Verstecktes Leben im Abseits von Stiffy (Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball) ================================================================================ <01> .... Bereit zum Anstoß --------------------------- ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Genre: Shounen Ai / Yaoi Fandom: Original / Eigene Serie Kapitel: 1-15 Disclaimer: Die Charaktere, die Idee, die Handlung und alles Sonstige gehört mir ^__^ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Kommentar: Schuld ist, wie man sich denken kann, die WM. Sie hat mich auf dieses Tabuthema gebracht und ich hatte seit langer, langer Zeit mal wieder richtig Lust, eine Geschichte zu Papier zu bringen! Der Erzählstil mag dabei ein wenig anders sein, als man es von mir gewohnt ist, aber ich hoffe, dass die Geschichte euch dennoch gefällt. Vor allem geht es mir aber darum, zum Nachdenken anzuregen. Wie kann es sein, dass es keine Schwulen im Fußball geben darf? Wie kann man den Menschen ihr Leben so zerstören? In dieser Geschichte habe ich mich mit einem fiktiven Einzelschicksal beschäftigt, mit seinem Weg vom kickenden Grundschüler zum Profifußballer und seinen Gefühlen, die er nicht haben darf.... Vorweg möchte mich für eventuelle Ablauffehler im Karriereleben eines Fußballprofis entschuldigen. Da ich selbst keinen kenne und mich abseits der WM nicht sooo viel mit Fußball befasse, kann es sein, dass ich spezielle Wege oder Trainingsprogramme einfach nicht kenne. Ich bitte, das zu entschuldigen :) Viel Spaß beim Lesen! ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ VERSTECKTES LEBEN IM ABSEITS Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball Kapitel 1 – Bereit zum Anstoß „Ich habe mich sehr lange dagegen gewehrt, schwul zu sein…“ „Wann haben Sie es herausgefunden?“ „Für so was gibt es keinen genauen Zeitpunkt… irgendwann weiß man es einfach.“ „Und Sie haben es verdrängt?“ „Ja, sehr lange sogar.“ „Weshalb?“ „Das hatte viele Gründe, aber letztendlich wohl vor allem wegen meines Traums…“ „Weil Sie Profispieler werden wollten?“ „Genau.“ „Was hat Ihre Meinung geändert?“ „Das Leben… das Versteckspielen… Sie können sich nicht vorstellen, wie anstrengend es ist…“ „Wahrscheinlich nicht. Erzählen Sie mir davon?“ „Deshalb bin ich hier.“ Mein Leben begann ohne den geringsten Gedanken an Probleme. In der Vorschule und im Kindergarten war ich ein ganz gewöhnlicher Junge. Es gab in meinem Leben keine Besonderheiten. Mein Vater arbeitete als Büroangestellter bei der Stadt, meine Mutter war Verkäuferin. Die beiden waren sechs Jahre lang glücklich verheiratet gewesen, als sie mich, ihr Wunschkind, bekommen hatten, und auch in all den darauf folgenden Jahren dachten sie nicht eine Sekunde lang an Trennung. Als ich drei war, kam meine Schwester Sophie auf die Welt. Wir waren zwei ganz typische Geschwister, zankten und ärgerten uns, liebten und verziehen uns. Im Kindergarten hatte ich viele Hobbys. Ich spielte gerne mit Bällen, liebte Schaukeln und Rutschen und ich malte gerne. Dass ich irgendwo außergewöhnlich gut werden würde, hätte man damals wohl nie erwartet, ich natürlich am allerwenigsten, denn welches Kind denkt schon so weit? Als ich in die Grundschule kam, änderte sich das jedoch etwas. Der erste Grundstein dazu wurde durch die Wahl meines Nachmittagskurses gelegt. Zwölf Kurse standen zur Auswahl, ich entschied mich für Fußball, wie noch ein halbes Dutzend anderer Jungen. Zusammen mit denen aus den höheren Klassen waren wir genau zweiundzwanzig Mitglieder, natürlich alles Jungs, denn hier handelte es sich ja immerhin um einen Männersport. Im ersten Schuljahr hatte ich einfach nur meinen Spaß an dem Sport. Der Kurs fand dreimal in der Woche statt, ging immer zwei Stunden. Ich kickte den Ball liebend gern, ich war flink, wendig und ich schoss die meisten Tore. Dass das irgendwie besonders sein könnte, darüber dachte ich nicht nach – es war doch nur ein Hobby. Vielleicht hätte ich es auch auf ewig nur als solches betrieben, wäre nicht der Sportlehrer auf mich aufmerksam geworden. Das mag daran liegen, dass er schon seit seiner frühesten Kindheit Fußballfan gewesen war und insgeheim davon geträumt hatte, mal einen Star zu entdecken. Natürlich, er war sicher nicht der einzige Mann oder Lehrer mit diesem Traum, doch er war einer der wenigen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren beziehungsweise an der richtigen Schule unterrichteten. Ohne dass ich etwas davon mitbekam, führte er mehrere Gespräche mit meinen Eltern. Ich realisierte auch nicht, dass ich systematisch jede Position in der Mannschaft einmal einnahm, bis sich herausstellte, dass ich als Linksstürmer wohl das meiste Potential aufwies. Ab sofort spielte ich nur noch auf dieser Position, und der Lehrer konzentrierte sich mehr auf mich als auf die anderen Jungs. Selbst das merkte ich nicht wirklich, denn ich war ja noch ein kleiner Junge, mittlerweile in der zweiten Klasse. Ich dachte noch nicht im Traum daran, dass ich hier gerade um mein ganzes weiteres Leben spielte – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hatte andere Sachen im Kopf als meine Zukunftsplanung. Vielleicht ein wenig frühreif, redeten die anderen Jungen viel über Mädchen. Das ging vor allem von den Viertklässlern aus, wir Jüngeren machten einfach mit, weil wir dachten, dadurch cool zu wirken. Einer der Jungs sagte mal zu mir, ich habe das Glück, nicht hässlich zu sein. Das fanden wohl auch die Mädchen, und so hatte ich meine erste Freundin mit acht. Wir waren drei Monate zusammen – eine Ewigkeit – und probierten das Küssen nicht einmal aus. Unsere Beziehung, wie ich sie ganz stolz vor meinen Eltern und Freunden nannte, gründete sich auf ein bisschen Händchenhalten und dadurch, dass sie ab und an beim Fußballkurs zuschaute und mich anfeuerte. Wir gingen ein Stück des Heimwegs zusammen, waren allerdings nie beim anderen zuhause. Dann sagte sie mir irgendwann, dass ich langweilig sei und sie Phil ja viel lieber mochte. Phil war drei Klassen über uns und im Werkkurs. Fortan sah man sie nie wieder beim Fußball und ich konnte meine erste Trennung verzeichnen. Ich verkraftete sie schnell. Drei Wochen später kam das nächste Mädchen, eine Erstklässlerin mit dem Namen Marie. Sie war im Handballkurs der Mädchen und trug kurze Haare, nie Röcke und keine Lack-, sondern überwiegend Turnschuhe. Ich mochte an ihr, dass sie nicht mit Puppen spielte und nicht so blöd kicherte. Sie war lustig und cool. Ob sie hübsch war, daran kann ich mich nicht erinnern, denn darauf achtete ich nicht. Viel mehr gefiel es mir, dass ich mit ihr reden und lachen konnte. Mit Marie war ich relativ lange zusammen, was wohl daran lag, dass sie eher Kumpel war als Freundin. Wir hielten nie Händchen und auch ans Küssen dachte ich nie. Sie freundete sich mit Dennis, Mike und Flo an, meinen zu der Zeit engsten Freunden, und zusammen unternahmen wir viel, spielten Streiche oder zelteten im Garten unserer Eltern. Auch mit Sophie verstand Marie sich gut. Eigentlich war sie mehr beste Freundin als Beziehung, aber in dem Alter kennt man den Unterschied ohnehin nicht. Ich begann erst, ihn zu erkennen, weil sie eines Tages ihren ersten Kuss von mir haben wollte. Es war am Tag meiner Ausschulung, mittlerweile war ich also zehn Jahre alt. Marie war mit zu mir nach Hause gekommen und wir saßen zwischen Legosteinen am Boden, als sie plötzlich näher an mich kroch und mich fragte, ob ich schon mal ein Mädchen geküsst habe. Ich verneinte irritiert und sie wurde ganz schüchtern und rot. So kannte ich sie nicht und ich mochte es auch nicht. Außerdem wollte ich sie nicht küssen, das merkte ich, als sie sich zu mir beugte und sagte, dass sie auch noch nie einen Jungen geküsst habe, alle ihre Freundinnen aber schon. Sie wollte es mit mir ausprobieren. Ich ließ mich darauf ein, weil ich sie nicht enttäuschen wollte. Natürlich war es ein kindlicher Kuss, über den ich nicht besonders viel zu sagen weiß, außer, dass er mir damals sehr feucht vorkam. Irgendwie ekelig. Es gefiel mir nicht. Ihr zum Glück ebenso wenig, weshalb wir darüber einfach nur lachten und dann weiterspielten, als sei nichts gewesen. „Sie haben es also schon zuerst mit Mädchen versucht?“ „Naja, das ist wohl ein recht normales Verhalten, immerhin bekommt man es vorgelebt und in dem Alter denkt man darüber einfach nicht nach…“ „Aber das änderte sich?“ „Nicht so wirklich, erstmal zumindest… Obwohl ich schon etwas verwirrt von verschiedenen Gefühlen war…“ „Von welchen zum Beispiel?“ „Von dem, verliebt zu sein. Zumindest glaubte ich, dass ich es war.“ Wie wohl viele schwule Jungen habe auch ich mich zuerst in meinen besten Freund verliebt. Es war Dennis. Wir waren seit der ersten Klasse zusammen im Fußballkurs gewesen und wohnten ganz nah beieinander. Wir verbrachten die Nachmittage auch außerhalb des Kurses miteinander und kickten oft auf dem alten Sportplatz beim Park ein paar Bälle. Dennis war mit der Freundin von Marie zusammen, was ebenso harmlos ablief, bis auf ein bisschen Händchenhalten. Nicht nur meine, sondern auch seine so genannte Beziehung ging schnell in die Brüche, nachdem wir die Schule gewechselt hatten. Hier nun, in der fünften Klasse, hatten wir beide erstmal keine Augen mehr für Mädchen. Wir konzentrierten uns auf andere Sachen. Bei mir war es der Fußball. Mittlerweile hatten meine Eltern mit mir darüber geredet, dass ich außergewöhnlich talentiert sei. Bereits gegen Ende meiner Grundschulzeit hatte mein Lehrer angefangen, mich anders und intensiver zu trainieren als die anderen Jungen. Oft war ich mit ihm auch dann noch auf dem Platz geblieben, wenn alle anderen schon nach Hause gegangen waren, und er zeigte mir ein paar Tricks. Hierbei hatte sich auch herausgestellt, dass ich nicht nur als einfacher Linksstürmer sehr gut war, sondern auch noch mit beiden Füßen richtig gut schießen konnte. Bis dahin hatte ich angenommen, dass das normal sei, doch dann bemerkte ich, dass zum Beispiel Dennis nur mit dem rechten Fuß zielsicher das Tor traf. Im Frühjahr des fünften Schuljahres fragten mich meine Eltern, ob ich der Jugendmannschaft unseres städtischen Fußballvereins beitreten wollte. Natürlich sagte ich ja, denn ich hatte ja Spaß am Spielen. Auch Dennis kam in die Mannschaft, wenn auch bei ihm nicht aus der Motivation heraus, einmal ein richtig guter Spieler zu werden. Vom ersten Tag an wurde ich in der Mannschaft von vielen bewundert, selbst von einigen älteren Jungen. Ich verstand den Trubel nicht, aber natürlich gefiel es mir. Welcher Junge mag es nicht, im Mittelpunkt zu stehen? Außerdem durfte ich dadurch an fast allen Spielen gegen andere Mannschaften teilnehmen, während Dennis oft auf der Bank sitzen blieb. Ihn störte das zum Glück nicht, er freute sich sogar für mich und feuerte mich an. Anschließend auf dem Heimweg analysierten wir dann zusammen wie kleine Profis meine Spielzüge, meine Fehler und die Schwächen des Gegners. Es machte Spaß und ich genoss jeden Tag in dieser Zeit sehr. Ich genoss sie vor allem, weil Dennis immer bei mir war, und so kam irgendwann unweigerlich der Tag, an dem ich mir selbst die Frage stellte, was ich eigentlich für Gefühle ihm gegenüber hatte. Ich denke, mit zwölf verwechseln viele Kinder eine starke Freundschaft mit Liebe. Bei Marie war es ja im Grunde ähnlich gewesen, doch jetzt bei Dennis war ich mir meiner Sache irgendwie sicherer. Und natürlich erschreckte es mich, als ich das erste Mal ungewöhnliche Dinge über ihn träumte. Im Traum hatte ich seine Hand auf dem Heimweg gehalten. Nach dem Aufwachen verdrängte ich den Gedanken sofort, da ich wusste, was er bedeutete. Nur das Wort dafür kannte ich damals noch nicht, zumindest nicht in dem Zusammenhang. Den Begriff „Schwuchtel“ oder dass etwas „schwul“ sei, das kannte ich bereits aus dem Sport. Hier waren dies Schimpfworte oder wurden gesagt, um einander zu ärgern. Bereits in der zweiten Klasse hatten wir uns so was gegenseitig an den Kopf geworfen, ohne zu wissen, was genau wir da eigentlich sagten. Der Trainer brüllte diese Worte ab und an über den Platz, wenn jemand mal zu langsam war oder einen perfekten Ball vergeben hatte. Ich assoziierte es mit „Schwächling“, und die wahre Bedeutung lernte ich erst einige Zeit nach meinem ersten feuchten Traum, der sich auch um Dennis gedreht hatte. Kein Wunder also, dass ich irgendwann erschrocken annahm, mich in Dennis verliebt zu haben. Von Liebe hatte ich mittlerweile einiges gehört. Man wolle einander nah sein und nur mit der einen Person zusammen sein. Ich verglich dies mit meiner Beziehung zu Dennis, und es passte sehr gut. Natürlich, denn er war doch mein bester Freund. Dass die Punkte in gewisser Hinsicht auch auf eine einfache Freundschaft passen würden, daran dachte ich nicht, vor allem nicht, weil ich ja diesen Traum gehabt hatte, in dem er nackt gewesen war. Dabei lässt es sich ganz rational erklären, warum mein Gehirn ausgerechnet ihn für meinen ersten feuchten, schwulen Traum gewählt hatte: Dennis war derjenige, den ich öfter als alle anderen Jungen nackt sah. Nicht nur beim Duschen nach dem Sport, sondern auch oft daheim, wenn er bei mir schlief und wir uns umzogen, ohne jegliche Scheu vor dem anderen. So rational dachte ich damals freilich nicht, weshalb ich ihm erst einmal nicht mehr in die Augen schauen konnte. Ich war wirklich davon überzeugt, dass ich mich in meinen besten Freund verliebt hatte, und das war ein Gedanke, der mir Angst machte. Ich kannte zwar die genaue Bedeutung der Worte „Schwuchtel“ und „schwul“ nicht, aber ich wusste bereits, dass es nicht normal war, wenn man statt mit einem Mädchen mit einem Jungen Händchen hielt oder sich gar küsste. Zum Beispiel hatte ich irgendwann einmal beim Einkaufen mit meiner Mutter ein erwachsenes Männerpaar gesehen und sie hatte mir erklärt, dass die beiden „homosexuell“ seien und es solche Beziehungen eigentlich gar nicht geben sollte. Ich sah mich also mit etwas konfrontiert, von dem ich nicht viel wusste, außer, dass es nicht normal war. Da mir all das Angst machte, wollte ich darüber reden, doch mit wem hätte ich reden können? Es ging dabei um Dennis, also fiel er schon mal weg. Und sonst hatte ich niemanden, dem ich genug vertraute, weshalb ich mit meiner Verwirrtheit und meinen Gefühlen, die ich ganz falsch deutete, alleine blieb. Dass das, was ich für Dennis empfand, keine Liebe war, merkte ich erst ein paar Wochen später, als er mir seine erste richtige Freundin vorstellte. Ich mochte sie, freute mich gar für ihn und wollte ihr nicht den Hals umdrehen. Ich war kein bisschen eifersüchtig, oder zumindest nicht mehr als ein ganz stinknormaler Junge, weil der Freund jetzt etwas weniger Zeit hatte. Mit Erleichterung erkannte ich also, dass ich mich scheinbar geirrt hatte, und dachte somit auch, dass dieser Fluch der Homosexualität mich nicht getroffen hatte. Eine Woche später hatte ich meine erste richtige Freundin und meinen ersten Zungenkuss. „Sie sagten, sie konnten mit Begriffen wie Schwuchtel lange nichts anfangen, obwohl sie viel genutzt wurden... Ist so was denn tatsächlich so normal im Sport?“ „Viel normaler als Sie denken. Wenn man zum Beispiel auch ‚Loser’ schreien könnte, wird derjenige eher mal als Schwuchtel bezeichnet. Ein verfehlter Ball ist auch gerne mal ein ‚schwuler Ball’… und so weiter…“ „Wie erklären Sie sich das?“ „Eigentlich weiß ich keine wirkliche Erklärung dafür, doch aus irgendeinem Grund wird Schwulsein im Fußball mit Fehlern und Schwäche gleichgesetzt. Das war, glaub ich, schon immer so…“ „Meinen Sie, dass sich das irgendwann ändert?“ „Ich hoffe es.“ Kapitel 1 - ENDE <02> .... Der erste Fehlpass ---------------------------- Was „schwul“ bedeutet, fand ich mit Dreizehn heraus, als ich aus Neugierde den Begriff in eine Suchmaschine tippte und dabei auf eine Seite stieß, die sich damit befasste. Mein erster Impuls, als ich sah, dass es hier um Homosexualität ging, war, die Seite zu schließen, doch ich konnte meine Augen nicht von zwei nackten Männerkörpern lassen, welche einander umschlangen. Ihre Haut glänzte und mir wurde heiß und kalt, während ich das Bild anstarrte. Ohne zu merken, was ich tat, griff ich mir in die Hose und holte mir einen runter. Erst als mein Sperma an meiner Hand klebte, erwachte ich aus meiner Starre und sprang angeekelt auf. Fast panisch schaute ich mich nach Beobachtern um, schloss sofort die Internetseite und rannte ins Bad, um zu duschen und mich gründlicher zu waschen als je zuvor. Mein Herz raste dabei schmerzhaft und ich begriff, ohne wirklich darüber nachzudenken, dass ich etwas Verbotenes getan hatte. Ich verdrängte jeglichen Gedanken daran und schwor mir, nie wieder nach diesem Begriff im Internet zu suchen. Dieses „nie“ hielt fast genau eine Woche, dann schloss ich mich eines Abends in meinem Zimmer ein, ließ den Rollladen herunter und saß zögernd vor der Tastatur. Ich tippte die Buchstaben in der entsprechenden Reihenfolge und brauchte lange, um die Suchanfrage zu bestätigen. Bis hier hatte ich die gesamten letzten Tage immer wieder das Bild vor Augen gehabt. Es hatte mich verfolgt, mich nicht loslassen wollen, selbst wenn ich noch so versuchte, an etwas Anderes zu denken. Schließlich gab ich meiner Neugierde nach. Der erste Treffer führte zur gleichen Seite wie Tage zuvor und wieder sah ich das Bild, welches mich verfolgt hatte, sah die beiden Männer. Dieses Mal zwang ich mich, meinen Blick von ihnen zu nehmen und stattdessen den Text zu lesen, welcher daneben stand. Ich kann ihn nicht mehr wiedergeben, doch er sprach davon, dass Schwulsein etwas ganz Natürliches sei, nichts, wofür man sich schämen sollte… Heute kann ich sagen, dass ich vor mir diesen typischen Coming-out-Kram sah, denn ich war auf einer entsprechenden Seite gelandet, doch damals war mir jedes einzelne Wort davon neu. Schnell verschlang ich die wenigen Zeilen, klickte mich durch die Navigation und landete irgendwann auf eine Art Selbsttest: „Bin ich schwul?“. Ich las zwei Fragen, dann, als ich sie beide mit „Ja“ beantworten konnte, klickte ich schnell auf den Home-Button, denn mit einem Mal bekam ich Angst. Ich schob die Tastatur von mir und wollte den Rechner ausschalten, als auch dieses Mal mein Blick an den beiden Männern hängen blieb. War ich so? Aber ich war doch mit Karo zusammen. Der Gedanke half mir, den Rechner tatsächlich herunterzufahren. Dann holte ich mir das Telefon aus der Küche und rief meine Freundin an. Wir telefonierten lange und redeten dabei über Schule, Hausaufgaben, ihre Lieblingsfernsehserie, über mein Training… und als wir auflegten, ging es mir wieder besser. Nein, ich war nicht schwul. Wie gesagt, ich hatte doch eine Freundin! Man kann sich denken, dass mich das Thema nicht mehr so einfach losließ. Ich sträubte mich zwar dagegen, doch aus irgendeinem Grund dachte ich dennoch immer wieder daran. Vielleicht, weil ich nie etwas damit zu tun gehabt hatte, weil es neu war, auf komische Weise faszinierend. Tatsächlich dachte ich sogar einmal daran, mit Dennis darüber zu reden, doch ich entschied mich sofort wieder dagegen. Eigentlich wollte ich dem ganzen gar nicht so viel Wichtigkeit beimessen und es einfach schnell wieder aus meinen Gedanken verbannen, wäre da nicht dieser Sport gewesen, bei dem immer wieder entsprechende Begrifflichkeiten durch die Gegend flogen. Den Zusammenhang dabei begriff ich einfach nicht, denn was hatte unser Sport mit der Liebe zwischen zwei Männern zu tun? Abseits von dem Thema wurde ich indes zum besten Jungspieler erklärt, den dieser Verein je gehabt hatte. Ich war Anfang Dreizehn und anders als Dennis wechselte ich nun in die Mannschaft der Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen. So sehr ich mich freute, so stolz ich doch auf mich war, so traurig machte es mich auch, mich von meinem besten Freund trennen zu müssen. Doch er trug es mir nicht nach, er freute sich gar für mich und schwor mir, dass ich sicher bald das ganze große Geld machen würde. Wir lachten darüber, ohne es ernst zu nehmen. Die einzigen, die es ernst nahmen, waren die Erwachsenen. Hinter meinem Rücken liefen bereits seit einiger Zeit Gespräche mit einem größeren Verein. Es bestand durchaus Interesse, doch zunächst wollte man schauen, wie ich mich unter den Älteren machen würde, ob ich mich noch weiter steigern konnte, wie hoch mein Zukunftspotential noch war oder ob ich es bereits ausgeschöpft hatte. Im selben Jahr war wieder Fußballweltmeisterschaft. Aufgrund der Zeitverschiebung durfte ich nicht jedes Spiel anschauen, doch ich verfolgte das Turnier dennoch so detailliert es ging. Nach jedem Spiel las ich mir die Analysen und Prognosen durch, schaute mir Ausschnitte wieder und wieder an. Ich diskutierte viel mit meinen Mannschaftskameraden und mit Dennis und weil ich kaum etwas anderes im Kopf hatte, machte Karo mit mir Schluss. Eigentlich hatten wir vor einiger Zeit darüber gesprochen, ob wir nicht mal miteinander schlafen sollten. Zwar fühlten wir uns beide noch zu jung dafür, doch gleichzeitig waren wir auch neugierig auf das, wovon meine älteren Mannschaftskameraden andauernd sprachen. Karo hatte es ab und an mitbekommen, denn sie schaute mir manchmal beim Training zu und hatte dort auch mit den Freundinnen der älteren Jungs zu tun. Sex war für uns ein großes Mysterium. Wir wussten oder verstanden nicht, dass es nicht mit Fahrradfahren gleichzusetzen war, auch wenn man bei beidem einen Schutz tragen sollte. Wir dachten uns, dass man Sex doch einfach mal ausprobieren könnte. Dabei küssten wir noch nicht einmal oft. Und wenn wir es taten, ging es meist von ihr aus, denn ich verspürte nie große Lust danach. Petting – den Begriff lernten wir auch in dieser Zeit kennen – praktizierten wir ebenso wenig. Dass wir also vielleicht erst einmal die normale Reihenfolge gehen sollten, beginnend mit Spaß am Küssen haben, darüber waren wir uns nicht im Klaren. Wir wollten diese Sache einfach mal ausprobieren, von der wir hörten, sie würde das beste Gefühl der Welt vermitteln. Wie gesagt, es kam nicht dazu, denn aufgrund der WM nahm ich mir für Karo kaum noch Zeit. Sie war genervt und sauer, worauf ich nicht einging und deshalb von ihr verlassen wurde. Sie weinte dabei, doch ich konnte nichts tun, um sie aufzuhalten. Ich wusste auch nicht, was ich hätte tun sollen, denn eigentlich empfand ich es nicht als allzu schlimm, nicht mehr mit ihr zusammen zu sein. Im Gegenteil, nun hatte ich noch mehr Zeit für meinen Sport. Das einzige Problem, das mit der Trennung einherging, war mein eigenes Selbstwertgefühl. Seit diesem einen Abend war ich nicht mehr im Internet auf der Suche nach Homosexualität gewesen, weil ich mir selbst versichert hatte, dass ich damit nichts zu tun hatte. Ich hatte ja eine Freundin gehabt. Doch als ich diese nicht mehr hatte, galt die Ausrede nicht mehr und irgendwie kamen die Gedanken wieder, die Neugierde, die eigentlich schon die ganze Zeit da gewesen war, die ich aber unterdrückt hatte. Wenn die Jungen aus meiner Mannschaft, wie gesagt, alle zwischen fünfzehn und achtzehn, nun über Sex sprachen, musste ich unweigerlich daran denken, was ich an diesem einen Tag auf der Internetseite gelesen hatte. Es war nicht viel gewesen, aber nun verstand ich, was damit gemeint gewesen war: auch zwei Jungen konnten Sex miteinander haben. Unweigerlich musste ich mich davor zurück halten, zu starke Neugierde in diese Richtung zu entwickeln, wenn ich abends in meinem Bett lag. Stattdessen brütete ich über Mannschaftsplänen der WM, Analysen der Spiele und einem Sammelstickeralbum, welches ich fast vervollständigt hatte. Dabei fiel mir nicht auf, wie ich mir unterbewusst aus jeder Mannschaft den Hübschesten heraussuchte und ich realisierte auch nicht, dass drei davon überdurchschnittlich oft in meinen Träumen vorkamen. Im Grunde ignorierte ich die kleine Stimme in meinem Kopf, die einfach nicht weggehen wollte. „Aber irgendwann müssen Sie es doch bemerkt haben.“ „Natürlich. Aber ich habe es einfach nicht wahrhaben wollen.“ „Warum nicht?“ „Ich weiß nicht… Man mag meinen, uns wurde schon früh eingetrichtert, man dürfte nicht schwul sein, aber eigentlich stimmt das gar nicht. Das Thema kommt einfach gar nicht auf den Tisch und dadurch, dass immer nur von Frau und Mann die Rede ist, und davon, wie männlich unser Sport doch sei, bekommt man es gleichzeitig unterbewusst vermittelt…“ „Verstehe.“ „Außerdem… ob nun Fußballer oder nicht, erstmal sträubt sich wahrscheinlich jeder Junge dagegen, schwul zu sein… weil man dann anders ist, auf eine Weise, die man nicht kennt, weil man normalerweise nicht damit in Berührung kommt…“ „Hätten Sie nicht mit Ihren Eltern darüber reden können?“ „Auf keinen Fall.“ Mein Vater war ein netter, beliebter Mann. Er hatte viele Bekannte, eine Menge Kontakte in unserer Gemeinde und eine unheimlich gute Beziehung zu meinem Trainer. Gemeinsam brüteten sie darüber, wie sie mich zu einem Profifußballer machen könnten, sie entwarfen neue Trainingspläne für mich und führten das ein oder andere wichtige Gespräch. Oft schaute mein Vater, wenn es seine Arbeit zuließ, beim Training zu und als ich die Bedeutung entsprechender Worte erst einmal gelernt hatte, bemerkte ich auch, dass er sie fast häufiger nutzte als der Trainer selbst. Er wand sie allerdings nie gegen mich an, weil ich wohl sein Sohn war und er keinen Fluch über mich legen wollte. Dafür bezeichnete er viele unserer Spielzüge als „schwul“ und als Felix sich mitten im Spiel den Knöchel brach und anfing, lauthals vor Schmerzen zu heulen, meinte mein Vater kühl, dass er sich nicht wie eine „Tunte“ benehmen sollte. Auch das Wort kannte ich mittlerweile und entsprechende Äußerungen brannten in mir mehr als ich mir eingestehen wollte. Meine Mutter kam fast nie zum Training, nur ab und an schaute sie bei einem Freundschaftsspiel zu. Sie äußerte sich nie mit derartigen Ausdrücken, doch ich begriff schnell, dass dies auch eher den Männern vorbehalten war. Allerdings störte sie sich auch nicht weiter daran, wenn mein Vater mit den Begriffen um sich warf. Ich wollte nicht darüber nachdenken, warum mir das Ganze so nah ging oder weshalb es mir jedes Mal einen Stich versetzte, wenn die entsprechenden Worte als Schimpfworte verwendet wurden. Ich verdrängte das flaue Gefühl in meinem Magen und das Hämmern in meinem Kopf. Das funktionierte auch ganz gut, zumindest so lange ich Ablenkung hatte. Doch natürlich war die WM irgendwann vorbei und ich verlor nicht nur diesen Zeitvertreib, sondern hatte zudem auch keine Freundin mehr, mit der ich mich beschäftigen oder treffen konnte. Dennis hingegen hatte eine Freundin, weshalb ich auch nicht immer auf ihn zurückgreifen konnte, und auf meine anderen Freunde hatte ich einfach oftmals keine Lust. So kam es, dass ich immer öfter alleine war und einfach nichts mit mir anzufangen wusste. Ab und an schnappte ich mir dann den Ball und kickte noch ein bisschen draußen herum, doch dies war viel weniger Ablenkung als viel mehr ein Zeitvertreib, bei dem eine menge Zeit zum Nachdenken blieb. Und dann kam eines Abends dieser Bericht im Fernsehen, der meine Neugierde vollständig für sich ergriff. Es war ein Abend wie jeder andere. Ich kam vom Sport heim und noch war keiner Zuhause. Meine Mutter musste heute länger arbeiten, mein Vater traf sich noch mit einem Kollegen und Sophie schlief bereits seit einer Woche jede Nacht bei ihrer besten Freundin. Also pflanzte ich mich wie so oft vor dem Fernseher und schaltete durch die Programme. Erst schaute ich die letzten Minuten irgendeiner Soap, dann die ersten eines Spielfilms. Hier kam bald Werbung und ich schaltete weiter. Hängen blieb ich drei Sender weiter an einer Dokumentation. Das erste, was ich sah, waren zwei Männer, die zusammen auf einem Sofa saßen und ein Interview gaben. Es wäre nichts weiter dabei gewesen, hätte der eine Mann nicht seine Hand auf dem Oberschenkel des anderen gehabt. Außerdem war der Abstand zwischen den beiden förmlich nicht vorhanden. In der ersten Sekunde wollte ich weiter schalten, weil mich erschreckte, was ich sah und weil ich sofort Herzklopfen bekam, doch der Tierfilm im nächsten Programm reizte mich verständlicherweise überhaupt nicht und ich schaltete sofort wieder zurück. I ch schluckte schwer, meine Hand klammerte sich um die Fernbedienung und mit den Augen hing ich an der Hand auf dem Bein. Ich hörte erst einmal gar nicht, worum es eigentlich ging, denn das Schlagen meines Herzens schien jeden Ton zu überbieten. Dann wechselte die Szene. Man sah eine Einkaufspassage und die beiden Männer, wie sie hindurch liefen. Sie berührten sich dabei nicht, doch irgendwas war besonders daran, wie sie liefen, aussahen, zueinander gehörten… Langsam begannen dann auch meine Ohren, aufmerksam zu werden, und ich hörte gebannt der Stimme des Berichterstatters zu. Und natürlich, es ging um Homosexualität, darum, wie das Thema in der Gesellschaft mittlerweile gehandhabt wurde, ums Coming-Out. Bei dem einen Mann handelte es sich um einen Frisör, der selbst im Interview lachend gestand, wie klischeehaft sein Beruf sei. Sein Partner war gelernter Elektrofachmann und erzählte davon, wie er sich vor einem halben Jahr geoutet hatte. Ich hing an seinen Lippen, besonders als er die Frage gestellt bekam, wie er denn bemerkt habe, schwul zu sein. Die Antwort auf diese Frage erfuhr ich nie, denn ehe er antworten konnte, wobei er lächelnd seinen Partner anblickte, wurde mir die Fernbedienung entrissen. Dann wurde der Bildschirm schwarz und in der nächsten Sekunde begann mein Vater, mich anzuschreien. Ich hielt mir die Ohren zu und war total erschüttert. Ich kann nicht mehr wirklich wiedergeben, was er damals geschrien hat. Es waren eine menge abfällige Bemerkungen, bei denen er immer wieder auf den schwarzen Bildschirm zeigte und den Kopf schüttelte. „Verstehst du?“, zischte er dann und packte mich bei den Schultern. „So was ist dreckig, verstanden? Dreckig!“ Ich nickte und bemerkte nicht, dass ich angefangen hatte, zu weinen. Das realisierte ich erst, als mein Vater mich von sich stieß, mir ein Päckchen Taschentücher in die Hand drückte und meinte, ich solle bloß aufhören zu heulen, immerhin sei ich nicht so eine Schwuchtel wie die. Vielleicht war es jener Moment, in dem mein Herz auf Jahre seine Wärme verlor. „Wie alt waren Sie damals?“ „Noch dreizehn.“ „Und da haben sie gemerkt, dass Sie schwul sind?“ „Das kann nicht mal direkt so sagen… Zwar lag ich die Nacht wach, da mir irgendwie innerlich bewusst geworden war, dass ich irgendwo in mir wie diese Männer im Fernsehen tickte, doch ich suchte immer wieder nach Gründen, die dagegen sprachen…“ „Sie gestanden es sich also nicht ein?“ „Nein. Ich verbat es mir. Ich verschloss den Gedanken in mir. Ich entschied, dass ich nicht so sein würde… gleich morgen würde ich mir wieder eine Freundin suchen.“ „Und das taten Sie?“ „Ja.“ Kapitel 2 - ENDE <03> .... Betrug durch Schwalbe ------------------------------- Natalie war die Schwester von Kevin, einem siebzehnjährigen Verteidiger aus meiner Mannschaft. Sie war ein Jahr älter als ich und schaute oft beim Training zu. Das lag, wie Kevin irgendwann zu mir meinte, nicht zuletzt an mir. Sie mochte mich, fand mich süß, war aber viel zu schüchtern, etwas zu tun. Ich fand Natalie auch hübsch und niedlich, allerdings hatte ich bisher nicht ernster darüber nachgedacht, weil ich mir eigentlich sicher war, ich müsste schon irgendwelche Gefühle für sie entwickeln, wenn wir ein Paar werden sollten. Nachdem ich nun aber die halbe Nacht wach gelegen hatte, gequält von dem Gedanken, wohlmöglich tatsächlich eine schwächliche Schwuchtel zu sein, waren mir fehlende Gefühle egal. Frisch geduscht ging ich nach dem Training zu ihr. Sie lächelte schüchtern und man sah ihr an, wie überrascht sie war, mehr noch, als ich sie zum Eisessen einlud. Natürlich sagte sie zu und als wir zusammen weggingen, zwinkerte Kevin mir grinsend zu. Ich fühlte mich irgendwo in mir drin falsch und schlecht, aber das verdrängte ich. Beim Eisessen redeten wir eigentlich die ganze Zeit über Fußball. Natalie sagte mir immer wieder, wie gut ich sei, und ich erzählte ihr, dass ich vielleicht nach den Sommerferien die Mannschaft wechseln würde, um bei einem größeren Verein zu trainieren. Das alles war noch nicht in trockenen Tüchern, aber so gut wie, denn die Trainer waren ganz scharf auf mich. Ich hatte mein beidseitiges Spiel nahezu perfektioniert und war zu einem torgefährlichen Linksstürmer geworden. Man versprach sich sehr viel von mir. Ob das gerechtfertigt war oder nicht, konnte ich nicht einschätzen, aber natürlich gefiel mir der Gedanke, weiter voran zu kommen. Mittlerweile malte ich mir aus, was werden würde, wenn ich vielleicht wirklich ganz groß raus käme. Vielleicht würde ich irgendwann ins Ausland gehen oder gar für unser Land spielen. Mir gefielen diese Ideen sehr, doch natürlich glaubte ich nicht daran, dass sie jemals wahr werden könnten. Und selbst wenn nicht, ich liebte diesen Sport; solange ich ihn betreiben konnte, war ich glücklich. An jenem Abend nach dem Eisessen brachte ich Natalie ganz gentlemanlike nach Hause. Ich hatte Hintergedanken dabei, immerhin wollte ich sie möglichst schnell zu meiner Freundin machen. Also küsste ich sie am Gartentor und zu meiner Erleichterung erwiderte sie es sofort. Als ich mich anschließend mit einer frischen Verabredung für den nächsten Tag auf den Heimweg machte, verspürte ich tiefe Erleichterung in mir. Wie war das noch mal? Ich hatte eine Freundin, ich konnte also gar nicht schwul sein! Natalie und Dennis’ Freundin Wiebke verstanden sich prächtig. Sie hatten schon öfter beim Training miteinander gesprochen und nun, da wir sozusagen ein Vierergespann bildeten, machten wir sehr oft etwas zusammen. Das gefiel mir gut, da ich auf diese Weise wieder etwas mehr mit Dennis unternehmen konnte. Außerdem musste ich mich so nicht so stark um meine Freundin kümmern, da Wiebke sie beschäftigte. Die beiden wurden richtig enge Freundinnen, was mir spätestens da klar war, als Natalie eines Abends mit mir im Bett lag und mir ins Ohr flüsterte, dass sie gerne mit mir schlafen würde. Ich war überrascht und fragte sie, wie sie plötzlich dazu käme. Auf diese Weise erfuhr ich, dass mein bester Freund seine erste sexuelle Erfahrung mittlerweile gemacht hatte. Dies störte mich um eine Vielfaches mehr als es mir gefiel, dass Natalie ihre erste Erfahrung mit mir machen wollte, weshalb es an diesem Abend auch zu nichts weiter kam als zum Küssen. Am nächsten Tag sprach ich Dennis auch sofort darauf an. Er wurde rot und grinste, ein bisschen merkte man ihm auch den Stolz an. Er war gerade vierzehn geworden und konnte nun von sich behaupten, ein Stück erwachsener zu sein. Leider mussten wir schnell zurück in den Unterricht, weshalb er nicht wirklich was erzählte, doch dafür verabredeten wir uns für diesen Freitagabend. Wir wollten mal wieder in unserem Garten zelten und er versprach mir mit einem feixenden Zwinkern, dass er mir dann alles erzählen würde. Ich konnte es kaum erwarten, obwohl mir irgendwie unwohl war bei dem Gedanken. An dem Tag konnte ich mich nicht so gut auf das Training konzentrieren. Irgendwas störte mich an dem Gedanken, dass Dennis mit Wiebke geschlafen hatte, und ich konnte nicht sagen, was es war. Vielleicht war es Neid, dass er nun mehr Erfahrungen hatte als ich, und eine Sekunde dachte ich sogar daran, dass ich ja mal geglaubt hatte, in Dennis verliebt zu sein. Diesen Gedanken verdrängte ich jedoch sofort wieder. Trotzdem verschoss ich eine der besten Torchancen des Spiels. Nach dem Spiel küsste ich Natalie innig und versprach ihr, sie am Samstagnachmittag nach dem Training mit zu mir zu nehmen. Sie freute sich, zwinkerte mir zu und küsste mich noch fester. Es war klar, was sie wollte. Aber wollte ich es eigentlich auch? Der Abend mit Dennis begann zunächst wie viele andere zuvor. Wir bauten das Zelt auf, richteten es uns ein und spielten darin ein bisschen. Erst als es dunkel und das Zelt nur noch durch eine Taschenlampe erhellt wurde, begannen wir mit dem brisanten Thema. Dennis erzählte, wie es überhaupt dazu gekommen war. Sie hatten es nicht geplant gehabt, es war einfach so passiert. Das größte Problem war das Kondom gewesen, Wiebke hatte das erste sofort mit ihren Fingernägeln zerrissen und überhaupt war es für die beiden schwer gewesen, es über sein steifes Glied zu ziehen. Dann ging es um das Eindringen in sie. Es hatte ihr wehgetan und sie hatte auch leicht geblutet, weshalb sie die Sache nicht bis zum Ende brachten. Sie machten ein bisschen Petting und befriedigten sich so gegenseitig, allerdings mit dem Versprechen, es bald noch mal zu versuchen. Das war dann vor einer Woche gewesen, wieder bei ihm Zuhause, während seine Eltern bei Freunden waren und nicht wussten, dass ihr Sohn noch Besuch bekommen würde. Dieses Mal funktionierte alles und sie schliefen somit zum ersten Mal richtig miteinander. Dennis erzählte dies mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und hochroten Wangen. Er war stolz und verliebt, das sah man ihm an, und er war erregt, alleine durch die Vorstellung an den Sex mit seiner Freundin. Ich sah die Beule durch den Schlafsack und musste schlucken. Auch ich spürte Hitze in meinem Unterkörper, was aber viel mehr durch die Schilderung seines Gliedes und des Überziehens des Kondoms gekommen war, als durch die Beschreibung des eigentlichen Sexualaktes oder gar den Gedanken, dies mit meiner eigenen Freundin zu tun. Nun seine Erregung indirekt zu sehen, machte mich noch viel stärker an, auch wenn ich mir das eigentlich nicht eingestehen wollte. Doch ich konnte es nicht ignorieren und fragte ihn, ob er geil sei. Er senkte eine Sekunde lang den Blick und gab es dann zu, sagte, dass Wiebke nackt so toll aussähe und er am liebsten sofort wieder mit ihr schlafen würde. Auch meinte er, es sei das beste Gefühl, das man haben könnte. Noch immer konnte ich mir das nicht so ganz vorstellen, doch ich versuchte, ihm genau das vorzuspielen und sagte ihm, dass Natalie und ich es auch bald ausprobieren wollten. Ich habe Angst davor, dass das mit dem Kondom auch bei uns nicht klappen würde und das wäre doch peinlich, zumal sie älter war als wir alle… und dann fragte ich ihn ganz direkt, ob er mir nicht zeigen könnte, wie das funktionierte. In der ersten Sekunde zögerte Dennis, doch dann sah er, dass auch ich bereits unter dem Schlafsack einen Steifen bekommen hatte. Natürlich, mich erregte der Gedanke ungeheuerlich, sein Glied zu sehen. Doch das wusste er nicht und so stimmte er schließlich zu, kroch zu seinem Rucksack und holte ein Päckchen Kondome hervor. Er habe sie immer dabei, meinte er, weil er Angst hatte, dass seine Mutter sie sonst Zuhause finden könnte. Mir war das egal, denn mittlerweile klopfte mir mein Herz bis zum Hals. Dennis drückte mir ein Kondom in die Hand und nahm sich selbst eines, dann zog er ganz selbstverständlich den Schlafsack zurück und entledigte sich seiner Boxershorts. Ich hatte ihn schon so oft nackt gesehen, es war eigentlich nichts Besonderes mehr, doch als sich sein Schwanz erregt vor mir reckte, stockte mir der Atem. Dennis zog auch meinen Schlafsack zurück und ich zog mich aus. Mir war es merklich peinlicher als ihm, denn er machte weiter, als sei es das natürlichste der Welt. Er öffnete sein kleines Päckchen und dann zeigte er mir, wie es ging, rollte leicht und geschmeidig das Latex über seinen erigierten Penis und ich spürte, wie mir immer heißer wurde. Gezwungen davon, weiter mitzuspielen, packte ich mein eigenes Kondom aus und setzte es an. Meine Finger zitterten dabei und ich bekam es nicht hin, als plötzlich seine Hand vorfuhr und seine Finger mir halfen. Ich stöhnte, ohne es zu wollen. Dennis hielt sofort inne und wir sahen uns erschrocken an. Er wollte seine Finger zurückziehen, doch ich hielt sie fest. Und dann nahm ich noch mehr Mut zusammen, streckte meine Hand aus und berührte ihn seinerseits. Zuerst zog ich das Kondom herunter, dann begann ich, ihn zu streicheln. Er tat es mir fast sofort gleich und wir sankten gegeneinander, so dass mein Kopf auf seiner Schulter ruhte. Hier stöhnte er mir ins Ohr und das erregte mich nur noch mehr. Es dauerte nicht lange, bis ich abspritzte und er tat es nur Sekunden nach mir. Anschließend konnten wir uns kaum ansehen, beseitigten die Beweise schnell, zogen uns wieder an und löschten das Licht. Ich konnte mindestens eine Stunde lang nicht einschlafen. „Das war also ihre erste sexuelle Erfahrung?