. Ich kann Springer nicht ausstehen. Sie huschen so unberechenbar über das Spielfeld und bringen ständig alles durcheinander. Das ist anstrengend. Mir sind die Türme lieber. Geradlinig und vorhersehbar. »Schach«, sagt er strahlend und starrt mich über das Brett hinweg an. Ich fasse es nicht. Ich stehe im Schach. Mein ehemals bester Freund, vor dem ich mich drei Jahre zuvor extrem erniedrigt habe, bietet mir Schach. »Seit wann spielst du Schach?«, will ich schlecht gelaunt wissen und schiebe einen Bauer in die Schusslinie, damit mein König nicht mehr von Louis’ Läufer bedroht wird. »Seit… heute«, sagt er gut gelaunt und schiebt seinen Springer zur Seite, um einen meiner Bauern zu schlagen. Ich starre ihn fassungslos an. »Das hier ist dein erstes Schachspiel?«, frage ich. Will er sich über mich lustig machen? Was soll das überhaupt alles? »Ja, so ungefähr. Ich hab mir vorher mal auf Wikipedia durchgelesen, welche Figur ich wie schieben darf«, sagt er munter und sieht zu, wie ich meinen linken Turm nach rechts ziehe. Das ist doch wohl… Ich will gar nicht wissen, wie die anderen gerade drein schauen. Ich sehe sie nicht an. Wenn ich hier gegen Louis verliere, kann ich mich auch gleich aus Peinlichkeit irgendwo begraben. Er spielt zum ersten Mal in seinem Leben Schach. Ich bin der beste in diesem verdammten Club! Wieso zwingt er mich zuerst ins Schach? Und überhaupt, wieso hab ich nicht nach drei Zügen matt setzen können? Ich kann einfach nichts an seinem Spiel analysieren. Nichts. Ich habe keine Idee, was er als nächstes tun könnte, was er vorhat. Wahrscheinlich hat er einfach überhaupt nichts vor! Verfluchter Idiot. »Und wie kommt das plötzliche Interesse am Schach?«, erkundige ich mich Zähne knirschend. Normalerweise rede ich nicht beim Schach, abgesehen von den üblichen Dingen. Aber ich muss manche Dinge einfach wissen. Und ich hab das Gefühl, dass ich auch nicht warten kann, bis wir mit diesem Spiel fertig sind. Innerlich murrend sehe ich zu, wie Louis einen meiner Türme vom Spielfeld nimmt. »Na wie wohl. Durch dich«, meint er schlicht. Mein Herz springt mir in die Kehle und wahrscheinlich sehe ich gerade aus wie eine Verkehrsampel auf Rot. »Achso«, schnappe ich ungnädig und habe beinahe vergessen, dass wir von zehn Leuten umringt sind, »nach drei Jahren?« Louis sieht mich kurz an, dann senkt er den Blick wieder und schiebt seinen Springer über das Feld. »Ich hab ja nicht die Schule gewechselt«, sagt er nur. Was soll ich dazu noch sagen? Ich bin einfach nur noch sauer und schnappe ihm seinen elenden Springer mit meiner Dame weg. Einen Moment lang scheint er nachzudenken, dann zieht er mit dem anderen Springer. »Schach.« Ich verfluche Louis und meine Rochade. Durch seinen blöden Springer ist mein König jetzt in seiner Ecke – die eigentlich sicher sein sollte – eingekesselt und ich kann zusehen, wie ich ihn aus dieser Lage wieder heraus kriegen kann. »Gehst du nachher mit mir Mittagessen?«, fragt Louis beiläufig. »Nein«, motze ich sofort los und rette meinen König wieder mit einem Bauern. »Woher kennt ihr euch eigentlich?«, will Martin wissen, der direkt neben mir steht und aufmerksam das Spiel verfolgt. »Sind früher mal auf eine Schule gegangen«, sage ich kurz angebunden. Louis ist freundlicher und lächelt Martin offenherzig an. »Wir waren beste Freunde, bevor Damian die Schule gewechselt hat und umgezogen ist«, erklärt er und beobachtet dann meinen nächsten Zug. »Und wieso hast du–«, fängt Martin an, doch Louis unterbricht ihn. »Ha! Schachmatt!