Verstecktes Leben im Abseits von Stiffy (Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball) ================================================================================ <10.03> Der Blick durchs Tor ---------------------------- „Sechs Monate sind eine lange Zeit.“ „Finden Sie? Wenn ich nicht gerade darüber nachdenke, kommt es mir vor, als seien erst ein paar Wochen vergangen.“ „Wieso?“ „Weil es noch immer nicht viel ruhiger geworden ist.“ „Sie meinen die Presse?“ „Ja. Und die Fans, seien es noch vorhandene oder ehemalige… Sie lassen ihn nicht in Ruhe.“ „Damit war doch zu rechnen, oder?“ „Ja, aber er hat gehofft, dass sich das Interesse an der Sache schneller verliert...“ Das Outing vor einem halben Jahr war keine besonders große Überraschung für mich. Von Anfang an hat er darüber gesprochen. Gleich zu Beginn unserer Beziehung, wenn man die damalige Affäre überhaupt so bezeichnen darf, hat er überlegt, sich zu outen. Es war wie ein Hirngespinst, das sich irgendwo in seinem Kopf festgesetzt hatte, und es wollte einfach nicht verschwinden. Immer wieder sah ich ihm an, dass er daran dachte, selbst wenn er es immer seltener zur Sprache brachte, weil er wusste, dass ich dem sehr kritisch gegenüber stand. Dabei sollte man wohl meinen, dass mich diese Überlegungen erfreut hätten, vielleicht gar glücklich machten. Er wollte immerhin wegen mir diesen Schritt wagen, für den „riskant“ ein noch zu leichter Ausdruck ist. Stattdessen aber erschreckte es mich. Heute ist das Gefühl, welches ich damals hatte, nur noch schwer zu greifen, da ich mich in die Zeit niemals zurück wünschen möchte, doch selbst damals war es kaum richtig zu erklären. Ich habe einmal versucht, es ihm anhand eines Käfigs zu erklären, in den er mich damit sperrte. Natürlich war es ein schönes Gefühl, zu wissen, wie wichtig ich ihm war, doch gleichzeitig gehen mit einem solchen Schritt auf gewisse Weise auch Verpflichtungen einher. Und Risiken. Den Ausspruch getätigt, war es schwer, ihm klarzumachen, was ich damit meinte. Meinte ich es etwa gar nicht ernst mit ihm? Wollte ich nur heimlich mit ihm zusammen sein? Mich wohlmöglich bald schon wieder trennen? Was waren meine Beweggründe? Egal wie oft sie ich ihm nahelegte, lange hatte ich das Gefühl, dass er es nicht vollends verstand. Er liebte mich, er wollte mit mir zusammen sein… wie konnte es mir da anders gehen? Dabei ging es mir nicht anders, ganz und gar nicht. Ich liebte ihn. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie einen Menschen so sehr geliebt wie ihn, doch genau hier lag das Problem. Diese Liebe sollte nun der Auslöser für das Outing sein. So viele Jahre lang hatte er sich dagegen gesträubt, hat eine Maske konstruiert und ein Versteckspiel um sich herum aufgebaut. Er hatte sein größtes Hobby zu seinem Beruf gemacht und eine Frau gefunden, welche ihn über alles liebte. Er hatte, eigentlich, das perfekte Leben und nur wegen unserer Liebe war er bereit, dies alles aufzugeben, wie es mir vorkam, mit einem Wimpernschlag. Was, wenn er es ebenso schnell wieder bereuen würde? Dann gäbe es kein Zurück mehr. Und an mir würde er diesen Fehler auf ewig messen. Zu Anfang meiner Argumentation wurde er wütend. Glaubte ich ihm nicht? Dachte ich etwa, dass seine Gefühle schon bald nachlassen würden? Vertraute ich ihm nicht? Er war gereizt und traurig und mir fiel es noch schwerer, ihm zu erklären, worum es eigentlich ging. Ich wollte mit ihm zusammen sein, ich wollte mit ihm mein Leben teilen, doch ich wollte nicht die Bürde tragen, für das Ende seiner Karriere verantwortlich zu sein. Wie würde eine Beziehung unter dem Gewicht bestehen können? Wollte er mir täglich in die Augen schauen und wissen, dass ich es war, wegen dem er alles andere beendet hatte? Es brauchte viele Stunden des Redens, des Berührens und Schweigens bis er es endlich begriff, bis er endlich verstand, worum es mir ging. Und dennoch war mir vom ersten Moment an klar, dass er den Gedanken des Outings nie ganz von sich schieben würde. Ich war einfach nur froh, dass der erste Moment der Überschwänglichkeit vorbei war. „Letztendlich hat er sich wirklich geoutet.