“ „Richtig… Ich hatte eigentlich gar nicht vor, das zu erzählen… aber naja…“ „Wir könnten die Namen ändern, wenn Sie wollen.“ „Ja, das wäre gut…“ „Sind Sie noch mit Dennis befreundet?“ „Ja…“ „Weiß er es?“ „Bis jetzt nicht.“ „Haben Sie denn damals nicht darüber geredet?“ „Nein. Aber das ist auch nicht nötig. Es kann in dem Alter tatsächlich vorkommen, dass Jungen zusammen wichsen. Das hat noch nicht mal was mit Schwulsein zu tun… also haben wir es beide wohl einfach so abgetan…“ „Ist es wieder vorgekommen?“ „Nein.“ Am nächsten Morgen, nach unserem kleinen Abenteuer, war ich sehr froh, dass wir uns wieder ganz normal in die Augen sehen konnten. Dennis tat, als sei nie etwas geschehen. Ich versuchte es ebenso, selbst wenn ich es mit meinem Inneren nicht ganz vereinbaren konnte. Um mir selbst etwas zu beweisen, beschloss ich also, an diesem Wochenende mit Natalie zu schlafen. Das sagte ich auch zu Dennis und wir verabschiedeten uns breit grinsend voneinander, als ich mich auf den Weg zum Training machte. Ich tobte mich an diesem Tag so richtig aus, versuchte, meine Gedanken loszuwerden und nicht daran zu denken, wie der Lichtschein der Taschenlampe auf Dennis’ erregter Haut geglänzt hatte. Beim Duschen fiel mir dies dann noch schwerer, immerhin liefen hier alle nackt herum und ich konnte ihre Männlichkeiten zu deutlich sehen. Sie waren alle erwachsener als ich und schon im schlaffen Zustand hatten sie mehr aufzuweisen. Wie sie wohl erst erregt aussehen würden… Erschrocken von meinen eigenen Gedanken beendete ich die Dusche, zog mich schnell an und überhäufte Natalie anschließend mit den bisher vielleicht innigsten Küssen. Ich flüsterte ihr zu, dass ich es auch ausprobieren wollte und sah die Freude auf ihrem Gesicht. Anschließend stahlen wir uns zusammen in eine öffentliche Toilette und zogen am Automaten unsere ersten Kondome. Der Abend konnte gar nicht früh genug kommen. Da ihre Eltern zuhause waren, mussten wir sehr leise sein. Dennoch war es hier der bessere Ort als bei mir, denn erstens fühlte sie sich hier wohler, zweitens waren bei mir die Wände dünner und zudem hatte ich eine neugierige kleine Schwester, die an Natalie meist hing wie eine Klette. Wir sagten Natalies Eltern, dass ich noch ein bisschen zum Lernen bleiben und in zwei Stunden gehen würde. Dann schloss sie ihre Tür ab und kroch zu mir aufs Bett. Wir begannen mit Küssen im Licht der Nachttischlampe. Dabei zogen wir uns gegenseitig aus und streichelten uns. Zum ersten Mal berührte ich Natalies weiche nackte Brüste. Ihre Brustwarzen drückten sich fest gegen meine Handflächen, doch dies erregte mich nicht. Wir zögerten beide sehr, den anderen in der entsprechenden Schamgegend zu berühren und letztendlich war sie mutiger als ich. Ich schloss die Augen und verbot mir, an Dennis zu denken, konnte es aber dennoch nicht lassen. Und auch an meine Mannschaftskameraden unter der Dusche musste ich denken. Der Kondom riss bei uns nicht, doch es war ein komisches Gefühl, ihn zu spüren. Dann legte Natalie sich hin und zog mich über sich. Ich hatte tierische Angst, ihr wehzutun, also war ich vorsichtig. Es tat trotzdem weh, aber sie blutete kaum. Ein bisschen wimmerte sie, aber dann schien es zu gehen, während es für mich ein sehr ungewöhnliches Gefühl war, das ich erfuhr. Noch immer hatte ich die Augen geschlossen und hing Fantasien nach, die ich nicht haben sollte. Ich wusste, dass auch Männer Sex haben konnten und durch Schimpfworte wie „Arschficker“ konnte ich mir auch denken, wie das vonstatten ging. Ich versuchte nicht, es mir vorzustellen, doch gleichzeitig musste ich an Dennis’ Stöhnen an meinem Ohr denken, welches schöner geklungen hatte als ihres. Letztendlich half es mir dazu, den Höhepunkt schnell zu erreichen. Als es vorbei war, war Natalie selig. Sie kuschelte sich an mich und flüsterte mir ins Ohr, wie sehr sie mich mochte. Sie küsste mich und meinte, dass wir das bald wieder machen sollten. Ich nickte bloß und hätte mich am liebsten übergeben, aus Abscheu gegen mich selbst. Wie konnte ich meine Freundin so sehr hintergehen? Denn auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, so war mir schon bewusst, dass ich während der gesamten Zeit nicht an sie sondern an meinen besten Freund und einige andere nackte, männliche Körper gedacht hatte. Dennis erzählte ich nur kurz und knapp von meinem ersten Mal. Ich war alles andere als stolz darauf und versuchte fast, es zu verdrängen, doch ich wusste auch, dass Natalie nun sicher öfter mit mir schlafen wollen würde. Kurzzeitig überlegte ich sogar, mit ihr Schluss zu machen, doch ich entschied mich dagegen, weil ich ihr nicht wehtun wollte, weil ich sie ja schon irgendwie mochte… und weil ich mich selbst weiter anlügen wollte. Ich hatte zwar beim Sex an Jungen gedacht, aber das würde sicher vergehen, wenn wir es erstmal noch ein paar Mal getan hätten. Das war sicher nur so eine Laune, weil ich halt die meiste Zeit mit Jungen zusammen hing. Ich war doch nicht schwul, ich würde sicher bald an Natalie Gefallen finden. Tatsächlich begann ich bald, mir selbst zu glauben. Dass ich tatsächlich viel zu oft an irgendeinen männlichen Körper dachte, versuchte ich einfach auszublenden… ebenso wie die Tatsache, dass ich manchmal dabei die männlichen Sänger ansah, welche als Poster an ihrer Wand hingen. Es erregte mich, dass sie uns zusahen, doch das gestand ich mir nicht ein. Stattdessen war ich bald davon überzeugt, dass es wirklich nur meine Freundin war, welche ich begehrte. Wie erwartet wechselte ich zum Sommer den Verein. Ein wenig schade war das schon, denn ich hatte einige Freunde in meiner Mannschaft gefunden. Vor allem hatte ich es genossen, dass sie mich trotz des Altersunterschieds nicht als kleinen Jungen wahrnahmen, sondern als einer der ihren. Nun in der neuen Mannschaft war der jüngste ein dreiviertel Jahr älter als ich und das Spiel, mich beweisen zu müssen, begann von vorne. Zunächst fiel ich tatsächlich sehr in meinen Leistungen zurück. Ich fühlte mich zeitweise unwohl und fehl am Platz, fühlte mich schlecht und unfähig. Es war Coach Dirk Neumann, der mir mein Selbstvertrauen zurückgab. Er unterhielt sich oft mit mir, bat die anderen, mir eine Chance zu geben, und gleichzeitig war er streng und äußerst disziplinbewusst. Er war ein großer, kräftiger Mann, gerade mal 22 Jahre alt. Er schrie oft und konnte einem im nächsten Moment doch wieder Mut zusprechen. Es dauerte drei Monate, dann hatte er mich soweit, dass ich wieder an mich glaubte. Mittlerweile war ich übrigens vierzehn und über kurz oder lang war ich mir erschreckend sicher, mich in Dirk verguckt zu haben. Ich dachte so, weil ich wiederkehrende Träume über ihn hatte, gegen die ich nichts tun konnte. Er war mein Idol geworden und ich bewunderte ihn. Letztendlich war das alles, doch hiermit versuchte ich wohl, meiner unterbewussten Angst, schwul zu sein, einen Beweis zu liefern. Ich sehnte mich nicht wirklich nach ihm, doch wenn ich ihn sah, stellte ich mir vor, ihn einmal nackt zu sehen, denn er duschte nie mit uns und so war sein bloßer Oberkörper alles, was ich kannte. Also war ich mir sicher, dass dies abscheuliches Verliebtsein war und mein Ekel gegen mich selbst wurde nur noch viel stärker. „Weshalb war das so?“ „Weil man, wenn man älter wird, immer mehr von dem Schwulenhass im Fußball mitbekommt. Es wird nie direkt darüber gesprochen, aber gewisse Worte fallen trotzdem… und hier und da wird gelästert und man begreift, dass in diesem Sport kein Platz für Schwule ist. Irgendwann fängt man an, die Dinge zu glauben…“ „Was?“ „Dass Schwule verweichlicht sind… dass sie bei jeder Kleinigkeit losheulen und niemals einen guten Ball ins Netz bekommen… Man glaubt, dass Schwule wie Mädchen laufen und höhere Stimmen haben… außerdem würden sie jedes Mal unter der Dusche nen Steifen bekommen und über die anderen herfallen…“ „Sie sagten doch, darüber wird nicht direkt gesprochen.“ „Wird es auch nicht… Andeutungen reichen, um es zu verstehen. Und dann fängt man an, sich selbst zu kontrollieren…“ Kapitel 3 - ENDE PS: Weil die Anmerkung nun bereits zwei Mal kam... ja, es gibt tatsächlich mehr Leute, die das erste Mal mit 13 oder 14 Sex haben, als man glauben will. Ich habe damals zwar auch bei weitem noch nicht so gedacht, aber das zählt hier ja nicht ;-D <04> .... Defensives Maskenspiel -------------------------------- Ich hatte nie das Bedürfnis, besonders männlich zu erscheinen. Ich wollte erwachsener wirken, als es mein Alter sagte, doch das lag daran, dass in meiner Mannschaft alle älter waren. Außerdem wollte ich von Dirk hoch angesehen werden. Doch das alles hatte für mich nichts mit Männlichkeit zu tun. Diese Ansicht änderte sich immer weiter, denn je häufiger ich die Sprüche hörte, desto mehr fing ich an, darauf zu achten, was ich tat, wie ich sprach, wie ich mich bewegte. So sehr ich auch versuchte, zu verdrängen, dass bei mir etwas anders war, so wenig schaffte ich es. Ich wollte es mir nicht eingestehen, doch letztendlich kam ich nicht darum herum, zu erkennen, dass mich Mädchen nicht in dem Maße interessierten, wie es normal für mein Geschlecht und Alter gewesen wäre. Ich hatte nie sonderlich viel über Mädchen geredet, doch allmählich fing ich damit an. Ich schaute ihnen bewusst hinterher und wenn ich mit Freunden im Zeitungsladen war, stahlen wir uns ab und an zu den Pornoheften, bei denen ich mich fast zwingen musste, auf die blanken Brüste zu starren und sie toll zu finden. Wir redeten hier über den Hintern der Freundin eines Mannschaftskameraden und da über den tiefen Ausschnitt der großen Schwester eines anderen. Ich wurde gut darin, lernte viele Sprüche und entsprechende Blicke. Eigentlich ist es ganz einfach, wenn man es sich bei den anderen abgucken kann. Auch auf dem Spielfeld wurde ich vermeintlich männlicher. Ich ging grober in Konfrontationen hinein und gewann bald fast jedes Zweierduell. Ich stürmte mit einer solchen Kraft auf das Tor zu, dass mich kaum einer aufhalten konnte, sei er noch ein paar Jahre älter als ich, und wenn ich den Ball trat, dann legte ich meine ganze Kraft hinein. Ich verzog keine Augenbraue, wenn ich mir wieder eine Prellung oder Schürfwunde holte, und ich tat eine blutende Lippe als lächerlich ab. Im Endeffekt tat ich alles, um nicht schwul, sondern richtig männlich zu wirken, und es ist vielleicht genau diesem Verhalten zuzusprechen, dass ich letztendlich so erfolgreich wurde. Als ich gerade fünfzehn geworden war, wurde der Coach einer Nachwuchsmannschaft für einen Zweitligaverein auf mich aufmerksam. Ihm gefielen besonders mein energisches Zweikampfverhalten und mein torsicherer Schuss. Er warb mich ab und somit wechselte ich nach nicht mal einem Jahr schon wieder den Verein. Dieses Mal war ich alt genug, um nicht als das Kücken zu gelten, außerdem war ich mittlerweile selbstbewusster in meinem Auftreten. Dennoch wollte ich meine Mannschaft nicht verlassen, denn ich glaubte, dass ich Dirk unheimlich vermissen würde. Ich hatte das Bedürfnis, mich dagegen aufzulehnen und zu kämpfen, doch ich tat es nicht, denn dadurch wäre ich nur unnötig aufgefallen. Dabei realisierte ich wohl nicht, dass ich einfach nur ein wenig dagegen abgeneigt war, schon wieder in eine Menge fremder Leute geworfen zu werden. Mit Dirk hatte das rein gar nichts zu tun, weshalb ich ihn letztendlich so schnell vergaß, wie ich mich angeblich in ihn verliebt hatte. Und ich begriff schnell, dass die erneute Veränderung wirklich positiv war, denn sie bedeutete doch, dass ich auf dem wohlmöglich besten Weg war, nach ganz oben zu kommen. Dennis und ich malten es uns in den schönsten Farben aus. Längst ging es nicht mehr nur darum, dass ich einfach auf dem Spielfeld stehen wollte, weil es mir einen solchen Spaß bereitete, mittlerweile hatte ich einen Traum. Ich wollte Fußballprofi werden, einer der ganz großen! Ich würde dafür alles tun! Alles tun, heißt, sich selbst zu verleugnen. Wenn man nicht genau so ist, wie einen die Gesellschaft haben will, versucht man, es zu werden. Ich war junge Fünfzehn und somit in der Zeit, in der einen das Umfeld und Leben noch sehr stark prägt. Außerdem versucht man schon unter normalen Umständen in dem Alter, sich seinen Mitmenschen und deren Wünschen anzupassen, zumindest dann, wenn man kein Rebell ist – und das war ich ganz sicher nicht. Aber ich war ein Schmutzfleck, denn so sah ich mich selbst. Ich wollte genauso rein und richtig wie alle anderen sein, dabei hatte ich nicht mal einen wirklichen Makel, außer dass ich eher den Männern zugeneigt war – natürlich traf mich damit bei den No-Gos im Fußball ausgerechnet das Schlimmste. Sich bloß nicht zu verraten, zermürbt einen mit der Zeit. Wenn man immer darauf achtet, sich vermeintlich normal zu geben, kann man kaum noch frei fühlen. Man kontrolliert sich in jeglichem Moment und achtet darauf, bloß nie die Maske fallen zu lassen. Und man fühlt sich verfolgt, beobachtet, kontrolliert. Man glaubt bald, dass einem jeder an der Nasenspitze ansehen kann, dass man ein perverser Schwuler ist. Würde man die Fassade fallen lassen, gingen sie auf einen los. Sie warten nur darauf, über dich herzufallen, dich erniedrigen zu können und dir alles zu nehmen, was dir wichtig ist. Irgendwann sind es genau diese Wahnvorstellungen, die einen verfolgen. Ständig achtet man auf seine Schritte und hat das Gefühl, hinter jeder Ecke lauern die Angreifer. Man hat Angst, eingeholt zu werden von seinem Innersten und damit sein Gesicht zu verlieren. Also achtet man noch mehr auf jede Handlung, jedes Wort, jeden Blick, so sehr, dass man bald selbst nicht mehr weiß, was eigentlich die Wahrheit ist. Bald schon ist es unmöglich, sich selbst noch zu fühlen. Ich war noch immer mit Natalie zusammen, als ich in den neuen Verein kam. Durch den erneuten Wechsel war ich zunächst gereizter und forscher als sonst. Wir stritten uns oft und sahen uns immer weniger, was man aber auch damit erklären konnte, dass ich fast jede freie Minute trainierte. Natalie wollte das nicht verstehen und war oft wütend auf mich, was wiederum ich nicht verstehen konnte. Sah sie nicht, dass ich auf dem besten Weg war, ein Profi zu werden? Doch, natürlich sah sie das. Ich war hingegen zu blind, zu merken, dass ich mich selbst auf dem Weg dorthin kaputt machte. Das lag vor allem daran, dass ich wieder Gefühle entwickelte, dieses Mal ernste, wahre Gefühle. Dieses Mal ging es nicht um ein Idol, um niemanden, den ich bewunderte. Vielmehr war er ein einfacher Junge, Teil meiner neuen Mannschaft, ein stiller, unauffälliger Bursche, mit dem ich mich aber schon schnell gut verstand. Dass ich jedoch tatsächlich Gefühle für den sechzehnjährigen Karim entwickelte, wollte ich dabei lange nicht sehen. Karims Eltern kamen aus der Türkei. Mein Vater hatte zu Beginn ein bisschen Probleme damit, wenn ich ihn besuchen ging, und ich verstand nicht, wieso das so war. Meine Mutter konnte ihn allerdings immer wieder beschwichtigen und so akzeptierte er wenigsten irgendwann die Freundschaft. Mit Karim schaute ich mir fast jedes Spiel der Europameisterschaft an, welche gerade begonnen hatte. Darüber vernachlässigte ich nicht nur Natalie, sondern auch Dennis. Er sagte es mir einmal, doch ich stritt es ab, nahm es nicht wahr. Ich merkte nicht, dass ich kaum noch Zeit mit jemand anderem verbrachte, da mir die Stunden mit Karim immer viel zu kurz vorkamen und ich noch viel länger bei ihm sein wollte. In unserer Mannschaft nahm Karim meist die Position des linken Mittelfeldspielers ein. Auf diese Weise hatten wir auch während des Spiels viel miteinander zu tun und wurden ein ziemlich gutes Team. Karim wusste bald, wie er mir die Bälle zuspielen musste, damit ich sie gut verwandeln konnte. Es war die pure Freude für mich, mit ihm auf dem Platz zu stehen. Ohne es zu merken, drehte sich bei mir bald alles nur noch um Karim. Bewusst hatte ich keine sexuellen Gefühle ihm gegenüber, was aber wohl auch daran lag, dass ich mir jegliches Denken in die Richtung verbot und es hinter meiner fast perfektionierten Maske verbarg. Nur wenn ich mit Natalie schlief, kam es ab und an oder öfter durch, doch das verdrängte ich danach sofort wieder und redete mir ein, dass ich nur aufgrund meiner hübschen Freundin, um die mich alle beneideten, solch einen Spaß gehabt hatte. Mit Karim redete ich nie über Sex. Tatsächlich hatte ich es ein einziges Mal versucht, doch er hatte sehr zurückhaltend auf das Thema reagiert und mir somit deutlich gemacht, dass es ihm unangenehm war, darüber zu sprechen. Aber ich wusste, dass er keine Freundin hatte, und der Gedanke gefiel mir sehr, solange, bis es da dieses eine Mädchen gab, welches an Karim Interesse zeigte. Ich hätte ihr am liebsten die Augen ausgekratzt und am nächsten Abend machte ich sie stundenlang vor Natalie schlecht. Diese verstand natürlich überhaupt nicht, was ich gegen das nette Mädchen hatte, schüttelte immer wieder den Kopf und verführte mich schließlich, weil sie keine Lust mehr hatte, sich mein Gemecker anzuhören. Ohnehin innerlich irgendwie erregt aufgrund meiner Wut und unterbewussten Eifersucht, war es für Natalie nicht schwer, mein Gerede zu stoppen. Schnell riss ich ihr die Kleider vom Leib und kaum hatte sie mir das Kondom übergezogen, stieß ich sie zurück aufs Bett und drang hart in sie ein. Ich schrie und stöhnte und hatte meinen Spaß, so sehr, dass ich nicht merkte, wie sie irgendwann still unter mir wurde und mich einfach gewähren ließ. Erst danach, als ich sie in den Arm nehmen wollte, distanzierte sie sich von mir, stand auf und schlang sich die Decke um den nackten Körper. Jetzt sah ich die Tränen. Sie habe schon immer gewusst, dass irgendwas komisch sei, das war ihre erste Aussage und sie machte mir sofort Angst damit. Sie schüttelte den Kopf und redete auf mich ein, und ich verstand nicht, was sie von mir wollte, nur dass sie das nie von mir erwartet hatte, dass sie enttäuscht von mir war und mich nie wieder sehen wollte. Als ich dann endlich aus ihr heraus bekam, was denn eigentlich los sei, traf es mich selbst wie ein Schlag: Ich hatte während des Sexes Karims Namen gestöhnt. Ein eindeutigeres Zeichen brauchte es nicht; auch ich verstand es. „Haben Sie es nicht abgestritten?“ „Doch, natürlich… aber sie glaubte mir nicht. Wie sollte ich es auch erklären? Außerdem war ich selbst ja total schockiert, weil mir bis dahin gar nicht bewusst gewesen war, dass ich Gefühle für Karim hatte…“ „Wie ging es dann weiter mit Natalie? Hat sie es jemandem erzählt?“ „Nein, zum Glück nicht. Aber sie trennte sich natürlich sofort von mir und sagte, ich solle ihr nicht mehr unter die Augen treten oder sie würde es allen sagen…“ „Hatten Sie seither noch mal Kontakt mit ihr?“ „Ja. Letzten Monat habe ich sie angerufen. Ich hatte eigentlich immer das Bedürfnis, noch mal mit ihr über die Sache zu sprechen, aber dann hätte ich auch zugeben müssen, dass ich schwul bin. Deshalb habe ich es nie gekonnt…“ „Wie ist das Gespräch gelaufen?“ „Sehr gut. Sie ist glücklich verheiratet und hat ein Kind. Wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin, wollen wir uns treffen…“ „Das klingt gut. Und wie ging es mit Karim weiter?“ „Tragischer als man vermuten mag…“ Meine erste Reaktion, nachdem Natalie hinter mein Geheimnis gekommen war, war, mich von Karim zu distanzieren. Plötzlich sah ich mich selbst als größte Gefahr an, zumal ich wieder Single war. Ich hatte Angst vor mir, vor ihm, vor meinen Gefühlen, denen ich mir nach und nach bewusst wurde. Also ging ich ihm aus dem Weg, duschte erst dann, wenn er bereits fertig war, versuchte, nie gleichzeitig mit ihm in der Umkleidekabine zu sein. Es dauert nicht lange, da war es nicht nur ihm mehr als bewusst, sondern auch allen anderen. Im Grunde waren Karim und ich ein Herz und eine Seele gewesen, ein untrennbares und unschlagbares Zweiergespann. Doch plötzlich wollte ich nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das konnte sich niemand erklären, am wenigsten natürlich Karim selbst. Immer wieder versuchte er, mit mir das Gespräch zu suchen. Er fragte wieder und wieder was denn geschehen sei, was er falsch gemacht hatte, warum ich ihn nicht mehr leiden konnte. Ich sagte ihm zwar, dass letzteres nicht der Fall war, aber er glaubte mir nicht, weil ich ihm dennoch weiter aus dem Weg ging. Auch meine Eltern wunderten sich, was passiert war, und Sophie, die mittlerweile frühreife zwölf Jahre alt war, versuchte immer wieder, mit mir darüber zu sprechen. Letztendlich war sie auch die einzige, die mich wegen der Sache weinen sah, ein einziges Mal nämlich, nachdem Karim mal wieder versucht hatte, mich anzurufen und ich ihn sofort abgewimmelt hatte. Schon seit Wochen war ich wütend auf mich selbst, vermisste Karim ständig und jede Minute und schaffte es oft abends nicht einzuschlafen, weil ich an ihn denken musste oder mich die Lust überkam und ich einfach nicht anders konnte, als mich in Gedanken an ihn selbst zu befriedigen. Dann fühlte ich mich nur noch dreckiger und ekelhafter und hasste mich noch so viel mehr. Dies hielt nun schon Wochen an und noch immer wollte Karim keine Ruhe geben. Also hatte ich ihn am Telefon angeschrien und gesagt, dass ich auf einen Türken keinen Bock hätte. Dabei hatte seine Abstammung für mich nie auch nur eine Sekunde lang eine Rolle gespielt. Im Gegenteil, fast mochte ich sein leicht anderes Aussehen. Doch das wusste er nicht, also hatte er mich am anderen Ende beschimpft und war dabei in Tränen ausgebrochen. Sofort hatte ich aufgelegt und den Hörer angeschrien, ehe ich merkte, dass auch bei mir die Tränen liefen. Im selben Moment kam Sophie rein, die mich gehört hatte, und fand mich aufgelöst vor. Zuerst wollte ich es verstecken und tun, als sei nichts passiert, doch es klappte einfach nicht, erst recht nicht, als sie zu mir aufs Bett krabbelte und ihre Arme um mich legte. Zum allerersten Mal sah sie ihren großen, starken, ach so männlichen Bruder heulen und sie war in dem Moment die beste kleine Schwester, die ich mir vorstellen konnte. Man ist gerne ein guter Mensch. Man macht gerne alles richtig, lebt nach den Vorstellungen anderer, um nicht aufzufallen und versucht, sich anzupassen. Man versucht, etwas zu sein, das man nicht ist, trägt eine Maske und kann diese vor niemandem abnehmen. Das beschreibt so ziemlich, wie ein schwuler Fußball lebt, zumindest dann, wenn er plant, voran zu kommen. Und ich kam voran. Das, was sich viele junge Fußballer wünschen, war für mich tatsächlich ein greifbarer Traum und er kam immer näher. Wochen nach meiner Trennung mit Natalie rief mich der Coach zu einem Gespräch zu sich, um mir zu sagen, wie ich mich gesteigert hätte. Ich wäre noch stärker geworden, vor allem in den Zweikämpfen, meine Schusstechnik wäre voll geballter Energie und meine Bälle könne man kaum halten. Er war unheimlich stolz auf mich, während ich ihm nur schweigend zuhörte. Ich wusste genau, woran es lag, dass ich mich nochmals verbessert hatte. An meiner Wut auf mich selbst und vor allem daran, dass ich beim Spiel für ein paar Minuten alles vergessen konnte. Hier lenkten mich keine dreckigen Gedanken ab, hier konnte ich einfach Spaß haben. Und genau das hatte ich und deshalb ging ich darin auf, zumindest die paar Minuten auf dem Spielfeld. Alles abseits davon war eine andere Geschichte. Der Coach kannte die Hintergründe natürlich nicht und sah nur meine Leistungen. Er sprach davon, wie ich bald noch weiter kommen könnte und dass bereits andere Vereine an mir Interesse zeigten. Ob ich das EM-Finale gesehen hatte, wollte er wissen, und er verglich mich mit dem Spieler, der das Siegestor geschossen hatte. Freilich eine große Ehre und ich freute mich auch darüber, doch als ich sein Büro verließ, fühlte ich mich einsam, denn zu dem Menschen, dem ich das nun am liebsten erzählt hätte, zu dem konnte ich nicht gehen. Also rief ich Dennis an und erzählte es stattdessen ihm. Er freute sich natürlich für mich, aber er verhielt sich anders als Karim es getan hätte. Ich konnte das nicht mal an irgendwelchen Aussagen festmachen, ich wusste es einfach. Und als wir aufgelegt hatten, fühlte ich mich noch leerer. Ich fragte mich, warum es so weit gekommen war. Warum hatte ich diese widerlichen Gefühle entwickelt? Warum ausgerechnet für ihn? Hatte ich nicht Dirk toll gefunden? Ich lag Zuhause auf meinem Bett und verspürte so sehr den Drang danach, mit Karim zu sprechen, dass es fast wehtat. Was wäre, wenn ich dieses Gefühl ausstellen könnte? Konnte ich sie nicht einfach ignorieren und mit ihm weiter so befreundet sein, wie ich es bisher gewesen war? Er musste nichts davon erfahren und ich würde mir eine neue Freundin suchen, um ihn schnell wieder zu vergessen. Wir würden weiter unseren Weg nebeneinander gehen und ich würde nichts verlieren, außer einen kleinen Teil von mir selbst. War es das nicht wert? Ohne noch länger zu grübeln, stand ich auf und sagte meinen Eltern, dass ich die Nacht bei Karim schlafen würde. Sie waren verständlicherweise mehr als überrascht, doch ich erklärte nichts und fuhr stattdessen mit dem vorletzten Bus in die benachbarte Kleinstadt. Vor der Tür stehend, zögerte ich nur ganz kurz, doch ich hatte meinen Entschluss gefasst. Ich wollte meinen Freund zurück, wollte den Menschen zurück, mit dem ich meine große Freude am liebsten teilen wollte. Und genau das sagte ich ihm, als seine Mutter mich rein gelassen hatte und er überrascht vom Bett aufgesprungen war. Ganz unmännlich umarmte ich ihn und sagte ihm, dass er mein bester Freund sei. Ich wäre auch seiner, meinte er erleichtert, und obwohl wir die ganze Nacht durchquatschten, forderte er nicht ein einziges Mal eine Erklärung von mir. „Das ist doch schön. Aber sie meinten, es wäre eine tragische Geschichte…“ „Ja, das ist es auch…“ „Hat er von Ihren Gefühlen erfahren?“ „Nein, ich habe es sehr gut geschafft, sie zu verbergen…“ „Und was war dann das Problem?“ „Naja… sechs Wochen nach unserer Versöhnung sagte Karim mir, dass er schwul ist.“ Kapitel 4 - ENDE <05> .... Verteidigen und verstecken ------------------------------------ Kann man sich das Gefühl vorstellen, wenn man von dem Menschen, in den man verliebt ist, gesagt bekommt, dass er einen liebt? Wenn man es nicht erlebt hat, so weiß man nicht, wie es sich anfühlt. Man mag es wohl als das glücklichste Gefühl auf der Welt beschreiben, besonders, wenn man zuvor nicht mit dem Hauch einer Chance gerechnet hat. Man mag den Himmel umarmen wollen und in die ganze Welt hinaus posaunen, dass man nun endlich zusammen sein kann. Bei mir war es ein vollkommen anderes Gefühl. Zunächst einmal kam es wirklich aus heiterstem Himmel. Gerade war ein Länderspiel mit geringen Erfolgschancen doch glücklich zu Ende gegangen und wir saßen auf Karims Bett und jubelten. Es war alles ganz normal. Ich hatte meine Gefühle unter Kontrolle und genoss einfach die Zeit, als sich ganz plötzlich unsere Hände berührten. Es war eine zufällige Berührung, wie sie schon mal vorkommen kann. Man denkt sich nichts dabei, zieht die Hand zurück und vergisst den Moment sofort wieder, doch hier waren wir beide eine Sekunde lang starr vor Schreck. In der nächsten dann wollte ich lachen, meine Hand zurück ziehen, vom Bett huschen und sagen, dass ich nach Hause müsse, als ich plötzlich merkte, wie seine Finger meine festhielten. Er ließ mich nicht frei und sah mich stattdessen aus großen Augen ängstlich an. Er müsse mir etwas sagen, drangen die Worte scheu an mein Ohr, und mir wurde schlecht dabei. Ich riss an meiner Hand, doch er ließ sie nicht los. Kann man sich das Gefühl vorstellen, wenn man von dem Menschen, in den man verliebt ist, gesagt bekommt, dass er einen liebt? Für mich war es das Schlimmste, was passieren konnte. Sobald Karim mir genau das gesagt hatte, riss ich mich los. Ich sprang vom Bett, mein Herz raste und ich wusste nicht, was zu tun. Ich wollte mich übergeben und ich wollte mich freuen, ich wollte jauchzen, und ich wollte schreien. Doch alles was ich tat, war still mitten im Zimmer zu stehen. Keinen Muskel konnte ich bewegen; plötzlich tat mir alles weh. War es nicht das, was sich ein jeder wünscht? Meine Gefühle wurden erwidert! Sollte ich mich nicht freuen? Doch ich tat es nicht, im Gegenteil. Für mich war es der blanke Horror. Karim stieg vom Bett und sagte meinen Namen. Ich schüttelte seine Hand ab und drehte mich zu ihm um. Nun sah ich reine Furcht in seinen Augen. Ob ich Natalie so angesehen hatte, als sie die Wahrheit herausbekommen hatte? Karim bat mich, etwas zu sagen, doch ich schaffte es nicht. Meine Lippen waren wie zugenäht, ich brachte sie nicht auseinander, denn ich wusste einfach nicht, was ich dazu sagen sollte. Er war in mich verliebt, er erwiderte meine Gefühle, doch anstelle von Freude empfand auch ich pure Angst. Dies konnte mir alles zerstören. Ich konnte alles verlieren. Letztendlich sagte ich nichts. Ich packte meine Sachen und flüchtete. Karim folgte mir tatsächlich bis zur Bushaltestelle und dort weinte er mittlerweile. Erst hier, als ein paar Augen uns neugierig beobachteten, fauchte ich ihn an, nannte ihn eine dreckige Schwuchtel und sagte ihm, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Dann stieg ich in den Bus und ließ meinen zu der Zeit besten Freund, der mein fester Freund, meine erste Liebe hätte werden können, einfach so stehen. Der Bus fuhr los und ich sah nicht mehr zurück, sank stattdessen in meinen Sitz und betrachtete mich in der dreckigen Glasscheibe. Sah man mir meine Angst an? Oder wie sehr ich mich gerade hasste? Sah man, dass ich am liebsten umkehren und Karim küssen wollte? Sah man mir an, dass auch ich schwul war? Ich schüttelte immer wieder den Kopf und sagte mir, dass alles genau richtig so war. Selbst wenn Karim nun erzählen würde, ich sei schwul – wie auch immer er darauf kommen würde – so würde ihm doch keiner glauben, oder? Natürlich nicht, ich war doch auf dem besten Wege, ein richtiger Mann zu werden, ein Profifußballer, und die sind ja bekanntlich nicht schwul. Nein, ihm würde niemand glauben! Und dennoch erstellte ich in jener Nacht in meinem Bett im Geiste eine Liste, welche Möglichkeiten es für mich gab, Selbstmord zu begehen, falls meine Welt über mir zusammenstürzen würde. Mir fielen auf Anhieb 37 ein und über dieser bizarren Ablenkung schlief ich endlich ein. Natürlich habe ich die Überlegungen nie benötigt und selbst wenn, ich hätte mich wohl niemals selbst umgebracht. Dafür hatte ich viel zu große Angst vor dem Tod und überhaupt, so ganz allgemein, lebte ich doch auch wirklich gerne. Wenn ich nicht lebte, konnte ich auch nicht auf dem Spielfeld stehen! Dennoch ging ich sehr ängstlich am nächsten Nachmittag zum Training. Dennis hatte mir in der Schule schon angemerkt, dass etwas nicht stimmte, doch wie hätte ich es ihm erzählen können? Das ging nicht, also hatte ich geschwiegen und war ihm fast ein bisschen aus dem Weg gegangen. Das funktionierte aber so einfach nicht mit dem Training. Hier musste ich erscheinen, denn ich konnte nicht riskieren, dass irgendwas erzählt werden würde, das nicht der Wahrheit entsprach. Oder besser gesagt, von dem ich felsenfest behaupten würde, dass es nicht der Wahrheit entspräche. Zunächst brauchte ich mir keine Gedanken machen, denn Karim erschien in der gesamten Woche nicht zum Training. Freilich wurde ich gefragt, was mit ihm los sein, doch ich stritt ab, jegliche Ahnung oder auch nur Idee zu haben. Außerdem brachte ich hier und da Bemerkungen an, die zeigten, dass ich nicht mehr mit Karim befreundet war. Ein wenig komisch, natürlich, immerhin waren wir in den letzten Wochen nach der längeren Krise wieder ein Herz und eine Seele gewesen. Ich erklärte es nicht, ich log nicht einmal, und ich schwor mir, dass niemand je die Wahrheit erfahren würde. Ich würde Karim einfach aus dem Weg gehen und er wäre sicher schon schlau genug, dasselbe mit mir zu tun. Klar, ich hätte auch weiter einen auf Freundschaft machen können, aber wie sollte das funktionieren? Er hatte Gefühle für mich, davon wusste ich nun, und ich sehnte mich genau danach. Die Gefahr war zu groß, dass ich darauf eingehen würde und er somit die Wahrheit erführe. Niemand außer Natalie kannte sie und selbst vor ihr hatte ich es nicht zugegeben. So musste es bleiben, niemand durfte es jemals wissen. Ich würde alles tun, um es zu verbergen. Tatsächlich tat ich letztendlich alles und ging dabei sprichwörtlich über die Leiche meines besten Freundes. Es war nicht meine Absicht gewesen, ihn bloßzustellen. Ich war mir sicher, dass er unter seinen Gefühlen genauso litt wie ich selbst; ich konnte nur erahnen, wie es jetzt für ihn sein musste, da er dachte, ich würde ihn hassen; ich, der Mensch, den er liebte. Ich hatte ihm das Herz gebrochen, ich wollte es nicht noch schlimmer machen. Doch es kam schlimmer, denn Karim schaffte es nicht, die Sache zu begraben und still zu schweigen. Bereits als er nach einer Woche Abwesenheit wieder da war, sah ich in seinen Augen, dass für ihn das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Er wollte nicht akzeptieren, von mir verabscheut zu werden. Ich setzte also alles daran, nicht mit Karim allein zu sein. An mein Handy ging ich nur, wenn ich die Nummer kannte und wusste, dass es nicht seine war. Ans Haustelefon ging ich gar nicht mehr und verbot allen, Karim zu mir weiterzuleiten. Und vor der Tür ließ ich ihn auch zwei Mal stehen. Eigentlich sollte das doch genug sein, um ihm zu zeigen, dass er mich aufgeben musste, nicht wahr? Ich dachte es wirklich, vor allem, als er nicht mehr anrief und beim Training weniger Anstalten machte, sich in meine Nähe zu drängen. Auf die Fragen, was zwischen ihm und mir vorgefallen sei, antwortete er genauso einsilbig wie ich, und ich dachte, dass das Schlimmste bald schon überstanden sein würde. Doch dann kam es anders, denn letztendlich wollte er mich einfach nicht ohne Erklärung aufgeben. Es war der Abend nach einem ziemlich erschöpfenden Training. Karim war heute nicht erschienen, was mir ganz recht gewesen war. Ich machte mich also in Ruhe fertig und duschte lange, ausgiebig. Ich dachte an nichts und genoss einfach das Wasser wie es über meinen Körper floss. Ein stückweit fühlte ich mich befreit und sauber. Ich war stolz auf mich, dass ich Karim so gut widerstand, und glaubte sogar ein bisschen daran, dass ich irgendwann ein vollständiger, wirklicher Hetero werden könnte. Dann hörte ich ein Geräusch und öffnete die Augen. Karim stand direkt vor mir. Vor Schreck wich ich zurück, rutschte aus und wurde von ihm festgehalten. Ein Stück größer war Karim schon immer gewesen, doch noch nie hatte ich aus einer Nähe zu ihm aufgesehen wie in dem Moment, als er mich an sich presste. Er lächelte. Ich wollte schreien, ihn anbrüllen, doch alles was ich konnte, war ihn anzusehen. Denn ich liebte sein Lächeln. Es sah so wundervoll aus. Ehe ich auch nur irgendwie reagieren konnte, tat dies auch schon mein Körper. Diese plötzliche Nähe war zu viel für mich, zumal sein Bein leicht in die entsprechende Gegend drückte. Karim spürte die Reaktion meines Körpers natürlich sofort und lächelte nur noch etwas mehr. Er habe es doch gewusst, waren seine leisen Worte, ganz nah an meinem Ohr. Und dann fuhr seine Hand hinab und packte zu. Ich konnte ein erschrockenes Stöhnen einfach nicht unterdrücken, ebenso wenig wie meine Gefühle, die über mir zusammen prallten. Ich wollte ihn küssen, ich wollte über ihn herfallen, ihn verschlingen, ficken bis zum geht nicht mehr, schreien hören und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte… doch in dem Moment, als seine Lippen die meinen trafen, brannte bei mir eine ganz andere Sicherung durch. Ich stieß Karim so heftig von mir, dass er trotz seiner Schuhe auf den nassen Fließen ausrutschte und hinfiel. Dann ging ich auf ihn los. Ich hatte noch nie einen anderen Menschen geschlagen, wusste also nicht, wie es sich anfühlte, und so schockierte mich das Gefühl seines Gesichtes, wie es gegen meine Faust traf. Doch es hielt mich nicht auf und auch das Blut schockte mich zu wenig, um von ihm abzulassen. Ich schlug so lange auf ihn ein, bis er zusammen sank, da ihm alles weh tat und sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. Vielleicht war er auch ohnmächtig, ich wusste es nicht und ich wollte auch nicht darüber nachdenken. Ich sprang auf und wollte flüchten, bemerkte dann, dass ich noch immer eine fast schmerzlich pochende Erektion hatte und stellte mich unter die kalte Dusche. Hier gaben mir die Beine nach, ich brach zusammen und heulte, so lange, bis plötzlich eine Hand auf meiner Schulter lag. Ich fuhr herum und schlug zu, dann wurde mein Arm gepackt und ich wurde festgehalten. Erst jetzt erkannte ich das Gesicht von Dave, einem meiner Teamkameraden. Über dem blutig geschlagenen Karim beugte Phillip. Im nächsten Moment schrie einer von ihnen nach unserem Coach. „Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.