« Ich starre auf das Feld. Und tatsächlich: Mein König hat keinen Ausweg mehr. Ich starre Louis an, dann wieder das Spielfeld. Blöde Rochade. Ich hätte mich nicht so von ihm in die Enge treiben lassen sollen. »Na das nenne ich einen Einstieg!«, sagt Simon ausgelassen und lacht. Klar, dass der lacht. Gegen ihn gewinne ich ja auch immer. »Würdest du gegen mich auch mal spielen?« Und schon ist Louis umringt von lauter Schachfanatikern, die gegen ihn spielen wollen, weil er gerade ihren besten Spieler geschlagen hat. Toll. Wirklich toll. Kapitel 2: Schachmatt --------------------- Eigentlich sollten es ja noch zwei Kapitel werden. Aber ich hab es in eines bekommen :) Jetzt kommt also noch der Epilog und dann kann ich mich wieder neuen Dingen widmen ;) Liebe Grüße, ____________________ So schlechte Laune hatte ich noch nie in meinem Leben, glaub ich. Was Louis da macht, das ist kein Schachspielen. Das ist… es ist auf jeden Fall eine Zumutung! Und das allerschlimmste ist, dass er mit seiner Planlosigkeit einen nach dem anderen abzockt. Während ich hinter ihm stehe und den Spielen zusehe, versuche ich irgendein Muster in seinen Zügen zu entdecken. Aber es gibt einfach keins. Meine größte Stärke – nämlich das analysieren von Mustern und Strategien – hilft mir bei Louis einfach nicht. Aber was wundere ich mich schon darüber. Ich konnte ihn noch nie besonders gut einschätzen. Meine Gedanken schweifen ab. Damals habe ich ihn ja auch schon falsch eingeschätzt. Ich hätte gedacht, dass er antwortet. Vielleicht auch mit einem ›Nein‹. Aber ich hätte eine Antwort erwartet. Aber es kam niemals eine. Louis hat sich mir gegenüber einfach so verhalten, als wäre nichts passiert. Als hätte ich diesen Brief nie geschrieben. Noch bevor das letzte Spiel aus ist, fange ich an meine Sachen zu packen. Da taucht er einfach wieder auf, grinst und lacht und spielt plötzlich Schach und mein verdammtes Herz hämmert immer noch wie eine Dampflok, wenn ich ihn nur ansehe. In den letzten Jahren hab ich ihn so gut es ging verdrängt und ich war mir eigentlich auch sicher, dass nach so langer Zeit die Gefühle verschwunden sein müssten. Aber dem ist offenbar doch nicht so. Ich bin immer noch – und ich hasse es, das zuzugeben – Hals über Kopf verknallt in meinen ehemals besten Freund. In seine Grübchen und die unordentlichen Haare, in seinen Duft und seine Stimme und… wieso um alles in der Welt bin ich so gestraft? Womit hab ich das verdient? Als ich ihm damals diesen Brief geschrieben habe, waren meine Eltern gerade auf Haussuche. Und nachdem Louis nie auf meinen Brief reagiert hat, kam mir der Umzug gerade recht und ich hab ihm einfach die neue Adresse nicht gesagt. Heute wohnen wir in diesem Haus, das meine Eltern damals gekauft haben und Louis hatte keine Ahnung, wohin ich verschwunden bin, nachdem ich die Schule gewechselt hab. Ich könnte so tun, als hätte ich das damals nur gemacht, weil die Lehrer unfähig und die Schulleitung absolut unorganisiert gewesen sind. Das hab ich zumindest meinen Eltern gesagt. Aber die Wahrheit ist, dass ich nicht mehr in seiner Nähe sein wollte, nachdem ich mich selbst so dermaßen bloß gestellt hatte. Ich wollte ihn nicht mehr sehen und ich wollte, dass dieses verliebte Flirren im Magen und das Herzklopfen einfach aufhören. Und jetzt ist alles wieder da. Super. Echt. Nachdem ich meine Sachen gepackt habe, schultere ich meinen Rucksack. »Ich bin schon mal weg«, rufe ich und sehe gerade noch aus dem Augenwinkel, wie Louis’ Kopf zu mir herumfliegt. Dann haste ich aus dem Raum. Ich höre noch ein eiliges ›Schachmatt‹ – was dann wohl bedeutet, dass Louis auch gegen Martin gewonnen hat – und dann stürmt Louis aus dem Raum und holt mich ein. »Hey! Warte auf mich!