“ „Ja.“ „Waren Sie denn damit einverstanden?“ „An dem war es nicht mehr an mir, zu entscheiden, was geschah…“ „Wie meinen Sie das?“ „Anders als Monate zuvor hatte er sich mittlerweile genug Gedanken über alles gemacht… Natürlich waren ihm auch vorher die Konsequenzen bewusst gewesen, doch wenn man sie sich öfter vor Augen hält, erkennt man irgendwann, ob man wirklich mit ihnen leben kann oder nicht…“ „Und er dachte, dass er es kann?“ „Genau. Auch wenn ich nicht vollends für sein Outing war, sah ich ihm doch an, dass er es dieses Mal mit kühlem Kopf entschieden hatte… und letztendlich…“ „Ja? „Letztendlich… war es einfach seine Entscheidung.“ „Und das kam für sie nicht wirklich überraschend?“ „Wie man es nimmt…“ Im Nachhinein hätte ich vielleicht erkennen können, dass das Outing so gut wie bevor stand. Zwar sprach er nicht mehr wirklich über das Thema, aber in den letzten Wochen davor war er zunehmend gereizt. Ein paar Mal ging er mir aus vollkommen unwichtigen Punkten sprichwörtlich an die Gurgel und auch in alltäglichen Gesprächen war er fast schon aggressiv. Die Ruhe, die ihn sonst ausmachte, verschwand oft, wenn er über das Training oder gar die Spiele sprach. Dann wirkte er fast aufgewühlt und wechselte manchmal schnell das Thema. Je öfter wir uns sahen, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass er sich mehr zurück zog. Dies wollte ich dann aber aufgrund seiner Stimmung lieber nicht ansprechen. Ich versuchte mehr, ihn zu beruhigen, ihn abzulenken, auf andere Gedanken zu bringen. Dennoch spürte ich irgendwie, dass er sich selbst immer weniger gefiel. Vielleicht war der endgültige Schritt dann auch einfach nur an der Zeit. Vielleicht war er sogar gut so, denn welchen Ausweg aus seiner Unzufriedenheit hätte es sonst gegeben? Der Tag, an dem er es mir sagte, war der, an dessen Abend er auch Miriam die Wahrheit sagen wollte. Kaum war sie morgens aus dem Haus gegangen, hatte er mich zu sich gebeten, und ich spürte sofort, dass dieses Treffen keines der üblichen war. Dabei war es nicht ungewöhnlich, dass er mich anrief und bat, zu kommen. Wir sahen uns so oft, soweit es meine Arbeit, sein Sport und sein Privatleben zuließen. Wir nutzten fast jede Gelegenheit, alleine zu sein. Wir waren sehr vorsichtig dabei, manchmal, wenn wir einfach ein komisches Gefühl dabei hatten, berührten wir uns stundenlang nicht, dann wieder fielen wir wie zwei junge Hüpfer übereinander her. So oft sagte er mir, wie er es genoss, bei mir zu sein. Es sei anders als mit Miriam, bei mir fühlte er sich, so beschrieb er es, vollkommen. Ich erkannte diesen Unterschied an ihm auch. Er verhielt anders, wenn wir alleine waren. Wenn Miriam oder Thomas oder irgendwer sonst dabei war, erkannte ich nichts in seinen Augen. Sie verschlossen sich, er verschloss sich und ließ keine engen Gefühle an sich heran. Auch lachte er anders und seine Körpersprache unterschied sich ein wenig. Wirklich nur minimal, doch so sehr, dass es mir bewusst auffiel. Dabei war er kein anderer Mensch, zu jeder Zeit erkannte ich doch ihn selbst daraus, auch dann, wenn er auf dem Spielfeld stand, und dennoch mochte ich ihn am liebsten in unserer Zweisamkeit, egal ob dies im Bett oder beim Training im einsamen Geräteraum war. Wenn wir alleine waren, war er der Mann, den ich liebte, ohne den Schleier einer falschen Welt. „Wo wir gerade in diese Richtung driften… Wieso haben Sie sich damals überhaupt auf ihn eingelassen?