“ „Ich weiß. Und ich bin alles andere als stolz darauf. Aber auch dieser schwarze Abschnitt gehört leider zu meinem Leben dazu…“ „Sie haben es getan, um sich zu schützen.“ „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob das wirklich so einfach ist… Es war Panik, glaube ich, und Angst… Ich habe mir bis heute nicht verziehen, dass ich so ausgeflippt bin…“ „Haben Sie es denn bereut?“ „Das ist eine gute Frage, die ich gerne mit ja beantworten würde. Doch man muss bedenken… Hätte ich anders gehandelt und meinen Gefühlen nachgegeben, hätten Dave und Phillip uns wahrscheinlich erwischt. Dann wäre alles ganz anders weitergegangen…“ „Und Sie wären nie Profi geworden.“ „Richtig. Aber vielleicht wäre ich dann noch ganz.“ „Wie meinen Sie das?“ „Ich habe etwas von mir verloren, als ich ihn geschlagen habe, ihn, den ich eigentlich liebte … und ich habe es bis heute nicht wieder gefunden.“ Anders als man vielleicht erwarten mag, bin nicht ich aus der Mannschaft geflogen sondern Karim. Ich durfte lediglich zwei Wochen nicht am Training teilnehmen, doch das war ein kleiner Preis gegen den, den ich bereits bezahlt hatte. Ich hatte mich verleugnet, hatte meinen besten Freund verprügelt und zudem noch allen erzählt, dass er versucht hatte, mich anzugraben. Das tat ich, damit er mir ja nicht mit etwas Derartigem zuvor kommen würde. Und tatsächlich versuchte er es auch danach nicht. Nicht ein einziges Mal erwähnte er, dass ich wegen ihm einen Ständer gehabt hatte. Stattdessen erhielt ich eine letzte SMS von ihm, in der stand: Es gibt nichts Schwierigeres, als eine Lüge zu leben, denn wer seine Gefühle verleugnet, der verleugnet sich selbst. Danach hörte ich nie wieder etwas von Karim. Keiner aus unserer Mannschaft sprach mehr über ihn oder über den Vorfall. Es wurde totgeschwiegen, denn so etwas wie Homosexualität gibt es im Fußball ja bekanntlich gar nicht. Das wusste ich mittlerweile nur zu gut und durch diese Lektion hatte es sich bei mir nur tiefer verankert. Ein paar Wochen nachdem ich wieder mit dem Training begonnen hatte, kam das Angebot für mich, erneut den Verein zu wechseln. Ein anderer, besserer Zweitligaverband war schon länger an mir interessiert und wollte mich nun abwerben. Zunächst würde ich nur am Wochenende und ab und an für eine einzelne Woche mit ihnen trainieren, damit ich die Schule beenden könnte. Dann, in einigen Monaten, nach meinem Abschluss, würde mir ein Zimmer zur Verfügung gestellt werden, denn der neue Verein lag 300 Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Alleine das war für mich ein Grund, sofort zuzustimmen. Im Augenblick konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als von da wegzukommen, wo mich jeder kannte. Vielleicht würde ich so meine Vergangenheit, meine Gefühle und vor allem mein Schwulsein endlich abschütteln können. Dennis und ich bekamen bei der Abschlussfeier aufgrund unserer Nachnamen nacheinander unsere Zeugnisse, doch wir hatten gerade die vielleicht schwierigste Phase unserer Freundschaft erreicht und beglückwünschten uns gegenseitig nur sporadisch. Es war schade und ein wenig vermisste ich ihn, doch gleichzeitig wusste ich nicht wirklich, was ich dagegen machen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich vor ihm, meinem jahrelangen Freund, viel schwerer verstecken konnte als vor allen anderen. Er wusste, dass ich sehr an Karim gehangen hatte, und wollte ein paar Mal über dessen Homosexualität sprechen, was ich immer wieder unterband. Außerdem hatte er trotz Trennung noch immer etwas mit Wiebke zu tun und darüber mit Natalie. Ich hatte Angst, dass er über sie vielleicht doch irgendwann die Wahrheit erfahren würde. Kurz vor meinem Abschluss war ich sechzehn geworden. Keine Ahnung wieso, aber ich war sehr stolz auf dieses Alter. Ich feierte mit meinen neuen Teamkameraden und machte ein wenig mit einer sehr netten und überaus hübschen jungen Frau namens Miriam rum, die sofort ein Auge auf mich geworfen hatte. Außerdem machte sie schnell deutlich, dass sie nichts von einem One-Nights-Stand hielt, sondern mehr wollte als das. Nicht zuletzt diese Tatsache gefiel mir, denn so konnte ich wieder einmal eine Freundin vorweisen, ein Alibi, dessen war ich mir mehr bewusst denn je. Das Zimmer, welches ich an meinem neuen Wohnort bezog, gehörte zu einer Wohngemeinschaft mit zwei weiteren Parteien, ebenfalls Fußballer und meine Teamkameraden. Ihre Namen waren Til und Lutz, und zum Glück war keiner der beiden auch nur im Entferntesten mein Typ. Das beruhigte mich sehr, denn ehrlich gesagt hatte ich Angst davor gehabt, mit zwei Männern zusammenzuleben. Doch selbst ohne jegliches Interesse an diesen Beiden, fing ab dem Tag, als ich mein Leben zum ersten Mal abseits meiner Eltern und meiner Heimat begann, ein neuer Abschnitt für mich an. Ich ging anders mit mir selbst um und ich veränderte mich. Nach außen wurde ich, zumindest eine Zeit lang, noch mehr Macho als zuvor. Ich flirtete mit den Frauen, selbst wenn ich Miriam an meiner Seite hatte, und ich genoss es, dass sie mir zu Füßen lagen. Natürlich waren sie aufeinander eifersüchtig, doch egal wer es war, ich konnte ohne Wimpernzucken sagen, dass ich nicht mit ihnen fremdgehen würde. Ich habe an keiner anderen Frau Interesse außer an einer einzigen, an ihr, das sagte ich Miriam und sie glaubte es mir. Sie vertraute mir, denn sie merke ja, dass mein Verhalten mit den Frauen meist doch nur Spieltrieb und nichts Ernstes in Verzug war. Natürlich nicht, denn um mein wahres Ich wusste sie immerhin nicht. Ihr war nicht klar, dass es keine Frau auf der Welt gab, deren Körper mich erregte. Sie hatte keine Ahnung, dass ich runden, vollen Brüsten nichts abgewinnen konnte und sie schien auch nicht zu bemerken, dass ich eben diese Gegend beim Sex meistens mied. Überhaupt nahm ich sie oft von hinten, auch wenn dabei der Gedanke an Analverkehr nicht in Frage kam. Das hätte mich nur verraten können. Doch auf diese Weise sah ich ihr Gesicht nicht, sah ihr Brüste nicht und konnte mir besser vorstellen, nicht eine Frau unter mir zu haben. Irgendwann fragte ich sie sogar, ob sie sich die langen Haare abschneiden würde. Nur bis zu den Ohren, ich würde sie so sehr mögen, Frauen mit Kurzhaarschnitt. Tatsächlich tat sie es, auch wenn sie sich zwei Monate dagegen sträubte. Anders als erwartet, half mir das bei meinen Fantasien allerdings kaum weiter. Nie konnte ich ganz vergessen, dass es eine Frau war, mit der ich es gerade trieb, was sicher auch an ihrem Stöhne lag, und daran, dass ich wusste, dass ich ein Mal den Fehler gemacht hatte, einen männlichen Namen zu nennen. Das durfte auf keinen Fall ein zweites Mal geschehen. Also hielt ich mich zurück, kontrollierte mich so gut es ging und verdrängte allzu anregende Gedanken an männliche Körper. Eine Zeit lang glaubte ich sogar selbst, dass Miriam der Grund dafür war, dass ich Lust auf Sex verspürte. Dieser Glaube machte mich stark und ich hielt mich daran fest, denn er machte mich zu einem normalen Mann. Und das war ich doch, zumindest nach außen hin. Ich war ein ganz normaler junger Mann. Niemand ahnte auch nur im Entferntesten, dass ich irgendwann angefangen hatte, mir im Internet Pornoseiten für Schwule anzuschauen. Wie es dazu gekommen war? Ganz langsam, ehrlich gesagt. Kurz nach meinem Einzug in die WG traute ich mich zum ersten Mal seit Jahren wieder, das Thema Homosexualität zumindest in geschriebenen Worten aufzugreifen. Ich tippte es in eine Suchmaschine, nachdem ich meine Tür abgeschlossen und die Jalousien heruntergelassen hatte. Anschließend durchforstete ich die gesamte Nacht alle möglichen Seiten nach Informationen. Ich las viele Berichte, schaute mir Bilder an, die ein oder andere Reportage – natürlich mit Kopfhörern, damit auch ja kein Wort nach draußen dringen würde. Auch zum Thema Homosexualität im Fußball las ich mich schlau, obwohl es da kaum etwas gab, das mir nicht irgendwie bereits bewusst gewesen war. Schwulsein war in diesem Sport ein Tabu. Erst ein einziger Profifußballer hat sich je geoutet und wurde anschließend so fertig gemacht und liegen gelassen, dass er sich selbst das Leben genommen hat. Das wusste ich bereits, davon hatte ich gehört, eines Abends bei irgendwelchen Saufgelagen, als die anderen sich darüber ausgelassen hatten. Erst jetzt, als ich den Bericht las, erinnerte ich mich wieder an den Blick, den Karim mir damals über sein Grinsen hinweg zugeworfen hatte. Gedanken an ihn versetzten mir noch immer tiefe Stiche. Als ich am nächsten Morgen den Computer ausschaltete, um mich endlich ins Bett zu begeben, hatte ich zuvor jegliche Spuren gelöscht. Miriam war kein Computerfreak, sie schaute selten ins Internet, und dennoch wollte ich kein Risiko eingehen, dass sie irgendwie darauf kommen könnte, wonach ich irgendwann mal gesucht hatte. Mit der Zeit wurde ich Profi darin. Und ich fand immer neue Seiten im Internet, deren Informationen ich in mir aufsaugte. Zwar wollte ich einerseits nicht darüber nachdenken, was für eine widerlicher Sexualität ich hatte, doch andererseits tat es mir dann und wann gut, von Leuten zu lesen, denen es ähnlich ging. Wobei es sich in all den Foren und Beiträgen und Berichten so gut wie nie um Fußball drehte. Selbst hier sprach man kaum darüber, selbst hier war es ein kaum gebrochenes Tabu. Doch darum ging es nicht. Ich brauchte niemanden, dem es genauso ging wie mir, ich brauchte nur etwas, das mir zeigte, dass ich nicht ganz alleine in dieser Gefühlswelt war. Alles, was mir noch ähnlicher gewesen wäre, hätte mich wieder abgeschreckt, denn jeglicher Verbindung wäre eine Gefahr gewesen, jegliche Überlegung zu einer Kontaktaufnahme eine Schwäche. Ich wollte lediglich ab und an andere schwule Gesichter sehen. Und letztendlich begann ich auch mit ihnen, dann, wenn ich ganz alleine war, meine wahre Natur in meinen Fantasien auszuleben. „Aber macht es das nicht eigentlich noch schwerer?“ „Auf gewisse Weise, schon, ja… Aber wenn man sich nie mit dem Thema beschäftigt, dann hat man irgendwann das Gefühl, dass einem der Kopf platzt… zumindest war es in meinem Fall so. Nach einem jahrelangen Versteckspiel in meinem Elternhaus wollte ich zumindest in meinem eigenen kleinen Zimmer ab und an ich selbst sein können und sehen, dass ich nicht der einzige auf der Welt bin, der auf Männer steht…“ „Haben Sie im Internet mit irgendjemandem darüber geredet?“ „Niemals. Das verbot ich mir selbst, weil jegliche Information, die irgendwie nach draußen dringt, eine Gefahr darstellen könnte. Außerdem wäre ich dann vielleicht irgendwann in Gefahr gelaufen, mit dem Thema zu locker umzugehen. Das konnte ich nicht riskieren, denn selbst wenn ich versuchte, mir selbst zu zeigen, dass ich nicht unnormal war, so musste ich nach die typische Normalität darstellen. Sobald der Computer aus war, war ich wieder der erfolgreiche Jungfußballer, der Hetero…“ „Und das funktionierte?“ „Besser als Sie glauben.“ Kapitel 5 - ENDE <06> .... Unfaires Foulspiel ---------------------------- Wenn man eine Maske aufsetzt und sich vornimmt, sie sein Leben lang zu tragen, so mag einem das erst einmal ganz einfach erscheinen. Es sind vermeintlich nur ein paar Kleinigkeiten, die man verbergen muss, und man denkt nicht, dass es große Mühe kostet, sie immer und überall verstecken und sich vollkommen verstellen zu müssen. Man kann sich nicht vorstellen, wie anstrengend ein derartiges, psychisches Spiel sein kann, Energie raubender als jedes noch so harte Fußballspiel. Doch irgendwann lernt man, dass es eigentlich nahezu unmöglich ist, auf ewig eine Maske zu tragen. Meine Maske bestand zunächst aufgrund von Verdrängung und weil ich nicht weiter nachdenken wollte. Ich habe lange nicht nur meine Umwelt belogen, sondern auch mich selbst. Ich wollte die Wahrheit nicht erkennen, hatte Angst davor, von ihr ergriffen zu werden. Was wäre, wenn ich mir erst einmal meiner selbst vollkommen bewusst sein würde? Doch irgendwann konnte ich nicht mehr davonlaufen und vor mir selbst fliehen; irgendwann musste ich mir meine Sexualität eingestehen, denn eigentlich hatte ich schon lange genug mit ihr gelebt, hatte bereits mit ihr geliebt… nun würde ich sie auch weiter tragen können. Also perfektionierte ich meine Maske nun bewusster, überlegte mir, wie ich auftreten musste, um die Leute nicht zum Nachdenken zu bringen. Ich wurde so gut, dass ich dann und wann in der Öffentlichkeit selbst an meine Rolle mit dem Namen „Hetero“ glaubte. Miriam war ein wesentlicher Bestandteil davon und der Teil meines falschen Spieles, der es mir einfacher machte. Es war wichtiger als der negative Punkt, dass ich während des Sexes viel zu oft an Männer dachte; viel mehr war es ihre menschliche Seite, die mir nahe wurde, die mir gut tat, die es erreichte, dass ich auf gewisse Weise tatsächlich Liebe für sie zu entwickeln begann. Miriam war drei Jahre älter. Das gefiel mir sehr gut, da ich so kein kindisch, tussiges Mädchen an meiner Seite hatte, sondern jemanden, der bereits zu einer erwachsenen Frau heranreifte. Mit jedem Tag, den ich mit ihr verbrachte, war ich froh, dass ich ausgerechnet sie zu mir gehörte. Sie verlangte nie, dass wir redeten, wenn sie merkte, dass ich lieber schweigen und meinen Gedanken nachhängen wollte. Auch drängte sie nie, dass ich ihr meine Probleme darlegen sollte, denn sie vertraute darauf, dass ich damit schon von alleine zu ihr käme. In gewisser Weise stimmte das auch, zumindest wenn die Probleme nichts mit einem speziellen Thema zu tun hatten. Sie ließ mir meine Freiheiten, bestand nicht darauf, dass man sich täglich sah, sondern gönnte mir von Anfang an meinen eigenen Freundeskreis, so wie sie auch den ihren hatte. Mit Fußball konnte sie nicht so viel anfangen, doch das war wahrscheinlich auch ganz gut so, denn sonst hätten wir viel zu oft nur darüber geredet. Auf diese Weise konnte ich den Aspekt meines Lebens in ihrer Gegenwart oft vergessen und mit ihr über ganz andere Dinge reden, die weniger eine männlich, harte Seite verlangten. Weiterhin hatten wir einen ähnlichen Filmgeschmack, denn sie liebte Horrorstreifen und Actionfilme. Und sie kochte unheimlich gerne, was nicht nur ich genoss, sondern auch Til und Lutz. Alles in allem war sie die perfekte Person für mich, bis auf das Problem, dass sie halt eine Frau war. Nun mag man meinen, dass das mit der Zeit eigentlich egal werden sollte. Immerhin liebt man doch nicht den Körper einer Person, sondern sein Wesen, sein Inneres. Das stimmt natürlich und auf gewisse Weise ist es für mich selbst unverständlich, doch ich habe es nie geschafft, zu vergessen, dass sie eine Frau ist. Ich habe nie aufgehört, mir irgendwo tief in mir einen Mann an meine Seite vorzustellen. Denn auch wenn man es oft als nicht so wichtig abstempeln will, weil es dann vielleicht ethisch korrekter wäre, so geht es doch in einer Beziehung zu einem großen Teil um Sex. Körperliche Anziehung ist etwas sehr Wichtiges in einer Partnerschaft und so sehr ich ihren weiblichen Körper rein objektiv mochte, so wenig erregte er mich subjektiv. Ob es nun dieser körperliche Faktor war oder nicht, letztendlich habe ich Miriam nie wirklich die Liebe entgegenbringen können, wie sie normalerweise zwischen einem Paar besteht. Sie war für mich eine platonische Liebe, eine Schwester, die beste Freundin, die ich mir vorstellen konnte, eine Person, die ich nie missen wollen würde. Aber sie war niemals auch nur eine Sekunde lang meine große Liebe. Dabei hätte ich vermutlich mein Leben für sie gegeben und ihr, wenn ich es in der Hand gehalten hätte, mein Herz geschenkt… also dachte ich, dass der Teil, den sie bereits davon besaß, schon genug sein würde, immerhin gehörte ihr doch der größte Teil. Als ich das nächste Mal Verein und Wohnort wechselte, war ich seit einigen Monaten siebzehn. Es war ein ausländischer Verein, was mir eigentlich ganz gut gefiel, da ich den Gedanken mochte, ein wenig mehr von der Welt zu sehen. Miriam überlegte zunächst, mit mir umzuziehen, doch ich schaffte es, sie davon zu überzeugen, es nicht zu tun. Dies war ausnahmsweise kein Eigennutz, sondern lag in ihrem Studium begründet. Vor einem halben Jahr hatte sie damit begonnen und ich wollte einfach nicht, dass sie es für mich schmiss. Ich wollte ihr diesen Teil ihres Lebens nicht wegnehmen, sie sollte nicht ihren Traum für meinen opfern. Ich würde ihr erhalten bleiben, das versprach ich ihr. Mit keiner Frau würde ich fremdgehen, das sagte ich ihr genau so ins Gesicht, ohne dabei zu lügen. Ich wusste, dass ich mit keiner Frau schlafen wollte außer mit ihr und sie wusste das auch, selbst wenn sie nicht die wirklichen Gründe kannte. Wir versprachen uns also, dass wir jeden Tag voneinander hören würden, selbst wenn es nur eine SMS sei. Wir wollten daraus keinen Zwang werden lassen, sondern es tun, weil wir uns liebten, weil wir uns wichtig waren. Außerdem konnte man nie wissen, wie lange ich wirklich im Ausland bleiben würde. Zunächst war es nur als Abenteuer geplant. Das Abenteuer führte mich in ein neues Leben ein und in einen neuen Teil von mir selbst. Bisher hatte ich gedacht, dass mir Pornos genügen würden, um meine Fantasien zu befriedigen, doch bald begriff ich, dass das nicht so einfach war. Mein junger Körper wollte mehr als Selbstbefriedigung und das Problem bestand wahrscheinlich vor allem darin, dass ich nun auch Miriam nicht mehr hatte, mit der ich schlafen konnte, wenn ich geil war. Natürlich, ich hätte in ein Bordell gehen können, um mir eine Frau zu nehmen, oder ich hätte auch einfach eine Frau in der Disko aufgabeln können, doch ich hatte es Miriam versprochen. Ich betrog sie bereits was mein Herz anging, meine Sexualität, mein Wesen… ich durfte nun nicht in den Armen einer anderen Frau Befriedigung suchen. Und ich wollte es auch gar nicht. Das, was ich dann tat, war kaum besser, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Ob es nun eine Frau ist oder ein Mann, mit dem man seinen Partner betrügt, wird für diesen letztendlich keinen Unterschied machen, denn der Akt ist der gleiche. Vielleicht ist es sogar schlimmer, wenn es das andere Geschlecht ist, denn so zeigt man deutlich, dass man hier etwas bekommt, was man daheim vergeblich sucht. Doch ich beschloss, dass sie es nie erfahren würde und mein Versprechen, mit keiner Frau zu schlafen, hielt ich schließlich auch. Also fühlte ich mich zumindest ein winziges bisschen weniger schlecht, was sicherlich auch daran lag, dass es etwas war, das ich tatsächlich tun wollte. Seit Dennis hatte ich nie wieder einen anderen männlichen Körper auf erregende Weise angefasst, nie einen anderen Penis berührt außer meinen eigenen. Ich hatte noch nie einen Mann geküsst, noch nie männliche Hände sexuell auf meiner Haut gespürt. Und so sehnte ich mich bereits seit vielen Jahren danach, kaum wissend, wie ich diese Sehnsucht irgendwie kompensieren könnte. Die Idee, der Gedanke, kam mir im Internet. Lange versuchte ich, ihn nicht zu denken, sie nicht mit Fantasien auszuschmücken. Ich stürzte mich noch mehr in den Fußball und versuchte, nicht nachzudenken, was schier unmöglich war. Letztendlich erregte mich der Gedanke so sehr wie ich ihn gleichzeitig abstoßend, widerwärtig fand. Und doch hielt mich jede Moral, jedes Schuldgefühl oder jeder Ekel nicht zurück, und mit noch nicht ganz achtzehn Jahren betrat ich das allererste Mal ein Sexkino für Schwule. Ich hatte mir den Ort lange ausgeguckt, sehr viel darüber nachgedacht, wie ich ihn erreichen konnte, ohne gesehen zu werden. Ich fühlte mich ständig und zu jeder Zeit unter Beobachtung, manchmal selbst dann, wenn ich alleine in meiner Wohnung war. Mein Versteckspiel hatte meine Reize gestärkt, und ich glaubte, in jedem falschen Blick Gefahr zu lesen. Ich war aufmerksam und übervorsichtig, manchmal ängstlich und fast paranoid. Ich versuchte es sage und schreibe fünf Mal, mir den Weg zu dem Kino zu erschleichen, immer wieder anders gekleidet, doch wieder und wieder machte ich einen Rückzieher. Es dauerte lange, bis ich den Mut hatte, mitten in der Nacht, eingehüllt in einen riesigen Rollkragenpulli, obwohl es den ganzen Tag über 30 Grad gewesen waren. Zudem trug ich eine spiegelnde Sonnenbrille, die mein halbes Gesicht verbarg, und eine tief sitzende Mütze. Ich kam mir unheimlich dämlich vor und fragte mich bei jedem Schritt, weshalb ich mir das überhaupt antat, doch gleichzeitig war eine unbändige Neugierde in mir gewachsen und die Sehnsucht brannte. Die Sehnsucht nach dem Unbekannten, das ich mir schon immer verwehrt hatte. Sie war mittlerweile stärker als meine Angst, zumindest dann und wann, wenn ich alleine in meinen vier Wänden war. Der Kassierer des Kinos beachtete meine Aufmachung nicht. Vermutlich sah er dergleichen nicht zum ersten Mal. Er fragte nach meinem Alter, ich log und wurde durchgelassen. Zögernd trugen mich meine Schritte und dann ließ ich mich in der allerletzten Reihe nieder. Der Film war schon längst im Gange. Natürlich waren die Bilder heiß und ich wurde schnell hart, zumal leises Stöhnen von hier und da den Raum erfüllte. Männliches Stöhnen, nicht aus den Lautsprechern, sondern live um mich herum. Mein Herz schlug wie wild und mein Schwanz drückte erregt gegen das Innere meiner Jeans. Alles verlangte nach Befriedigung. Doch ich konnte es nicht, nicht bei diesem ersten Besuch. Ich machte noch nicht mal den Reißverschluss auf, sondern verließ das Kino fast so schnell wieder, wie ich gekommen war, fluchtartig und innerlich dreckig. Erst in meiner kleinen Zweizimmerwohnung holte ich mir einen runter und fühlte mich dabei unheimlich schuldig. Am liebsten hätte ich mir diese widerliche Seite meiner Selbst herausgeschnitten. Wieso gab es bloß keine Möglichkeit, das zu unterdrücken? Wieso tat ich etwas derartig Abartiges? Wieso war ich kein normaler Mann? Ich machte mir Vorwürfe, die ganze Nacht hindurch und noch auf dem Spielfeld am nächsten Tag, wo mir allerdings niemand etwas anmerkte. Sie alle lobten mein eifriges Spiel und hatten keinen blassen Schimmer, wie ich mich gerade selbst hasste. Am liebsten hätte ich es herausgeschrien. Ich platzte fast, weil ich es so grausam fand so zu sein. Wieso ausgerechnet ich? Doch es brachte nichts. So sehr ich mich hasste, verabscheute und kontrollierte, so sehr zog mich dies Verbotene doch immer weiter an. Es war wie ein Magnet, der mich nicht loslassen wollte. Ich konnte nichts dagegen tun, obwohl ich mir armselig vorkam. Und so hinderte mich letztendlich nichts stark genug daran, eine Woche später wieder in das Kino zu gehen. Ich verließ es weniger schnell als beim ersten Mal, doch auch dieses Mal ohne Befriedigung an Ort und Stelle. Erst beim dritten Besuch wurde ich schwach, versuchte mein Stöhnen zu unterdrücken und verschwand, sobald ich abgespritzt hatte. Dies wiederholte ich noch ein paar Mal, dann irgendwann war ich mutig genug, mich direkt neben einen anderen Mann zu setzen. Zumindest in der Dunkelheit des Kinosaals erschien er mir kaum älter als ich, doch letztendlich war das ohnehin egal. Dieser mir vollkommen Fremde war nun der erste, mit dem ich meine homosexuelle Neigung teilte, selbst wenn wir uns nur mit den Händen berührten. Natürlich war es geil, doch als ich später in meinem Bett lag, fühlte ich mich dreckiger als je zuvor. Ich rief Miriam an und sagte ihr, dass ich ihre Stimme hören wollte. Sie fragte nicht weiter und erzählte mir einfach von ihrem Tag, nicht ahnend, dass ich Arschloch sie betrogen hatte. Ich bin wahrlich nicht stolz darauf, doch auch wenn ich mir vornahm, nie wieder in dieses Kino zu gehen, so konnte ich mich selbst nicht daran hindern. Ich besuchte es nicht oft, doch ab und an fühlte ich mich einsam. Das soll keine Entschuldigung sein, es war lediglich der Grund. Manchmal saß ich nur da und befriedigte mich selbst, doch ein anderes Mal machte ich mit den merkwürdigsten Kerlen rum. Küssen ließ ich mich dabei nie, achtete außerdem sehr genau darauf, dass keiner je mein Gesicht sah oder Worte von mir hörte. Auch hatte ich mit keinem einzigen der Männer richtigen Sex, selbst wenn ich es eigentlich ausprobieren wollte und deutlich war, dass viele danach verlangten;. Ich tat es nicht, aus Angst, aus Selbsthass, wegen Miriam und weil ich mich nicht so einfach hergeben wollte. So einsam ich mich vor den Besuchen fühlte, so schmutzig fühlte ich mich jedes Mal hinterher. Ich duschte dann lange und rieb mir dabei fast die Haut vom Körper. Und oft telefonierte ich anschließend mit Miriam, sagte ihr, wie sie mir fehlte und dass ich sie bald sehen wollte. Das war keine Lüge. Ich vermisste Miriam wirklich an meiner Seite, da sie mir oft Kraft gegeben hatte und Ruhe. Weil ich mich ab und an in ihrer Gegenwart vergessen konnte, mich und mein schäbiges Selbst. „Wurde Miriam nie misstrauisch?“ „Nein, nicht ein Mal.“ „Sie haben also dieses Doppelleben immer weiter geführt?“ „Nein, nicht immer. Es gab Zeiten, in denen ich monatelang nicht in so ein Kino ging… entweder, weil Miriam mich besuchen war oder weil ich mich einfach schon dreckig genug fühlte. Außerdem wird so etwas riskanter und schwieriger je bekannter man wird…“ „Haben Sie in der Zeit darüber nachgedacht, sich von ihr zu trennen?“ „Mehr als ein Mal. Aber zu einfach klingen mag, auf meine Weise habe ich sie geliebt und wollte sie nicht verlieren. Und ich wollte ihr nicht wehtun…“ „War Ihnen nicht klar, dass Sie das irgendwann würden?“ „Ehrlich? Nein. Ich dachte, ich könnte immer so weiter machen… und vielleicht würden diese Triebe auch irgendwann nachlassen. Das mag naiv klingen, aber ich habe das wirklich geglaubt.“ „Also haben Sie ihre Maske weiter getragen?“ „Ja… aber sie wurde immer schwerer.“ Ich hatte das Thema Homosexualität immer tunlichst aus meiner Umgebung ferngehalten. Wenn darüber gesprochen wurde, dann abwertend zwischen uns Fußballern, weil komische Witze fielen oder jemand mit einem der Schimpfwörter neckend bedacht wurde. Keiner nahm es ernst, denn so etwas wie Homosexualität kommt bei einem Fußballer einfach nicht vor! So ist die Regel, danach leben wir alle. Ich habe manchmal darüber nachgedacht, was wäre, wenn sich irgendjemand outete. Es käme auf den Bekanntheitsgrad an, auf die Liga, doch vermutlich würde er in jedem Fall erst einmal ziemlich fertig gemacht werden. Dabei ist Homosexualität mittlerweile sogar in der Politik kein Tabu mehr, wieso dann also bei einem so primitiven Sport wie Fußball? Ganz verstanden habe ich das nie, aber selbst wenn, hätte ich daran nichts ändern können. Wenn ein Fußballer schwul wäre, würde er als schwach gelten. Er würde vermutlich kaum Bälle zugespielt bekommen, würde die meisten Fouls ertragen müssen, ohne dass der Schiedsrichter pfeift. Wenn er sich wirklich weh täte, weil er gerade einen Fuß in den Bauch bekommen hatte oder böse umgeknickt war, würde er als Weichei beschimpft werden und vielleicht sogar ausgelacht. Viel schlimmer wäre es aber vermutlich abseits des Feldes, bei Feiern, unter der Dusche, in der Kabine. Fußball ist ein sehr enger Sport. Man kann hier wahre Freunde finden, mit denen man alles teilt. Man ist männlich und cool und wenn man sich in den Arm nimmt, weil ein Tor gefallen ist oder gerade etwas anderes schönes passiert ist, so gilt dies nicht als schwach oder unmännlich, denn man ist ja ein Hetero. Wenn man dem Mannschaftskollegen spielerisch einen Klaps auf den Hintern gibt, so denkt sich keiner etwas dabei, selbst dann nicht, wenn man in der Dusche rangelt bis man sich lachend am Boden miteinander balgt. Das alles sind männliche Freundschaftsrituale, die zeigen, dass man sich auf dem Feld bei einem Spiel vertrauen kann. Doch was ist, wenn nun einer dabei ist, der vielleicht durch den Besuch in der Dusche erregt wird? Oder wenn alle glauben, dass er gerne seinen Kollegen an den Hintern fasst? Dann würden sie ihm aus dem Weg gehen, ihn meiden, sich beim Duschen bedecken und tunlichst nicht mehr bücken. Bei einem erfolgreichen Tor gibt es wahrscheinlich noch einen Handschlag und in einer betrunkenen Runde wird man niemals den Arm um die Schulter gelegt bekommen. Natürlich, vielleicht ist das alles auch nur sehr überspitzt negativ gesagt, doch genau vor diesen Dingen habe ich Angst. Ich will nicht anders behandelt werden, nur weil ich auf Schwänze stehe. Das heißt doch nicht, dass ich meine Kollegen angaffe und als Lustobjekt ansehe. Im Gegenteil, dadurch, dass man die Leute kennt und viele ganz alltägliche Situationen mit ihnen erlebt, ihre Macken oft genug erfahren hat, beginnen sie, unattraktiv zu werden. Ich für meinen Teil achte nicht auf ihre nackten Körper unter den Duschen. Ich starre sie nicht an und geile mich nicht daran auf. Ich käme nicht mal auf die Idee, das zu tun, denn auf gewisser Weise sind sie wie meine Brüder und wenn ich hetero wäre, würde doch auch keiner glauben, dass ich meine Sophie angaffe. Doch man kann nicht verlangen, dass das verstanden wird. Da ein Hetero normalerweise mit Frauen nie so eng zusammen ist, wie wir es beim Fußball sind, kann er sich nicht vorstellen, dass es da eine andere zwischenmenschliche Ebene gibt, die nichts mit der Sexualität zu tun hat. Stattdessen wird angenommen, dass man es als Schwuler auf jeden Kerl abgesehen hat. Was ein Irrsinn! Um in der Realität zu sprechen, bei mir war es so, dass ich nach Karim meine Augen vor meinen Teamkameraden bewusst verschloss. Ich ging keine zu engen Freundschaften mit ihnen ein, da ich so etwas nicht noch ein zweites Mal erleben wollte. Ich wollte mich nicht noch einmal in jemanden verlieben, mit dem ich so viel teilte, dem ich so nahe war. Und so konnte ich von Glück sprechen, dass auch tatsächlich nie jemand in den Mannschaften auftauchte, der mein Interesse wirklich weckte. Natürlich, hier und da fand ich einen Neuzugang ganz attraktiv oder konnte ich nach einem erneuten Vereinswechsel nicht anders, als wenigstens einen kurzen Blick auf meine neuen Kameraden zu werfen, doch letztendlich war nie jemand dabei, für den ich Gefühle riskiert hätte. Ich wollte nur Freundschaft von ihnen, eine etwas distanzierte Freundschaft, in der nicht verlangt wird, dass man alles über sich preisgibt. Außerdem war ich ohnehin nie lang genug an einem Ort, um ein engere Bindung aufzubauen. Das Thema Homosexualität im Fußball beschäftigte jedoch nicht nur mich, sondern an irgendeinem Punkt auch meine Freundin. Miriam interessierte sich allgemein sehr für die Psychologie von Menschen, so war es eigentlich kein Wunder, dass sie auch dieses Thema irgendwann ansprechen würde. Wahrscheinlich hätte jeder Fußballer irgendwie allergisch darauf reagiert, dass sie bei mir aber einen besonders wunden Punkt treffen würde, konnte sie natürlich nicht ahnen. Das Thema kam auf, als sie mal wieder bei mir zu Besuch war. Sie hatte während der Zugfahrt einen entsprechenden Artikel gelesen und wollte gerne darüber mit mir reden. Ich wollte dies, verständlicherweise, auf gar keinen Fall, zumal ich in der allerersten Sekunde befürchtete, enttarnt worden zu sein. Also reagierte ich gereizt und schlecht gelaunt darauf, fragte sie, warum sie das Thema überhaupt interessierte. Sie sagte, wie schlimm sie es fände, dass sich ein schwuler Fußballprofi sein Leben lang verstecken müsste. Sie redete darüber, als würde sie alles verstehen, jedes Problem, den Druck und Schmerz, und alles, was sie von mir wollte, war meine Zustimmung. Eigentlich hätte ich nur nicken müssen, mein Mitleid beteuern und sagen, dass ich, wenn sich in meiner Mannschaft einer outen würde, damit keine Probleme hätte. Für mich, der ich doch selbst in genau der Situation war, hätte das doch eigentlich ganz einfach sein sollen. Doch das war es nicht. Denn ich fürchtete Enttarnung, hatte Angst um meine Existenz und auch ein kleiner Teil meines aufgebauten Heterostolzes ließ es nicht zu. Also fauchte ich sie an, dass Schwule kein Fußball spielen könnten. Sie seien zu schwach dafür, zu sehr Frau, und so weiter. Ich zählte ihr genau die Argumente auf, die ich gegen mich vermutete, wenn ich mich jemals outen würde. Ich zählte ihr die Gründe auf, welche mich nicht mal im Traum daran denken ließen, je einem Menschen die Wahrheit zu sagen. Und ich echauffierte mich dabei völlig, was Miriam natürlich gar nicht begriff. Sie warf mir Intoleranz an den Kopf und verließ wütend das Zimmer. Abgesehen davon verstanden Miriam und ich uns prächtig. Beide hörten wir von unseren Freunden immer Bewunderungen darüber, dass wir diese Fernbeziehung lebten, doch wir verstanden nicht, was daran so schlimm sei. Allerdings muss ich sagen, dass es für mich ohnehin etwas anderes sein musste als für sie. Ich vermisste meine beste Freundin, sie ihren Liebsten. Das ist ein Unterschied, der natürlich nie zur Sprache kam. Dadurch, dass wir lange nicht zusammenlebten, fühlte ich mich ein Stück frei. Nachdem ich bei Til und Lutz ausgezogen war, hatte ich beschlossen, nicht noch einmal in eine WG zu ziehen. Das war nicht mein Ding, ich brauchte mein eigenes Reich, nicht nur ein eigenes Zimmer. Auf Auswärtsspielen war ich schon eng genug mit anderen Menschen zusammen, dann brauchte ich wenigstens hier und da Zeit und einen Rückzugsort ganz für mich alleine. Und immerhin verdiente ich mittlerweile auch mehr als genügend Geld, um mir diesen Luxus zu leisten. Ich war gerade achtzehneinhalb als ich zum ersten Mal ins Gespräch für die Nationalmannschaft kam. Mittlerweile hatte ich schon bei drei Erstligavereinen gespielt und in zwei verschiedenen großen Auslandsvereinen. Im nächsten Jahr standen wieder Europameisterschaften an. Ich konnte es kaum fassen. Natürlich wusste ich mittlerweile, wie gut ich war. Ich war flinker als viele andere und sehr schusssicher. Fast jeder Elfmeter traf ins Tor und bei Zwei- oder oft sogar Dreikämpfen behielt ich die Überhand. Zuerst hatten sich die Zweitligavereine um mich geschlagen, dann die der ersten Liga. Ich ging Schritt für Schritt näher einem Traum entgegen, den ich nie für real gehalten hatte, doch nun war ich fast am Ziel. Ich liebte diesen Sport, ich liebte das Reisen durch die verschiedensten Länder, liebte es, ständig neue Gesichter zu sehen, auf neuen Rasen zu stehen und immer andere Bälle zu treten und auszuprobieren. Das Geld liebte ich natürlich auch und den Ruhm, die Anerkennung. Frauen flogen auf mich und Männer bewunderten mich. Das war ein gutes Gefühl und alles, was ich je hatte erreichen wollen. Zumindest war ich davon lange Zeit vollkommen überzeugt. „Damals haben Sie es nicht in die Nationalmannschaft geschafft.