«, schnauft er und geht dann neben mir her. Ich sage nichts dazu. Wieso rennt er mir jetzt noch nach? Wieso ist er überhaupt aufgetaucht? Mein Herz bricht mir gleich die Rippen… Louis streckt einen Arm aus und hält mich fest, sodass ich gezwungen werde, stehen zu bleiben. Ich sehe ihn wütend an. »Was willst du? Wieso rennst du mir nach?«, pflaume ich ihn an und reiße meinen Arm los. »Ich will mit dir reden. Und das geht besser, wenn du nicht vor mir wegrennst!«, sagt er aufgebracht und folgt mir wieder auf dem Fuße. »Und worüber willst du reden?«, knurre ich durch zusammengepresste Zähne und stopfe meine Hände in die Hosentaschen. Wenn mein Herz nicht gleich die Schnauze hält, dann werd ich…– »Über den Brief.« Ich bleibe abrupt stehen und starre ihn an. Er grinst nicht und es sieht nicht so aus, als würde er einen Witz machen. Über den Brief? Will er mich verschaukeln? Nach drei Jahren will er über den beknackten Brief reden, den ich so gut es geht verdrängt habe? »Willst du mich verarschen?«, herrsche ich ihn an und er zuckt leicht zurück, bleibt aber vor mir stehen und sieht mich weiterhin fest aus seinen funkelnden Augen an. »Du tauchst hier auf und spielst plötzlich Schach, obwohl du dich immer einen Scheiß dafür interessiert hast und jetzt willst du auch noch über den beschissenen Brief reden? Das ist nicht lustig, ok?« Ich drehe mich wieder weg, aber Louis hält erneut meine Hand fest. »Ich wollte dich wieder sehen! Du bist einfach gegangen und hast nie gesagt wieso und ich hab es nie verstanden! Von mir aus lass ich dich in Frieden, aber ich will erst mit dir reden!« Und ehe ich es mich versehe, hat er mich in ein leeres Klassenzimmer bugsiert und die Tür hinter uns geschlossen. Da sich unser Schachclub nachmittags um vier trifft, ist jetzt kaum noch jemand hier in der Schule. Draußen scheint die Sonne und ich höre Vögel durch die geschlossenen Fenster zwitschern. Das Wetter ist eklig, wenn man miese Laune hat. »Was soll das bitte schön heißen, du hast es nie verstanden? Ich hab die ganze Zeit auf irgendeine Reaktion gewartet! Ein ›Nein‹ wäre ja ok gewesen, aber du hast einfach so getan, als wäre nie irgendwas gewesen!« Louis seufzt leise und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Dann holt er tief Luft. »Ich hab den Brief erst vorgestern gelesen.« Ich erstarre und blicke ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Was?« Er hat den Brief seit drei Jahren bei sich rumliegen und hat ihn… vorgestern! Das ist doch wohl die Höhe! »Wieso hast du ihn mir auch nicht selber gegeben? Ich hab ihn vorgestern erst bekommen, ok? Denise hat ihn mir nie gezeigt. Sie hat ihn für sich behalten. Ich hatte keine Ahnung, dass du überhaupt je einen Brief an mich geschrieben hast!« Mein Herz wummert beinahe schmerzhaft. Ich hab den Brief Denise gegeben. Und sie hat gesagt, dass sie ihn Louis gegeben hat. Ich hab das nie angezweifelt. »Aber wieso… ich versteh das nicht«, sage ich vollkommen perplex und Louis seufzt leise. »Sie ist seit zwei Wochen mit so einem Kerl zusammen. Und dann hat sie mir erzählt, dass sie mir noch was sagen muss, weil wir grad mal über dich gesprochen haben und sie meinte, dass sie damals so schrecklich in mich verknallt gewesen sei und sie… hat mir den Brief deswegen nie gegeben…« »Sie hat ihn gelesen?