“ „Das fragen Sie ernsthaft? Weil ich mich Hals über Kopf in ihn verliebte.“ „Liebe auf den ersten Blick also?“ „Nein, daran glaube ich nicht… aber eine gewisse Anziehung verspürte ich vom ersten Moment an…“ „Wie äußerte sich das?“ „Naja, zu Anfang fand ich ihn einfach nur interessant, doch je mehr ich ihn beobachtete oder mit ihm sprach, desto stärker wurden die Gefühle…“ „Und wie war das bei ihm?“ „Das war das kuriose… ziemlich schnell bemerkte ich, dass es ihm scheinbar ähnlich ging.“ „Woran haben Sie das erkannt?“ „Ehrlich gesagt ist das nicht zu erklären. Es war ein Gefühl, wenn wir uns ansahen. Wahrscheinlich hätte es niemand anderes bemerkt, dafür saß seine Maske zu perfekt, doch irgendwie gab es da etwas zwischen uns, etwas sehr Intensives…“ „Sind Sie nie auf den Gedanken gekommen, ihm aus dem Weg zu gehen?“ „Doch, natürlich. Erst wollte ich die Gefühle verdrängen und versuchte, ihn auf Abstand zu halten… doch irgendwann ging das einfach nicht mehr…“ Bis zu einem gewissen Grad ist man in der Regel vernünftig veranlagt, so auch ich. Ich wusste, dass die Anziehung zwischen uns auf keinen guten Grundlagen basierte. Zu aller erst einmal war er ein Profispieler. Auch ich wusste natürlich bestens, dass dies ein sehr homophobes Pflaster war. Obwohl ich eigentlich offen schwul war, hatte ich das von meiner Arbeit immer tunlichst getrennt. Ich sprach zwar von meinen vergangenen Beziehungen, allerdings immer, ohne explizit ein Geschlecht zu nennen. Mir war klar, dass ein schwuler Physiotherapeut nicht so gerne gesehen würde, also schwieg ich, auch wenn ich mich nie wirklich verstellte – anders als er. Er hatte sogar eine Freundin. Ich lernte sie bald kennen und erkannte schnell, dass sie mehr als die typische Alibifreundin eines schwulen Fußballers war. Miriam bedeutete ihm sehr viel, gleichzeitig hatte es seine Grenzen. Diese überschritt er jedoch mitunter im Bezug auf mich. Das Leben hatte mich gelehrt, mit Signalen von außen vorsichtig, nicht leichtfertig umzugehen. Vielleicht waren seine nur aus Neugierde begründet, redete ich mir erst ein, vielleicht fand er mich auch nur übermäßig sympathisch und ich deute es falsch. Vielleicht sah ich Dinge, die nicht existierten. Das redete ich mir nachts oft ein, doch schon am nächsten Tag wurde ich jedes Mal eines besseren belehrt, wenn er wieder eine Sekunde zu lange an meinem Blick hängen blieb. Aber wie gesagt, bis zu einem gewissen Grad, ist man vernünftig veranlagt. So versuchte auch ich zunächst, auf Abstand zu gehen oder zumindest, mir nicht mehr anmerken zu lassen als ohnehin schon. Ich versuchte, nicht immer auf ihn zu achten, auch die anderen deutlicher wahrzunehmen und mich gefühlsmäßig nicht auf ihn einzulassen. Das konnte kein gutes Ende haben, sagte ich mir selbst. Wie hätte das auch aussehen sollen? Dennoch gibt es Momente, in denen man schwach wird, so sehr man sich auch kontrollieren will. Bei mir war dieser Moment nach dem Sieg in der Gruppenphase, als wir einander einen kurzen Augenblick lang in den Armen lagen. Plötzlich schlug mein Herz so fest wie seit Jahren nicht mehr und den restlichen Abend konnte ich an nichts anderes mehr denken. Ich beobachtete ihn die ganze Zeit, so unauffällig wie möglich und doch so deutlich, dass sich immer wieder unsere