“ „Stimmt. Sie hatten viele gute Leute zur Verfügung, deshalb kam ich nicht in den Kader. Aber sie meinten, ich solle weiter trainieren, meine Chancen ständen gut…“ „Und wie wir heute sehen, hat es geklappt!“ „Ja, sogar recht bald. Als ich 20 war, rief mich mein Manager an und verkündete es mir… Sie können sich vorstellen, wie aus dem Häuschen ich war!“ „Das kann ich. Sicher haben sich ihre Eltern sehr darüber gefreut.“ „Ja, aber der erste, den ich angerufen habe, war Dennis.“ „Aha?“ „Ja. Wir hatten schon lange nicht mehr geredet, aber ich wollte es ihm sagen. Ich wusste, dass er mittlerweile bei einer Versicherungsgesellschaft arbeitete und scheinbar keines meiner Spiele verpasste. Ich wollte es ihm sagen, bevor er es aus dem Fernsehen erfuhr.“ „Und wie hat er reagiert?“ „Na, er hat sich riesig für mich gefreut! Und dann wollte er wissen, wie es mir die ganze Zeit über ergangen war… und in dem Moment ist es einfach so aus mir heraus gesprudelt…“ „Was? Dass sie schwul sind?“ „Nicht direkt, aber ich habe ihm gesagt, dass ich ein Versteckspiel lebe und langsam daran kaputt gehe. Dann habe ich aufgelegt.“ Kapitel 6 - ENDE <07> .... Flanke von Außen -------------------------- Als Kind ist noch alles ganz einfach. Du findest ein Hobby, vielleicht auch zwei oder drei. Du betreibst es, weil du Spaß daran hast. Es geht nicht darum, ob du gut oder schlecht bist, sondern nur darum, wie viel Freude es dir bereitet. Doch du wirst älter, besser in manchen Dingen und an anderen verlierst du das Interesse. Du entwickelst neue Hobbys, alte bleiben erhalten und wenn du Glück hast, warst du von Anfang an mit einem entsprechenden Talent gesegnet, das lediglich erkannt werden musste. Ist dies der Fall, so kannst du es mit dem richtigen Training entsprechend fördern, kannst besser werden, noch viel mehr Spaß daran haben. Für viele geht der Weg an dieser Stelle zu Ende, doch für den Fall, dass du besonders großes Glück hast und die Sache richtig angegangen bist, dann kann dein Weg steil bergauf gehen. Natürlich musst du dafür kämpfen und vieles bleibt dabei auf der Strecke. Du lässt Freunde zurück, verlierst hier und da einen Teil deines jugendlichen Lebens, doch dafür ist aus deinem Hobby mittlerweile ein Traum geworden. Und mit jedem Schritt, den du weiter voran gehst, kommst du einem Ziel näher, von dem unendlich viele Kinder träumen, die niemals die Chance haben werden, es zu erreichen. Aber dir bietet sie sich und im rechten Moment hast du sie erkannt und ergriffen. Ab nun, wenn alles ideal läuft, kommst du immer weiter, immer schneller voran, höher, wirst besser, immer öfter gelobt, abgeworben vom einen Verein zum nächsten, dann noch einen weiter. Irgendwann kostest du eine Million, dann zwei, dann so viele, dass du es dir nicht mehr vorstellen kannst. Und du verdienst selbst viel, viel Geld, dein Kontostand steigt, du kannst dir alles leisten, von dem du je geträumt hast. Jeder kennt dich, viele lieben dich, noch viele mehr beneiden dich… Du bist ein Held, du bist ein Idol. Außerdem gibt es vielleicht auch noch das Glück auf der privaten Seite. Hier hast du eine Frau an deiner Seite, eine wundervolle, intelligente Frau, die dich heiraten will. Sie spricht von Kindern, will mit dir eine Familie gründen und lacht mit dir darüber, wie ihr euch irgendwann im Rollstuhl Geschichten erzählen werdet. Mit ihr kannst du einen weiteren Schritt zur Vervollständigung deines Lebens gehen. Es mag dir wie ein modernes Märchen erscheinen, wie eine ideale Geschichte, wie das, was sich jeder wünschen mag. Und du kannst es erhalten für einen ganz geringen Preis. Alles, was du dafür aufgeben musst, ist ein winziger Teil deiner selbst. Er ist für andere unsichtbar, keiner kennt ihn, du hast dich lange für ihn vor dir selbst geschämt, ihn vor anderen verborgen und wirst dich mit ihm noch viel länger verstecken müssen. Diesen Teil zu verlieren, ist das nicht ein kleiner Preis, im Gegenzug zu all dem, was du dafür zurück bekommen kannst? Es ist komisch, wenn man die Dinge auf diese Weise betrachtet; allgemein, wenig problematisiert… Dann erscheint der Preis sicherlich nicht besonders groß, immerhin hat man ihn schon lange gezahlt, da wird man es auch weiter tun können. Auch ich habe lange genauso gedacht, habe angenommen, dass es reicht, um zufrieden zu sein. Ich habe doch so viel bekommen, kann ich dann nicht dieses wenige einfach vermissen und vergessen? Man mag es glauben, doch in der Realität reicht die Erfüllung eines Kindheitstraumes nur selten aus, um wirklich glücklich zu werden. Allerdings ist das nichts Offensichtliches und so erkennt man wohlmöglich zu spät, dass einen alles Geld der Welt nicht glücklich machen kann. Es bereichert dich, aber es erfüllt dich nicht. Auch die Frau an deiner Seite ist nicht das, was du dir wirklich wünschst. Du magst ihre Nähe und liebst es, mit ihr zu reden, doch sie ist nicht genug. Und selbst auf dem Feld vergisst du nicht mehr alles um dich herum, dabei spielst du mittlerweile auf der Weltbühne, jeder Fußballfan und noch viele mehr kennen dich und du darfst auf den berühmtesten Plätzen den Ball ins Tor bringen. Doch all das reicht dir nicht. All das kann dich nicht so glücklich machen, dass es dir diesen winzigen Teil deiner selbst zurückgibt, den du vor langer Zeit irgendwo auf dem Weg verloren hast. Es erfüllt dich nicht, hilft dir nicht, nachts einzuschlafen, wenn du Gedanken hast, die du nicht haben darfst. Es hilft dir nicht, wenn du dich im Spiegel betrachtest und dafür hasst, wie du lebst. Es hilft dir nicht, dein Leben zu lieben, geschweige denn dich selbst. Im Gegenteil. Eigentlich machen all die Sachen, die du erreicht hast und die du wie selbstverständlich bekommst, das alles nur noch viel schlimmer. Denn du weißt doch, wärest du damals nicht zum Sportverein gegangen oder hättest dir einmal eine Sehne ganz böse gerissen, dann wäre es anders gekommen; dann wärest du jetzt vielleicht bei der Sportzeitung tätig oder als Handwerker. Dann hättest du keine Millionen, vielleicht noch nicht mal ein paar Zehntausend auf dem Konto. Die hübsche Freundin hättest du wahrscheinlich nie kennengelernt und wenn es hoch käme hättest du in den jungen Jahren gerade mal zwei oder drei fremde Länder bereist. Doch dafür könntest du du selbst sein – du wärest frei! Es war nicht, wie man jetzt annehmen mag, Dennis, der mich dies hat realisieren lassen. Es lag nicht an dem Telefongespräch mit ihm oder dass ich ihn irgendwie sonderlich arg vermisste. Es war etwas anderes, das in mir zerbrach, als ich erfuhr, dass ich schon in der übernächsten Woche mein erstes Training in der Nationalelf haben könnte. Allerdings realisierte ich es erst, nachdem ich Dennis das mit dem Versteckspiel gesagt und aufgelegt hatte. Danach saß ich im Wohnzimmer und fühlte mich leer. Das war komisch, denn eigentlich hatte sich soeben mein größter Traum erfüllt. Ich würde in die Nationalelf kommen, würde einer der ganz großen werden und im nächsten Jahr, wenn ich mich gut machte, unser Team zum Weltmeistertitel begleiten. Trotzdem fühlte ich mich unbeschreiblich leer, denn es gab keinen Menschen für mich, nach dem ich mich in diesem Augenblick sehnte. Natürlich, ich freute mich darauf, es meinen Eltern zu sagen, Sophie und Miriam. Doch das war ein anderes Gefühl; es füllte die Leere nicht. Und auch Dennis war bei weitem nicht diese Person. Ihn hatte ich angerufen, weil wir uns einmal versprochen hatten, dass wir einander als erstes Bescheid geben würden, wenn wir entweder richtig berühmt oder Vater werden würden. Ich hatte das Versprechen gehalten, doch ich wusste auch, hätte es eine Person in meinem Leben gegeben, die mir wichtiger war als jede andere, dann wäre sie an erster Stelle gestanden. Doch die gab es nicht. Vielleicht hätte es damals Karim werden können, immerhin hatte ich vor Jahren in einer ähnlichen, wenn auch viel kleineren Situation zuerst an ihn gedacht, doch die Zeit war längst vorbei. Mittlerweile empfand ich nur noch Reue ihm gegenüber, schon längst keine Liebe mehr. Und es gab einfach niemanden sonst, den ich so sehr liebte, dass er meine erste Person werden würde. Meine wichtigste Person. Ich wusste sehr gut, dass das alles daran lag, dass ich dazu bereit gewesen war, einen ganz bestimmten Teil meiner selbst zu verleugnen, zu verstecken… zu hassen. Ich suhlte mich noch ein bisschen in Selbstmitleid, dann raffte ich mich endlich wieder zusammen und rief Miriam an. Ich dachte mir, dass sie es sicher schaffen würde, mich aufzumuntern, und so war es dann auch, selbst wenn das Gefühl mich nicht vollends durchströmte. Anschließend rief ich meine Familie an; meine Mutter brach in Freudentränen aus. Dann war es wieder still in meiner Wohnung. Viel zu still, so dass es mich fast auffraß, weshalb ich beschloss, die Jungs aus meiner Mannschaft zusammenzutrommeln. Wir würden feiern und mit Thomas könnte ich direkt taktische Pläne für meine Rolle in der Nationalelf schmieden, denn er war selbst im letzten Jahr dazugestoßen. Ablenkung, die suchte und brauchte ich jetzt. Ein paar Tage später rief ich Dennis erneut an. Er hätte mich seinerseits nicht erreichen können, da meine Nummer nicht öffentlich und zudem verdeckt gewesen, und bei meinen Eltern hätte er wohl auch nie nachgefragt. Umso mehr freute er sich, als ich mich wieder bei ihm meldete. Sofort entschuldigte ich mich dafür, so plötzlich aufgelegt zu haben, doch weiter erklärte ich ihm das mit dem Versteckspiel nicht, denn ich hätte keine Ausrede gewusst; natürlich, ich hatte darüber nachgedacht, aber mir war keine plausible eingefallen. Zum Glück fragte Dennis gar nicht erst danach; vielleicht war er der Ansicht, dass ich schon darüber reden würde, wenn ich es wollte, oder er begriff, dass die Distanz zwischen uns mit den Jahren zu groß geworden war, als dass er einfach fragen konnte. Also telefonierten wir einfach ganz normal miteinander, ganze drei Stunden lang. Wir hatten viel aufzuholen, viel zu erzählen. Es war schön, mit ihm zu reden, machte Spaß und tat sehr gut. Ich erinnerte mich wieder daran, warum ich damals so gut mit ihm befreundet gewesen war, und es war schön, zu sehen, dass man sich nicht zu sehr verändert hatte, um diesen Draht wieder aufzunehmen. Anschließend versprachen wir einander, dass wir ab jetzt öfter telefonieren würden. Das nächste Mal war dann auch schon zwei Monate später, da seine Freundin schwanger war. „Hat sich für Sie etwas geändert?“ „Nachdem ich in die Elf gekommen bin?“ „Indirekt… eher, nachdem Sie zu der Erkenntnis über sich gekommen sind.“ „Erstmal nicht wirklich, schließlich hatte ich das erreicht, wovon ich geträumt hatte. Ich wusste nun zwar, dass mir etwas Entscheidendes fehlte, doch gleichzeitig hätte, es zu suchen, bedeutet, diesen Traum platzen zu lassen, ihn aufzugeben… und dazu war ich nicht bereit.“ „Also haben Sie weitergemacht?“ „Genau. Ich verdrängte es.“ „Und das funktionierte?“ „Zum Teil. Manchmal lag ich nachts wach und konnte nicht aufhören, über meine Situation nachzudenken… Dann fragte ich mich, wie es weitergehen würde, doch ich änderte nichts.“ „Hat Miriam etwas bemerkt?“ „Nein. Vor ihr und vor allen anderen war ich ganz der alte. Sie bekamen nicht mit, dass mir etwas fehlte… und manchmal dachte ich, ich würde vielleicht einfach zu viel verlangen…“ „Inwiefern?“ „Naja… Ich wurde schnell erfolgreich in der Nationalelf, Miriam und ich zogen zusammen. Eigentlich war es ein perfektes Leben, wieso also war es mir nicht genug? Wieso verspürte ich in mir drin dieses sonderbare Gefühl einer ganz speziellen Einsamkeit?“ Zum Glück hatte ich nur wenig Zeit, um viel darüber nachzudenken, was genau es war, das mir fehlte. Ich spielte noch immer bei meinem festen Verein und zusätzlich war ich nun auch noch einer der besten Spieler unseres Land und als solcher bei zunächst vielen, dann bei fast jedem Länderspiel gewünscht. Außerdem rückte die WM merklich näher und die Aufregung in diese Richtung stieg. Würden wir es vielleicht schaffen, dieses Jahr endlich wieder den Titel zu holen? Nebenbei kauften Miriam und ich uns ein Haus und richteten es nach unseren Träumen ein. Zwar wussten wir nicht, wie lange ich an Ort und Stelle verbleiben konnte, doch das war uns mittlerweile gleich. Ich hatte so viel Geld, dass man sich um Umzug und ein neues Zuhause nie Gedanken machen müsste – wieso das also nicht einfach mal genießen? Außerdem tat es mir gut, Miriam jetzt immer bei mir zu wissen, wenn ich in unser gemeinsames Heim kam. So konnte ich auch dort nicht viel nachdenken oder mich einsam fühlen. Mit meinen Kameraden der Nationalelf verstand ich mich bestens. Wir verbrachten viel Zeit miteinander außerhalb der Spiele, zumindest wenn es möglich war. Thomas wurde mein neuer bester Freund, der erste Mann, den ich seit langer Zeit mal wieder an mich heran ließ. Er lag genau auf meiner Wellenlänge, wir unternahmen eine Menge Mist zusammen und hatten viel Spaß. Ein bisschen passierte auch das, was ich befürchtet hatte, wenn ich wieder eine so enge Bindung einginge: ich verguckte mich in ihn. Allerdings nicht allzu stark, vor allem, weil ich ja wusste, dass er in einer glücklichen Heterobeziehung steckte. Dennoch träumte ich dann und wann von ihm und fühlte mich anschließend immer dreckig. In dieser Zeit, wenn wir in fremden Ländern und Städten waren, begann ich auch wieder, in Sexkinos zu gehen, welche ich im letzten Jahr eher gemieden hatte. Ich war vorsichtiger denn je, nicht erkannt zu werden, aber ich brauchte es auch mehr denn je. Miriam konnte ich, wenn ich wieder Zuhause war, allerdings nur schwer in die Augen schauen. Kurz vor dem ersten Spiel der WM heirateten Thomas und Cheila. Die beiden waren seit drei Jahren ein Paar und liebten sich abgöttisch, das sah man ihnen an. Ich fragte mich manchmal, ob Miriam wohl auch den Punkt ausmachen konnte, der die beiden von uns so dermaßen unterschied. Da sie allerdings nie etwas sagte und mir mehr als glücklich erschien, dachte ich mir, dass ich es mir vielleicht auch nur einbildete, weil ich wusste, dass uns etwas Entscheidendes fehlte, welches ich nicht in unsere Beziehung geben konnte. Bei der Hochzeit selbst war ich Trauzeuge; eine Ehre, mit der ich nicht gerechnet hatte, immerhin hatte Thomas andere langjährigere Freunde. Doch er sagte mir kurz vorher, dass er niemandem so sehr vertraue wir mir. Er glaubte, dass wir einander alles sagen konnten und immer ehrlich zueinander waren. In dem Moment war ich kurz davor, ihm aus Schuldgefühlen die Wahrheit an den Kopf zu werfen, doch weil er mich dann auch noch so freundschaftlich innig umarmte, konnte ich es einfach nicht. Ich konnte ihm doch seinen wichtigsten Tag nicht kaputt machen! Also stand ich während der Trauung ganz in der Nähe des glücklichen Paares und fragte mich, wann Miriam und ich wohl diesen Schritt gehen würden. Schon lange, da war ich mir sicher, wartete sie auf einen Antrag meinerseits, doch bisher hatte ich es einfach nicht geschafft. Konnte ich sie wirklich derartig belügen und ihr mit einem Ring sagen, dass es niemanden auf der Welt gab, mit dem ich lieber den Rest meines Lebens verbringen wollte? Noch war ich dazu nicht im Stande, denn irgendwo in meinem Herzen hätte ich dann den Funken Hoffnung erstickt, der mir sagte, dass diese gewisse Einsamkeit, welche ich noch immer empfand, irgendwann mit irgendwem vergehen würde. Wie heißt es so schön? Die Liebe klopft meist dann an die Tür, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann. Sie besucht einen in den schwersten Minuten oder dann, wenn man gerade ganz andere Pläne hat. Und im schlimmsten Fall hat sie nicht vor, jemals wieder zu verschwinden. Auch mich traf sie in einer nicht gerade günstigen Lage, doch zunächst erkannte ich sie gar nicht, so wie einen alten Freund, dessen Gesicht man zwar kennt, aber bei dem man einfach nicht ausmachen kann, weshalb es einem so bekannt erscheint. Ähnlich war es mit meinen Gefühlen; ich hatte einfach verlernt, sie zu deuten. Oder vielleicht hatte ich es auch nie wirklich gekonnt. Ich fand Mathew schon gut aussehend, aber im Grunde war er nicht mein Typ. Ich mochte dunkle Haare, dunkle Augen, große, muskulöse Körper. Mathew war fast das Gegenteil. Er war blond, hatte grüne Augen, war geschätzte vier Zentimeter kleiner als ich und vom Körperbau durchschnittlich bis vollkommen normal. Eigentlich machte ihn sein gesamtes Aussehen nicht zu etwas Besonderem, weshalb ich auch nicht weiter in dieser Beziehung auf ihn achtete, als er uns zum WM-Trainingscamp als einer der neuen Physiotherapeuten vorgestellt wurde. Er war zuständig für Massagen, Verletzungen, Fitnesstraining… für das Wohlbefinden halt. Wenn es rein um den ersten Eindruck ginge, wäre einige der anderen Männer sicherlich interessanter gewesen. Zunächst gab ich mich auch nicht weiter mit ihm ab, was das private Leben angeht. Es mag oberflächlich klingen, aber irgendwie hatte ich mich noch nie richtig mit den ganzen, nennen wir sie mal Helfern beschäftigt. Ich unterhielt mich teilweise ganz gerne mit ihnen, hatte sportliches Vertrauen ihnen gegenüber, was meinen Körper anging, aber wirklich freundschaftlich waren die Verhältnisse nicht. Genauso distanziert ging ich also zunächst auch mit Mathew um. Die ersten Tage beachtete ich ihn wenig, wechselte kaum Worte mit ihm und hätte nicht einmal sagen können, welchen Farbton genau seine Augen hatten, doch irgendwann fiel mir dennoch ihr Strahlen auf, das kleine Glitzern, wenn das Licht hinein schien. Vermutlich glichen sie hiermit immer noch fast allen anderen Augen auf der Welt, und dennoch brannte sich irgendetwas daran in meinem Verstand fest und wenn ich die Augen schloss, sah ich seine vor mir. Natürlich beschloss ich sofort, es nicht weiter zu beachten und ignorierte es gar. Erst einmal klappte dies sehr gut, denn mittlerweile war ich ja mehr als geübt darin, meine innersten Gelüste zu unterdrücken, doch es hinderte mich nicht daran, das Bedürfnis zu entwickeln, mit ihm ein kleines bisschen mehr Zeit zu verbringen als mit jedem anderen Fitnesscoach zuvor. Auch hielt es mich nie davon ab, ihm doch wieder so gerne in die Augen zu sehen. Und leider bemerkte ich so mit der Zeit immer mehr Kleinigkeiten an ihm, die mir ausgesprochen gut gefielen. Wenn man für gewisse Zeit sehr eng zusammen arbeitet und lebt, kommt es schnell, dass man sich auch private Dinge anvertraut – zunächst natürlich erst einmal solche, die nicht besonders wichtig sind. Zum Beispiel erfuhr ich von Mathew, dass er bereits 26 Jahre alt war und somit fünf Jahre älter als ich. Auch wusste ich bald, dass er seit drei Jahren keine Beziehung mehr gehabt hatte, doch damals war er sogar verlobt gewesen. Weiterhin sprach er viel von seiner Familie, die ihm sehr wichtig war, und er schwärmte von seinem Hobby, der Fotografie. Ich merkte eigentlich relativ schnell, dass ich an seinen Lippen hing, wenn er erzählte. Sie waren nicht außergewöhnlich schön, aber ich mochte es, wie er sie bewegte. Und noch viel mehr mochte ich, wie er seine Hände benutzte. Er hatte lange, schlanke Finger, fast schon etwas knochig, und eine sehr gepflegte Haut, obwohl er sich ab und an eine Zigarette gönnte. Trotz dieser Angewohnheit roch er nie nach Rauch, im Gegenteil, ich mochte seinen Geruch sehr gerne. Und wie gesagt, ich liebte es, seine Hände zu beobachten. Irgendwie bewegte er sie äußerst elegant, bedächtig gar, nie überstürzt. Er war nie grob und berührte alles wie mit einer Art ihm eigenen Zärtlichkeit, auch wenn es nur der Geldschein war, den er aus seinem Portmonee nahm. Auch mochte ich es, wie er mit anderen Menschen sprach; wie freundlich er sie anlächelte, seien sie noch so unwichtig, oder wie offen er lachen konnte. Alles in allem kann man wohl sagen, dass ich sehr schnell meine Augen nicht mehr von ihm nehmen konnte, obwohl er, rein objektiv betrachtet, gar nichts Besonderes an sich hatte. Dennoch war ich froh, wann immer ich einen harmlosen Grund hatte, ihn anzusehen. Und ich konnte einfach nicht anders, als zu lachen, wenn er es tat. Ich musste es gar, denn noch nie hatte ich es als so ansteckend empfunden. Trotz all dieser sehr eindeutigen Indizien hätte ich nie im Leben zugegeben, dass ich Gefühle für Mathew entwickelt hatte. Das war ausgeschlossen, unmöglich. Ich würde mich nicht hier und jetzt in einen Mann verlieben, erst recht nicht in einen, der etwas mit meiner Arbeit zu tun hatte. Es würde keinen so schwerwiegenderen Fehler in meinem Leben geben! Also war ich immer mehr darauf bedacht, nicht aufzufallen. Ich versuchte zwar, viel Zeit mit Mathew zu verbringen, aber auf keinen Fall so viel, dass es irgendwie hervorstechen könnte. Daher passte es mir eigentlich ganz gut, dass er schnell zu einem der beliebtesten Physiotherapeuten bei uns geworden war und sich viele gerne mit ihm abgaben. Auf diese Weise fiel ich weniger unter ihnen auf und konnte oft Zeit mit ihm verbringen. Was ich mir dabei nicht eingestand, war die Eifersucht, die ich schnell zu empfinden begann, wann immer Mathew mit jemand anderem zusammen war. Ein paar Tage vor Beginn der WM reiste Miriam an. Sie hatte sich frei nehmen können, was nicht schwer gewesen war, denn sie arbeitete ohnehin nicht für das Geld, sondern weil sie Spaß daran hatte. Das große Turnier wollte sie nun aber auf keinen Fall verpassen und dabei an meiner Seite stehen. Als sie mir gesagt hatte, dass sie kommen würde, hatte es mich gefreut, denn, wie gesagt, ich hatte sie gerne an meiner Seite. Sie tat mir gut und zudem war ich mir sicher, dass sie meine Gefühle wieder etwas ordnen würde. Eigentlich spielte ich seit Thomas’ Hochzeit sogar hin und wieder mit dem Gedanken, ihr nach Ende der WM einen Heiratsantrag zu machen. Oder vielleicht auch zwischendurch, nach irgendeinem unserer Siege. Als sie nun aber vor mir stand und mich in die Arme schloss, schaffte ich es nicht, mich wirklich aufrichtig zu freuen und dem Gedanken positiv gegenüberzustehen. Mit einem Mal quälte er mich wieder und irgendwas störte mich sehr daran. Mehr denn je fragte ich mich, ob ich sie wirklich auf diese Weise hintergehen könnte, mehr denn je war ich unsicher. Aber noch musste ich es ja nicht tun, noch hatte ich Zeit. Und so stellte ich ihr Mathew einen Tag später vor. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich freuen oder ärgern sollte, als ich merkte, dass sich die beiden von der ersten Sekunde an unheimlich sympathisch waren. „Und dann begann ja erstmal die WM…“ „Genau. Unser erstes Spiel war am dritten Spieltag und ich konnte es kaum erwarten. Wie lange hatte ich genau darauf gewartet!“ „Das muss ein atemberaubendes Gefühl gewesen sein.“ „Das war es in der Tat. Und auch wenn ich kein Tor schoss, sondern zudem noch diesen blöden Elfmeter in den Sand setzte, war es wirklich einer der tollsten Tage meines Lebens…“ „Weil Sie es endlich so weit geschafft haben?“ „Ich kann mir denken, worauf sie hinaus wollen. Nein, natürlich lag es nicht nur daran. Es lag zu einem großen Teil auch an Mathew, obwohl ich mir dessen nicht bewusst war.“ „Wirklich nicht?“ „Ich verdrängte es. Natürlich merkte ich auch, dass ich immer wieder zur Trainerbank hinüber schaute und mich freute, wenn seine Augen auf mir lagen, doch ich zwang mich, nicht darüber nachzudenken.“ „Und sonst bemerkte es keiner? Miriam? Thomas?“ „Nein, keiner bemerkte es. Bis auf Mathew.“ Kapitel 7 - ENDE <08> .... Gefühle im Nachspiel ------------------------------ Ich kann nicht genau sagen, wann ich merkte, dass sich seine Blicke ein bisschen veränderten. Oder vielleicht waren sie auch schon von Anfang an anders gewesen und ich hatte zuvor einfach nicht gelernt, sie zu deuten. Doch irgendwann bemerkte ich, dass Mathew mich anders ansah als zuvor oder dass ich in den wunderbaren Augen etwas anderes lesen konnte. So lächelte er mich mit ihnen dann und wann sehr intensiv an, selbst wenn seine Lippen dies zu verbergen versuchten. Oder er hielt vielleicht mal eine Sekunde zu lange meinen Blick, als dass ich es als einfache Coach-Spieler-Beziehung hätte abtun können. Ich bemerkte es und dennoch beschloss ich, es nicht zu verstehen. Unterbewusst führte es allerdings dazu, dass ich mit Miriam ein wenig anders umging, wenn Mathew dabei war. Ich küsste sie öfter, nahm sie inniger in den Arm, versuchte sozusagen alles, um ihm zu zeigen, wie glücklich ich doch mit meiner Freundin war. Seine Blicke aber hörten nicht auf. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass seine Berührungen sich veränderten. Ich muss sagen, zunächst machte mir Mathews Verhalten Angst. Ich begann mich zu fragen, ob er dies machte, weil er irgendwie hinter mein nahezu perfekt gehütetes Geheimnis gekommen war und mich aus der Reserve locken wollte, um mich anschließend zu erpressen. Gefühlte Stunden und Tage machte ich mir darüber Gedanken, denn ich hatte im Internet mal von einem ähnlichen Fall gelesen. Andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet dieser so vertrauenswürdige Mann Pläne schmiedete, die das Leben eines Fußballers zerstören konnten. Doch was mochte dann sein Grund sein, sich mit mir anders zu verhalten als er es mit den anderen tat? Denn mir wurde es immer bewusster, mit jedem Tag, jeder Begegnung. Es war zwar alles andere als offensichtlich, niemand sonst wäre wohl auch nur misstrauisch geworden, doch für mich war es sichtbar genug. Wenn wir alleine waren, drückten seine Augen Zuneigung aus, sprachen gar mit mir; erst wenn jemand in unserer Nähe war, wurde der Blick wieder professionell distanziert. Auch seine Berührungen unterschieden sich, je nachdem, ob wir alleine waren oder nicht. Nur unter uns griff er öfter nach meinen Beinen, um sie an den Geräten anders zu positionieren oder mir bestimmte Muskeln zu lockern. Dies tat er kaum bis gar nicht, wenn jemand dabei war; dann gab er lediglich Tipps oder Anweisungen. Natürlich könnte man natürlich vermuten, dass er es mit allen anderen ebenso hielt – auch darüber dachte ich nach - doch irgendetwas Unbenennbares zeigte mir ganz deutlich, dass dem nicht so war. Ich war anders als die anderen, doch ich wollte noch immer noch wahrhaben, was mich für ihn so anders werden ließ. Das, was am wenigsten zu der ganzen Situation zu passen schien, war die Freundschaft, die Mathew und Miriam mit der Zeit aufbauten. Die beiden verstanden sich unheimlich gut und unternahmen etwas zusammen, wenn wir trainierten und er frei hatte. Auch zu dritt oder fünft, zusammen mit Thomas und Chiela, waren wir anzutreffen, denn auch die drei hatten eine Wellenlänge zueinander gefunden. Mir schien es fast, als käme Mathew mit allen Personen gut zurecht, die mir etwas bedeuteten. Das war ein komisches Gefühl und es machte das alles nicht gerade einfacher. Ich wollte es mir zwar nicht eingestehen, aber mit jedem Tag, der verging, sehnte ich mich mehr nach Mathew. Bald schon galt der Großteil meiner Gedanken – wenn es nicht gerade um Fußball ging – ihm. Auch wenn Miriam in meinen Armen lag, erwischte ich mich dabei, wie ich mir wünschte, ihn bei mir zu haben. Wenn ich dies bemerkte, verdrängte ich die Gedanken sofort wieder, verbot sie mir und lenkte mich irgendwie ab. Doch sie kamen wieder, immer stärker und intensiver. Bald schon war der Drang, ihn zu Berühren, fast unerträglich geworden und ich wusste nicht, wie ich ihn unter Kontrolle bringen konnte. Ich durfte so nicht denken, nicht so fühlen. Es war gefährlich und fatal. Ich hatte viel zu viel zu verlieren, denn was konnte ich denn schon gewinnen? Was hätte mir seine Nähe gegeben? Ich redete immer wieder auf mich ein, innerlich, dann, wenn mich eine Sehnsucht plagte, die mir bisher unbekannt gewesen war. Ich durfte nicht schwach werden! Auf gar keinen Fall! Ganz schlimm war es nach dem finalen Sieg in der Gruppenphase. Der Sieg war denkbar knapp gewesen, erst in der 87. Minute hatten wir es geschafft, in Führung zu gehen. Jubelnd fielen wir uns der Reihe nach um den Hals und Mathew presste mich an sich. Intensiver als je zuvor nahm ich seinen angenehmen Geruch wahr; mir war nicht bewusst gewesen, wie gut ich ihn schon kannte. Ich sog ihn in mir auf und spürte, wie es mir mit einem Mal gut ging. Richtig gut; für ein paar winzige Sekunden fühlte ich mich frei. Erschrocken wich ich zurück, denn ich realisierte, dass ich ihn gerade nicht mehr loslassen wollte. Seinem fragenden Blick wich ich auf. Schnell umarmte ich die anderen Coachs, noch hier und da ein paar Spieler; mit einem der gegnerischen Mannschaft verfiel ich in ein kurzes Gespräch, da wir vor drei Jahren im selben Verein gespielt hatten, doch das Murmeln in meinem Inneren wurde ich nicht los. Es war eine Stimme, die ich bereits als Jugendlicher in mir getragen, aber weitestgehend ignoriert hatte. Plötzlich war wieder da, lauter als je zuvor, aufdringlicher, zusammen mit begehrenden Gefühlen. Ich musste mich zwingen, nicht ständig in Mathews Richtung zu sehen. Die Feier nach dem Spiel war für mich eine kleine Qual. Eigentlich wollte ich mit meinen Gedanken alleine sein, genauso wusste ich aber auch, dass das nun überhaupt nicht gut wäre. Stattdessen trank ich fast schon bewusst einen über den Durst, um die Stimme zu beruhigen. Anschließend wankte ich sturzbesoffen mit Miriam in unsere Suite, nur um dort über sie herzufallen. Freilich störte sie dies ganz und gar nicht. Als ich etwas später mit hämmerndem Schädel aufwachte, war mir sofort bewusst, dass mein Verhalten ganz und gar nicht richtig gewesen war. Ich spürte Miriams Wärme neben und das bedrückende, schuldige Gefühl in mir. Und ich spürte noch etwas, weshalb ich es nicht schaffte, meine Augen wieder zu schließen: ich spürte Sehnsucht. Fürchterliche, erschreckend deutliche Sehnsucht nach einem Mann, den ich erst ein paar Wochen kannte, der aber bereits meinen Verstand beherrschte, wie niemand je zuvor. In dem Augenblick wäre es mir genug gewesen, einfach nur seine Hand an meiner zu spüren. Ich kämpfte mit mir selbst und versuchte lange, wieder einzuschlafen. Doch je mehr ich mich dazu drängen wollte, desto stärker wurde diese Kraft in mir drin, die mich aus dem Bett treiben wollte. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr liegen bleiben. Leise stand ich auf, zog mir Jogginghose und Pulli über und wollte das geräumige Hotelzimmer bereits verlassen, als Miriams schläfrige Stimme mich zurück rief. Verzweiflung und Schuld ergriff mich, als ich mich zu ihr hinab beugte und wusste, dass ich nun sofort wieder ins Bett zurückkehren sollte. Stattdessen sagte ich, ich müsse ein wenig frische Luft tanken und würde deshalb draußen spazieren gehen. Sie gab mir den Hinweis, es würde doch regnen, entließ mich aber dennoch ohne Zögern mit einem sanften Kuss. Ich wusste genau, dass sie mir grenzenlos vertraute und dass ich kurz davor war, genau dieses Vertrauen zu missbrauchen. Doch das alles hielt mich nicht zurück. Ich konnte einfach nicht mehr. Den Hotelflur ging ich sehr langsam und leise entlang. Bei jeder Tür hatte ich Angst, sie könnte aufspringen und ich könnte bei meiner nächtlichen Tour enttarnt werden. Zuvor hatte ich mich noch geärgert, dass unsere eigene Tür keinen Spion hatte, nun war ich froh darüber, dass es hier mit allen so gehalten war. Trotzdem fiel es mir schwer, zwei Stockwerke hinab zu fahren und dort den blaugestreiften Teppich zu betreten, der mich zu einem Zimmer am Ende des Gangs führen würde. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, was ich hier tat. Es war so unheimlich unvernünftig und gefährlich und doch konnte ich nicht anders, als einen Fuß vor den anderen zu setzen. Meines Ziels war ich mir dabei vollkommen bewusst. Doch was wollte ich machen, wenn ich bei ihm wäre? Was würde es mir bringen? Würde ich mich nicht verraten? Was, wenn ich all seine Blicke und Berührungen… wenn ich einfach jedes kleine Zeichen falsch gedeutet hatte? Oder er wollte mich doch enttarnen… Während sich die Angst in mich fraß und ich mir all diese Fragen stellte, ging ich den Flur dennoch weiter entlang, das Ziel im Blick. Ich versuchte, mich krampfhaft daran zu erinnern, ob er mich wirklich so fest an sich gedrückt hatte, wie ich es in Erinnerung hatte, und ob seine Blicke später auf der Feier tatsächlich direkt in meine Augen gegangen waren. Eigentlich war ich mir sicher, doch gleichzeitig fürchtete ich, mich zu irren. Es wäre ein nicht auszumalender Fehler, wenn ich mich irren würde. „Das bringt mich zu der Frage… haben Sie in der ganzen Zeit einen anderen schwulen Profispieler kennengelernt?“ „Nein, keinen einzigen.“ „Aber es wird sie bestimmt geben.“ „Mit Sicherheit. Aber jeder hat eine so perfekte Fassade um sich gebaut, dass man sich nicht erkennt. Als schwuler Spieler ist man mehr als jeder andere darauf bedacht, männlich und stark zu wirken, bloß nicht zu gefühlsbetont zu sein. Doch natürlich ist das kein Zeichen, denn Aggressivität im Spiel kann auch ganz andere Gründe haben…“ „Also bemerken Sie einander nicht?“ „Nein. Man ist immer so sehr auf seine Handlungen bedacht, darauf, bloß nicht aufzufallen, dass die Maske nie bröckelt und perfekt sitzt. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn einer ohne einen fast schon bewussten Fehler entlarvt werden würde…“ „Aber Mathew hat Sie entlarvt.“ „Ja.“ „Wie ist das möglich?“ „Ich weiß es nicht, denn ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass ich keinen Fehler begangen habe und die Maske nicht bröckelte… und dennoch, irgendwie hat er es gespürt.“ „Und Sie wiederum haben das gespürt?“ „Ja, das und noch viel mehr… Und deshalb war ich zum ersten Mal bereit, einen Schritt in diese fremde Gefühlswelt zu machen...