«, frage ich entgeistert und ich balle wütend die Hände zu Fäusten. Er nickt matt. »Und sie wusste, dass ich damals schon seit einer Ewigkeit in dich verknallt gewesen bin und–« Ich falle gleich in Ohnmacht. »Was?«, unterbreche ich ihn vollkommen entgeistert. Er wird ein wenig rot und räuspert sich. »Na ja, ich hab ihr immer erzählt, wie toll ich dich finde und… tja. Da hatte sie bei deinem Brief Schiss, dass wir ein Paar werden, weil sie mich ja auch haben wollte. Was nebenbei bemerkt einfach hoffnungslos gewesen wäre, weil ich mich noch nie für Mädchen interessiert hab…« Seine Stimme verliert sich und er seufzt leise. Wir sehen uns eine halbe Ewigkeit lang schweigend an. Ich hab keine Ahnung, was ich dazu sagen soll. Er hat den Brief nie gelesen. Das erklärt natürlich, wieso er darauf nicht reagiert hat. »Ich dachte, du hättest vielleicht gemerkt, wie ich dich immer angehimmelt hab und hast deswegen die Schule gewechselt. Und ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich hab bei dir daheim angerufen, aber du bist nie rangegangen und umgezogen warst du auch und ich kannte die neue Adresse nicht. Und dann hat sie mir vorgestern den Brief gegeben und sich gefühlte hundert Mal entschuldigt und ich war total sauer auf sie, weil ich dich immer noch so vermisst hab nach drei Jahren…« Ok. Mein Magen hat sich gerade aufgelöst und kribbelt jetzt durch meinen restlichen Bauchraum. Ich sterbe, wenn ich ihn nicht auf der Stelle anfasse. Immerhin warte ich da seit über drei Jahren drauf. Ich ziehe ihn heftig in meine Arme und drücke ihn an mich. Louis keucht erstickt auf. »Und dann hab ich in der Zeitung diesen Artikel über euren Schachclub gelesen und dass du das letzte Turnier gewonnen hast und dann dachte ich, komme ich einfach hierher und erzähle dir das und wenn du dann nichts mehr von mir wissen willst, dachte ich, dann wäre das schon irgendwie… in Ordnung…« Seine Stimme wird immer leiser und er klingt nun eindeutig unglaublich nervös. Liegt vielleicht daran, dass ich mein Gesicht an seinem Hals vergraben habe und ihn ziemlich fest an mich drücke. Behutsam erwidert er meine Umarmung. »Ähm… heißt das… dass du nicht mehr sauer bist?«, hakt er nach. »Hm.« »Und… dass du mich immer noch… ähm…« »Hm.« »Kannst du auch noch mehr sagen als ›Hm‹?« »Hm.« Er muss lachen und nimmt mein Gesicht zwischen beide Hände. Ich bin garantiert knallrot im Gesicht. Ich bin einfach so verlegen, dass ich nichts anderes sagen kann. Aber Louis scheint im Moment keine andere Antwort zu brauchen. »Machst du auch ›Hm‹, wenn ich dich frage, ob ich dich küssen darf?«, will er mit einem verschmitzten Grinsen wissen. Ich schlucke schwer. »Hm.« Er lacht erneut und es klingt wie Musik in meinen Ohren. Die Körpernähe macht mich ganz schwindelig und dann küsst er mich und ich drücke ihn noch fester an mich, wir taumeln rückwärts gegen einen der Tische und seine Lippen auf meinem Mund sind nicht tastend und vorsichtig, wie man es von einem ersten Kuss erwarten könnte. Er küsst mich so heftig, als wären wir Ertrinkende oder als würde jeden Moment die Welt untergehen. Meine Knie sind ganz wackelig und so setze ich mich auf den Tisch, an den Louis mich ohnehin drückt. »Meine… Güte«, keuche ich, als er sich von mir löst und mich aus leuchtenden, leicht glasigen Augen ansieht. »Ich muss drei Jahre nachholen«, sagt er entschuldigend. Ich schnaube und muss grinsen. »Du bleibst doch nicht wirklich im Schachclub, oder?