Blicke während der Party trafen. Ich lächelte und er erwiderte es und ich wusste, dass ich ihm einfach mal so vollends verfallen war. Warum auch immer ausgerechnet diesem Mann. Es war ausgerechnet diese Nacht, in der er zu mir kam und das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich jegliche Vernunft über Bord geworfen hatte. Es war mir egal, was passieren würde, ich wünschte mir bloß noch, bei ihm zu sein. Ihm ging es ähnlich, das wurde so deutlich in den folgenden Tagen. Wann immer wir uns ansahen, sprachen die Gefühle zwischen uns und ich hätte wohl alles für nur einen einzigen Kuss gegeben. Dass es zu diesem bis zum Ende der WM nicht kommen würde, damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Im Nachhinein ärgerte ich mich so sehr, dass ich unsere Zweisamkeit am letzten Abend nicht ausgenutzt hatte, denn wahrscheinlich würde ich doch nie wieder eine Chance bekommen. Dem folgten zwei Jahre, in denen wir einander nicht sahen. Zunächst dachte ich, dass ich ihn vielleicht wirklich vergessen konnte, in dieser Zeit, doch ich begriff schnell, dass es so einfach nicht war. Meine Gefühle erloschen nicht, sie ließen mich nicht los. Ich konnte einfach nicht anders, als ihn in den Zeitungen, im Fernsehen, im Radio zu suchen. Ich sehnte mich nach jeglicher Nachricht über ihm, sei sie auch noch so winzig. Ich saugte alles in mich auf und es tat weh, doch aufhören konnte ich damit dennoch nicht. Dabei ging abseits davon mein Leben weiter. Ich plante nicht, mich nochmals auf dieses Spiel einzulassen. Stattdessen hatte ich einige One Nights Stands und eine viermonatige Beziehung. Ich versuchte wirklich ganz bewusst, ihn aus meinem Herzen zu verbannen, doch irgendwie hatte er einen festen Teil davon in Beschlag genommen und war nicht bereit, diesen wieder loszulassen. Ich verglich viele Männer mit ihm, was nicht ungewöhnlich für mich war. Nach der Auflösung meiner Verlobung Jahre zuvor war es mir ähnlich ergangen, doch das hatte nachgelassen. Schon bald hatte ich nicht mehr an Steve denken müssen, hier allerdings war es weniger einfach. Über Monate zog es sich hin und die Sehnsucht brannte. Ich fragte mich, ob sie weniger wäre, wenn wir uns einander einfach ein einziges Mal hingegeben hätten. Wäre ich dann befriedigt? Wäre es mir dann genug, nach einem Mal so richtig heißem Sex mit ihm? Vielleicht hätte auch ein Kuss genügt oder intensivere Worte. Ich wusste es nicht, denn ich konnte dies alles nur erträumen und nie spüren. Und über die Vorstellungen wuchs der Wunsch, ihn wiederzusehen. Aus dem Grund entschied ich mich, noch einmal auf das Spielbrett zu treten. Es war gefährlicher als zuvor, denn ich setzte sehr viel. Doch besonders für ihn würde es gefährlich werden, dann zumindest wenn er in de letzten Jahren auch nur ab und an mich gedacht hatte. Ich wollte ihn küssen, berühren und ihm sagen, dass ich ihn nicht einen Tag lang vergessen hatte. Wenn ich auch nur ein Anzeichen von ihm bekommen würde, dass es ihm ähnlich erging, würde ich es nicht noch einmal nur bei einfachen Blicken belassen. Das war zumindest mein Plan, die Umsetzung sah anders aus. „Inwiefern?“ „Ich sah sofort, dass auch er in den letzten Jahren an mich gedacht hatte… doch ich konnte nicht danach handeln. Ich unternahm tatsächlich nichts…“ „Wieso nicht?“ „Weil nicht ich es sein würde, der dadurch alles verlieren konnte… Wenn er dazu bereit war, musste er einen Schritt in meine Richtung tun.“ „Und das tat er?“ „Es dauerte eine Weile, aber ja… und ab dem Zeitpunkt war mir klar, dass wir das nie wieder hergeben wollte. Eigentlich war es faszinierend. Ich hatte nie geglaubt, dass es so etwas zwischen zwei Menschen geben kann.