“ Ich stand nicht besonders lange untätig vor seiner Hotelzimmertür herum, denn umso mehr Zeit ich dort verbrachte, umso größer war das Risiko, gesehen zu werden. Im Versuch, nicht vollkommen unvernünftig zu handeln, hatte ich mir sogar schon eine Ausrede zu Recht gelegt: Hin und wieder bekam ich nachts einen Krampf im Bein. Mir war immer wieder gesagt worden, in einem solchen Fall solle ich Vitamine anfordern. Würde Mathew auch nur eine Sekunde lang komisch gucken, würde ich mein Auftauchen auf mein Bein schieben. Ich würde es hinbekommen, dies vorzutäuschen und man würde mir glauben, das versuchte ich mir einzureden. Trotzdem blieb die Angst, zusammen mit der Furcht, dass ich alles richtig gedeutet und er mich bereits durchschaut hatte. Denn was würde ich dann tun? Ich klopfte schließlich und mein Herz hämmerte. Ich spürte meine kalten Hände und meinen trockenen Hals. Auch mein Kopf dröhnte noch immer ein wenig und die Sehnsucht brannte. Ich wollte ihn sehen, deshalb war ich hier… ich wollte ihn berühren. Es dauerte eine Weile, bis die Tür langsam geöffnet wurde und tatsächlich wirkte Mathew mehr als nur ein kleines bisschen überrascht, mich zu sehen. Ich hatte meine Lüge bereits auf den Lippen, als sich auf seine ein ganz spezielles Lächeln schlich. Er trat zur Seite und ließ mich ein. Zögernd ging ich dem nach und hielt die Luft an, als er die Tür hinter mir schloss. Doch nichts passierte, keiner von uns bewegte sich auch nur einen Zentimeter. Ich hätte einen Krampf gehabt, log ich nun doch, da mir die Stille unangenehm wurde, und Mathews Lächeln verstärkte sich ein wenig, als er meinte, er würde ein entsprechendes Mittel holen; ich solle ihm folgen. Also betraten wir als nächstes das nur spärlich erhellte Schlafzimmer. Mein Magen zog sich zusammen und ich zwang mich, nicht auf das Bett zu starren. Stattdessen richtete ich den Blick auf die leicht geöffnete Balkontüre. Durch sie konnte ich den Regen hören und für einen kurzen Moment versank ich in dem beruhigenden Geräusch, so lange, bis mich eine Hand sanft am Arm berührte. Ich zuckte zusammen, fuhr aber nicht zurück. War ich nicht hergekommen, um etwas herauszufinden? Über mich und über ihn? Dass ich nicht zurück wich und ihn stattdessen direkt ansah, schien für Mathew auf jegliche Frage Antwort genug zu sein. Er warf den kleinen Pillenbehälter aufs Bett und trat ein Stück näher an mich herum, so dass er mich besser ansehen konnte. Mein Blick glitt hastig zur offenen Balkontür und ich erklärte ihm sinnloserweise, dass es regnete. Er lächelte und nickte leicht. Unser anschließender Wortwechsel brannte sich Silbe für Silbe in mein Gedächtnis ein. „Was willst du wirklich hier?“, fragte er mich und strich mir mit zwei Fingern über den Arm. Ich bekam darunter eine Gänsehaut. „Ich weiß es nicht.“ So leise sprach ich, dass der Regen mich fast übertönte. „Ich will etwas wissen…“ „Ich auch.“ „Und was?“ „Das, was du mehr als alles andere zu verstecken versuchst…“ Hier wurde ich nervös. Ich schluckte und wusste nicht, was ich erwidern sollte. Gleichzeitig ergriff mich plötzlich heftiger als zuvor die Furcht, was ich machen würde, wenn irgendjemand von diesem Gespräch etwas erfuhr. Vielleicht wollte er mich doch bestechen und ich war ihm ins Netz gegangen? Vermutlich konnte man mir bereits aus diesen wenigen Worten einen Strick drehen. Schnell wich ich deshalb zurück und erklärte, dass es ein Fehler gewesen war, herzukommen. Ich wollte mich umdrehen und weggehen, doch ich schaffte es nicht und blieb stehen. Mathew hatte keine Anstalten gemacht, mich aufzuhalten. Vielleicht war genau das der Grund, weshalb ich blieb. Ich richtete meinen Blick wieder in Richtung Regen, den man nicht sehen, sondern nur hören und riechen konnte. Im Augenwinkel stand Mathew ganz ruhig da. Er schien zu warten, was ich tun würde und einen Moment lang frage ich mich das selbst. Meine Sehnsucht nach ihm hatte mich her gebracht, doch noch war ich zu ängstlich, nach ihr zu handeln. Ich hatte nicht umsonst jahrelang eine Mauer aufgebaut; sie konnte nicht in einer einzigen Nacht vollends niedergerissen werden. Statt also dem Drang nachzugeben, zu ihm zu gehen, löschte ich das Licht im Vorbeigehen zur Balkontür und zog den Vorhang etwas weiter zurück, so dass ich hinaus treten konnte. Sofort traf mich der Regen, als ich an das Geländer trat und danach griff. Irrationalerweise musste ich plötzlich daran denken, wie ich als Jugendlicher einmal über Selbstmord nachgedacht hatte. Seither war mir ein solcher Gedanke nie wieder gekommen und auch jetzt konnte ich mir keinen einzigen Grund vorstellen, ihn zu begehen. Ich fürchtete den Tod noch immer und trotzdem zog mich die schwarze Tiefe gerade magisch an. Ich hörte die leisen Schritte hinter mir, an der Tür schienen sie stehen zu bleiben. Er sagte meinen Namen und ich drehte mich langsam um. In der Dunkelheit konnte ich seine Umrisse höchstens erahnen, was mich beruhigte, da ich mir so sicher sein konnte, auch selbst von niemandem erkannt zu werden, der mich wohlmöglich mitten in dieser sternenlosen Nacht auf diesem Balkon stehen sah. Ich lächelte und richtete den Blick hinauf in den Himmel. Die Balkone waren versetzt, so dass die dicken Regentropfen ohne Hindernis direkt auf mein Gesicht trafen. Mir gefiel das in diesem Moment, denn sie durchnässten mich und schienen irgendetwas von mir zu waschen. Ich schloss die Augen und breitete die Arme aus. Noch mehr nahm ich die einzelnen, schweren, kalten Tropfen auf mir wahr und ich genoss es, wie ein Bach von ihnen über mein Gesicht glitt. Ich atmete tief und roch noch mehr den frischen Regen; noch nie hatte ich den Geruch so bewusst wahrgenommen. Überhaupt war ich noch nie freiwillig in den Regen hinaus getreten. Vielleicht hätte ich das schon viel früher einmal tun sollen, das erkannte ich in diesem Augenblick. Während ich Blick und Arme wieder senkte und die Augen öffnete, Mathew mit verschränkten Armen in der Tür erahnen konnte, fragte ich mich, was mich wirklich hierher getragen hatte. Ich war nie ein Risiko eingegangen, in den ganzen Jahren nicht. Ich hatte meinen besten Freund und meine erste Liebe sogar verprügelt und bloßgestellt, als ich noch nicht mal halb so erfolgreich gewesen war und bei weitem nicht so viel zu verlieren gehabt hatte wie jetzt. Dennoch war ich aus unerfindlichem Grund hier, obgleich ich alles verlieren könnte, wenn etwas davon dieses Zimmer verlassen würde. Es war ein unvorstellbares Risiko, das mir Angst machen sollte. Doch stattdessen war ich ruhig und entspannt wie selten zuvor. Die Liebe macht einen unvernünftig, das erkannte ich in diesem Moment, und es ließ mich lächelnd den Arm nach vorne strecken. Er solle herkommen, flüsterte ich sanft, und tatsächlich ergriff er sofort meine Hand. Ein atemberaubendes Gefühl floss durch mich hindurch, als er an mich heran trat, als unsere Körper sich berühren konnten und er seinen freien Arm um mich schlang. Kurz dachte ich, er würde mich küssen wollen, doch statt dies zu tun, lehnte er seine Stirn gegen meine und aus der winzigen Entfernung heraus erkannte ich, dass er die Augen geschlossen hatte. Ich tat es ihm gleich, während ich seine Hand umklammerte wie ein Ertrinkender. „Ich kann dir nichts sagen“, flüsterte ich dann, weil ich wusste, dass ich meine Farce noch nicht beenden konnte. Von ihm kamen daraufhin nur zwei Worte: „Ich weiß.“. Wir standen noch lange so da, ohne uns zu bewegen, ohne uns noch näher zu kommen oder voreinander zurück zu weichen. Durch den kühlen Regen spürte ich seinen warmen Atem in meinem Gesicht und ich nahm das Wasser wahr, welches unsere verschlungenen Hände hinunter glitt. Mittlerweile musste wirklich jede Faser meines Körpers durchnässt sein, doch es störte mich nicht. Denn es tat so gut, ihn zu spüren und mich. Denn das tat ich. Ich nahm mich wahr, ihn und mich, zusammen, verboten, mitten im Regen. Ich spürte mein Herz und nahm wahr, dass die Einsamkeit aus ihm verschwunden war. Plötzlich fühlte ich mich vollkommen, fühlte mich gut und frei. Ich spürte jeden Millimeter von mir und ich mochte mich. Zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit mochte ich mich. Es passierte nicht mehr als das auf dem kleinen Balkon. Irgendwann sagte ich, dass ich gehen müsse und Mathew wiederholte seine zwei Worte von zuvor. Er gab mir ein großes Handtuch, damit ich den größten Schaden beseitigen konnte und nicht zu viele Spuren auf dem Flur hinterlassen würde. Anschließend blieb er im Schlafzimmer stehen und ich ging alleine zur Tür. So sehr ich mich schon nach wenigen Schritten wieder zurück sehnte, war ich froh, bereits diese kleine Distanz von ihm zu erhalten, denn jegliche Nähe hätte mich aufhalten können. Doch so schaffte ich es, mit schnellen, selbst bestimmten Schritten den Weg zu meinem eigenen Hotelzimmer zurück zu gehen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, ich hoffte einfach, dass Miriam tief und fest schlief. Doch natürlich wachte sie auf, als ich zu ihr ins Bett kroch, nackt und jetzt frierend von der nassen Kälte. Sofort schob sie ihren warmen Körper an mich heran und ich küsste sie heiß und innig, erregt und voller Gedanken, die ich nicht haben durfte. Wir zerwühlten das Bett wie lange nicht mehr und so befriedigt ich mich anschließend auch fühlte, so schuldig war ich auch. Ich hinterging sie und der Verrat war tiefer als zuvor, wog schwerer als jeder Besuch im Sexkino. Es war nichts geschehen auf dem Balkon, wir hatten einander nicht einmal geküsst, sondern uns nur bei der Hand gehalten, und dennoch war Mathew mir näher gewesen als sie in all den Jahren. Außerdem hatte ich mich zum ersten Mal, seit ich denken konnte, nicht dreckig sondern für ein paar Sekunden gar glücklich gefühlt. Ich hatte unbeschreibbar tiefe Gefühle für diesen Mann entwickelt und eben diese ließen mich in der Nacht nicht einschlafen, da ich keinen blassen Schimmer hatte, wie ich ihm oder auch irgendjemandem sonst am nächsten Tag unter die Augen treten sollte. Ich hatte mich verändert, in nur einer einzigen Nacht. Doch das durfte keiner merken. „Hatten Sie keine Angst mehr, dass er Sie verraten könnte?“ „Doch, natürlich, ein kleinwenig dieser Angst bleibt wohl immer in einem, wenn man sich schon so lange versteckt, doch mehr als das war ich mir aus irgendeinem Grund sicher, dass er nichts sagen würde.“ „Ziemlich leichtsinnig.“ „Ich weiß. Aber vielleicht musste ich auch einmal genau das sein…“ „Und wie war es, ihn am nächsten Tag wiederzusehen?“ „Überraschenderweise viel einfacher als erwartet, was aber auch an ihm lag. Er tat wirklich als sei nichts gewesen, schaute mich nicht länger an als sonst und zeigte mit keiner Geste, dass sich in der Nacht etwas verändert hatte…“ „Und damit kamen sie klar?“ „Um ehrlich zu sein, es zog mich nur noch mehr in seine Richtung.“ Kapitel 8 - ENDE <09> .... Verlängerung der Lügen -------------------------------- Nach außen hin hatte sich nichts verändert. Ich hielt Miriams Hand, wenn wir irgendwo hin gingen, und ich nickte Mathew auf dem Spielfeld genauso zu wie alle anderen auch. Auch er ging mit mir weiterhin so professionell um wie zuvor, ließ keinen zu langen Blickkontakt entstehen. Er war genauso darauf bedacht, nichts zu verraten, wie ich, denn natürlich würde es auch für ihn ernsthafte Folgen haben, käme die Wahrheit heraus. Er würde ebenso seinen Job verlieren, seinen Ruf. Zwar würde er weniger tief fallen als ich und weniger Menschen wären an der Sache interessiert oder beteiligt, aber das hieß nicht, dass es für ihn einfacher wäre. Er liebte seinen Job, das wusste ich. Man sah es ihm an und er hatte mir einmal erzählt, weshalb er genau das hier machen wollte. Trotzdem war ich mir nach kurzer Zeit sicher, dass er vor allem wegen mir so darauf achtete, dass uns nichts verraten würde. Der einzige Unterschied, den ich in Mathews Verhalten wahrnahm, war Miriam gegenüber. Sie bemerkte es nicht, doch er war im Umgang mit ihr etwas distanzierter. Ohnehin fragte ich mich, wie es für ihn sein musste, mit ihr ganz normal zu reden. Er wusste doch, dass ich in jener Nacht sie verlassen hatte, um ihn zu finden. So sehr sie vielleicht in der kurzen Zeit eine Art Freundin für ihn geworden war, so sehr war sie auch seine Konkurrentin – andererseits war ich mir sicher, dass er ebenso wenig in diese ernste Richtung dachte wie ich. Er kannte meine Situation, ohne dass wir darüber reden mussten. Er wusste, was ich zu verlieren hatte und dass ich es nicht einfach so hergeben würde. Ich würde wirklich alles verlieren. Aus diesem Grund dachte ich nicht ernsthaft daran, irgendetwas zu unternehmen. Schließlich hatten wir einander bisher noch nicht einmal geküsst. Vielleicht waren diese Gefühle auch nur ein Abenteuer, das ganz schnell vorbei sein würde. Nein, ich glaubte nicht wirklich daran, aber an diesem Haken hielt ich mich fest, um nicht durchzudrehen. Denn es war so schwierig. Beide achteten wir auf jedes Wort in der Öffentlichkeit, auf jede Berührung und jeden Kontakt. Wir beide kontrollierten uns und doch sahen wir in den Augen des anderen, wie sehr wir uns nacheinander sehnten. Wären wir einfach nur zwei unbedeutende Männer gewesen, hätten wir schon längst unsere Hände nacheinander ausgestreckt, doch auf diese Weise war jede noch so kleine, vertraute Berührung ein nicht zu erahnendes Risiko. Ungeachtet meiner Gefühle machte ich mir zunehmend Gedanken darum, wie meine Zukunft aussehen würde. Immer wieder fiel mir dabei der Ring auf, den Thomas am Finger trug, und ich fragte mich, ob ich wirklich auch einen solchen tragen konnte. Mehr denn je war ich mir der Sache unsicher geworden. Wie konnte ich Miriam so sehr belügen? Und wie mich selbst? Nach dem Sieg im Achtelfinale erzählte ich Thomas von meinen Plänen, Miriam vielleicht zu heiraten. Ich musste einfach mit jemandem darüber reden und ich erhoffte mir Zuspruch von meinem besten Freund, damit es mir leichter fallen würde, die Entscheidung zu treffen. Natürlich bekam ich ihn. Thomas war begeistert. Schon immer hatte er gesagt, wie froh ich mich froh schätzen konnte, eine Frau wie Miriam an meiner Seite zu haben. Man merke so deutlich, wie sehr wir einander liebten, das hatte er schon oft gesagt, und auch dieses Mal wiederholte er es, während er mich beglückwünschte und an sich presste. Mir wurde schlecht dabei, denn ich wusste, dass ich wohlmöglich einen Schritt gehen würde, den ich mein Leben lang bereuen könnte. Und der Zuspruch half kein bisschen, mich weiter dem Jawort entgegen zu bringen, im Gegenteil. Aus diesem Grund sprach ich auch mit Mathew darüber. Dazu muss man sagen, dass wir zwar ab und an alleine waren, allerdings dabei nie heikle Themen besprachen. Kein Wort war über die Nacht auf dem Balkon befallen, über unsere Gefühle erst recht nicht. Wir konnten nicht darüber reden, denn es hätte weh getan und letztendlich doch nichts verändert. Stattdessen sprachen wir immer nur über allgemeine Dinge, unwichtige Kleinigkeiten. Doch das war genug, zumindest für mich. Alleine dass ich ihm nahe sein konnte, tat mir gut. Ich spürte, dass ich anders atmete, wenn er bei mir war; ruhiger, ausgeglichener. Ich konnte freier lächeln und ihm ohne Angst in die Augen schauen. Er musste alles darin sehen wie ich auch alles in seinen sah. Nie zuvor hätte ich geglaubt, dass man alleine mit Blicken die Welt erklären könnte. Die Hochzeitspläne waren somit das erste wirklich ernste Thema für uns. Freilich hatte ich es nicht einfach so angesprochen, sondern darüber nachgedacht, was ich mir davon erhoffte. Doch ehrlich gesagt wusste ich es noch immer nicht, dennoch wollte ich einfach, dass er davon wusste. Ich wollte seine Reaktion sehen, seine Meinung hören. Zum ersten Mal brachte ich also etwas viel zu Privates mit in den Fitnessraum. Ich sagte es eher nebenbei. Ich sah ihn dabei nicht an, denn ich wäre auf keinen Blick vorbereitet gewesen, der mich treffen konnte. Doch noch weniger als das war ich darauf vorbereitet, dass er fast noch positiver als Thomas reagieren würde. Es sei eine gute Idee, waren seine Worte. Miriam und ich würden gut zusammenpassen und wären perfekt füreinander. Er redete weiter und weiter, auch als ich die Hantel fallen ließ und in einem Impuls zu ihm herum fuhr, seinen Arm grob packte und ihn näher zog. Seit jener Nacht auf dem Balkon waren wir uns nicht mehr so nah gewesen und mir blieb jegliches Wort im Halse stecken. Ich konnte ihn nur anstarren, den Schmerz in seinen Augen wahrnehmen, während er nochmals sagte, dass es eine sehr gute Idee wäre. „Du weißt, dass ich…“ Ich beendete den Satz nicht, denn ich wusste nicht, was ich sagen wollte. Stattdessen ließ ich ihn los und drehte mich um. Ich verließ den Raum und er hielt mich nicht auf. Anschließend führte mich mein Weg zum Meer und ich tauchte im salzigen Wasser so tief, dass ich einen Moment lang glaubte, vielleicht nicht mehr rechtzeitig hinauf kommen zu können. Am nächsten Tag konnte ich Mathew nicht in die Augen schauen. Ich wusste zwar nicht, was ich von ihm erwartet hatte, doch ich war mir darüber im Klaren, dass mich seine Reaktion vollkommen enttäuscht hatte. Zwar glaubte ich, ihm angesehen zu haben, dass er nicht das spürte, was er ausgesprochen hatte, doch was, wenn ich alles falsch deutete? Was war, wenn nur ich diese tiefen Gefühle, welche ich nicht zu benennen wagte, verspürte? Was, wenn es für ihn doch nur ein Spiel war? Vielleicht mochte er mich, aber das war es dann auch schon? Vielleicht bildete ich mir alles nur ein was zwischen uns war? Was auch immer es war, nun gab es für mich keinen Grund mehr, Miriam keinen Antrag zu machen. Trotzdem war ich noch immer nicht bereit dazu. Ich wusste doch eigentlich, dass es nicht gut sein würde, denn hatte ich tatsächlich vor, mein restliches Leben mit dieser Frau und meiner platonischen Liebe zu ihr zu verbringen? Natürlich, lange hatte ich angenommen, dass es funktionieren würde, doch da hatte ich diese Gefühle noch nicht gekannt, welche ich jetzt verspürte. Und hoffte ich denn nicht, irgendwann jemanden wie Mathew an meiner Seite zu haben? Ich beantwortete mir die Frage mit Absicht nicht. Während ich so rastlos war und unsicher, verletzt und verliebt, merkte schließlich auch Miriam, dass irgendwas nicht stimmte. Mehrfach sprach sie mich darauf an und letztendlich erklärte ihr einfach, dass ich ein bisschen angeschlagen sei. Das tägliche, harte Training mache mir zu schaffen; sie habe doch mit angesehen, wie ich im letzten Spiel das ein oder andere Foul abbekommen hatte. Sie glaubte mir, natürlich, denn ich belog sie ja nie. Also pflegte sie mich wie eine gute Freundin, beinahe Verlobte, vielleicht zukünftige Frau. Und mir ging es währenddessen innerlich nur immer schlechter. Zum ersten Mal glaubte ich, von meinen eigenen Lügen zerfressen zu werden. In den nächsten Tagen ging ich einem Alleinsein mit Mathew bewusst aus dem Weg. Ich sah ihm an, dass er mit mir sprechen wollte, doch ich war nicht bereit dazu. Wann immer ich ihn sah, wollte ich ihn an mich ziehen. Die Sehnsucht wurde immer stärker, und ich hatte Angst, von ihr überwältigt zu werden. Noch nie im Leben hatte ich ein solches Verlangen nach einem Menschen verspürt, nach seinen Lippen und seinem Körper. Ich stellte mir heimlich vor, wie es sich anfühlen würde, und wurde verrückt dabei. Ich würde es nie erfahren, ich durfte es nie erfahren! Einen Tag vor dem Halbfinale, als er noch irgendeine Übung mit mir durchsprechen wollte, ließ ich mich schließlich doch darauf ein, mit ihm alleine im Fitnessraum zurückzubleiben. Ich wusste, dass es nur die offizielle Erklärung gewesen war, und ich fürchtete das, was wirklich kommen würde. Zunächst passierte nichts. Vor der Tür hörten wir die anderen noch reden, weshalb wir es nicht wagten, auch nur ein Wort zu sprechen. Sehnsüchtig sahen wir uns an. Dann ließ er sich zu mir auf den Boden nieder und begann, meine Wade zu massieren. Dies war eine übliche Tätigkeit, denn ich hatte noch immer Krämpfe ab und an. Keiner würde diese Berührung als merkwürdig empfinden, sollte er uns so sehen. Wir sprachen noch eine Weile nicht und ich wich seinen Blicken aus. Seine Finger brannten auf meiner Haut und ich musste mich zusammenreißen, um nicht nach ihnen zu greifen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie sie weiter hinauf kriechen würden, doch ich konnte kaum an etwas anderes denken. Dementsprechend atmete ich etwas schwerer, kontrollierter und machte mir einen Fluchtweg aus. Genauso sah ich aber auch den Schlüssel im Schloss ganz deutlich. Er wäre so leicht zu erreichen. Während ich fast irre wurde, begann Mathew leise zu sprechen. Er sagte mir, dass ich nicht erwarten durfte, dass er mich irgendwie in meinen Plänen mit Miriam aufhalten würde. So sehr er es vielleicht wollte, er hatte es nicht vor. Denn er wusste, wie sehr ich für meinen Traum gekämpft hatte und dass ich ihn nicht einfach so aufgäbe. Er konnte sich auch vorstellen, wie schwer es für mich sein musste, mein wahres Ich zu verbergen, und wie sehr es mich innerlich zerreißen musste. Doch ich hatte es auf diese Weise weit gebracht und er würde mir nicht im Wege stehen, egal welche Richtung ich ginge. Wenn ich Miriam heiraten wollte, sollte ich es tun. Wahrscheinlich wäre es die genau richtige Entscheidung. Er habe nicht vor, etwas zu sagen oder zu tun, was mich ins Schwanken brächte. Wusste er denn nicht, dass er das schon durch seine bloße Anwesenheit tat? Ich sprach das nicht aus und nach seinen Worten sah er mich einfach nur an. Seine Augen zeigten, wie schwer es ihm gefallen war, mir genau das zu sagen. Und ich konnte nichts darauf erwidern, außer ihm deutlich zu machen, wie schwer es für mich war, ihr einen Ring an den Finger zu stecken. Ich sprach von meinem Versteckspiel und dass ich sie liebte, auf meine ganz eigene Weise. Ich wollte ihr nicht wehtun, doch ich wusste ebenso wenig, ob ich dies Leben für immer so weiterführen konnte. Außerdem zog es mich doch zu ihm. Als wir beide nichts mehr sagen wussten, berührten wir einander einfach. Ganz sanft fuhren seine Fingerspitzen mittlerweile mein Bein hinauf und ich beobachtete sie dabei, sehnte ich mich doch mit jeder Begegnung mehr nach ihnen. Noch nie hatten einfache Berührungen mich so gefangen genommen, wie seine es taten. Egal wie heiß meine Begegnungen im Sexkino gewesen waren, hatten sie nie so viel bedeutet wie dieser Moment, in dem er mein Knie ertastete und in dem ich es endlich schaffte, meine Finger ebenso auszustrecken und sie mit seinen zu verschränken. Mathew zuckte, doch dann lächelte er und hielt mich fest, rückte einen Millimeter näher heran und sah mir so intensiv in die Augen, dass eine Gänsehaut meinen Rücken hinunter glitt. Ich blickte auf seine Lippen und spürte ein irrsinniges Verlangen nach ihnen, während mir bewusst wurde, dass ich in meinem Leben noch nicht ein einziges Mal einen Mann geküsst hatte. Karim zählte nicht, ich hatte ihn von mir gestoßen, ehe man es wirklich einen Kuss hätte nennen können. Also fragte ich mich nun, wie es sich wohl anfühlen würde. Natürlich war es technisch kein Unterschied, doch wenn sich schon seine Hand in meiner so anders, so richtig anfühlte, wie wäre es dann erst bei seinen Lippen? Tatsächlich beugte ich mich vor, doch ich tat es letztendlich nicht. Ich konnte es nicht, denn ich hatte Angst. Angst davor, dass es mir zu viel bedeuten und mich vollkommen aus der Bahn werfen würde. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, flüsterte ich bloß und schloss die Augen, meine Stirn an seiner. Mathew schwieg. Was sollte er auch dazu sagen? Was sollte er tun? Er hatte eben noch deutlich gemacht, dass er mich nicht drängen würde, mich nicht aufhalten, mir nicht im Weg stehen; also durfte er jetzt rein gar nichts tun. Wir verloren das Halbfinale. Es lag zum Glück nicht an mir und meiner zugegeben nicht gerade vorbildlichen Verfassung. Der Gegner war uns einfach klar überlegen und somit war die WM für uns an diesem Punkt vorbei. Ich sollte traurig sein deswegen, enttäuscht, doch das erste, an das ich dachte, als wir mit hängenden Schultern vom Platz gingen und mein Blick Mathew traf, war, dass ich nun nach Hause fahren würde. Und dorthin konnte er nicht mitkommen. Auf der Abschlussparty am selben Abend fiel es mir schwer, zu lachen und zu lächeln. Miriam merkte das deutlich, doch vermutlich schob sie es darauf, dass wir verloren hatten. Was Mathew dachte, wusste ich nicht, obwohl er sich die meiste Zeit irgendwie in meiner Nähe aufhielt. Auch wenn wir dadurch unvorsichtig waren, berührten wir uns wann immer es ging, selbst wenn es nur die Schulter an der des anderen war. Wir wollten einander nahe sein, ohne dass wir es durften, denn wir beide hatten Gefühle entwickelt, die keine Blüte tragen würden. Diese Nacht endete es und so wollten wir zumindest die letzten Minuten miteinander verbringen können. Ab morgen würden wir getrennte Wege gehen. Entsprechend dieses Bewusstseins war ich nicht gerade in Partylaune. Vor allem, da ich nicht damit rechnete, dass es vor meiner Abreise noch einmal einen Moment geben würde, in dem wir alleine sein könnten. Doch dann kam dazu, weil Miriam sich mit Cheila unterhielt und sich bereits andere Grüppchen abgeseilt hatten. Plötzlich spürte ich etwas in meiner Hand und dann ging Mathew auch schon an mir vorbei. Auf dem Zettel stand, dass ich in zehn Minuten zum Fitnessraum kommen sollte. Natürlich, ich überlegte, der eindeutigen Einladung nicht nachzugehen, doch wie hätte ich das tun können? Alles in mir verlangte nach diesem Mann, nach weiteren Minuten mit ihm. Wie hätte ich dieser Chance widerstehen können? Also sagte ich Miriam, dass ich mit Mathew spazieren ginge, weil es ein so schöner Abend sei. Selbstverständlich dachte sie sich nichts dabei und wir trennten uns mit einem Kuss. Anschließend schlich ich mich über Umwege zum Fitnessraum, ein paar Flanken schlagend, darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Eigentlich hatte ich erwartet, dass wir sofort übereinander herfallen würden, doch dies geschah nicht. Nervös schloss ich die Tür und drehte den Schlüssel herum. Dann sah ich Mathew an, wie er vor mir stand, mit einem ruhigen Blick und so vielen Gefühlen in den Augen, dass es mich nur noch unruhiger machte. Dieser Augenblick bedeutete so viel, das spürte ich ganz genau. Zögern ging auf ihn zu, wollte meine Arme nach ihm ausstrecken, doch dann setzte ich mich bloß auf eine Bank, da mich meine Beine nicht so recht tragen wollten. Er tat es mir gleich und dann legte er seine Hand auf meine. Ich umklammerte sie sofort und sah ihn hilflos an. Die andere Hand fand mein Gesicht. Sanft strich er darüber, zärtlich und sehnsüchtig, wie es noch nie jemand getan hatte. Für eine Sekunde schloss ich meine Augen und wünschte mir, dass er mich nun küsste, doch alles, was meine Lippen berührte, war sein Finger. Er strich hinüber und ich küsste ihn, öffnete die Augen wieder und sah in seinen unbändige Trauer. Ich bewegte mich vor, wollte ihn küssen, doch Mathew hielt mich zurück, umklammerte meine Hand noch fester und sagte dann, dass er mit mir reden wolle. Über uns, unser Leben, unsere Wünsche und Vorstellungen. Wir hatten nicht genug Zeit gehabt, uns kennenzulernen, nun wollte er zumindest noch ein wenig mehr von mir erfahren. Welche Geheimnisse hatte ich nie jemandem anvertrauen können? Er wollte alles von mir wissen. Mich überraschte seine ruhige Stimme, da ich mit mehr Leidenschaft gerechnet hatte. Fast war ich einen Moment lang gar enttäuscht, wollte ich ihn doch so gerne spüren, überall berühren. Wenigstens ein einziges Mal. Doch dann drangen die ersten Sätze über unsere Lippen und schnell wurde mir klar, wie viel sie bedeuteten. Sie waren mehr wert als jeder Kuss. Im Laufe der nächsten Stunden stellten wir einander alle möglichen Fragen, beantworteten sie so ehrlich es ging und nahmen dabei kein Blatt vor den Mund. Zum allerersten Mal sprach ich über Karim und er erzählte mir von seiner gelösten Verlobung. Wir berührten uns dabei nur durch unsere Hände und Blicke, und während die Minuten vergingen und wir uns im Innersten immer näher kamen, begriff ich langsam, was es war, das ich von ihm wollte. Nicht seinen Körper, seine Lippen, diese Hände oder eine wilde Nacht. Ich wollte mein Leben von ihm, mit ihm. Plötzlich wollte ich meine Freiheit, um sie mit ihm zu teilen. „Ich merke, das nimmt Sie immer noch ziemlich mit.“ „Verständlich, denke ich. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich richtig verliebt. So sehr, dass ich mir wünschte, alles zuvor wäre einen anderen Weg gegangen…“ „Aber Sie sind trotzdem Ihren üblichen Weg weitergegangen.“ „Ja. Es war zu früh, davon abzukommen. Ich war zu jung und nicht mutig genug…“ „Haben Sie einander wenigstens geküsst?“ „Nein, denn Mathew sagte, er könne es nicht ertragen, mich danach gehen zu lassen…“ „Und wie ging es Ihnen?“ „Ich konnte mir bereits nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu sein.“ „Doch das waren Sie.“ „Ja. Aber ich war nicht mehr Gleiche nach jener Nacht.“ Als ich früh morgens zurück ins Hotelzimmer kam, kroch ich nicht mehr ins Bett. Ich setzte mich auf den Balkon und dachte nach, weckte Miriam bald, weil meine Gedanken mich irre machten, und wir fuhren direkt zum Flughafen. Mathew sah ich nicht mehr und auch alle anderen schliefen noch. Eigentlich hätte ich Abschied nehmen sollen von meinen Spielkameraden, doch ich hielt es nicht länger aus, dort zu bleiben. Ich musste zurück in mein Haus, um nicht verrückt zu werden, um mir zu zeigen, dass ich noch immer derselbe war. Dabei wusste ich, dass das nicht stimmte. Ich würde es nie wieder sein. Miriam war verwirrt und bekam den ganzen Flug über kein Wort aus mir heraus. Was hätte ich auch sagen sollen? Alles wären nur weitere Lügen gewesen. Also küsste ich sie irgendwann mit flehendem Blick, schüttelte leicht den Kopf, griff ihre Hand und wand mich dem Fenster zu. Ich starrte hinaus ohne wirklich etwas zu sehen und die Wärme ihrer Hand tat mir weh. Ich fühlte mich dreckig und allein, ich verabscheute mich und ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich zählte, vor wie vielen Tagen ich Mathew kennengelernt hatte und die Zahl kam mir viel zu klein vor. Sie war winzig, vor allem gegen die gefühlt unendlich lange Zeit, die nun vor mir lag. Wie sollte ich es bloß schaffen, ihn zu vergessen? Als wir daheim waren, stellte ich einige Möbel um. Ich weiß nicht, weshalb ich das tat, doch irgendwie ertrug ich den Anblick meines vergangenen Lebens nicht. Ich passte hier nicht mehr rein, ich gehörte nicht mehr hier her. Den Ring, welchen ich für Miriam gekauft hatte, vergrub ich ganz tief in meinem Schrank, in der Hoffnung, dass sie ihn nicht finden würde. Gerade war ich nicht mehr bereit, den Schritt zu gehen. Ich hatte soeben die Liebe kennengelernt und sie sofort wieder verloren, da konnte ich nicht dieser Frau meine ewige Treue schwören. Nach diesen Handlungen wusste ich nicht, was noch zu tun. Ich vergrub mich vor dem Fernseher oder dem Computer und es war mir egal, dass Miriam langsam ungeduldig wurde. Einige Male suchte sie das Gespräch, versuchte herauszufinden, warum mir unsere Niederlage bloß so dermaßen nahe ging, doch jedes Mal blockte ich ab. Ich wollte nicht reden, denn ich konnte ihr doch ohnehin nicht die Wahrheit sagen. Also ertrug ich ihr trauriges Gesicht still und sie musste mich irgendwie ertragen. Dabei erwartete ich das ja noch nicht mal von ihr. Hätte sie genug davon gehabt, hätte sie gehen können. Ich vermute, ich hätte sie nicht aufgehalten. Andererseits wusste ich, dass sie mich dazu viel zu sehr liebte; und vermutlich war sie davon überzeugt, dass die Zeit meine Wunden heilen würde. So ist es im Leben doch immer, nicht wahr? Doch ich wollte gar nicht heilen. Fast schon bewusst vergrub ich mich in meiner Misere, vor allem dann, wenn ich alleine war. Immer wieder rief ich mir Mathews Bild vor Augen, immer wieder lauschte ich auf seine Stimme in meinen Erinnerungen. Wieder und wieder trieb es mir die Tränen in die Augen, wenn ich unser letztes Gespräch rekonstruierte. Erschreckenderweise vergaß ich schon sehr schnell ganz viele Einzelheiten davon. Einige Zeit verging auf diese Weise, dann begann das Training wieder. Zum ersten Mal hatte ich überhaupt keine Lust dazu, doch als ich wieder auf dem Platz stand, gab es mir meine Lebensgeister zumindest ein wenig zurück. Also nahm ich an jedem Training und den Spielen teil, doch geistig war ich immer noch abwesend. Manche einfachen Bälle bekam ich einfach nicht mehr ins Tor und ich verlor viele Zweikämpfe. Auf die Fragen der Reporter und meiner Mitspieler, was mit mir los sei, antwortete ich nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben beeinflusste meine Homosexualität mein Fußballspiel in dem Maße, dass ich immer schlechter wurde. Wenn ich darüber nachdachte, war es mir peinlich, dass ich mich so gehen ließ, doch das Gefühl war nicht stark genug, als dass ich mich anders verhalten hätte. Sollten sie doch denken, was sie wollten, auch mir konnte es nicht immer gut gehen. Was verlangten sie denn auch von mir? Wenn ich heute darüber nachdenke, ist mir bewusst, wie erbärmlich ich mich verhalten habe. Jeder Mensch erleidet in seinem Leben Verluste, doch nur wenige gehen so in ihrem Selbstmitleid auf wie ich. Und eigentlich kann ich noch nicht mal erklären, warum ich dermaßen resistent gegen gute Laune war. Ich glaube, ich hatte einfach Angst, dass ich Mathew dann vergessen würde. Ich wusste nicht genug über Liebe, um zu wissen, dass solch tiefe Gefühle auch über lange Zeit bestehen bleiben können, ohne dass man sie sich immer wieder vor Augen ruft. Den Sprung aus dieser Misere schaffte ich mit Hilfe des Mannes, wegen dem ich überhaupt so litt. Natürlich, ich hätte mir gewünscht, die Worte von ihm direkt zu hören, doch scheinbar hatte er sich dagegen entschieden. Vielleicht hätte er sie dann nicht sprechen können. Seit kurzer Zeit ging ich wieder ab und an mit Thomas weg, irgendwohin, etwas trinken. Er versuchte schon nicht mehr, auf mich einzureden, sondern ertrug meine schlechte Laune einfach wie ein super bester Freund. So auch an diesem einen Abend, irgendwann im Herbst, als ihm nebenbei einfiel, dass Mathew ihn angerufen hatte. Er erzählte es vollkommen nebenbei, während mich alleine bei dem Namen das Zittern ergriffen hatte. Fast wollte ich Thomas sagen, dass es mich nicht interessierte, doch dann hörte ich gespannt zu. Es war kein langes Gespräch gewesen, mit wenig besonderem Inhalt, doch darin hatte Mathew einen Gruß an mich weitergegeben, den Thomas auf ein PostIt geschrieben hatte und mir nun unter die Nase hielt. Thomas verstand den Sinn hinter der Nachricht nicht, zuckte die Schultern und bemerkte nur, dass er sich wunderte, warum Mathew mir das nicht direkt hatte sagen können. Ich erklärte ihm daraufhin, dass wir am letzten Abend nicht gut auseinander gegangen seien und er fragte nicht weiter. Anschließend betranken wir uns und ich versuchte, meine Gefühle in Zaum zu halten. Erst später im abgedunkelten Schlafzimmer, eine schlafende Miriam neben mir, übermannten sie mich und zum ersten Mal seit Jahren wusste ich wieder, wie gut weinen tun kann. Den Zettel hatte ich bereits auf dem Heimweg verbrannt, doch die Worte hatten mich schon erreicht: Reiß dich zusammen! Dein Leben hättest du auch gleich an Ort und Stelle wegwerfen können. Aber das wolltest du nicht, also lebe mit deiner Entscheidung und mache sie für andere nicht noch schwerer als sie es schon ist! So merkwürdig es erscheinen mag, so brauchte es tatsächlich nur diese Ermahnung, um mich wieder aufrecht gehen zu lassen. Ich hätte zwar nicht erklären können, wieso, doch Mathew hatte genau gewusst, was es brauchte, um mich aus meinem Loch zu holen. Und er hatte recht. Ich hatte eine Entscheidung getroffen, welche nicht nur mich selbst betraf. Er litt ebenso unter ihr und ich machte es ihm sicher nicht leichter, wenn er negative Berichte über mich hören musste, nur weil ich es nicht schaffte, mit meiner Entscheidung zu leben. Er musste es doch auch und hatte im Gegensatz zu mir nicht mal eine Wahl gehabt. Wie konnte also gerade ich in Selbstmitleid baden, als wäre ich der bemitleidenswerteste Mensch auf der Welt? Davon abgesehen, ich hatte so entschieden, um das, was ich mir aufgebaut hatte, nicht zu zerstören. Doch würde ich letztendlich nicht genau das tun, wenn ich so weitermachte? Nur wegen der Liebe, wegen komischen Gefühlen, die nicht für mich bestimmt waren? Ab dem nächsten Tag fing ich wieder an zu leben. Miriam spürte die Änderung bereits, als ich sie am Frühstückstisch küsste, und war natürlich entsprechend ratlos, was so plötzlich geschehen war. Aber im Grunde war es ihr egal, solange ich nur wieder der Alte werden würde. Das wurde ich nicht, natürlich nicht, dafür war zu viel geschehen, doch ich wurde wieder normal, wenn man es so nennen mag. Ich lachte wieder und zeigte Lebensfreude; auf das Spielfeld kehrte ich mit mehr Elan zurück. Auch gab ich wieder Interviews und kommentierte meine schlechte Phase mit einem einfachen athletischen Tief. Zwar dachte ich immer wieder nebenbei an Mathew, doch ich begann nun, diese Gedanken bewusst zu verdrängen, denn ich musste mich doch zusammen reißen. Je mehr Zeit verging, umso einfacher wurde es, obwohl ich ihn nie ganz vergessen konnte. Dann und wann im Bett dachte ich an ihn, an seine zärtliche Hand an meiner Wange oder an seine Stimme. Dann fragte ich mich auch wieder, warum er mich nicht selbst angerufen hatte, doch eigentlich kannte ich die Antwort. Und ich fragte mich, ob ich ihn irgendwann mal wiedersehen würde. Was würde dann geschehen? Würden wir wohlmöglich irgendwann darüber lachen? Noch konnte ich mir das nicht vorstellen, aber ich wünschte mir trotzdem, ihn noch einmal zu treffen. Einfach um Danke zu sagen; ich dachte, das würde mir schon genügen. An unserem Jahrestag machte ich Miriam den lange überfälligen Heiratsantrag. Zum Glück war sie nicht sonderlich kitschig veranlagt, weshalb ich nichts Großes planen musste. Auch war es ihr immer wichtig gewesen, unsere Beziehung aus der Presse zu halten, weshalb es mir nicht einmal in den Sinn kam, das ganze an einen öffentlichen Ort zu verlegen. Stattdessen kochte ich für sie, deckte den Tisch mit ihren gelben Lieblingsblumen und kniete schließlich vor ihr nieder. Interessant war, dass ich es in dem Moment als vollkommen richtig empfang, was ich tat. Ich fragte die einzige Frau, mit der ich mir ein Zusammensein vorstellen konnte, ob sie für immer mein sein wollte. Rein von dem Standpunkt aus war nichts falsch an meinen Gefühlen. Natürlich sagte Miriam ja. Ich hatte auch keine Sekunde mit etwas anderem gerechnet, trotzdem tat es unheimlich gut, ihr Strahlen zu sehen, da es mir noch einmal zeigte, dass ich etwas richtig machte. Sie liebte mich, sie war glücklich mit mir und wollte bei mir bleiben. Konnte ich ihr bei all dem, was ich ihr verheimlichte, diesen Wunsch nicht einfach erfüllen? Spätestens ab diesem Zeitpunkt war ich mir sicher, meinen Lebensweg gefunden zu haben, denn war nicht alles gut so, wie es war? Ich hatte eine wunderbare Frau an meiner Seite, war erfolgreich, hatte mein Hobby zum Beruf gemacht, übte diesen mit viel Freude aus und musste mir in meinem Leben keine Gedanken um Geld machen. Meine Eltern und meine Schwester liebten Miriam bereits, als sei sie schon immer ein Teil unserer Familie gewesen, und meine Mutter sprach schon freudig davon, irgendwann einmal Enkelkinder zu bekommen. Was hätte es da schon gegeben, das mir fehlte? War das nicht das perfekte Leben? Natürlich war es das, zumindest konnte ich das sagen, solange ich nicht genau darüber nachdachte. Dann konnte ich ganz einfach sagen, dass es nicht gab, was mir fehlte. Nur ganz selten, mitten in regnerischen Nächten, gestand ich mir ein, dass mir etwas ganz Spezielles wohl immer fehlen würde: das Gefühl, welches ich mit Mathew im Regen gehabt hatte. „Sie waren also nicht glücklich.