«, frage ich dann leicht aus dem Zusammenhang gerissen. Er lacht leise und bedeckt mein Gesicht mit Küssen, sodass jedes Stückchen Haut kribbelt. Und ich hab mir eingeredet, dass ich die Gefühle los bin. Herrgott, ich glaube, ich stecke mit dem Kopf in den Wolken. »War nur zur Tarnung. Aber es war eigentlich nicht übel, dich zu besiegen«, sagt er gespielt nachdenklich. Ich brumme. »Daran war nur deine Rochade Schuld, weißt du?«, fügt er hinzu, »Du hättest dich einfach nicht verstecken, sondern es mir direkt sagen sollen…« Ich seufze leise. »Ja«, brumme ich und mir ist klar, dass wir gerade nicht mehr übers Schachspielen reden, »aber ich… hab mich halt nicht getraut.« Er gluckst leise und dann küsst er mich wieder und wieder und ich kann mich nicht beklagen. Er ist nicht der Einzige, der drei Jahre nachholen muss. »Schachmatt«, nuschelt er mir grinsend ins Ohr und ich knuffe ihn leicht in die Seite. »Ich fordere eine Revanche«, murmele ich gegen seine Lippen. »Kannst du haben…« Epilog: Genauso --------------- Lieber Damian, Es tut mir wirklich Leid, dass du so lange auf diese Antwort warten musstest. Mittlerweile kennst du ja die unglücklichen Umstände, aber ich möchte diesen Brief gerne so schreiben, als wäre ich noch fünfzehn und als hätte ich deinen Brief pünktlich bekommen. Als ich ihn gelesen habe, bin ich beinahe durchgedreht vor Begeisterung. Ich lag in unserem Garten und nachdem ich fertig gelesen hatte, hab ich ein paar Flickflacks gemacht, weil ich gar nicht wusste, wohin mit all der Freude. Mir geht es nämlich ganz genauso. Und ich konnte es gar nicht fassen, dass du mich tatsächlich auf dieselbe Art und Weise magst wie ich dich. Das hätte ich mir wirklich nie träumen lassen, du hast ja nie irgendwas durchblicken lassen und die ganze Zeit habe ich darüber nachgedacht, ob ich es dir sagen soll oder lieber doch nicht. Ich wollte immerhin unsere Freundschaft nicht ruinieren. Ich mag wirklich alles an dir. Wie du die Stirn runzelst, wenn du dich konzentrierst, wie du deine Brille nach oben schiebst, wenn du verlegen bist. Ich mag deine weichen Haare und deine zaghaften Umarmungen, wenn wir uns begrüßen. Jede zufällige Berührung macht mich immer ganz hibbelig. Ich finde deine Stimme toll, weil sie mich beruhigt. Ich mag es, dass du immerzu Klamotten mit Streifen trägst, deine Angewohnheit, alles so nüchtern wie möglich analysieren zu wollen, wie du dir auf die Unterlippe beißt, wenn du beim Schachspielen über den nächsten und den übernächsten und den überübernächsten Zug nachdenkst. Ich hab mich schon vor Ewigkeiten in all diese Kleinigkeiten verliebt und ich möchte am liebsten die ganze Welt umarmen, weil es dir genauso geht wie mir. Ich bin echt der größte Glückspilz auf der Welt, dass du nach all der Zeit immer noch verliebt in mich bist. So wie ich in dich. Ich freue mich schon darauf, die drei Jahre endlich nachzuholen. Louis P.S.: Mach dir nichts draus, dass ich dich mittlerweile schon drei Mal im Schach geschlagen habe. Du bist garantiert trotzdem der bessere Spieler. P.P.S: Ich hab vergessen zu schreiben, dass ich gern mit dir zusammen sein will. So richtig fest und so. Auch wenn das vielleicht irgendwie klar war, ich wollte es noch mal sagen. P.P.P.S.: Du riechst so gut. Und du küsst ganz wunderbar. Und… ich sag dir das einfach alles, wenn du in fünf Minuten hier bist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)