“ „Das klingt sehr romantisch.“ „Keine Ahnung. Letztendlich war es vor allem wenig heroisch… immerhin führte es dazu, dass wir Miriam beide sehr weh getan haben.“ „Womit wir den Bogen zurück schlagen. Sie wollten zuvor erzählen, wie er vor einem halben Jahr sein Outing plante…“ „Stimmt. Das war schon ein sehr schwieriger Tag…“ Wie gesagt, bemerkte ich sofort, dass etwa anders war an jenem Vormittag. Er schloss verkrampft die Tür hinter mir, dann sah er sich unruhig um, während ich ihm ins Wohnzimmer folgte. Das Wohnzimmer war abgedunkelt, was nur zur düsteren Grundstimmung beitrug. Schweigend ließen wir uns nieder, ohne einander überhaupt berührt zu haben. Sein Blick war fahrig, als kenne er sein eigenes Haus nicht oder als würde hinter jeder Tür jemand lauern. Und er hatte die Fäuste angespannt. Ich verstand überhaupt nicht, was mit ihm los war. Einen Augenblick lang befürchtete ich sogar, er würde nun mit mir Schluss machen. Das war ohnehin ein Punkt, mit dem ich immer zu rechnen hatte. Seit Monaten waren wir nun heimlich ein Paar und ich wusste, dass dies jede Sekunde ein Ende finden könnte. Dennoch ließ ich mich mit jedem neuen Tag erneut darauf ein, denn mittlerweile liebte ich ihn. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihn noch einmal vergessen zu müssen. Also ertrug ich auch, dass ich nur die Affäre war. Wir sahen uns dadurch nie regelmäßig; wenn es darauf ankam, stand immer sein Sport an erster Stelle und mit ihm Miriam. Darauf hatte ich mich eingelassen und weil ich wusste, dass es so war, hatte ich auch das Outing nie für eine gute Idee gehalten. Wenn er den Sport verlieren würde, von dem er immer mal wieder behauptete, dass er nicht so wichtig sei wie ich, wann würde dann der Tag anbrechen, an dem er es mir nachtragen würde? Wenn man es so sieht, bestanden die Monate unserer heimlichen Beziehung aus sehr viel Unsicherheit und einem gewissen Prozentsatz an Angst, dass es einmal ein jähes Ende finden könnte oder ein unglückliches. Aber vielleicht genau deshalb nahm ich mir vor, jede Sekunde mit ihm richtig zu genießen. Ich wollte nichts bereuen müssen. An dem Tag im dunklen Wohnzimmer ging mir genau das eine Sekunde lang durch den Kopf. Ich bereute nichts, doch es gab noch zu viel vor uns als dass nun Schluss sein konnte. Außerdem liebte er mich, das wusste ich. Doch wenn es nicht das war, was war dann hier los? Ich wurde unruhiger je länger er schwieg. Ich sah in seinen gesenkten Augen, dass sich etwas drastisch ändern würde, ich war mir nur nicht sicher, was es sein würde. Eine Trennung war es nicht, aber was konnte es dann sein? Das Outing? Wir hatten nun schon länger nicht mehr darüber geredet. Plötzlich, als habe jemand den Startschuss gegeben, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus ohne Pause, als habe er Angst, ich würde davonlaufen, sobald er endete. Und um ehrlich zu sein, eine Sekunde lang packte mich der Fluchtinstinkt tatsächlich, wenn auch nicht ernsthaft. Stattdessen blieb ich wie angewurzelt sitzen und konnte einfach nur seine Hände anstarren, welche während des ganzen fest ineinander verkrampft waren. Ich zuckte zusammen, als er sie löste. Er streckte mir eine davon hin, ohne zu zögern ergriff ich sie. Hier nun sagte er mir wie sehr er mich liebte. Er sagte mir, dass er Miriam liebte und wirklich vor gehabt hatte, sie zu heiraten. Und dann sagte er mir, dass er ihr die Wahrheit sagen würde; ihr und der ganzen Welt. Es könne einfach nicht mehr so weitergehen wie bisher. Er könne das nicht mehr, dieses Versteckspiel. Natürlich