“ „Das ist schwer zu beantworten, denn das besondere am Glücklichsein ist, dass man nicht in Worte fassen muss, dass man es ist...“ „Doch das taten Sie?“ „Genau. Ich sagte mir immer wieder, dass ich doch glücklich war… und vielleicht war ich das tatsächlich, in dem Rahmen, wie es mir erlaubt war, sozusagen. Es fehlte einfach nur ein winziger Teil, um mich vollständig zu machen, doch ich gab den Gedanken auf, es irgendwann zu sein…“ „Also haben Sie nicht an ein Outing gedacht?“ „Nein. Ich dachte nicht eine Sekunde lang darüber nach, dass ich mich jemals outen könnte. In dem Moment, in dem ich es täte, würde alles zusammenbrechen, was ich mir mühsam aufgebaut habe. Ich war nicht bereit, das zu riskieren.“ „Und doch sitzen Sie heute hier.“ „Ja.“ „Welcher Situation haben wir das zu verdanken?“ „Fragen Sie lieber wem...“ Kapitel 9 - ENDE <10> .... Das kleine Finale --------------------------- Ich glaubte nicht daran, Mathew noch einmal wiederzusehen. Er rief mich nie an und auch Thomas telefonierte nur noch ein paar Mal mit ihm, bis dieser Kontakt ebenfalls erstarb. Miriam fragte mich ein paar Mal, ob ich etwas von ihm gehört hatte, denn nicht nur fand sie es komisch, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun hatte, sondern vermisste sie ihn selbst ein wenig. Im Stillen verlor ich zunehmend die Hoffnung, noch ein einziges Mal sein Lächeln zu sehen, auch wenn ich es nicht vergessen konnte. Dabei war es vermutlich gut so, redete ich mir dann wieder ein. Ich hatte immerhin mittlerweile beschlossen, eine Heteroehe einzugehen. In dem Leben hatte er keinen Platz. Nein, es war sogar besser für ihn, nichts mehr damit zu tun zu haben. Auf diese Weise würde er mich vergessen können und einen neuen Mann finden, eine neue Liebe, die sicher viel stärker sein würde als unsere, immerhin hatte diese noch ganz am Anfang gestanden und nie ernsthafte Bahnen eingeschlagen. Es tat weh, auch nur darüber nachzudenken, doch ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass es ihm ohne mich besser ergehen würde. Er zumindest würde bestimmt glücklich werden. Er hatte es verdient. Die Monate vergingen und Miriam sprach natürlich immer wieder das Thema Hochzeit an. Jedes Mal schreckte ich dann ein kleines Stück zurück, bedacht darauf, sie dies nicht merken zu lassen. Zwar trug sie jetzt mein Versprechen in Form eines Ringes am Finger, doch ich hatte noch immer Angst davor, den letzten Schritt zu gehen. Daher wich ich ihr oft aus, schob Termine vor und fantasierte nur sehr allgemein mit ihr über unsere Hochzeit. Sie hingegen wäre am liebsten sofort mit mir zum Altar geschritten, und ab und an fragte ich mich, ob mich, so wenig ich auch an ihn glaubte, wohl die Strafe Gottes treffen würde, sobald unser Versprechen vor ihm geschlossen werden würde. Zum Glück ließ es mein sehr voller Terminkalender lange kaum zu, genaue Pläne zu schmieden. Und ich kümmerte mich auch nicht darum, dass er leerer wurde. Stattdessen sah ich die EM näher kommen und somit einen Weg, dem ganzen noch ein wenig länger zu entfliehen. Ich schämte mich dafür, dass ich mich dermaßen erbärmlich verhielt, doch ich sah einfach keinen Ausweg. Ihr Ring zeigte mir immer wieder, dass es schon bald kein Zurück mehr geben würde, ebenso wie er mir meine Angst vor diesem vermeintlich endgültigen Schritt verdeutlichte. Auf das Trainingscamp freute ich mich daher sehr. Hier würde ich Ablenkung finden und einfach frei meiner Leidenschaft nachgehen können. Hier würde ich abschalten und runterkommen, und vielleicht konnte ich anschließend, nach der EM, mit ihr ernsthaft über unsere Hochzeit reden. Dann würde ich es sicher schaffen, den Weg mit ihr zu gehen. Davon war ich wirklich überzeugt, so lange bis ich den Mann wieder sah, der meine Welt bereits einmal fast zum Einsturz gebracht hatte. Rein objektiv gesehen war Mathew genauso wenig mein Typ wie er es vor fast zwei Jahren gewesen war. Er hatte sich kaum verändert. Seine Haare waren bloß etwas länger, seine Gesichtzüge vielleicht etwas markanter, sein Körper, soweit man das durch die Kleidung ausmachen konnte, ein wenig schmalen. Nichts Besonders war an ihm, mag man meinen, doch alleine sein Anblick war genug, um mein Herz für eine lange Sekunde aussetzen zu lassen. Von der gesamten Ansprache des Trainers bekam ich kein einziges Wort mit. Stattdessen konnte ich meine Augen kaum von dem Mann lassen, den ich nie erwartet hatte, noch einmal wiederzusehen. Sein Blick und das angedeutete Lächeln hingegen sagten mir, dass dies kein Zufall war. Fast so laut wie Worte stachen sie in mich und machte mir deutlich, dass Mathew nicht einfach gefragt worden war, herzukommen; er hatte es darauf angelegt. Er hatte mich nicht vergessen, er hatte keinen neuen Mann gefunden. Er war hier wegen mir. Was dachte er bloß, was nun geschehen würde? Zunächst kam ich mit dem Gedanken überhaupt nicht klar, dass er wieder in meiner Nähe war. So lange hatte ich mich nach ihm gesehnt, die Gefühle unterdrückt und gegen sie gekämpft; wie konnte er es da wagen, einfach so wieder vor mir zu stehen? Wusste er denn nicht, dass er alles kaputt machen konnte? Oder war das alles Berechnung seinerseits? Wollte er mich zerstören? So irrsinnig diese Gedanken auch waren, verfolgten sie mich dennoch einige Tage lang, in denen ich ihm bewusst aus dem Weg ging. Ich musste meine Gefühle ordnen, sonst würde ich es nicht schaffen, ihm gegenüber zu treten. Denn ich war nicht bereit dazu, mich ein weiteres Mal in ihm zu verlieren. Dabei war mir eigentlich klar, dass ich nie wirklich aus ihm herausgefunden hatte. Meine Gefühle waren immer noch da, verborgen mit dem Teil meiner selbst, den ich verleugnete und immer mal wieder hasste. So wie jetzt, da mir bewusst wurde, wonach ich mich die letzten Monate gesehnt hatte. Aber wieso? Wieso war diese wunderbare Frau nicht genug für mich? Sie liebte mich und wollte mit mir alt werden. Wieso konnte ich nicht einfach genau das gleiche fühlen? Wieso musste ausgerechnet ich so abscheulich anders sein? Meine Wut auf mich selbst war schwer zu verbergen, gar unmöglich. Jeder merkte mir an, dass etwas nicht stimmte, wenn auch nur einer wissen konnte, was die Ursache war. Doch gerade mit ihm wollte ich nicht sprechen, während er den Kontakt suchte und ihn zumindest mit Miriam, mit Thomas und Cheila fand. Doch ich blockte ab, immer wieder. Ich durfte nicht schwach sein. Miriam war ratlos. Sie verstand nicht, was nun schon wieder passiert war, und versuchte, Anhaltspunkte für mein Verhalten zu finden. Ich versuchte meinerseits, sie davon abzuhalten, aus Angst, sie könne tatsächlich auf die richtige Spur stoßen. Denn für mich war es so deutlich, so offensichtlich; merkte sie denn nicht, dass es alles mit der Anwesenheit eines einzigen Menschen zusammen hing? Sie merkte es nicht, denn vermutlich war sie so davon überzeugt, dass ich der heteroste Mann auf der Welt war, weshalb sie noch nicht mal im Ansatz in die richtige Richtung dachte. Es erleichterte mich, wann immer ich das merkte, machte das ganze aber nicht einfacher, weil ich das Gefühl hatte, an meinen eigenen Lügen zu ersticken… oder an meiner Sehnsucht. Um ehrlich zu sein, mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich Mathew tatsächlich vermisst hatte. Zwar wehrte ich mich gegen diese Erkenntnis, doch wann immer ich in seiner Nähe war oder in seine Augen blickte, spürte ich das Verlangen, welches zwei Jahre zuvor entfacht worden war. Und es war stärker als damals, ein Vielfaches intensiver. Ich konnte mich kaum auf etwas konzentrieren, sobald er auch nur in Sichtweite trat, und es fiel mir schwer, die Distanz zu wahren. Zum Glück versuchte er nicht, sie zu überwinden, denn ich wäre sofort eingebrochen, hätte er an meiner Mauer geklopft. Doch warum war dies so? Wir hatten einander nie geküsst, nur selten berührt. Wir hatten zwar geredet, doch gab es so vieles, was ich nicht über ihn wusste. Ich kannte nur wenige seiner Macken, bei weitem nicht alle Vorlieben und Wünsche. Ich wusste nicht, was er von der Zukunft erwartete und hatte nur ein ungefähres Bild von dem, was seine Persönlichkeit geprägt hatte. Wieso also konnte ich nicht anders, als ständig an ihn zu denken? Warum konnte ich sein Lächeln nicht vergessen; oder seine Stimme? Weshalb sehnte ich mich nach seinen Berührungen, seiner Nähe? Weswegen verfolgte er mich in der Nacht, wenn es doch viel mehr Dinge abseits von ihm gab, die mich beschäftigen sollten? Was war so besonders an ihm, dass er mich so in Beschlag hatte nehmen können? Wieso liebte ich ihn? Ich ertrug diese Frage kaum, nachdem sie sich einmal in meinem Verstand eingenistet hatte. Niemand auf der Welt kann wirklich beschreiben, was Liebe ausmacht, jeder muss sie für sich selbst erkunden und entdecken. Und an diesem Punkt war ich nun, oder vielleicht bereits vor zwei Jahren. Ich wusste, tief in mir drin, dass dies Liebe war, so irrsinnig es auch für mich klang. Wir hatten so wenig Zeit zusammen gehabt, nie ein gemeinsames Alltagsleben, und dennoch erfüllte er mich wie niemand sonst. Bei ihm war ich innerlich zur Ruhe gekommen, entspannt und glücklich. Fern von ihm war ich aufgewühlt und von Unwahrheiten zerfressen. Er war es, den ich am liebsten für immer an meiner Seite haben wollte. Dies war Liebe, zumindest für mich. Und sie brannte in mir, so sehr ich sie auch verdrängte und versuchte, sie herunterzuspielen. Sie wollte nicht aufhören zu lodern, so stark und hell, dass ich sie kaum übersehen konnte. Sie umhüllte mich mit ihren Flammen und zog mich hinab zum Fegefeuer. Wenn ich dem einmal nachgäbe, würde es kein Zurück mehr geben. Ich wusste das, es machte mir Angst, doch ich sehnte mich desgleichen genau danach. Jahre zuvor, war ich auch in einer schwierigen und verbotenen Situation gewesen. Damals war ich zu ihm gegangen und zwischen uns war nichts Anzügliches geschehen. Wir hatten nur geredet, uns an harmlosen Stellen berührt. Doch nun wollte ich das tun, was damals hätte passieren können, wenn ich nur den Mut gehabt hätte. Und so führte mich all das letztendlich dazu, dass ich in einer sternenklaren Nacht Miriam in unserem Bett alleine ließ. Bis zu dem Punkt war ich immer irgendwie stark gewesen, hatte gelernt, Instinkte und Verlangen zu unterdrückt, und stattdessen so gehandelt, wie es von mir erwartet wurde. Ich war nie wirklich bereit gewesen, schwach zu sein, meinen Traum zu opfern. Doch nun war ich es. Zu lange hatte ich gesehnt und geliebt. Zu lange hatte ich mir vorgestellt, wie seine Lippen schmecken und seine Haut sich anfühlen würde. Ich konnte einfach keinen anderen Weg mehr wählen. Ich wollte in dieser Gefühlswelt nicht mehr alleine sein. Man mag sich vorstellen, wie überrascht Mathew war, als ich plötzlich vor seiner Tür stand. Wir hatten in den vergangenen Tagen nur die nötigsten Worte gewechselt, kein einziges persönliches. Ich war ihm ganz deutlich aus dem Weg gegangen. Und nun stand ich plötzlich vor ihm, einfach so. Ich streckte ihm die Hand entgegen, ohne ein einziges Wort. Es war nur eine kleine Geste, doch sie sagte so viel. Und dann schloss sich die Tür hinter uns und ich riss ihn an mich. Dieses Mal wollte ich nicht nur reden, dieses Mal vergrub ich meine Lippen auf seinen und war nicht bereit, ihn loszulassen, ehe wir uns die Kleider vom Leib gerissen und einander auf unbändige Weise geliebt hatten. Es ging schnell, viel zu schnell und ungestüm, und danach saß ich benommen da, auf dem Boden des Flurs, direkt bei der Tür. Ich konnte noch immer sein lustvolles Stöhnen in meinen Ohren hören. Wir hatten beide versucht, jeglichen Laut zu unterdrücken, doch hier und da war dennoch einer hervor gekrochen. Und jetzt, in diesem Augenblick, wollte ich ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte. Doch ich konnte es nicht, denn der Zeitpunkt war zu stark dafür, zu überwältigend. Daher zog ich ihn vom Boden hoch und mit mir ins Schlafzimmer, nur um ihn hier erneut zu küssen, meine Hände in seinem Rücken zu vergraben und ihn noch einmal so wunderbar stöhnen zu hören. Ich hatte noch nie etwas vergleichbar Sinnliches und Erregendes erlebt. Wie hatte ich so lange darauf verzichten können? Es dauerte lange, bis unsere Gier gestillt war. Kein Wort hatten wir gesprochen, doch so nötig sie vor Jahren noch gewesen waren, so unwichtig waren sie nun. Und so kam es, dass wir irgendwann verschwitzt und erschöpft dalagen, einander festhielten und es nicht für notwendig erachteten, irgendwie zu kommentieren, was mit uns geschah. Doch wie immer, wenn man etwas Verbotenes tut, kommt irgendwann der Punkt, an dem man es nicht mehr unbeschwert genießen kann. Für uns kam er schnell. Noch bevor der Schweiß auf unserer Haut getrocknet war, ergriff mich ein abscheuliches Gefühl. Und so schob ich Mathew von mir, setzte mich auf und drehte ihm den Rücken zu. Er berührte mich nicht, denn er merkte, dass das nicht gut gewesen wäre. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und versuchte, meinen Verstand zu ordnen, während ich mich mit jedem Atemzug dreckiger fühlte. Es war ein anderes Gefühl, als das, welches ich immer nach den Sexkinos gehabt hatte, es saß tiefer und schmerzlicher. Ich fühlte mich von Lügen beschmutzt; Lügen, welche ich mir und vor allem Miriam vorgebetet hatte. Denn das, was ich gerade erlebt hatte, war etwas, das ich mir schon immer gewünscht hatte. Ich war zum ersten Mal ganz ich selbst gewesen, mit all meinen Bedürfnissen. Ohne ein Wort zu sagen, stand ich auf und zog mich an. Mathew folgte mir und sah schweigend zu, wie ich zur Tür ging. Hier erst drehte ich mich noch mal zu ihm um. Anders als bei den Küssen zuvor, trafen unsere Lippen sich kaum und strichen sich nur sanft. Meine Augen hingegen hielten ihn fest und wie auch immer er es machte, er hatte mich schon wieder vollkommen verstanden. Er nickte und ließ mich gehen. Wir beiden wussten, dass ich nun den Punkt erreicht hatte, an dem sich irgendetwas ändern würde. Ich wäre nicht noch einmal bereit, ihn einfach so gehen zu lassen. „Dachten Sie daran, Miriam die Wahrheit zu sagen?“ „Ja, denn mehr denn je plagte mich mein schlechtes Gewissen. Egal wie sehr es immer darum gegangen war, mich zu verstellen und zu verstecken, ich hätte Miriam nie so tief mit hinein ziehen dürfen.“ „Sagte Sie es ihr?“ „Nein. Ich war kurz davor, als sie am nächsten neben mir aufwachte, doch ich konnte es nicht. Der Gedanke, ihr so weh zu tun, brach mir das Herz… Ich hatte das doch nie gewollt…“ „War Ihnen nicht bewusst gewesen, dass es irgendwann so kommen könnte?“ „Nicht in dem Ausmaß. Wenn man es eine gewisse Zeit schafft, ein Versteckspiel zu leben, so denkt man, dass man so auf ewig weitermachen kann… Ich hatte zu spät erkannt, dass so etwas unmöglich ist. Man kann sich nicht sein Leben lang verstecken… nicht vor sich selbst.“ „Was hatten Sie also vor?“ „Das wusste ich zunächst einmal selbst nicht. Einige Tage lang ging ich Mathew wieder aus dem Weg, doch bald schon schlich ich erneut zu ihm. Und ich sagte ihm, dass ich vorgehabt hatte, Miriam nach der EM zu heiraten… Ich hatte nie erwartet, dass er diese Idee noch immer unterstützen würde.“ „Ehrlich? Aber er liebte Sie doch auch, oder etwa nicht?“ „Das fragte ich ihn auch. Wie konnte er so etwas sagen? Wie, nach dem, was zwischen uns geschehen war? Wie konnte er mich in ihre Arme treiben?“ Mathews Antwort darauf verstand ich nicht. Er wolle nicht, dass ich mein Leben für ihn aufgab, waren seine Worte. Mehr noch. Wenn es nötig wäre, würde er nach außen hin einfach ein Freund sein. Wenn er dadurch an meiner Seite bleiben könnte, so würde er damit leben können. Er wollte bloß bei mir bleiben, doch er verlangte nicht, dass ich dafür etwas änderte. Zu Anfang war ich wütend auf Mathew und fragte ihn, was er sich denn dachte. Wollte er meine schäbige Affäre werden und mit ansehen, wie ich Miriam heiratete und mit ihr Kinder bekäme? Wollte er ihr lächelnd gratulieren und am besten noch Trauzeuge und Patenonkel werden? Wollte er denn nicht frei sein? Oder dachte er gar daran, mich auf diese Weise jederzeit einfach so verlassen zu können? Ohne Verpflichtungen wäre es doch leicht für ihn, einfach wieder zu gehen, nicht wahr? Ich tobte, als ich ihm all das an den Kopf warf. Ich konnte es nicht fassen, wie er so ruhig bleiben konnte. Doch dann griff er meine Hand, zog mich zu sich und küsste mich sanft, schloss mein Gesicht in seine Hände und sah mir tiefer in die Augen als je zuvor. „Ich liebe dich“, sagte er da, zum allerersten Mal. „Doch ich bin nicht bereit, dafür dein Leben zu zerstören.“ Anschließend versuchte er es mir zu erklären und wollte von mir hören, was ich mir denn sonst gedacht hätte. Wollte ich mich etwa outen, meine Karriere wegschmeißen und für Monate zur Zielscheibe der Medien werden. Wofür hatte ich dann so lange gekämpft? Wollte ich das alles aufgeben? War das mein Plan? Ich wusste es nicht, denn ehrlich gesagt hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, wie es weitergehen würde. Ich war mir nur im Klaren darüber, dass ich nicht mehr ohne Mathew leben wollte, mehr wusste ich nicht. Doch er hatte recht, es ging um mehr als nur darum. Nicht umsonst hatte ich mich doch die ganzen Jahre versteckt; ich konnte doch jetzt nicht alles einfach hinwerfen. Also änderte sich nach außen hin rein gar nichts. Wir ließen uns nichts anmerken, führten lediglich eine professionell freundschaftliche Beziehung und mit Miriam sprach ich über die Hochzeit. Ich versuchte, mich auf dem Spielfeld zu kontrollieren und an Abenden, an denen wir alle etwas zusammen machten, kontrollierte ich mich noch um ein Vielfaches mehr. Ich wurde paranoider als zuvor, glaubte dann und wann, Thomas würde mir fragende Blicke zuwerfen oder Cheila würde kritisch schauen. Auch Miriams Lächeln kam mir vereinzelt falsch vor und wenn ich mit Mathew alleine war, fühlte ich mich beobachtet und verfolgt. Dabei genoss ich es so sehr, wann immer ich diese Zeit mit ihm hatte. Noch nie hatte ich in Gegenwart eines anderen Menschen vollkommen ich selbst sein können. Ich konnte meine Makel zeigen und über all das sprechen, was mir gerade im Kopf herum schwirrte. Ich konnte mich in seine Arme schmiegen, wenn mir danach war, konnte ihn berühren, wenn ich es wollte, und Sex zum ersten Mal wirklich auskosten. Ich konnte mir vorstellen, dass es immer so weiter gehen würde, auch wenn dieses „Immer“ in meinen Träumen lediglich ihn und mich umfasste. All das war grausam Miriam gegenüber und vielleicht auch zum Scheitern verurteilt, doch zunächst schien es zu funktionieren. Natürlich, es gab viel zu viele Risiken. Es ging nicht nur darum, dass ich meine Frau betrog. Im Endeffekt belog ich die ganze Welt beziehungsweise jeden, der mich kannte, sei es nun privat oder aus dem Fernsehen. Ihnen allen machte ich etwas vor, wann immer ich mich an der Seite meiner zukünftigen Frau ablichten ließ. Nein, eigentlich sobald ich auf dem Feld stand. Diese Gewissheit zerfraß mich zunehmend. War wirklich das das Leben, welches ich leben wollte? Eines Nachts begann ich ernsthaft, mich zu fragen, was auf mich zukommen könnte, wenn ich mich doch irgendwann einmal outete. Zum ersten Mal fasste ich es bewusst in Gedanken und Tatsachen. Ich würde aus der Mannschaft geworfen, so viel war klar. In vermutlich allen Zeitungen auf der Welt würde man über mich schreiben, mich vielleicht beschimpfen, auslachen, verurteilen. Doch abgesehen davon? Was konnte mir noch passieren? Es kam ein Punkt, ab dem ich mich fragte, ob ich damit umgehen konnte. Zwar wusste ich nicht, wann bei mir dieses Umdenken stattgefunden hatte, doch irgendwie war es geschehen und ich fragte mich tatsächlich zum allerersten Mal, ob es mir nicht doch möglich sein würde, allen die Wahrheit zu sagen. Ich war doch stark genug, nicht wahr? Ich würde nicht daran zerbrechen… Als ich das erste Mal ernsthaft mit Mathew über ein Outing sprach, zählte er mir sogleich alle negativen Punkte auf, die ihm einfielen. Er schüttelte vehement den Kopf und sagte mir, ich solle mir das ganz schnell wieder aus dem Kopf schlafen. Ich würde Miriam das Herz brechen und meine Karriere vergessen können. Natürlich, dessen war ich mir längst schmerzlich bewusst. Doch konnte ich denn wirklich auf Jahre dieses Doppelleben führen, welches mich bereits nach nicht einmal einem Monat innerlich aufzufressen schien? Letztendlich packte Mathew mich und sah mir tief in die Augen, um mich so zu bitten, es nicht zu tun. Weshalb nicht, wollte ich wissen, und seine Antwort leuchtete mir tatsächlich ein. Wenn ich mich jetzt outen würde, so täte ich es wegen ihm, um mit ihm zusammen zu sein. Wenn es ihn nicht gäbe, würde ich mein Leben vermutlich weiterleben wie bisher und wäre auf meine Weise zufrieden damit. Doch wenn ich erst einmal geoutet war, würde sich alles verändern und keiner wusste, wohin der Weg uns dann führen würde. Wer konnte schon sagen, dass wir immer glücklich miteinander sein würden? Wer wusste schon, ob ich ihm nicht vielleicht irgendwann, möglicherweise bald schon, vorwerfen würde, was ich selbst fabriziert hatte? Er wollte nicht der Grund für mein Outing sein. Wenn ich es täte, dann wegen meiner selbst, nicht aber wegen ihm. Wäre das mein Grund, würde er sich augenblicklich von mir trennen. Ich zweifelte nicht daran, dass er diesen Schritt wirklich gehen würde. Und außerdem verstand ich seine Gründe, musste ihm gar recht geben und wurde in meinen Überlegungen weit zurück geworfen. Doch vergessen konnte ich sie nicht. Abseits davon schritt die EM sehr erfolgreich für uns voran. Ich genoss die Spiele und die Jubelstürme unserer Fans, auch wenn ich nie wirklich abschalten konnte. Von meiner schwierigen Gedankenwelt bekam niemand etwas mit außer Mathew. Mit ihm sprach ich kaum darüber und mit Miriam schmiedete ich andere Pläne. Mit Thomas und meinen Mannschaftskollegen sprach ich euphorisch über das Finale, dem wir immer näher kamen. Wir gewannen ein Spiel nach dem anderen und standen schließlich genau dort, wo wir immer hingewollt hatten. Ich sog die Begeisterung in mich auf und fragte mich, ob ich tatsächlich schon bereit war, dies aufzugeben. Ich hatte es so weit gebracht und eigentlich hatte ich die wichtigsten zwei Menschen an meiner Seite. War nicht alles bestens so, wie es war? Konnte ich nicht so weiterleben? Kurz vor dem Endspiel zog ich Mathew zur Seite und küsste ihn heftig in einer verborgenen Ecke. Ich wollte ihn nie wieder verlieren, das flüsterte ich ihm ins Ohr, und er lächelte daraufhin, sagte mir, dass ich nun erst einmal dieses Spiel gewinnen solle. Alles andere würde sich schon irgendwann in die richtigen Bahnen leiten. „Ihre Mannschaft hat nicht gewonnen.“ „Nein, leider nicht. Dabei wäre es ein wirklich schöner Abschluss gewesen… aber es sollte nicht sein und ehrlich gesagt kann ich Ihnen noch immer nicht erklären, was los war. Es lief einfach nicht und dann fiel ein Tor nach dem anderen gegen uns…“ „Das ist wirklich schade… aber wie heißt es so schön? Es gibt immer eine nächste Chance.“ „Nicht für mich.“ „Meinen Sie wirklich?“ „Ja. Ich habe viel darüber nachgedacht, was passieren wird, wenn Sie diesen Artikel bringen, doch egal was ich mir wünsche, mit ihm wird meine Karriere ein Ende haben.“ „Sie waren sich dessen schon immer bewusst, warum riskieren Sie es dann ausgerechnet jetzt? Sie sind noch jung und stehen am höchsten Punkt Ihrer Karriere… Warum warten Sie nicht noch bis nach der nächsten WM? Oder gar bis zum Ende Ihrer Profikarriere? Dann ist der Schaden nicht mehr so groß…“ „Doch, er wird noch viel größer sein. Wenn ich noch länger warte, bekommen Miriam und ich vielleicht Kinder, die dann mit in das Ganze hineingezogen werden. Ohnehin würde ich Miriams Leben noch weiter zerstören, je länger ich sie belüge. Dabei hat sie ein Recht darauf, noch einmal neu anzufangen und einen besseren Mann zu finden, solange sie noch jung ist… Sie hatte es nie verdient, so belogen zu werden… irgendwann muss das einfach ein Ende haben.“ „Also machen Sie das für Sie?“ „Ja und natürlich für mich. Und auch für Mathew, selbst wenn er das nie wollte…“ „Haben Sie denn mit ihm darüber gesprochen?“ „Am Anfang sehr oft, doch in letzter Zeit nicht mehr. Er hat seinen Standpunkt und ich verstehe ihn. Aber genauso möchte ich das tun, was ich für richtig halte… und jetzt ist der beste Augenblick dazu.“ „Wieso ausgerechnet jetzt?“ „Weil ich nicht mehr kann. Ich habe in diesen paar Monaten seit der EM gemerkt, wie es mir an die Substanz geht. Es war schon immer schwierig, doch jetzt, mit Mathew an meiner Seite, ist es für mich fast unmöglich, mich zu verstecken. Wenn ich bei ihm bin, bin ich vollkommen bei mir selbst, bin ein vollständiger Mensch, doch immer wieder reißt die Wirklichkeit an mir. Das hinterlässt Narben, je tiefer ich mich darin verliere. Wenn es so weiter geht, machen meine eigenen Lügen mich derartig kaputt, dass ich mich selbst vielleicht nie wieder finde. Ohnehin denke ich, dass ich auf dem Weg hierher schon viel zu viel von mir verloren habe…“ „Das klingt, als bereuen Sie Ihren Weg?“ „Nein, so kann man das auch nicht sagen. Ich bereue, dass ich so viele Menschen mit hinein gezogen und ihnen wehgetan habe oder noch weh tun werde, doch Fußball war immer mein Traum… Lange war dieser Sport mein Leben… doch irgendwann bemerkt man einfach, dass es noch wichtigere Dinge gibt.“ „Zum Beispiel?“ „Naja… wie soll man das beschreiben… Sie sind verheiratet, oder?“ „Ja.“ „Würden Sie sagen, mit der Liebe Ihres Lebens?“ „Ja.“ „Dann kennen Sie das Gefühl, welches man hat, wenn man am Abend neben genau dieser Person einschläft, und Sie wissen, wie es ist, wenn das erste, was man am Morgen sieht, ihre Augen sind. Es ist mit nichts zu vergleichen und letztendlich gibt es kaum wertvollere Augenblicke… Wissen Sie, was ich meine?“ „Sehr gut.“ „Dann verstehen Sie vielleicht, was mir fehlt. Und wenn ich überlege, wie viele Menschen ihr Leben lang nach genau dieser Liebe suchen ohne sie vielleicht jemals zu finden, dann bin ich nicht bereit, meine noch länger zu riskieren. Denn wer weiß, ob uns dieses Versteckspiel nicht doch irgendwann zerstören wird…“ „Sie wissen nicht, ob das mit Mathew ewig hält.“ „Das ist richtig, aber ich wünsche es mir… und ich wünsche mir, dass Miriam irgendwann die Liebe ihres Lebens findet.“ „Waren das nicht Sie?“ „Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass sie einen Menschen findet, mit dem sie noch glücklicher sein kann als sie es mit mir gewesen ist.“ „Haben Sie denn schon mit ihr gesprochen?“ „Ja. Vor ein paar Tagen. Sie sollte es nicht aus der Presse erfahren.“ „Was ist dabei herausgekommen?“ „Darüber möchte ich nicht sprechen. Sie hat ein Recht darauf, es selbst zu tun, wenn sie das irgendwann möchte.“ „Verstehe. Ich denke, dann kommen wir auch langsam zum Ende… Aber eine Frage hätte ich noch.“ „Bitte.“ „Was hoffen Sie, wird sich ab morgen positiv für Sie ändern?“ „Naja, das Versteckspiel hat endlich ein Ende und ich kann anfangen, wirklich zu leben. Ich muss niemanden mehr belügen und ich kann ich sein, ohne jemandem etwas vormachen zu müssen.“ „Ich hoffe für Sie, dass es klappt. Sie haben es trotz allem verdient.“ „Danke.“ „Nein, ich danke Ihnen. Es ist mir wirklich eine Ehre, diesen Artikel schreiben zu dürfen, wir haben extra einige Seiten dafür reserviert. Ich hoffe, er wird Ihren Vorstellungen entsprechen.“ „Ach, wissen Sie, letztendlich ist es vermutlich eh egal, was geschrieben wird. Seien wir mal ehrlich, zwar sieht man immer mehr Schwule auf der Straße, in der Politik oder im Fernsehen, sie werden fast überall mehr oder minder akzeptiert, doch mich wird man zerreißen, weil ich ein Fußballspieler bin. So funktioniert unsere Welt nun mal.“ „Und dennoch gehen Sie einen mutigen Schritt…“ „Ja. Ich gehe ihn, damit ich zumindest einen Teil davon in der Hand habe, was ab jetzt erzählt werden wird. Und vielleicht öffnet der Artikel ja zumindest dem ein oder anderen Menschen die Augen. Aber selbst wenn nicht, wissen Sie, eines hab ich begriffen…“ „Und das wäre?“ „Man sollte den Kopf immer oben halten, den Blick nach vorne richten und die Augen offen für Neues lassen… denn egal wie schlimm es für uns manchmal aussieht, innerhalb des Lebens gibt es kein Ende. Wenn eine Sache endet, beginnt eine andere.“ Kapitel 10 – ENDE ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ An dieser Stelle erreichen wir das kleine Finale der Geschichte. Zu Anfang sollte sie an dieser Stelle enden, doch dann ist mir klar geworden, dass es noch lange nicht das Ende ist. Es gibt noch zu viele Dinge, die nicht gesagt wurden oder noch gesagt werden müssen… weshalb ich mich recht schnell dazu entschieden hatte, noch fünf weitere Kapitel zu schreiben. Auf diese dürft ihr euch nun also freuen! Bis dahin würde ich mich wiederum freuen, von euch zu erfahren, wie ihr die Geschichte bis hierher wahrgenommen habt. Was gefällt euch? Was stört euch? Was glaubt ihr, wie es nun weiter geht mit unserem Fußballspieler? Bevor ich euch nun aber dorthin entlasse, möchte ich noch ein paar Kleinigkeiten loszuwerden... ein paar Antworten auf ein paar Fragen sozusagen. 1. Weshalb dieser Erzählstil? Normalerweise schreibe ich ja, wie viele von euch wissen, weniger distanziert, näher am und im Geschehen. Ich beschreibe die eigentlichen Handlungen und Momente. Für diese Erzählung aber habe ich mich bewusst für einen Stil entschieden, der das ganze etwas nüchterner und relativ distanziert darstellt. Natürlich weiß ich, dass diese Art einer Geschichte auf Dauer ein wenig anstrengend sein kann und weniger „das Eintauchen in sie“ zulässt, doch es ging mir vorwiegend darum, das Thema in einen passenden Rahmen zu fassen. Eine "richtige" Geschichte wäre mir irgendwie zu kitschig gewesen, zu wenig authentisch, zu unrealistisch, unprofessionell? Das Thema ist zu ernst, als dass ich es in Alltagssituationen quetschen möchte. Ich will es umfassend behandeln, ansprechen, kritisieren und damit zeigen, wie es einem schwulen Fußballer gehen könnte. Daher musste ich eine gewisse Distanz wahren. 2. Was bedeuten die Einschübe bzw. der Artikel? Wie ihr ja spätestens nach diesem Kapitel wisst, sind sie ein Interview für einen Artikel über das Outing unseres Fußballprofis. Allerdings kann man es sich jetzt nicht so vorstellen, dass alles, was in den „Geschichtsblöcken“ steht, auch dem Reporter gesagt wird bzw. später in dem Artikel geschrieben steht. Aus dem Grunde hab ich es auch durch Schrift- und Erzählstil abgegrenzt. Zwar wird dem Reporter von den Fakten auch das erzählt, was ihr zu lesen bekommen habt, aber natürlich weniger detailliert. Nur für den Leser der Geschichte ist die Vergangenheit etwas deutlicher dargestellt… man kann es auch als Gedankengänge sehen, welche unser Protagonist während des laufenden Interviews hat. 3. Wie heißt der Protagonist? Es war und ist meine volle Absicht, den Namen unseres Fußballers nicht zu nennen. Natürlich habe ich zunächst darüber nachgedacht, doch ich habe mich schnell dagegen entschieden. Hätte ich einen Namen gewählt, hätte ich darauf achten müssen, dass es keinen Fußballer gibt, der so heißt, denn ich will euch keine falschen Vorstellungen in den Kopf rufen… oder auch nur Bilder, weil ihr einen bestimmten Spieler vor Augen habt. Ich denke einfach, durch seinen Namen (oder auch durch sein Heimatland oder seinen Verein) wäre die Geschichte weniger allgemein gültig, denn dann würde sie einen einzelnen Menschen spezieller herausheben. Auf diese Weise aber möchte ich zeigen, dass es letztendlich jedem so ergehen kann. Bei vielen werden wir vermutlich nie auf die Idee kommen. Soweit dazu, und jetzt möchte ich euch noch viel Spaß mit den restlichen Kapiteln wünschen! =) ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Nachtrag: gerade auf YT gefunden: http://www.youtube.com/watch?v=yAVRT8NOOok ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ <10.00> Wer die Regeln macht ---------------------------- „Eine Umfrage? Worum geht es denn?“ „Letzte Woche ist bei uns ein Artikel über den schwulen Fußballer-“ „Ach, den hab ich gelesen! Und was wollen Sie jetzt von mir?“ „Wir sammeln Stimmen aus der Bevölkerung… Von Fans oder auch Leuten, die sich gar nicht für Fußball interessieren… Wir möchten wissen, wie die Allgemeinheit auf das Outing reagiert.“ „Sie wollen also wissen, was ich dazu sage?“ „Richtig.“ „Na schön. Ich hab mich schon vor Jahren mit Freunden über das Thema unterhalten, was eigentlich mit Homosexuellen im Fußball passiert. Die meisten waren davon überzeugt, dass es sie nicht gibt… aber ich dachte mir, dass sie falsch liegen. Nur hätte ich es ausgerechnet von ihm nie erwartet!“ „Weshalb nicht?“ „Er und Miriam waren doch ein tolles Paar.. Nein, ich hab es wirklich nicht erwartet..“ Ich war ziemlich überrascht, als mir mein Chef sagte, was für ein Artikel geplant ist. Ein schwuler Fußballspieler aus unserer Nationalmannschaft? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, um wen es dabei gehen sollte. Doch er sagte es mir auch nicht. Außerdem verlangte er von mir, bis zum Interview vollkommenes Stillschweigen über die Sache zu erhalten. Dies war eine riesige Sache für unsere Zeitung und zudem hatte er dem Spieler zugesichert, dass bis zur Artikelerscheinung nichts an die Außenwelt dringen würde. Ich sprach nicht einmal mit meiner Frau über die Sache. Zwar sagte ich ihr, dass ich in zwei Wochen ein ganz besonderes Interview führen würde, doch ich gab ihren Fragen nicht nach. Natürlich vertraue ich ihr, doch manchmal rutschen halt doch Sachen heraus, die man eigentlich nicht sagen will. Ich bin durch meinen Beruf dazu verpflichtet, zu schweigen, sie ist es nicht. Würde doch etwas nach draußen dringen, würde ich dafür verantwortlich gemacht werden. Bis zu dem Interview selbst war ich, zugegeben, schon sehr neugierig. Ich mochte Fußball, auch wenn ich Basketball vorzog, also war ich selbstverständlich sehr daran interessiert, um wen es sich handelte. Denn ich konnte es mir nicht denken, ich hatte keine Idee. Weiterhin malte ich mir aus, was passieren würde, wenn unser Artikel erscheinen würde. Soweit ich wusste, hatte sich noch kein Spieler geoutet; es würde zunächst einmal ein riesiger Skandal werden. Was musste den Mann dazu bewegen, den Schritt dennoch zu gehen? „Ich wusste es! Es war so klar!