habe es etwas mit mir zu tun, natürlich sei ich in gewisser Weise der Grund für die Entscheidung, doch da stecke noch viel mehr dahinter als das. Er war es leid, eine Maske zu tragen. Er beneidete die Leute darum, die einfach sie selbst sein konnten, frei lachen und lieben durften. Er wollte nicht mehr schauspielern, sich nicht verstecken und so tun als sei er vermeintlich normal. Er wollte Miriam nicht länger weh tun. Er wollte morgens neben mir aufwachen und in der Öffentlichkeit zu mir gehören. Und er wollte endlich einmal er selbst sein. „Ich habe mich vor langer Zeit verloren. Jetzt möchte ich mich endlich wieder finden.“ Das waren die Worte, welche es mir, als er endlich schwieg, unmöglich machten, ihm zu widersprechen. Denn ich sah mit einem Mal die Trauer in seinen Augen. Die Furcht, Angst, die Abscheu und das Kind. Ich sah den scheuen Jungen, der er war, irgendwo gar nicht so tief in ihm drin. Der Junge hatte nie erwachsen werden dürfen, da sonst alles anders verlaufen wäre. Und genau so anders sollte es nun weitergehen. Er wollte es; es war keine leichtfertige Entscheidung, sondern ein Entschluss, der ihn heilen würde. Davon war er überzeugt und dieses intensive Gefühl, welches in seinen Augen loderte, ließ es mir nicht zu, ihm dieses Mal zu widersprechen. Es war nicht an mir, ihm die nächste Bürde aufzuzwingen. Zum ersten Mal sollte er wirklich das machen, was er für sich selbst als das beste ansah. Das sagte ich ihm und ich nahm ihn in den Arm. Ich küsste ihn und lächelte und versprach ihm dann, dass ich ihn bei allem unterstützen würde. „Anschließend sagte er es Miriam?“ „Richtig. Wir sprachen noch lange darüber. Er hatte alles bereits durchdacht, auch die Tatsache, wie sehr er sie verletzen würde. Das schmerzte ihn am meisten.“ „Und was war mit Ihnen?“ „Was meinen Sie?“ „Sie waren doch mit Miriam befreundet. Wie war das von Anfang an eigentlich möglich gewesen?“ „Das ist schwer zu sagen. Als ich vor kurzem mit ihr geredet habe, hat sie mich gefragt, ob es Berechnung gewesen ist. Wollte ich mich mit ihr anfreunden, um besser an ihn heranzukommen?“ „Und? War das der Fall?“ „Ehrlich gesagt, ich würde lügen, wenn ich nein sagen würde. Denn ich kann nicht mehr genau sagen, was ich damals, als ich die beiden kennenlernte, gedacht habe. Natürlich war sie mir sofort ein kleiner Dorn im Auge, doch das änderte nichts daran, dass sie ein wundervoller Mensch ist und man sie eigentlich gern haben muss.“ „Und das hatten sie?“ „Ja. Ob man es glaubt oder nicht, ich habe Miriam richtig ins Herz geschlossen. Auf gewisse Weise war sie mir wirklich eine Freundin, weshalb mir der Gedanke weh tat, dass ihr Mann nicht ehrlich zu ihr war und sie betrog…“ „Mit Ihnen, um genau zu sein.“ „Richtig. Und ich hatte Schuldgefühle deswegen… Doch sie wogen nicht schwer genug.“ Das Outing selbst ist ein Schritt, auf den man sich zwar vorbereiten, der aber letztendlich nie geplant sein kann. Man kann Szenarien durchgehen, sich Reaktionen ausmalen und Antworten bereit legen, doch es wird am Ende immer völlig anders verlaufen. Man kann sich nie so gut darauf vorbereiten, dass es vollkommen glatt verläuft, nach einem vorgefertigten Plan. Ich selbst habe mich vor Jahren bei meiner Familie geoutet. Der Auslöser dafür war, dass mich mein Freund gefragt hatte, ob ich ihn heiraten wollte. Zuvor war es mir immer unwichtig erschienen, meine Homosexualität vor meinen Eltern zu thematisieren und ihnen damit Kopfschmerzen zu bereiten, doch mit einem schmalen Silberring am Finger war es schwer, weiterhin den Hetero zu geben. Denn ich wollte den Ring nicht mehr abnehmen und musste ihn somit auch erklären; und meine Eltern wollten „sie“ so gerne kennenlernen. Dass die vermeintliche Verlobte letztendlich ein Mann war, brachte zunächst einen riesigen Familienstreit in Gang. Fast ein halbes Jahr lang sprach mein Vater kein Wort mit mir. Bis heute weiß ich nicht, ob er es vollends akzeptiert hat, doch irgendwie kam es, mit Hilfe meiner Mutter, doch noch zu einer Versöhnung. Und dann, kein halbes Jahr später, trennte sich mein Freund von mir. Er habe einen anderen gefunden, bei dem er erst gemerkt habe, was wirkliche Liebe sei; mit den Worten ließ er mich sitzen. Wie man sich vorstellen kann, war ich am Boden zerstört, doch vor allem war ich froh, dass die Sache meinen Arbeitsplatz und den größten Teil meines Freundeskreises noch nicht erreicht hatte. Anders war es nun, nach diesem öffentlichen Outing von einem der bekanntesten Fußballer des Landes. Schnell wurde die Frage nach dem Partner laut und somit wurde auch meine sexuelle Existenz an die Öffentlichkeit getragen. Natürlich hatten wir darüber gesprochen. Hätte ich es gewollt, hätte er sich als Single ausgegeben, doch ich hatte nicht einen Moment lang in diese Richtung gedacht. Wenn er diesen Schritt gehen wollte, dann würde ich an seiner Seite stehen. Wenn er bereit war, seine Karriere zu opfern, dann konnte ich das erst recht. „Bereuen Sie diese Entscheidung?“ „Nein.“ „Aber seither können Sie Ihren Beruf nicht mehr ausüben.“ „Das stimmt so nicht ganz. Ich bin noch immer Physiotherapeut für Fußballer, nur mittlerweile für weitaus kleinere, fast unbekannte Vereine. Aber das ist egal, ich liebe meinen Job.“ „Vereine für schwule?“ „Einer, ja. Der andere nicht.“ „Und die Spieler können damit umgehen?“ „Die meisten ja. Zunächst rede ich ausführlich mit ihnen darüber und für viele ist es in Ordnung, wenn sie sich eingehender damit befassen. Man muss ihnen einfach die Angst nehmen, die sie denken lässt, dass man auf jeden Mann scharf ist.“ „Das ist ein weitverbreitetes Klischee.“ „Richtig.“ „Glauben Sie daran, dass es sich irgendwann ändern wird?“ „Irgendwann vielleicht, doch nicht in naher Zukunft.“ „Auch nach dem Outing nicht?“ „Nein, leider nicht. Bisher hat sich kaum etwas geändert.“ Die Erwartungen, die man selbst an ein Outing stellt, sind hoch. Man glaubt, dass sich danach alles grundlegend ändert, nicht nur für einen selbst sondern auch für seine Umwelt. In gewisser Weise trifft dies natürlich zu, doch es gibt dennoch viel zu viele Dinge, die unverändert bleiben. Dazu zählen Klischees, Vorurteile und leider Tabuthemen. Ich weiß, dass er nicht vor hatte, die Welt zu verändern. Er ist ein realistischer Mensch und weiß, dass sich die Einstellung einer großen Menschengruppe nicht durch einen so kleinen Windhauch ändern wird, aber ich glaube, dass er sich dennoch ein wenig mehr erhofft hat. Zwar hat er nie erwartet, weiterhin in den großen Vereinen mitspielen zu können, doch dass die professionelle Fußballwelt fortan einen ausgesprochen riesigen Bogen um ihn machen würde, damit hat er wohl auch nicht gerechnet oder nicht rechnen wollen. Doch tatsächlich ist es so, dass auch jetzt noch, nachdem er bewiesen hat, dass auch schwule Männer richtig gute Fußballer sein können, das Klischeedenken der Welt unverändert ist. Natürlich muss jeder erkennen, dass er trotz seiner Homosexualität ein überragender Spieler ist, doch sehen ihn die meisten Menschen damit als Ausnahme an. Oder sie versuchen, einfach nicht darüber nachzudenken, streichen seine Existenz vielleicht vollkommen aus ihrem Verstand. Denn sie wollen ihr Weltbild, mit dem sie aufgewachsen sein, auf diese Weise nicht zerstören. Was das angeht, können Menschen wirklich grausam sein. Auch die Fans. Natürlich gibt es auch hier positive Stimmen, sehr viele sogar, doch letztendlich überwiegt eine einzelne negative Stimme zehn positive bei weitem. Zumindest für ihn. Es macht mich traurig, das zu sehen, denn ehrlich gesagt habe ich angenommen, dass ihm die Ablehnung weniger ausmachen würde. Ich dachte, er habe sich mittlerweile eine harte Schale aufgebaut und würde es schaffen, drüber zu stehen. Auch er dachte das, doch wir mussten gemeinsam erkennen, dass dem nicht so ist. Anders als ich hat er nie gelernt, auf Durchzug zu schalten, wenn jemand über seine Sexualität auf gemeinste Art und Weise herzieht. Böse Aussagen treffen ihn direkt ins Herz und er nimmt viel zu vieles ernst. Auch Scherze mag er nicht gerne, wenn sie selbst nur entfernt etwas mit ihm zu tun haben, und am Anfang hat er oft weggeschaltet, wenn im Fernsehen oder Radio etwas über ihn berichtet wurde. Auch die Zeitung wurde lange nur sporadisch gelesen. Das wird besser, doch noch ist es schwer für ihn, mit dem Thema umzugehen; viel schwerer, als er vermutet hatte. Die Ablehnung der Welt tut ihm weh, immer wieder, jeden Tag. „Also bereut er es?“ „Das ist immer unterschiedlich. Manchmal bereut er es wirklich. Dann sitzt er einfach stundenlang da und starrt vor sich hin; dann geht es ihm schlecht damit und er vermisst den Sport… an solchen Tagen streiten wir uns häufig. Einmal haben wir uns anschließend über eine Woche lang weder gehört noch gesehen…“ „Also leidet ihre Beziehung darunter?“ „Natürlich. Aber bisher haben wir uns immer wieder zusammengerauft. Denn wir lieben uns und wenn man zusammen sein will, muss man dies auch in schlechten Zeiten sein. Außerdem gibt es ja auch andere Tage…“ „Gute Tage?“ „Ja. Dann ist er stolz auf sich und freut sich, er selbst sein zu können. Dann sagt er mir immer wieder, dass er es genießt, sich nicht mehr verstecken zu müssen… und dann sehe ich das Strahlen in seinen Augen, welches ich so sehr liebe...“ „Also hat das Versteckspiel aufgehört?“ „Noch nicht ganz. Wie soll es das auch, immerhin ist die Maske ein Teil seiner Persönlichkeit geworden. Dementsprechend ist es schwer, sie ganz abzulegen und frei damit umzugehen. Er hat lange gebraucht, die größten Marotten des Versteckens abzulegen.“ „Zum Beispiel?“ „Zu Anfang ist er immer sehr auf Distanz gegangen, wenn wir zusammen draußen waren. Er hat sich dann betont männlich bewegt und versucht, wie ein Macho zu sprechen, so wie er es jahrelang gemacht hat…“ „Und Sie meinen, dass ist er nicht?“ „Nein. Zwar ist es ein Teil von ihm, doch letztendlich ist es nicht sein Wesen. Denn eigentlich ist er sehr warm und herzlich. Und er sucht die Nähe von Menschen, die er mag...“ „Hat er es schon mal geschafft, in der Öffentlichkeit Ihre Hand zu nehmen?“ „Nein. Aber ich warte auch nicht darauf. Ich bin mir sicher, dass es irgendwann kommen wird, doch bis dahin wird noch eine lange Zeit vergehen. Erst einmal muss er zu sich selbst finden.“ „Hat er das noch nicht?“ „Er ist auf dem Weg dahin. Mit jedem Tag kommt er dem ein ganzes Stück näher…“ „Also ist er bereits ein anderer Mensch geworden?“ „Ein anderer nicht, aber während vieles um ihn herum gleich ignorant geblieben ist, hat er sich tatsächlich verändert.“ „Können Sie die Veränderung in Worte fassen?“ „Nur sehr schwer… aber vielleicht geht es auch anhand eines kleinen Beispiels: vor knapp einem Monat habe ich endlich Sophie kennengelernt und nächste Woche möchte er mich seinen Eltern vorstellen.“ Kapitel 10.03 - ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)