“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Man hat es ihm doch angesehen, wie er den anderen immer nachgestarrt hat!“ „Aber es scheint doch nie jemand Verdacht geschöpft zu haben.“ „Die waren alle blind, ich wusste es schon immer!“ „Keiner hat es von ihm erwartet, das ist wohl das Beste an der Sache.“ „Wieso?“ „Naja, es zeigt, dass es wirklich jeden treffen kann!“ „Ich finde, es ist an der Zeit, dass sich noch mehr Spieler outen! Er hat den ersten Schritt getan, sie sollten ihn unterstützen!“ „Glauben Sie also, dass es noch mehr gibt?“ „Natürlich! Aber die sind wohl immer noch zu feige.“ „Das zeigt mal wieder, es sind dann wohl doch genau die, von denen es man nicht denkt…“ „Wer hätte das gedacht! Ich find’s cool!“ „Man kann mir erzählen, was man will, irgendwie sind beim Fußball doch eh alle schwul… so wie die sich immer betatschen!“ „Ehrlich gesagt, ich bin wirklich erstaunt, dass man es ihm nie angemerkt hat… Ich dachte immer, man merkt das schon irgendwie… man sieht es den Schwulen an… aber bei ihm wäre ich nie auf die Idee gekommen… irgendwie faszinierend.“ „Und was halten Sie davon, dass er schwul ist?“ „Im Grunde ist es mir egal. Er ist ein klasse Spieler!“ „Also sollte er Ihrer Meinung nach weiter für die Nationalmannschaft spielen? „Natürlich!“ „Das Mädel muss echt blind gewesen sein!“ „Miriam?“ „Ja! Man merkt, doch ob der Lover scharf auf einen ist oder nicht!“ Ein paar Tage vor dem Interview wurde ich wieder wegen der Sache zum Chef gerufen. Er sagte mir, dass er sich entschieden hatte, mich für dieses Interview als Redakteuren zu nehmen, weil er meine neutralen Artikel sehr schätzte und außerdem wusste, dass ich ein sehr toleranter Mensch bin. Damit hatte er recht. Zwar war ich, was vielleicht auch meinen Beruf erklärt, neugierig, aber abseits davon war ich der Angelegenheit gegenüber eher so gestimmt, dass jeder ein Recht auf sein privates Leben haben sollte. Was ging es uns an, dass irgendein Fußballer Männer liebte? Drei Tage vor dem Interview wurde mir gesagt, wer es führen würde. Ich hatte bereits an vielen Projekten zusammen mit diesem Kollegen gearbeitet, weshalb ich davon überzeugt war, dass wir uns auch dieses Mal wieder gut ergänzen würden. Am Nachmittag noch setzten wir uns zusammen hin, um uns Fragen zu überlegen. Er war ebenso neugierig wie ich, um wen es sich handelte. Anders als ich hatte er auch bereits zwei Spieler im Verdacht, was vielleicht daran lag, dass er sich mehr mit Fußball beschäftigte als ich. Und er hatte auch schon fast jeden Spieler der Nationalmannschaft vor seinem Mikrofon gehabt. Das Interview würde bei uns in der Redaktion stattfinden. Erst am Morgen, drei Stunden vor Beginn, wurde uns schließlich der Name mitgeteilt. Es war keiner der beiden, die mein Kollege sich vorgestellt hatte, stattdessen traf es ihn ziemlich überraschend und er schüttelte immer wieder leicht den Kopf, während wir an unseren Computer saßen und noch ein paar Fakten zu dem Spieler heraus suchten. Hintergrundinformationen, damit das Interview flüssiger laufen würde. Dann kam er und wir setzten uns mit ihm hin, erfuhren seine Geschichte, seine Vergangenheit und Wahrheit. Ich hatte eigentlich vor gehabt, mir Notizen zu machen, doch die meiste Zeit saß ich einfach nur da und hörte zu. Ich hatte nicht mit so einem schwierigen Leben gerechnet. „Es ist einfach nur abartig! Ich wäre froh, wenn ich es nie erfahren hätte!“ „Die arme Frau. Es muss schlimm sein, wenn der eigene Verlobte einen nie wirklich geliebt hat…“ „Ich frage mich, was wirklich der Grund war, dass er sich jetzt outet. PR?“ „Endlich spricht mal einer aus, wie schwer es den Homosexuellen heute noch in manchen Bereichen gemacht wird! Man muss sich das mal vor Augen führen!“ „Kennen Sie sich da aus?“ „Ich habe einige schwule Freunde und kenne ihre Geschichten… von allgemeiner Toleranz sind wir in der heutigen Zeit leider noch meilenweit entfernt.“ „Ich hab überlegt, mein Autogramm von ihm zu verbrennen…“ „Haben Sie es getan?“ „Quatsch! Wer weiß, vielleicht ist es mal ganz viel wert.“ „Man muss sich mal vorstellen, wie sich die anderen seiner Mannschaft fühlen… er hat ihnen doch sicher auf den Arsch gestarrt und sich wer weiß ich was mit ihnen vorgestellt…“ „Er sagte, dass seine Mannschaftskollegen wie Brüder angesehen hat.“ „Ach, das kann mir keiner erzählen! Auch bei meiner Schwester finde ich Titten geil!“ „Ist er überhaupt schwul, wenn er so lange mit einer Frau zusammen war? Er ist dann eher bi, oder nicht?“ „Wie konnte er das Miriam bloß antun?!“ „Ich komme vom Dorf. Früher wurde ich da immer schräg angesehen, wenn ich mit meinem Freund händchenhaltend durch den Park gegangen bin… Heute lebe ich in einer Großstadt. Dort interessiert es fast niemanden. Manche gucken kurz, aber das war es auch schon.“ „Wie viele Fußballer er wohl gefickt hat?" „Glauben Sie das im Ernst?“ „Natürlich! Man muss sich diese Schwuchtel doch nur anschauen, um zu sehen, wie nötig er es hat!“ „Im Fernsehen sieht man Probleme anderer nicht.“ „Was meinen Sie?“ „Diese Sache zeigt mal wieder, wie fremd uns die sogenannten Stars eigentlich sind…“ „Wie meinen Sie das?“ „Wir glauben zu wissen, wie unsere Idole ticken… die Sportler oder Schauspieler, die wir toll finden… wir haben unsere Meinung über sie… dabei führen sie doch ihr ganz eigenes Leben, über das wir nicht urteilen können… und wir sollten es auch nicht.“ Es gibt so viele Menschen auf dieser Welt, die Sportprofi werden wollen. Sie wollen berühmt werden, in dem sie einen Ball in ein Netz treten. Sie wollen damit im Fernsehen gesehen werden, wollen, dass man über sie spricht und schreibt. Doch dabei bedenken sie nicht, wie viel eigentlich dazu gehört, weltbekannt zu sein. Denn es gibt auch diese andere Art Menschen, die selbst nicht den Wunsch verspüren, berühmt zu sein. Stattdessen aber laben sie sich am Leben anderer, saugen Nachrichten und Neuigkeiten in sich hinein, um sie mit anderen Menschen zu teilen. Dies läuft nicht immer auf einer ruhigen, freundlichen Ebene ab. Wenn es einen Skandal gibt, so wird auf den beteiligten in Kneipen und beim Kaffeekränzchen herumgetrampelt. Es wird gelacht und es werden die Köpfe geschüttelt. Die Menschen denken, sie können sich ein Urteil bilden, nur durch ein paar Dinge, die irgendwo geschrieben stehen. Oder durch das neuste Foto, das für Millionen an eine große Zeitung verkauft wurde. Plötzlich scheint es jeden etwas anzugehen, das Leben eines Sportprofis, welches er privat führt. Jeder meint sich ein Urteil darüber erlauben zu dürfen und nur wenige schaffen es in der heutigen Zeit noch, dabei neutral zu bleiben. „Es hat schon seine Gründe, weshalb es noch immer ein Tabu ist!“ „Und die wären?“ „Sehen Sie, ich spiele auch Fußball, und ich könnte auch keinem aus meinem Team vertrauen, wenn er schwul wäre…“ „Weshalb nicht?“ „Dann muss ich doch Angst haben, dass er während des Spiels an meinen Schwanz denkt!“ „Ich freue mich für ihn, dass er den Mut aufgebracht hat.“ „In welche Sexkinos der wohl gegangen ist…“ „Interessiert Sie das?“ „Naja… überlegen Sie sich doch mal, was passieren würde, wenn er es sagt!“ „Was denn?“ „Na, die werden reich damit!“ „Ich finde es gut, dass er nicht mehr in dem Verein spielt… wäre ja noch schöner!“ „Aber sollte er nicht die Möglichkeit haben wie alle anderen?“ „Nein, der hat im Fußball nichts mehr zu suchen!“ „Homosexualität ist etwas vollkommen Normales... Es gibt sie ja sogar in der Tierwelt!“ „Der soll bloß machen, dass er Leine zieht!“ „Solange Schwule nicht glauben, dass sie sich alles erlauben dürfen, ist es für mich kein Problem.“ „Es ist erschreckend, wie leichtfertig heute mit dem Thema umgegangen wird. Man darf sich gar nicht ausmalen, was das noch für Konsequenzen haben wird!“ Als Redakteur einer seriösen Zeitung muss man neutral sein, darf zwar eine Meinung haben, diese aber nicht äußern. Artikel müssen objektiv geschrieben sein, die subjektive Meinung tut nichts zur Sache. Während man den Job noch nicht ausübt, kann man sich nicht vorstellen, wie schwierig diese Aufgabe manchmal sein kann. Man sucht Ausschnitte eines Interviews zusammen und möchte am liebsten nur die Teile nehmen, die einen selbst interessieren, doch dann wieder weiß man, dass man dazu verpflichtet ist, umfassend zu informieren. Man darf nichts weglassen, nur weil es einem selbst nicht gefällt. Und man darf nichts schreiben, was die Sache verschönen oder verschlimmern würde. Man muss lernen, neutral zu sein, um den Leuten, die es nicht können, genug Stoff zu bieten, sich ihre eigene Meinung daraus zusammenzusuchen. Alles was danach kommt, kann einem letztendlich egal sein. Mit den Jahren lernt man diese Neutralität immer besser. Man schottet die eigenen Gedanken ab, sobald man an der Arbeit sitzt, versucht lediglich, die Kreativität und Objektivität sprechen zu lassen. Meistens funktioniert es, doch hin und wieder kommen einem Aufgaben zu, bei denen es nicht so einfach fällt. So wie bei Umfragen zum Beispiel, bei denen man unzählige Aussagen vor sich liegen hat. Positive, wenige neutrale, viele negative, ein paar hasserfüllte. Man muss ihnen allen Platz gewähren, denn man arbeitet ja für ein neutrales, seriöses Magazin. Alle Stimmen wollen gehört werden, selbst wenn man sie selbst ausschließen will. Also muss man versuchen, seinen Job zu machen, auch wenn man weiß, dass die Menschen, die ihren Traum verwirklicht haben und Sportprofi geworden sind, eigentlich ein recht auf ihr privates Leben haben, über das sich keiner eine Meinung fällen sollte. „Niemand sollte das Recht haben, über die Natur eines anderen Menschen zu urteilen…“ „Mal ehrlich… ich hab kein Problem damit, wenn jemand schwul ist… aber beim Fußball? Das ist ein Männersport, da gehört so jemand nicht hin!“ „Aber er ist doch auch ein Mann.“ „Aber kein richtiger… Ich meine… Sie wissen schon, irgendwie ist er in ner gewissen Weise dann schon ne Frau…“ „Perverses Schwein… für den Betrug müsste er weggeschlossen werden!“ „Finden Sie nicht, dass das etwas zu drastisch wäre?“ „Wieso denn? Er hat es sich doch selbst ausgesucht!“ „Schwul zu sein?“ „Schwul zu leben!“ „Sind wir nicht alle ein bisschen bi?“ „Es ist widerlich, wenn ich mir überlege, irgendjemand aus meiner Mannschaft würde mir beim Duschen auf den Hintern gaffen und sich daran aufgeilen.“ „Ach, der wollte doch eh nur Aufmerksamkeit!“ „Wo kämen wir denn da hin, wenn plötzlich jeder schwul oder lesbisch wird!“ „In unser Mannschaft hat sich auch mal einer geoutet… er wurde rausgeekelt, obwohl er ein echt guter Spieler war. Allerdings weiß davon kaum einer was, wir sind nur ein kleiner Dorfverein…“ „Spielt er noch Fußball?“ „Er hat nie wieder einen Ball angerührt…“ „Wann war das?“ „Es ist jetzt sieben Jahre her.“ „Fußball ist ein Sport für Männer, nicht für Tunten!“ „Ohne diese Schwuchtel hätten wir die EM sicher gewonnen! Aber ne, er musste ja den Platz wem anders wegnehmen.“ „Es heißt, einer von elfen ist schwul. Wenn Sie mich fragen, sind zusätzlich mindestens zwei bi!“ „Also überrascht es Sie nicht?“ „Nicht im Geringsten! Ich frage mich eher, dass alle anderen nicht so mutig sind wie er!“ „Selbst bei den Politikern ist Homosexualität mittlerweile kein Problem mehr… Wieso also dann ausgerechnet in einem Sport, der die Menschen verbinden soll?“ „Er hätte sich einer Therapie unterziehen sollen, dann hätte er das Problem jetzt nicht.“ „Sie glauben, dass das etwas bringen würde?“ „Natürlich! So etwas Abartiges entsteht im Kopf… man müsste ihm nur mal zeigen, wie Unnormal das ist, dann würde er schon wieder auf den richtigen Weg zurück finden!“ Normalerweise schreiben wir eher positive Artikel. Zwar fassen wir auch ernste Themen auf, doch nur selten dreht es sich um individuellen Schmerz, Im Sport kommt so etwas einfach nicht so häufig vor und Verletzungen, so schlimm sie auch sind, haben eine andere Tragkraft als ein Outing eines Nationalspielers. Entsprechend ist es mir überraschend schwer gefallen, den Artikel so zu verfassen, dass ich selbst damit zufrieden war. Uns war so viel erzählt worden, das ich am liebsten alles verwendet hätte, doch obwohl wir Extraseiten zugesagt bekommen hatten, reichten sie vorne und hinten nicht. Also musste ich kürzen und dazu entscheiden, was wichtig und was unwichtig war. Dabei kam mir alles wichtig vor, denn ich wollte, so neutral ich bleiben musste, dass die Leser den Schmerz verstehen würden, den ich in seinen Augen gesehen hatte. Ich hoffe, dass ich die Schwere seiner Jahre in meinen Worten transportieren können würde, und doch glaubte ich nicht wirklich daran. Letztendlich würde sich doch ohnehin jeder sein eigenes Bild basteln. Und so ist es nun auch gekommen. Seit der Artikel bei uns erschienen ist, wird fast überall über das Thema geredet. Auch bei uns in der Redaktion. Jeder glaubt, sich eine Meinung bilden zu dürfen, jeder meint, seinen Senf dazu abgeben zu müssen. Natürlich suchen sie dabei vor allem das Gespräch mit mir und meinem Kollegen, der das Interview geführt hat. Dabei haben wir bereits in den Tagen nach dem Interview, als wir es wieder und wieder durchgegangen sind, um die besten Teile für den Artikel herauszusuchen, für uns beschlossen, nicht zu viel zusätzlich dazu sagen zu wollen. Wir haben mit ihm gesprochen und dabei sein Gesicht gesehen. Wir haben den Kummer in seinen Augen wahrnehmen können, welcher sich nicht in Worte fassen lässt. Wie sollen wir unseren Kollegen oder irgendjemandem sonst klar machen, was wirklich in dem Mann vorgegangen ist, wenn sie sich doch alle bereits ihr Urteil gebildet haben? Auch meine Frau wollte mit mir darüber reden, als ich am Abend nach Hause kam. Sie kann Fußball normalerweise nichts abgewinnen, doch hier war sie sofort interessiert und wollte philosophieren, was mir nur wieder zeigte, wie es nun in unserem Land aussehen musste. Wir hatten keinesfalls einen Artikel veröffentlicht, der nur eine bestimmte Zielgruppe anspricht. Im Gegenteil, vermutlich haben so viele Hausfrauen unsere Zeitschrift gekauft wie nie zuvor. Die Zahlen sind bestimmt in die Höhe geschnellt und unser Verlag hat riesige Umsätze gemacht… und das alles auf die Kosten eines einzelnen Mannes, der einfach im Leben zum ersten Mal zu sich selbst stehen wollte. „Fußball interessiert mich nicht, aber ich finde, dass jeder Homo ganz still sein sollte…“ „Inwiefern?“ „Na, von wegen Gleichberechtigung und so… Wo soll das denn hinführen, wenn bald alle nur noch mit ihrem eigenen Geschlecht poppen?“ „In der Renaissance war es vollkommen normal, schwul zu sein. Erst in unser ach so tollen modernen Welt ist daraus überhaupt ein Thema geworden… Sollte es nicht eigentlich anders herum sein?“ „Keiner sollte sich verstecken müssen, nur weil er jemanden liebt!“ „Meine Schwester spielt auch Fußball. In ihrer Mannschaft ist eine Spielerin lesbisch, alle anderen sind hetero… doch paradoxerweise wird es bei ihnen genau andersherum erwartet.“ „Da heißt es immer, im Fußball gibt es keine Schwulen! Ha, er hat es allen gezeigt!“ „Ich würd ihm schon zeigen, wo’s langgeht, wenn er mir über den Weg laufen würde, der Schwanzlutscher!“ „Ein Freund von mir ist schwul…“ „Lebt er offen damit?“ „Erst seit zwei Jahren… Davor war er sogar verheiratet… und er hat zwei Kinder…“ „Und wieso hat er sich geoutet?“ „Weil er es nicht mehr ausgehalten hat…“ „Was halten Sie davon?“ „Ich finde es immer noch ziemlich krass, auch wenn es wahrscheinlich die richtige Entscheidung war…“ „Und was halten Sie von der aktuellen Sache?“ „Ich denke, es war gut, dass er es jetzt gesagt hat… So ist wenigstens noch kein Kind geschädigt worden…“ „Es gibt so viele Vorurteile gegen Homos… Das kommt doch nicht von irgendwo!“ „Ich finde es einfach nur traurig.“ „Was?“ „Dass man sich als Schwuler auch heute noch rechtfertigen muss…“ „Es war richtig, dass er sich geoutet hat… sonst hätte er nur weiter die Luft im Stadion verpestet.“ „Es hat schon seine Gründe, weshalb es keine gemischten Mannschaften gibt!“ „Zum Beispiel?“ „Man ist doch immer etwas abgelenkt, wenn hübsche Frauen in der Nähe sind…“ „Meinen Sie nicht, dass man in der Situation anderes im Kopf hat?“ „Ich denke nicht. Die meisten Männer denken halt doch mit ihrem Schwanz…“ Ich habe mich selbst mit dem Thema in den letzten Tagen etwas eingehender beschäftigt. Wenn man so will, bin ich dann wohl auch nicht anders als alle anderen auch, die aktuell darüber sprechen, so gerne ich es auch wäre. Doch ich kann einfach nicht taub gegenüber den Medien sein, nicht blind, wenn ich Fernsehen schaue und das Thema in den Nachrichten behandelt wird oder in Talkshows. Somit habe ich natürlich auch die Stellungnahmen des Trainers und einiger Mannschaftskollegen gesehen und immer wieder kann ich nur den Kopf schütteln. Wie können sie so ignorant sein und dennoch sagen, dass er weiterhin ein Freund ihrer ist? Wie können sie lächeln, wenn ihre Augen Abscheu ausdrücken? Und wie können Fans sich solche schimpfen, wenn sie ihn nun am liebsten aus ihrem fußballerischen Gedächtnis streichen würden? Bereits drei Tage nach der Erscheinung des Artikels meinte mein Chef, dass wir weitere folgen lassen sollten. Stimmen der Bevölkerung und, wenn möglich, die ein oder andere aus seinem privaten Umfeld. Ich frage mich immer noch, ob dies eine gute Idee war. Wir haben das Thema begonnen, müssen wir das Feuer dann wirklich noch weiter entfachen? Zudem, auch wenn ich mit ihm eigentlich nichts zu tun habe, tut er mir leid. Ich kenne nun nur einen winzigen Teil von Bevölkerungsstimmen, doch wenn man ihnen lauscht, kann man sich vorstellen, was da draußen los sein muss. Sie alle zerreißen sich das Maul über ihn. Ich bin nur froh, dass nicht alle Stimmen vernichtend sind, selbst wenn es davon viel zu viel gibt. „Schade, dass er nicht mehr in der Nationalmannschaft spielen wird, er war wirklich eine Bereicherung!“ „Also ist es Ihnen egal, dass er schwul ist?“ „Klar, das hat doch mit dem Sport nichts zu tun!“ „Ich will gar nicht darüber nachdenken!“ „Finden Sie nicht, dass er eine Strafe verdient hat?“ „Wofür?“ „Er hat alle hinters Licht geführt!“ „Er hat das richtige getan, sich zu verstecken…anders wäre er doch nie so weit gekommen, das sieht man doch! Ich verstehe nur nicht, wieso er sich jetzt outet…“ „Wahrscheinlich gibt es noch mehr Schwuchteln im Fußball und nach den Spielen werden in der Kabine Orgien gefeiert!“ „Ich hab das Gefühl, dass es zu einem Trend geworden ist, schwul oder lesbisch zu sein. Das ist wirklich erschreckend! Gibt es denn keine normalen Menschen mehr auf der Welt?“ „Der sollte sich nicht mehr auf die Straße trauen!“ „Sensibilität ist auf dem Rasen fehl am Platz!“ „Ich bin ihm dankbar.“ „Weshalb?“ „Mein Sohn ist schwul. Er hat sich vor uns geoutet, nachdem er den Artikel gelesen hat… Ohne ihn hätte er sich vielleicht noch ewig versteckt.“ „So was ist einfach nicht normal!“ „Was ist denn für Sie normal?“ „Ach, was weiß denn ich!“ „Es ist einfach nur ekelhaft!“ „Ich will gar nicht darüber nachdenken.“ „Es muss klasse für ihn gewesen sein, unter der Dusche..." „Wenn die Gesellschaft vernünftig wäre, hätte er sich gar nicht outen müssen. Dann wäre so etwas vollkommen egal.“ Natürlich hatte ich seit dem Interview nichts mehr mit ihm zu tun. Wieso auch? Ich habe meinen Job als Redakteur gemacht, er hat uns das Interview gegeben. Alles, was ab jetzt geschieht, kann ich nur wie jeder andere auch in den Medien verfolgen. Und obwohl es mir eigentlich egal sein kann, wie es weiter geht, frage ich mich wirklich, was in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren geschehen wird. Homosexualität im Fußball ist tatsächlich eines der größten Tabus unserer heutigen Zeit, wird dies auch in Zukunft so bleiben? Oder werden die Menschen aus der Sache lernen, aus seinem Outing? Ich hoffe es sehr für ihn, doch ich weiß nicht, was ich glauben soll. Wir die Welt daraus lernen? Oder wird sie es ignorieren? Wird das Tabu hiernach vielleicht nur noch ausgeprägter? Ich kann es mir nicht ausmalen, ich kann ihm nur die Daumen drücken, dass zumindest für ihn alles etwas positiver verlaufen wird, als es aktuell den Anschein haben mag. Denn hat es nicht jeder verdient, glücklich zu werden? „Die Welt wird immer toleranten… nicht zuletzt dank solch mutiger Menschen.“ „Die Geschichte wird schneller in Vergessenheit geraten, als man denkt…“ „Meinen Sie wirklich?“ „Ja… Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie irgendwann verdrängt wird. Dann hat es ihn nie gegeben.“ „Ein solcher Artikel macht Mut, dass sich die Welt vielleicht irgendwann zum Guten ändert…“ „Na herrlich, da ist es ja nur noch eine Frage der Zeit, bis die erste Transe auf dem Feld steht! „In der heutigen Zeit sollte das Thema nicht mehr totgeschwiegen werden.“ „Wie meinen Sie das?“ „Jeder sollte das Recht haben, zu leben, wie er es will! Man sollte sich nicht verstecken müssen, auch als Fußballer nicht!“ „Das Outing war doch nur ein Impuls! Übermorgen wird er es schon bereuen, aber dann ist es schon zu spät!“ „Irgendwann werden ihn seine Sünde einholen, da bin ich sicher!“ „Ich hoffe für ihn, dass er es nie bereuen wird.“ „Ich will gar nicht wissen, was ab letzt im Ausland jetzt über uns berichtet wird! Das ist echt ein Skandal!“ „Vielleicht ändert sich jetzt endlich was! Er war erfolgreich, für die meisten männlichen Fußballfans ein Idol… wenn sich so jemand outet, muss sich etwas ändern!“ „Ich denke nicht, dass sich irgendwas ändern wird…“ „Sie wollen wissen, was ich davon halte?“ „Gerne, ja.“ „Da fragen Sie genau den richtigen.“ „Wieso?“ „Ich bin selbst schwul… und wissen Sie, was ich denke?“ „Was denn?“ „Ich bemitleide ihn. Die letzten Jahre müssen für ihn die Hölle gewesen sein. Aber gleichzeitig bewundere ich ihn auch, dass er es so lange versteckt gehalten hat… Ich selbst habe mich schon mit Zwölf geoutet. Wenn ich mir überlege, ich hätte mich mein Leben lang verstecken müssen… Ich wäre daran kaputt gegangen. Deshalb hoffe ich, dass er es schafft, mit sich selbst wirklich glücklich zu werden.“ Kapitel 10.00 - ENDE ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Das ist vielleicht das außergewöhnlichste Kapitel, das ich je geschrieben habe... und ich habe deshalb auch lange überlegt, ob ich es wirklich in dieser Art veröffentlichen soll. Aber da die gesamte Geschichte von meiner gewohnten Art abweicht, wieso dann nicht noch etwas mehr? Ich hoffe, ihr mögt das Kapitel trotzdem auf seine ganz spezielle Weise und ich werde versuchen mich zu beeilen, was das nächste Kapitel angeht ;) ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ <10.01> Der elfte Mann ---------------------- „Er war Ihr bester Freund, nicht wahr?“ „Ja“ „Wie haben Sie von seinem Outing erfahren?“ „Naja… Eigentlich weiß ich schon länger, dass er auf Männer steht.“ „Tatsächlich?“ „Ja.“ „Wusste er davon?“ „Nein.“ „Seit wann wissen Sie es denn?“ „Seit der WM… Es fiel mir auf, kurz nachdem er Mathew kennenlernte…“ Ich hatte mir nie eine Meinung zum Thema Homosexualität gebildet. Es hatte ganz einfach nie die Notwendigkeit dazu bestanden; ich brauchte nicht einmal über das Thema nachdenken. Hätte man mich dennoch gefragt, hätte ich vermutlich, wie fast alle Männer im Fußball, gesagt, dass es so etwas hier nicht gibt. Ich war von dem Sport dazu erzogen worden, so zu denken, und da ich selbst schon immer auf Mädchen gestanden habe, war das für mich nie ein Diskussionspunkt. Ich habe mir schlichtweg keine Gedanken darüber gemacht, wie absurd die Annahme ist, dass es keine Schwulen im Fußball gibt. Ich musste mich nie damit auseinandersetzen. Im meinem Leben abseits vom Fußball hatte ich zwar schon sehr entfernt mit dem Thema zu tun, denn einer meiner Cousins ist schwul. Seit unserer Kindheit haben wir aber kaum noch etwas miteinander zu tun und Familienfeste sind bei uns nicht gerade an der Tagesordnung. Ich habe ihn seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen, habe das mit seiner sexuellen Orientierung nur nebenbei erfahren und war deshalb auch hier nie direkt mit dem in Berührung gekommen. Das soll nicht heißen, dass ich etwas dagegen habe, ich habe mir schlichtweg niemals Gedanken darüber gemacht, was ich von dieser Art des Liebens halte. Es stand nie zur Debatte, ob Schwulsein für mich ein Problem darstellte oder nicht – bis zu dem Tag, an dem mir die Veränderung an meinem besten Freund auffiel. Zunächst verstand ich nicht, was los war. Ich konnte nicht ausmachen, was sich verändert hatte, konnte es nicht benennen. Dennoch merkte ich, dass irgendetwas anders war, dass er sich auf merkwürdige Art anders verhielt und dann und wann in seinen Gedanken versank. Er lächelte anders und sprach zwischenzeitlich fast schon verträumt, in anderen Situationen wiederum sorgenvoller. Es waren nur Nuancen, kaum sichtbar, doch sie fielen mir auf, und ich puzzelte lange, bis ich eine Erklärung dafür fand – zunächst wollte ich sie nicht wahr haben. Wie gesagt, so etwas wie Homosexualität gibt es im Fußball nicht, das lernt man schon als kleiner Junge. Dementsprechend war es für mich im ersten Augenblick unmöglich, mir vorzustellen, dass gerade mein bester Freund so veranlagt sein sollte. Mir war nie etwas aufgefallen. Er ging nicht anders mit mir um als alle anderen. Er berührte mich nie irgendwie intim oder hatte mir je komische Blicke zugeworfen. Auch sprach er über Frauen wie wir anderen und war zudem mit Miriam zusammen. Die beiden waren doch unheimlich glücklich – zumindest hatte ich das angenommen! Ich versuchte, Gegenargumente zu sammeln, versuchte daraus einen Irrtum werden zu lassen, aber mehr als eine vermeintliche Sicherheit sah ich, was für Blicke er Mathew zuwarf. Ich sah die Sehnsucht in seinen Augen und hörte schließlich auch den kaum wahrnehmbaren Unterton, wenn er über ihn sprach. Ich irrte mich nicht; die Zeichen, die er aussandte, waren die gleichen, welche auch ich gesät hatte, als ich gerade frisch in Cheila verliebt gewesen war. Ich bin schon immer ein sehr umgänglicher Mensch gewesen, wenn man das über sich selbst behaupten darf. Ich knüpfe schnell Bekanntschaften und habe einige langjährige Freunde, mit denen ich sehr viel verbinde. Zwischen uns war es jedoch schon von Anfang an irgendwie anders gewesen. Es mag komisch klingen, doch fast von Anfang an, verband uns irgendetwas. Unsere Freundschaft war enger, auf komische Weise, die kaum zu erklären ist. Ich habe einfach sofort begriffen, dass ich diesem Menschen vertrauen kann, dass ich ihm alles erzählen kann, was auch immer mich bewegt. Er wird mich nicht verurteilen, wird mir lediglich ehrliche Ratschläge geben und bei meiner Seite stehen, wenn ich Probleme habe. Im Grunde wusste er schnell mehr über mich als Cheila. Ich war davon überzeugt, dass es anders herum genauso aussah. Er sprach mit mir über seine Probleme mit Miriam, erzählte mir von lästigen Gedanken, die ihm im Kopf herum schwirrten, und sprach über andere, unschöne Kleinigkeiten. Ich glaubte, dass er mir ebenso alles anvertrauen würde; ich war gar davon überzeugt. Ich war sicher, dass eine Freundschaft wie die unsere nichts kaputt machen kann. Doch dann gewann ich diese neue Erkenntnis und erkannte, dass er mir die ganze Zeit über einen unheimlich wichtigen Punkt über sich verschwiegen hatte. Dabei ging es nicht darum, dass er auf Männer stand, es war nicht der Inhalt der Sache, sondern das darum herum. Es ist schwer zu erklären, doch wenn man glaubt, eine grundehrliche Freundschaft zu leben, dann erschüttert es einen sehr, zu erfahren, dass der anderen einem nicht voll und ganz vertraut. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich war wütend und traurig. Ich hatte geglaubt, dass er mir alles erzählen würde, so wie ich ihm alles erzählte. Stattdessen aber hatte ich erfahren müssen, dass er mir nicht genug vertraute, um mich über sein größtes Geheimnis aufzuklären. Erst mit der Zeit wurde mir klar, wie unmöglich es für ihn gewesen sein musste. „Wieso unmöglich?“ „Naja, es ist meist schwerer, ein Geheimnis zu hüten, wenn man darüber redet. Wenn man es einmal tut, hat man das Bedürfnis, es fortan öfter zu tun… und das wäre mit der Zeit vielleicht gefährlich für ihn geworden.“ „Aber Sie hätten ihm vielleicht auch helfen können.“ „Das hätte ich gerne. Doch was hätte es letztendlich gebracht? Ich hätte ihm zuhören können, doch dadurch wäre es irgendwann nur noch schwerer für ihn geworden.“ „Wollten Sie nicht trotzdem mit ihm drüber reden?“ „Doch, Klar. Eigentlich wollte ich ihn gleich zur Rede stellen…“ „Warum haben Sie es nicht getan?“ „Weil ich im Gespräch mit Cheila merkte, dass es ein Fehler wäre.“ „Sie haben es ihr gesagt?“ „Ja. Ich musste einfach darüber reden…“ „Aber sie war doch mit Miriam befreundet.“ „Genauso wie ich… und wie Sie sich vorstellen können, machte das die Sache nicht gerade einfacher.“ „Haben Sie darüber nachgedacht, es Miriam zu sagen?“ „Ja, oft. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es nicht in meiner Macht liegt, etwas zu ändern…“ „Also haben Sie sich nichts anmerken lassen.“ „Genau. Ich habe versucht, so zu tun, als habe ich es nie herausgefunden.“ Ich habe mich in meinem Leben nie verstellen müssen, weshalb es ungewohnt war, es plötzlich zu tun. Zunächst konnte ich ihm nur schwer ins Gesicht schauen. In mir war noch immer ein wenig Enttäuschung vorhanden, dass er es mir nie gesagt hatte, selbst wenn ich mit der Zeit immer besser verstand, warum er geschwiegen hatte. Außerdem wurde es immer schwerer, ihm nicht mein Ohr anzubieten. Ich wollte ihm doch helfen, ihm wenigsten zuhören können. Ich wollte mit ihm einen Teil seiner Last tragen, schließlich erkannte ich immer deutlicher, wie schwer sie auf ihm wog. Abseits von meiner Hilflosigkeit, ihm nicht helfen zu können, war es für mich unbegreiflich, weshalb ich es nie bemerkt hatte; weshalb es sonst niemand bemerkte. Plötzlich sah ich sein Handeln mit anderen Augen. Natürlich verhielt er sich nicht auffällig, er wusste schon, was er tun musste, um nicht aufzufallen, doch zumindest Miriam musste es doch sehen. Erkannte sie nicht die Blicke zwischen ihm und Mathew? Sah sie nicht, wie vertraut die beiden miteinander sprachen? Sah sie nicht die unterdrückte, schmerzliche Leidenschaft, die zwischen ihnen herrschte? Es erschreckte mich selbst, doch plötzlich sah ich diese verborgene Seite meines besten Freundes ganz deutlich vor mir, und umso besser ich sie kennenlernte, desto weniger verstand ich, warum ich nie zuvor auch nur eine Sekunde lang in diese Richtung gedacht hatte. Wieso war es mir nie aufgefallen? Wie hatte er sich verstecken können all diese Jahre? Gab es niemanden, der bescheid wusste? War das nicht unerträglich für ihn? Oder war da vielleicht nie etwas gewesen, was ich hätte sehen können? Hatte es für ihn wohlmöglich noch nie jemanden wie Mathew gegeben? Die Fragen häuften sich in mir immer weiter. Ich wollte ihm so gerne zeigen, dass ich bescheid wusste, wollte so gerne Antworten bekommen. Ich wollte ihm helfen und auf gewisse Weise wollte ich natürlich auch ganz eigennützig meine Neugierde stillen, doch jedes Mal, wenn ich kurz davor war, mit der Sache herauszuplatzen, verstummte ich im letzten Moment. Er trug diese Maske nicht umsonst, er hatte seine Gründe, die ich mir zumindest zum Teil denken konnte. Für ihn stand so viel auf dem Spiel und egal wie eng unsere Freundschaft auch war, es war nicht meine Aufgabe, das Fass ins Rollen zu bringen. Ich besprach die Sache einige Male mit Cheila. Ihr tat das Ganze im Bezug auf Miriam unendlich leid. Die beiden verstanden sich unheimlich gut, es tat Cheila weh, ihr nicht sagen zu können, dass der Mann, den sie so sehr liebte, etwas Essentielles vor ihr verheimlichte. Und vielleicht betrog er sie auch. Das konnten wir nicht wissen, doch wir gingen davon aus. So vertraut wie er und Matthew sich waren, konnten wir kaum mit etwas anderem rechnen. Schwierig war das Schweigen für mich vor allem, wenn er mit mir über Miriam sprach. Er redete von Hochzeit und mir wurde schlecht dabei. In diesen Momenten war ich oft kurz davor, meine Bombe platzen zu lassen, um seine zu entschärfen. Ich tat es nicht. Ich spielte das Spiel weiter mit ihm, da ich wusste, was er zu verlieren hatte. Ich wollte es nicht sein, der sein Leben kaputt machte; irgendwann würde er das von ganz alleine tun. Eigentlich rechnete ich noch vor dem Ende der WM damit. „Doch es passierte nichts.“ „Genau. Die WM ging vorbei und Mathew verschwand zunächst aus seinem Leben…“ „Also wurde alles wieder wie vorher?“ „Nein. Er benahm sich fürchterlich, wochenlang. Es war erbärmlich und mir fiel es schwer, ihn nicht endlich zur Rede zu stellen. Ich wollte ihm öfter als einmal sagen, wie bescheuert er sich benahm.“ „Vielleicht hätten Sie es tun sollen?“ „Darüber haben wir vor einigen Tagen auch gesprochen. Er meinte, ich habe das Richtige getan. Hätte ich ihn damals darauf angesprochen, hätte er alles geleugnet und unsere Freundschaft wahrscheinlich beendet…“ „Also taten Sie weiterhin so, als hätten Sie keine Ahnung?“ „Ja. Sogar als ich mit Mathew telefonierte und er mir die Nachricht übergab, versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. Vor allem, weil ich glaubte, dass sie helfen würde…“ „Das tat sie auch.“ „Ja, aber er konnte Mathew dennoch nicht vergessen. Er wurde zwar wieder etwas mehr der Alte, doch oft drifteten seine Gedanken dennoch ab, besonders, wenn er Alkohol getrunken hatte und melancholisch wurde…“ „Bemerkte er denn nicht, dass Sie es schon längst wussten?“ „Nein. Er war so sehr davon überzeugt, dass er ein perfektes Spiel spielte, dass er den kleinen Riss darin nicht erkannte… oder vielleicht dachte er auch, dass, wenn Miriam ihn nicht sehen würde, es erst recht kein anderer tat…“ Entsprechend dieser Annahme lebte er sein Leben weiter wie bisher. Er spielte den glücklichen Hetero und machte Miriam schließlich sogar einen Antrag. Es war schwer für mich, diese Entscheidung gutzuheißen, da Cheila und ich es insgeheim für den größten Fehler hielten. Wieder einmal war ich kurz davor, mit ihm Tachles zu reden, doch ich tat es nie. Vielleicht würde es auch gut enden, dachte ich mir. Vielleicht war Matthew eine einmalige Ausnahme und mein bester Freund könne mit dieser Frau alt werden. Denn sie passten doch so gut zusammen, ergänzten sich wunderbar. Hatte er es denn nicht verdient, diesen Weg zu gehen, um glücklich zu werden? Für eine ganz kurze Zeit glaubte ich tatsächlich, dass sich alles in diese Bahnen fügen könnte, doch zu schnell wurde mir klar, was für ein Wunschtraum dies war. Er zerplatzte, als eines Tages wie aus heiterem Himmel Mathew ein zweites Mal in sein Leben trat. Mir war sofort klar, dass es dieses Mal kein gutes Ende geben würde. In den folgenden Wochen und Monaten beäugte ich die beiden mit Sorge. Zunächst waren sie distanziert, dann vertraut und schließlich ganz offensichtlich ein Herz und eine Seele. Mit dem einher gingen wechselnde Gesichtsausdrücke bei meinem besten Freund, gegen Ende konnte er ein Lächeln kaum noch verbergen, sobald Mathew in der Nähe war. Ich sah das Strahlen in den Augen und in mir drehte sich alles herum. Natürlich war es schön, zu sehen, dass Mathew ihm gut tat, doch je weiter die Sache sie sich in die Sache verstrickten, desto komplizierter wurde sie. Immer mehr Stolpersteine wurden gelegt, immer mehr Fallen gebaut. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er selbst darüber stolpern würde. Ich erwartete jeden Tag den großen Knall, der höhnischer als jede Pfeife das Ende seines Spiels verkünden würde. Der Knall kam nicht, da die Sache auf andere Weise ihr Ende fand. Er stolperte nicht, sondern blieb stehen, blickte zurück, nach vorne und sah endlich, nach viel zu langer Zeit, dass dieses Spiel ein Ende haben musste. Die Nachspielzeit war längst vorüber. So kam es also, dass es eines Tages, ganz unerwartet, spät in der Nacht mein bester Freund vor meiner Tür auftauchte, mit hängenden Schultern und einem Blick, der sofort verriet, dass etwas kaputt gegangen war. Was, das wusste ich sofort, als er kleinlaut meinte, er müsste mir etwas sagen. Wie man sich vielleicht vorstellen kann, war ich sehr gespannt, auf welche Weise er mir das sagen würde, was er vielleicht nie hatte aussprechen wollen. Gleichzeitig war ich froh, dass ich bereits wusste, welche Enthüllung mich erwartete, denn wer weiß wie unangemessen ich vielleicht reagiert hätte. So aber, im Wissen, was kommen würde, war es schwer, ihn anzusehen. Sein Blick war unruhig und er war bleich im Gesicht; noch nie hatte ich ihn derartig fertig gesehen, noch nie so aufgewühlt und unruhig. Es überforderte mich ein wenig und ich versuchte, die ganze Situation zu lockern, in dem ich sie ins Lächerliche ziehen wollte. Ganz überstürzt unterbrach er mich dabei und sagte, dass er sich von Miriam getrennt hatte. Ich wusste nichts darauf zu sagen. Er senkte betrübt den Blick und ich ratschlagte mit mir. Natürlich hätte ich ihm sofort sagen können, dass ich bereits die Gründe kannte, andererseits wäre es vielleicht ganz gut, wenn er sie einmal richtig aussprechen würde. Ich sollte ihm diese Last nicht von den Schultern nehmen, egal wie schwer andere wogen. Er musste sie selbst in die Höhe stemmen. Außerdem musste ich daran denken, wie schlimm es Miriam gerade sicher ging. Sie hatte die Liebe ihres Lebens verloren, einfach so, aus heiterem Himmel. Nicht nur alle anderen hatten die beiden immer für ein Traumpaar gehalten, auch sie hatte dieses Wort ein paar Mal in den Mund genommen. Die beiden hatten so wunderbar harmoniert, hatten den gleichen Humor und ähnliche Hobbys; sie ließen sich viele Freiheiten und waren doch unheimlich vertraut und eng miteinander. Miriam liebte ihn über alles und sah keinen anderen Mann. Sie hätte es verdient gehabt, wenn er ebenso immer nur Augen für sie gehabt hätte. Doch so leid sie mir in diesem Augenblick tat, so saß doch noch immer mein leidender bester Freund vor mir. Ich konnte nur erahnen, wie es ihm gerade ergehen musste. Natürlich hatte er sich all die Jahre Miriam gegenüber nicht richtig benommen, doch vielleicht hatte er auch einfach niemals einen anderen Weg gesehen. War es nun nicht meine Aufgabe, einfach für ihn da zu sein? „Sagte er es ihnen schließlich?“ „Ja, nachdem ich ihm sagte, er solle endlich mit der Sprache rausrücken.“ „Und dann?“ „Dann war ich einen Moment lang sprachlos. Seit über zwei Jahren wusste ich mittlerweile bescheid und hatte nur auf den Tag gewartet, an dem er es mir endlich sagen würde, doch komischerweise habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie ich dann darauf reagieren würde…“ „Doch er wollte eine Reaktion.“ „Klar. Und ich glaube, er war davon überzeugt, dass ich ihn hochkant rausschmeißen würde.“ „Hätten Sie es getan, wenn Sie zuvor nicht selbst auf die Wahrheit gekommen wären?“ „Nein, auf keinen Fall. Doch das stand ja nun nicht zur Debatte… eher fragte ich mich, ob ich ihm gleich sagen sollte, dass ich es schon länger wusste.“ „Und was taten Sie?“ „Ich sagte ihm, dass er mein bester Freund war und es immer bleiben würde.“ Diese Aussage war leicht für mich gesprochen, denn es hatte sich nie etwas an meinem Gefühl für ihn geändert. Er war meine Vertrauensperson, der wichtigste Freund in meinem Leben. Auch als ich damals herausgefunden hatte, was mit ihm los war, hatte ich nicht einen Augenblick lang darüber nachgedacht, die Freundschaft zu beenden. Zwar hatte ich bis dahin nie etwas für Homosexualität zu tun gehabt, doch nun indirekt mit ihr konfrontiert, wurde mir auch klar, dass ich damit keine Probleme hatte. Es hatte doch nichts mit mir zu tun, wen er liebte. Für mich war er doch noch immer derselbe Mensch geblieben. Es gab nichts, das ihn plötzlich als Schwulen identifizierte und deshalb weniger wert sein ließ. Er war immer noch der gleiche Mensch: mein bester Freund, gerade mitten in einer Notlage. Zunächst reagierte er natürlich äußerst skeptisch auf meine ruhige Aussage. Er hatte mit mehr Überraschung gerechnet, mit tausend Fragen oder vielleicht sogar mit Wut. Doch all das kam natürlich nicht, da ich schon viel länger bescheid wusste. Dafür war nun ich an der Reihe, ihm etwas zu beichten. Zuvor allerdings schloss ich ihn freundschaftlich in die Arme, um ihm die Sorge zu nehmen. Seine Schultern entspannten sich dabei tatsächlich ein wenig. Im folgenden Gespräch gestand ich ihm, dass sein Outing nicht überraschend für mich gekommen war. Dies schockierte ihn ziemlich und man spürte seine Angst, dass noch mehr Leute es bereits wussten. Ich versicherte ihm, dass dem nicht so sei, doch wirklich überzeugen konnte ich ihn nicht. Aber ich lenkte ihn zunächst einmal damit ab, ihm endlich die Fragen zu stellen, die mir bereits seit so langer Zeit auf der Seele lagen. Folgend redeten wir die ganze Nacht hindurch und nur langsam wurde mir klar, dass er noch mehr gelitten hatte, als ich es mir ausgemalt hatte. „War Ihnen nicht klar gewesen, wie schwer es ein schwuler Fußballer haben muss?“ „Klar habe ich es mir schwierig vorgestellt, doch wenn man selbst nicht in einer solchen Situation steckt, ist einem ein derartiges Leben fremd.“ „Also war für Sie das, was er erzählte, ganz neu?“ „Naja… Ich denke, als Hetero kann man sich so was einfach nicht vorstellen. Für uns gibt es keine Notwendigkeit, sich zu verstellen, doch ein homosexueller Spieler muss zu jedem Zeitpunkt aufpassen, um nicht enttarnt zu werden. Das war mir nicht bewusst.“ „Inwiefern?“ „Man denkt immer, dass es nur um das Gefühl der Liebe und um sexuelle Gelüste geht. Es ist doch nur ein kleiner Bestandteil unseres Lebens, er beeinflusst doch nicht die anderen Teile. Dabei stimmt das nicht. Es fängt schon bei alltäglichen Gesprächen an oder bei harmlosen Berührungen… Er sagte auch, dass er sich Menschen mit anderen Augen anschaue als ich, einfach, weil man nie weiß, wie sie auf einen reagieren würden… Außerdem habe man immer das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen. Man ist nie wirklich alleine.“ Nach diesem sehr ernsten und schweren Teil des Gespräches fragte ich ihn endlich nach Mathew. Wie ich nicht anders erwartete, waren die beiden mittlerweile ein Paar. Er lächelte mit ganz leicht roten Wangen, als er dies sagte, und ich musste grinsen, als mir bewusst wurde, dass ich diesen Ausdruck noch nicht bei ihm gekannt hatte. Das war eine Art der verliebten Verlegenheit, die in der Anfangszeit jeden von uns trifft. Im Zusammenhang mit Miriam hatte es so etwas nicht gegeben, doch ohne Vergleich wäre mir das wohl nie aufgefallen. Zögernd schwärmte er ein kleines bisschen von Mathew, doch nur einen Augenblick später wurde er auch schon wieder ernst. Er rieb an der leeren Stelle, an der zuvor noch der Verlobungsring gesessen hatte. Einen Tag war es nun her, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte. Anders als ich hatte sie es niemals auch nur irgendwie erahnt und war somit aus allen Wolken gefallen. Dass ihn dies schmerzte, war ihm deutlich anzusehen. Er hatte sie nicht verletzen wollen und nach dem, was er sagte, glaubte ich ihm sogar, dass er wirklich vorgehabt hatte, für immer mit ihr zusammen zu sein. Das mit Mathew war ungeahnt dazwischen gekommen und nun wollte er nichts mehr als einfach nur frei zu sein. Ich konnte nicht anders, als ihm zumindest ein paar Vorhaltungen zu machen. Er hatte einen Fehler begangen. Das wusste er und ich hatte es mir lange mit angesehen, was vielleicht ebenfalls, zumindest in ihrer Hinsicht, ein Fehler gewesen war. Doch alles was ich ihm sagte, wusste er bereits. Er hätte sie nie mit hinein ziehen dürfen. Leider war es mittlerweile viel zu spät, um irgendetwas daran zu ändern. Anschließend erzählte er mir auch von dem Interview, welches er vor hatte, zu führen. Ich fragte ihn, ob das wirklich eine so gute Idee wäre, woraufhin er nur mit den Schultern zuckte. Er müsse endlich raus aus diesem Irrgarten, erklärte er mir. Irgendwie musste er sich outen und wenn ihm die Wahl blieb, es der Presse zu überlassen, es selbst herauszufinden, oder es ihr direkt zu servieren, so fiel ihm die Entscheidung leicht. Auf diese Weise konnte er zumindest den Inhalt des allerersten Artikels, mit dem sich jeder beschäftigen würde, ein wenig beeinflussen. Er konnte Stellung nehmen. Zwar würde er so oder so in der Luft zerrissen werden, doch wenigstens bliebe auf diese Weise viel weniger Platz für Spekulationen. „Haben Sie den Artikel gelesen?“ „Klar, und heute denke ich, dass seine Entscheidung richtig war. Schmutzige Schlagzeilen kamen noch genug, doch sie waren sicher bei weitem weniger schlimm als sie es hätten sein können, hätte man ihn knutschend mit Mathew irgendwo erwischt…“ „Der Artikel war der Schritt in die Öffentlichkeit… Wie aber hielt er es mit dem Verein?“ „Er ist direkt nach dem Interview zu unserem Trainer gegangen und hat ihm die Wahrheit gesagt.“ „Wie war die Reaktion?“ „Genaues weiß ich nicht, darüber spricht er nicht gerne… Ich weiß nur, dass sie ihm sagten, dass sie ihn nicht feuern würden, da das schlecht für das Image sei… aber man legte ihm schon nahe, selbst zu gehen…“ „Indirekt wurde er also doch gefeuert?“ „Kann man so sagen. Wäre er geblieben, hätte man ihn früher oder später sowieso zum Gehen genötigt.“ „Weshalb?“ „Weil es in der heutigen Zeit zu schwierig ist, einen homosexuellen Spieler zwischen den heterosexuellen Spielern zu haben. Selbst wenn sie untereinander damit alle kein Problem haben sollten, sieht das nach außen hin ganz anders aus. Plötzlich wird ein Klaps auf den Po anders interpretiert, und wenn man sich ein Zimmer teilt, denkt die ganze Welt, man triebe es miteinander… Er selbst sagte zu mir, dass er das keinem von uns antun wolle. Dabei hätte ich damit leben können...“ „Und Ihre Vereinskameraden?“ „Manche bestimmt, doch nicht alle standen der Sache so locker gegenüber…“ Das Outing eines Fernsehstars oder Politikers verbreitet sich sehr schnell in den Medien, doch man kann annehmen, dass es bei einem Fußballnationalspieler exponential schneller geht. Dies liegt nicht zuletzt an dem riesigen Tabu, von dem jeder weiß. Außerdem hat der Spieler nicht nur in einem begrenzten Raum Bekanntheit erlangt, sondern ist durch seine Teilnahme an den Meisterschaften einer der beliebtesten Sportarten der Welt den Menschen überall auf der Erde ein Begriff. In vielen Spielen der Nationalelf hatte er ein Tor erzielt und zählte zeitweilig zu den gefährlichsten Linksstürmer der Welt – kein Wunder also, dass die Nachricht wie ein Lauffeuer um den Erdball ging und man bereits einen Tag nach Erscheinung des ersten Artikels tausende andere in allen möglichen Sprachen lesen konnte. Selbstredend, dass er keinen Fuß mehr auf die Straße setzen konnte, ohne von Reportern belagert zu werden. Sie alle wollen ein Exklusivinterview, doch bis heute hat er sich dagegen geweigert, es ihnen zu geben. Ebenso wie Miriam, die nur ihre Ruhe haben will. Und auch Mathew wird von der Presse verfolgt. Alle wollen wissen, was die beiden dazu zu sagen haben. Dabei ist es doch letztendlich egal, es wurden ohnehin schon viel zu viele Bilder gemalt, um der Öffentlichkeit die Tragik und die Verwerflichkeit der Situation so schmackhaft wie möglich zu machen. Dies ist im Übrigen ganz anders als im Verein. Zu Anfang noch waren alle neugierig und ich wurde mit Fragen bedrängt. Keiner hatte etwas geahnt und nun wollten sie von mir alles hören, was es zu wissen gab. Viele waren mit ihm befreundet, alle hatten ihm vertraut und manche hatten ihn gar bewundert, doch zunächst schien dies für die meisten in Vergessenheit zu geraten. Ein paar Tage lang musste ich mir blöde Sprüche anhören über meinen besten Freund. Und auch ich bekam sie ab. Ich wurde gefragt, ob wir es auch schön miteinander trieben, ob wir händchenhaltend spazieren gingen, ob wir einander den Schwanz lutschten – um nur die harmlosen Sprüche zu nennen. Erst flippte ich bei jeder dieser Bemerkungen aus. Ich schrie diejenigen an, die es wagten, seinen Namen zu beschmutzen, und fast wäre ich einmal auf einen von ihnen losgegangen, mit dem ich mich sonst immer so gut verstanden hatte. Ich begriff einfach nicht, wie diese erwachsenen Männer sich derartig abartig verhalten konnten. Wie konnten sie nur so unmenschlich sein? Doch auch solche Abscheulichkeiten haben ihr Ablaufdatum. Schon jetzt, einen Monat nach seinem Outing, will keiner mehr ernsthaft über das Thema reden. Es wird totgeschwiegen, mit den wenigsten habe ich mich bisher wirklich darüber unterhalten. Es ist und bleibt ein Tabuthema, es darf nicht darüber gesprochen werden. Es gibt auch weiterhin für die meisten keine Homosexualität im Fußball. Er war eine Ausnahme der Regel; hier muss einfach ein schwerer Fehler unterlaufen sein. „Sie sagten, Ihnen wurde ein Verhältnis unterstellt… wie weit reichte das?“ „Naja, innerhalb der Mannschaft war das recht harmlos… doch nach etwa einer Woche fand sich der erste Artikel in einem Klatschblatt, der davon sprach, dass auch ich eine Schwuchtel sei.“ „Hat die Sache Ihre Karriere gefährdet?“ „Kurzzeitig hat sie das tatsächlich. Mir wurde sogar nahegelegt, die Freundschaft lieber zu beenden. Daraufhin habe ich meinem Manager drei Sachen versichert: erstens, dass ich meinen besten Freund nicht aufgeben würde; zweitens, dass ich nicht schwul bin; und drittens, dass der Verein auch mich als Spieler verlieren wird, wenn sie nicht dafür sorgen, dass entsprechende Artikel nicht mehr erscheinen.“ „Half das?“ „Nicht vollständig, aber zum größten Teil. Mittlerweile ist es mir egal geworden und der Verein steht hinter mir.“ „Aber nicht mehr hinter ihm.“ „Nein. Sie sagen zwar in der Presse, dass er jederzeit mit ihrer Unterstützung rechnen kann und dass sie gut finden, was er getan hat, doch letztendlich ist das alles nur heiße Luft.“ „Wie wird es weitergehen?“ „Das mag ich nicht zu sagen. Ich denke nicht, dass er in einem der großen Vereine unterkommen wird. So verständnisvoll sie sich alle zeigen, sind sie doch nicht bereit, einen schwulen Spieler aufzunehmen.“ „Dabei hat sich doch an seinem Spiel nichts verändert…“ „Das müssen Sie mir nicht erklären… und eigentlich wissen das alle, egal ob Fans, Trainer oder Spieler. Doch die die Welt ist noch nicht offen genug, um diese Tatsache auch zu leben…“ „Meinen Sie, dass sein Outing in naher Zukunft etwas in diese Richtung bewirken wird?“ „Ich hoffe es. Doch dazu müssen noch mehr Spieler folgen und das sehe ich leider aktuell noch nicht kommen. Sie alle sehen, dass er seine Karriere beenden musste und wollen nicht das gleiche tun müssen. Und solange er alleine bleibt, wird es schwer wenn nicht gar unmöglich werden…“ „Aber es gibt noch weitere schwule Spieler?“ „Ich kenne sie nicht, aber heute glaube ich es ganz fest. Außerdem gibt es, das weiß ich jetzt, alleine in unserem Land drei Psychologen, die spezialisiert auf homosexuelle Profispieler sind. Die entsprechenden Akten sind natürlich gehütet wie die eigenen Augäpfel…“ „Es wäre gut, wenn sich die besagten Spieler outen würden.“ „Ja, aber ich hoffe nicht darauf und er tut es auch nicht…“ „Wie geht es ihm mit der aktuellen Situation?“ „Das ist schwierig zu beurteilen. Es ist alles noch ganz frisch. Er hat sehr starke Stimmungsschwankungen und manchmal redet er davon, dass er das besser nicht getan hätte.“ „Er bereut es?“ „Das müssen Sie ihn selbst fragen.“ „In Ordnung. Aber gestatten Sie mir eine letzte Frage.“ „Klar.“ „Meinen Sie, dass er nach dem Outing ein anderer Mensch geworden ist?“ „Wie gesagt, bisher ist erst ein Monat vergangen… dennoch würde ich schon jetzt sagen, dass dem so ist; an den guten Tagen. Er lacht offener.“ Kapitel 10.01 - ENDE <10.02> Eine Rote zuviel ------------------------ „Danke, dass Sie sich zu diesem Interview bereiterklärt haben. Sie haben lange nicht mit der Öffentlichkeit sprechen wollen.“ „Ist das nicht verständlich?“ „Doch, natürlich… Ich frage mich eher, wieso Sie jetzt dazu bereit sind. Was hat sich verändert?“ „Nichts… und genau das ist das Problem.“ „Wie meinen Sie das?“ „Wissen Sie… seit drei Monaten lese ich das gleich. Immer noch wird in Nebensätzen erwähnt, wie er mich und alle anderen hintergangen hat. Ich höre die Leute über ihn reden und sie bezeichnen ihn als Lügner… das macht mich wütend.“ „Weshalb? Stimmt es nicht?“ „Es ist gar einfach nicht an ihnen zu urteilen. Es geht die Leute nichts an, was zwischen ihm und mir passiert ist. Sie sollen nicht glauben, sich bereits nach ein, zwei Berichten ein Bild machen zu können, wenn sie doch selbst nie in der Situation gelebt haben.“ „So wie Sie…“ „Genau. Es ist einfach so, dass keiner sieht, was hinter der Sache steckt… Wieso er es getan hat…“ „Was meinen Sie?“ „Naja, meistens, wenn ich etwas darüber lese, klingt es, als habe er seine Sexualität böswillig verschwiegen… dabei hatte er doch fast keine andere Wahl…“ „Das klingt, als haben Sie ihm verziehen.“ „Darum geht es nicht. Es ist nicht wichtig, ob ich ihm verziehen habe oder einfach nur gelernt habe, auch die andere Seite zu sehen…“ „Worum geht es dann?“ „Darum, dass die Leute endlich aufhören sollen, wie Experten über unser Leben zu sprechen!“ Hätte man mich vor einigen Monaten gefragt, hätte ich bestimmt gesagt, dass ich eigentlich so etwas wie das perfekte Leben habe. Ich hatte viele Freunde, keinen einzigen wirklichen Feind. Meinen Eltern ging es gut, ich hatte einen Job, der mir unheimlichen Spaß bereitete, und obwohl ich dort kaum etwas verdiente, musste ich mir keinerlei Gedanken ums Geld machen. Ich hatte einen Traummann an meiner Seite, den ich über alles liebte und der mich liebte wie sonst niemanden. Bald würden wir heiraten und dann sicher unser erstes Kind bekommen… Es war wunderbar und ich malte mir die Zukunft in den schönsten Farben aus. Ich war unendlich glücklich und zuversichtlich, dass es genau so für mich weitergehen würde, bis zu diesem wunderschön sonnigen Tag im Januar. An jenem Tag brach mein schönes Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und ich erkannte, wie idealistisch und selbstverständlich ich alles die ganze Zeit über gesehen hatte. So etwas wie ein perfektes Leben gibt es ganz einfach nicht. Von Freunden werde ich auch heute noch ab und an gefragt, ob ich es nicht bemerkt habe. Habe ich nicht gesehen, dass es da etwas gab, das er mir verheimlichte? Habe ich es nicht gespürt, beim Küssen, an seinen Blicken, beim Sex? Habe ich es nicht bemerkt, daran, wie er Männern nachgesehen oder wie er über sie geredet hat? Und wie konnte ich mit Mathew befreundet sein, ohne zu merken, dass er meinen Freund liebt? All das sind Fragen, die auch ich mir gestellt habe. Oft und immer wieder, dann, wenn ich abends alleine im Bett liege oder auch plötzlich beim Einkaufen. Immer wieder verfolgen sie mich und ich gehe Situationen durch, Gespräche, intime Momente. Doch egal wie sehr ich im Nachhinein nach Anzeichen suche, selbst wenn ich welche fände, letztendlich ist das alles nichtig. Und heute weiß ich, dass ich es vor allem nicht bemerkt habe, weil ich zu sehr davon überzeugt war, dass alles genau so war wie es sein sollte. Wir waren perfekt und ich lebte hinter einer rosaroten Scheibe, die ich niemals zerbrechen wollte. Doch auch ohne diese Scheibe gab es nicht besonders viel, an dem ich es hätte merken können. Natürlich, im Nachhinein gibt es Anzeichen, die man nie gesehen hat. Heute weiß ich sein Lächeln Mathew gegenüber anders zu deuten oder bisweilen seine Zurückhaltung, wenn es darum ging, mich intim anzufassen. Aber für alles habe ich immer irgendwelche anderen Erklärungen gefunden, wenn ich überhaupt je nach ihnen gesucht habe. Für mich war es selbstverständlich, dass er keiner anderen Frau hinterher sah und dass er nie über die hübschen Kurven einer Schauspielerin sprach. Hätte man mich gefragt, wäre meine Antwort sicher vollkommen naiv gewesen. Ich hätte angedeutet, dass er halt nur mich sah, dass es für ihn keine andere Frau gab. Und dann hätte ich gelacht und nicht bemerkt, wie ich selbst genau das sagte, was der springende Punkt war: ich habe an Männer nie gedacht, sie nie als Konkurrenz gesehen und nie erwartete, dass sie der Grund waren, weshalb er vielleicht den ein oder anderen Film gerne sah oder manchmal viel Zeit im Fitnessstudio verbrachte. Für all das hatte ich rationale Erklärungen, nur dass sie halt ganz einfach nicht der Realität entsprachen. „Aber wie hätten Sie auch darauf kommen können. Er hat es doch nahezu perfekt versteckt…“ „Das stimmt nicht ganz. Thomas hat es auch bemerkt.“ „Vielleicht, weil er genügend Abstand hatte.“ „Vielleicht… Vielleicht aber auch, weil er ihm näher war als ich.“ „Wie meinen Sie das?“ „Wir haben eigentlich alles geteilt, dachte ich. Unsere Sehnsüchte, Wünsche, Freude und Trauer… doch wenn ich heute darüber nachdenke, bemerke ich, dass ich manchmal vielleicht mehr auf ihn hätte eingehen sollen… Manchmal war ich einfach zu egoistisch…“ „Meinen Sie, dann hätte er es Ihnen eher gesagt?“ „Ich glaube gerne daran, aber eigentlich weiß ich auch, dass dem nicht so ist… Und trotzdem, vielleicht hätte ich es selbst bemerkt, wenn ich mehr über den ein oder anderen traurigen Blick nachgedacht hätte… doch ich lebte zu sehr in einer perfekten Traumwelt…“ „Anders als Thomas.“ „Eben…“ „Machen Sie ihm Vorwürfe, weil er es ihnen nicht gesagt hat, nachdem er es herausgefunden hat?“ „Nicht mehr… Obwohl ich manchmal auch heute noch darüber nachdenke, besonders, weil Cheila eine wirklich gute Freundin ist. Aber eigentlich verstehe ich, wieso sie so gehandelt haben. Andersherum hätte ich es wahrscheinlich ebenso…“ „Also hätten Sie es nie bemerkt, wenn er es Ihnen nicht irgendwann gesagt hätte?“ „Vermutlich nicht…“ „Erzählen Sie uns, wie sie davon erfahren haben?“ „Ja… Wissen Sie… am Anfang habe ich ihm nicht geglaubt.“ Es war wirklich ein herrlicher Tag. Seit fast einer Woche schien ununterbrochen die Sonne. Zwar war es kalt draußen und morgens waren die Bäume und Wiesen mit Raureif bedeckt, doch wenn die Sonne erst einmal hoch am Himmel stand, konnte man nicht anders als sich von ihrer guten Stimmung anstecken zu lassen. Das weiß ich auch heute noch ganz genau, denn an jenem Tag stand es vollkommen im Kontrast mit meinen Gefühlen. Während mir die Welt zusammenbrach, erstrahlte sie draußen in wunderbaren Farben. Abgesehen von dem schönen Wetter war es ein Tag wie so viele andere zuvor. Man geht arbeiten, man kommt nach Hause, man rechnet mit nichts bösen und dann plötzlich ändert sich mit einem Schlag alles. Ist es da ein Wunder, dass ich es zunächst nicht begreifen wollte? Er saß im Wohnzimmer, als ich unser Haus betrat. Ich legte meine Sachen ab und ging zu ihm, fand bei ihm zwei Gläser auf dem Tisch und eine leere Flasche eines Hochprozentigen. Ich grinste darüber, weil ich dachte, er genieße einfach seine freien Tage, und es überraschte mich nicht, als ich auf meine Frage hin erfuhr, dass Mathew der Gast gewesen war. Er ging bei uns ein und aus; er gehörte genauso in mein Leben wie in seins. Zumindest dachte ich das noch, als ich mich aufs Sofa setzte und mich an meinen Verlobten kuscheln wollte. Er ließ es nicht zu. Meine Annäherung wurde im Keim erstickt, er wich starr zur Seite. Ich wollte verwirrt fragen, doch er stand auf und verschwand, ohne mich überhaupt zu hören. Ein wenig irritiert blieb ich zurück, doch ich maß dem nicht so viel Bedeutung bei. Ab und an hatte er solche Launen, das war ich gewohnt, das störte mich schon lange nicht mehr. Vielleicht hätte ich nur das ein oder andere Mal ernsthafter darüber nachdenken sollen. Doch ich tat es nicht, auch dieses Mal nicht. Stattdessen nahm ich Gläser und Flasche, um sie wegzuräumen. Anschließend wollte ich Abendessen machen. Nur ein paar Minuten später traf er mich in der Küche an. Hier nun sah ich allerdings, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Die Kartoffel, die ich gerade geputzt hatte, ließ ich liegen. Ich wischte mir die Hände ab, wollte auf ihn zu, doch er wich mir schon wieder aus. Auch sein Blick traf mich nicht und ich blieb verwirrt stehen. Langsam kam mir dies alles fremd vor. So hatte er sich noch nie benommen, und die Worte, die er dann sagte, klangen, als hätte ich sie noch nie in meinem Leben gehört. Schwul? Was hieß das noch mal? Für einen kurzen Augenblick fiel es mir tatsächlich nicht ein. Mein Gehirn verstand das Wort nicht, es konnte es nicht verarbeiten. So wie wenn man einen bekannten Menschen an einem vollkommen unpassenden Ort antrifft und zunächst zweimal hinsehen muss, um ihn zu erkennen, so machte auch dieser Ausspruch für mich nicht den geringsten Sinn. Mechanisch schüttelte ich den Kopf. Doch er lächelte nicht, wie ich es erhoffte. Er tat die Worte nicht als einen Scherz ab, sondern kam auf mich zu, um mich zu stützen. Ich hatte nicht bemerkt, dass meine Beine zitterten; nun schlug ich seine Hand weg. Dann sank ich am Boden zusammen und verkrampfte mich. Noch immer schüttelte ich den Kopf. Das könne nicht wahr sein, sagte ich; das war eine Lüge. Er schwul? Wie sollte das denn gehen? Wir hatten doch Sex, guten, tollen Sex! Und ich trug einen Ring am Finger. Er wollte mich heiraten, er liebte mich, da konnte er doch nicht schwul sein. Nein, das war vollkommen unmöglich! Er kam zu mir auf den Boden hinunter und wollte mich wieder berühren. Hier nun schlug ich seine Hand weg und sprang auf. Ich schrie ihn an und fegte die Gläser von der Spüle. Splitternd zerbarsten sie und ich starrte auf die Scherben, während meine Sicht verschwamm. Sekunden später lag ich schluchzend wie ein kleines Kind in seinen Armen und wiederholte immer wieder, dass es nicht stimmte. Er log. Er war nicht schwul! Er war doch mein Mann! „Das muss schlimm für Sie gewesen sein.“ „Natürlich war es das. Es war, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Alles woran ich geglaubt hatte, schien plötzlich wie eine riesige Lüge.“ „Erklärte er es Ihnen?“ „Er wollte es, doch ich ließ ihn nicht. Ich wollte es nicht hören, weil es dann wahr geworden wäre…“ „Was haben Sie gemacht?“ „Als ich mich einigermaßen gefasst hatte, wollte ich weiter Essen kochen. Natürlich versuchte er, mit mir zu sprechen, doch ich blockte ab und drehte das Radio ganz laut… Irgendwann gab er auf.“ „Haben sie dann etwa ganz normal zu Abend gegessen?“ „Nein. Er rief Liz an, meine beste Freundin. Als sie da war, hörte ich, wie er im Flur mit ihr sprach. Sie schrie ihn an, weshalb ich sofort zu ihnen stürmte und wiederum sie anschrie. Ich drohte, dass sie es nicht wagen sollte, irgendetwas Falsches über meinen Mann zu sagen…“ „Dabei wollte sie Ihnen nur helfen.“ „Natürlich. Sie hatte das getan, was ich noch nicht konnte... ihm Vorwürfe gemacht. Aber das wollte ich nicht hören…“ „Warum nicht?“ „Weil ich es noch immer nicht wahrhaben wollte.“ Liz brachte mich ins Schlafzimmer und schloss die Tür ab. Dann versuchte sie ruhig mit mir zu sprechen, doch zunächst wehrte ich mich sehr dagegen. Es dauerte lange bis die Mauer fiel, sehr lange. Und Liz war auf ihre warme Art schonungslos mit mir. Immer wieder sagte sie mir, dass er schwul sei. Mein Freund, mein Verlobter, die Liebe meines Lebens sei schwul. Er habe mich belogen, die ganze Zeit lang. Genaue Gründe kannte sie natürlich auch nicht, weshalb sie dazu nichts sagte; sie kannte nur die Tatsache und vielleicht hatte sie in seinem Gesicht gesehen, wie ernst es ihm mit der Aussage gewesen war. Sie wusste, dass an diesem herrlichen Tag mein bisheriges Leben kaputtgegangen war; nun musste sie mir genau das klar machen, bevor sie überhaupt damit beginnen konnte, mich wieder zusammenzusetzen. Ich weinte, wie man sich vorstellen kann, sehr viel in dieser Nacht und schlief fast gar nicht. Weit nach Mitternacht begann ich bereits damit, Anzeichen zu suchen. Es musste sie doch gegeben haben! Wenn er schwul war, so musste man das doch gesehen haben. War ich wirklich so blind gewesen? Die Nacht war lang und doch sehr kurz. Am Morgen war es klar, dass ich nicht zur Arbeit ging, und auch Liz meldete sich krank. Wir blieben fast die ganze Zeit im Schlafzimmer und ich wandelte ständig zwischen Wut, Trauer, Unglauben und Ratlosigkeit. Irgendwann dazwischen klopfte es an der Tür und ich hörte die Stimme, die ich so liebte. Zum allerersten Mal stach sie mir schmerzhaft ins Herz. Liz wollte ihn erst nicht reinlassen, doch ich bat sie schließlich darum. Und als er vor mir stand, mit bleichem Gesicht und übermüdeten Augen, bat ich sie, zu gehen. Sie zögerte lange, doch dann merkte sie, wie ernst es mir war. Ich wollte mit ihm alleine sein. Ich wollte mit ihm reden. Und als sie weg war, ließ ich zu, dass er sich am Ende des Bettes niederließ. Er sagte nichts und lange sahen wir uns nur an. Ich erkundete sein Gesicht, als habe ich es noch nie gesehen, und versuchte etwas zu finden, dass in zu einem anderen Menschen machte. Doch er war kein anderer als noch einen Tag zuvor. Er war noch immer der gleiche Mann, den ich liebte. Nichts hatte sich geändert, bis auf die Tatsache, dass ich mir mit einem Mal überhaupt nicht mehr sicher war, ob er mich überhaupt jemals auch nur ein bisschen geliebt hatte. Diese Frage wollte ich stellen, doch ich schaffte es nicht. Ich würde ihre Antwort nicht ertragen, noch nicht, da war ich mir sicher. Also suchte ich nach einer anderen Frage unter den tausenden, die ich im Kopf hatte. Auch heute weiß ich noch alles so genau, fast wortwörtlich, obwohl ich mir manchmal wünsche, es einfach vergessen zu können. „Wenn du kein Fußballer wärest, hättest du es mir dann früher gesagt?“ Das war also die allererste Frage, die ich ihm stellte. Und ich sah ihm genau an, wie schwer es ihm fiel, eine Antwort drauf zu formulieren. „Ich kann mir ein Leben ohne Fußball nicht vorstellen.“ „Und das ist wichtiger als ich?“ Ich trieb ihn in eine Ecke, das wusste ich genau. Und am liebsten wollte ich meine Frage schon wieder zurückziehen, doch andererseits mussten wir mit diesem Gespräch wohl irgendwo beginnen. Er senkte bloß den Kopf und brauchte lange, um die Worte zu sprechen, die sofort unheimlich schmerzten. „Wenn es den Fußball nicht gäbe, hätten wir uns wahrscheinlich nie kennengelernt.“ In den folgenden Stunden stellte ich noch sehr viele Fragen und er beantwortete die meisten davon. Einigen wich er aus, bei anderen meinte er selbst, dass er es nicht wisse. Und irgendwann griff er nach meiner Hand, was so überraschend kam, dass ich mich eine Sekunde lang gar nicht wehrte. Als ich es dann begriffen hatte, wollte ich ihn abschütteln, konnte es aber nicht. Ich liebte doch seine Nähe, seine Berührungen. Bei ihm hatte ich mich doch immer zuhause gefühlt. Sollte das jetzt alles vorbei sein? Es tat weh, doch auch das fragte ich ihn schließlich. Er verneinte, bejahte, gab zu, dass er keine Ahnung hatte, wie es nun weitergehen würde. Nur dass er sich outen wollte, dass wisse er. Er wollte ein Interview geben, wollte ehrlich mit der Welt sein. Ich begriff es nicht und schüttelte wie so oft an diesem Tag den Kopf. Wieso wollte er das tun? Er konnte sich doch denken, was dann geschehen würde. Warum wollte er alles aufgeben? Was trieb ihn dazu? An dieser Stelle schwieg er plötzlich lange und mir fiel auf, dass wir darüber noch gar nicht gesprochen hatten. Er hatte mir noch nicht gesagt, weshalb er plötzlich ehrlich zu mir war. Er hatte über Jahre gesprochen, in denen er gewusst hatte, wer er wirklich war, doch er hatte nicht über die letzten Tage gesprochen, in denen die Entscheidung gefallen sein musste, es öffentlich zu machen. Ich fragte erneut und ich wusste, dass ich es eigentlich nicht hören wollte. Ich sah in seinen Augen, dass mir die Antwort nicht gefallen würde. Kurz war ich davor, ihm zu sagen, dass er nicht antworten sollte. Ich konnte es mir schon denken, so unwirklich der Gedanke auch war. „Ich habe mich verliebt“, sagte er dann doch irgendwann. Seine Hand hielt noch immer die meine und statt mich nun loszureißen, umklammerte ich seine Finger plötzlich. Tränen stiegen in meine Augen und ich sah ihn kaum noch. Die Worte hallten in meinem Kopf wieder und wirbelten meinen Magen herum. Mir wurde schlecht, ich sprang auf und rannte zum Klo. Hier erbrach ich vor allem Gallenflüssigkeit, während Tränen in meinen Augen brannten und Emotionen mich zu ersticken drohten. Ich hatte immer geglaubt, in seinen Augen lesen zu können, doch gerade eben war mir klar geworden, dass ich es noch nie wirklich gut gekonnt hatte. Nur bei diesen Worten hatte ich zum ersten Mal alles in ihnen gesehen. Er sprach die Wahrheit. Er war verliebt; mehr noch, er liebte, und ich war es nicht, der diese Gefühle galten. Vom Badezimmerboden aus stellte ich ihm nach diesem erneuten Heulkrampf die nächsten Fragen, welche mich selbst unbändig schmerzten. Wie lange schon? War es ernst? Und wer war es? Er antwortete auf die Fragen sofort, bis auf die letzte. Der Name Mathews kam ihm nur schwer über die Lippen und mich schien er zu ersticken. Hatte ich nicht schon genügend durchgemacht? Litt ich nicht bereits genug? Warum musste er es sein? Warum ein Freund von mir? Warum jemand, dem ich vertraute? Warum musste ausgerechnet er es sein, der die Augen meiner Liebe derart leuchten ließ? Nach dieser Enthüllung wollte ich zunächst nichts weiter hören. Er half mir vom Boden hoch und wir gingen in die Küche. Er bat mich, etwas zu essen, doch ich brachte lediglich etwas Milch hinunter. Dann saßen wir da, am gläsernen Esstisch, den wir vor drei Monaten gekauft hatten, und schwiegen uns an. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen und merkte, dass die Wahrheit noch immer nicht vollkommen in mir angekommen war. Mein Verstand wusste es nun, doch mein Herz war noch nicht bereit, es zu glauben. Sollte nun alles wirklich vorbei sein? Einfach so? Ich sah ihn an und konnte es nicht begreifen. War es das wirklich gewesen? War es wirklich so einfach, eine jahrelange Beziehung zu zerschmettern? „Wahrscheinlich kann ich nur erahnen, wie schwer das für Sie gewesen sein muss.“ „Wahrscheinlich, ja. So etwas ist nicht zu begreifen, wenn man es nicht selbst erlebt…“ „Wie konnten Sie überhaupt so ruhig bleiben?“ „Das frage ich mich auch manchmal. Warum habe ich nicht ununterbrochen getobt? Oder ihm Vorwürfe gemacht… Nein, stattdessen fühlte ich mich komisch leer. Schmerzhaft leer.“ „Und er?“ „Er begann irgendwann kleinlaut damit, sich zu entschuldigen…“ „Wofür?“ „Für alles. Und ich habe ihn gefragt, weshalb ich. Wieso hat es ausgerechnet mich treffen müssen?“ „Hatte er eine Antwort darauf?“ „Ja. Es tat weh, aber er war ganz ehrlich und sagte, dass er am Anfang einfach nur eine Freundin haben wollte… doch alles danach hatte er getan, weil er mich liebte…“ „Glaubten Sie es ihm?“ „Das mag komisch klingen, aber ja, irgendwie schon.“ „Obwohl er zuvor das mit Mathew gesagt hatte?“ „Er erklärte mir den Unterschied…“ „Und der wäre?“ „Das ist für mich fast unmöglich zu erklären… aber ich habe ihm geglaubt. Ich tue es noch heute.“ „Aber letztendlich war ihm die Liebe zu Ihnen nicht genug.“ „Nein. Sie wäre nie genug gewesen.“ Ich fragte ihn auch, was er gemacht hätte, wenn er Mathew nie kennengelernt hätte. Was wenn nie der ein Mann für sein Leben aufgetaucht wäre? Hätte er dann so weiter gemacht? Hätte er mich weiterhin benutzt, um der Welt etwas vorzulügen? Wie lange hatte er vorgehabt, das durchzuziehen? Ein Leben lang? Hier kam der Punkt, an dem unser Gespräch weit in die Vergangenheit abdriftete. Eigentlich war ich mir nicht mal sicher, ob ich das alles hören wollte, doch er erzählte es mir und ich nahm die Informationen in mir auf, die er mir gab. Es waren bei weitem nicht alle, das erfuhr ich Tage später, als ich den Artikel las, aber es waren schon sehr viele. Er erklärte mir, wie das im Fußball so war. Ich wusste es doch selbst, ich hatte doch damals mit ihm über einen entsprechenden Artikel sprechen wollen. Erst als er diese Situation erwähnte, fiel sie auch mir wieder ein. Plötzlich verstand ich seine Wut von damals, die Angst in seinen Augen, welche ich damals nicht erkannt hatte. Ich verstand, was ihn dazu getrieben hatte, mit mir über das Thema zu streiten, und es machte mich traurig, dass ich es damals nicht erkannt hatte. Bald nach diesem Punkt sagte ich, dass ich alleine sein wollte. Ich verkroch mich ins Schlafzimmer und lag lange wach. Ein paar Mal liefen Tränen, dann wieder starrte ich nur in die Dunkelheit. Das alles war so unwirklich, so fremd und irreal, als habe ich es nur im Fernsehen gesehen. War das wirklich mein Leben? Ging wirklich gerade meine perfekte Welt kaputt? Früh am nächsten Morgen packte ich meine Tasche und schrieb einen Zettel. Ich musste weg aus dem Haus, weg von ihm. Es gab noch so vieles zu wissen, doch aktuell wusste ich genug. Ich hielt es nicht länger in den vier Wänden aus, die mein Heim waren und dennoch nicht mehr vollständig mein sein sollten. Ich hatte das Gefühl, plötzlich nicht mehr dort hinzugehören. Liz nahm mich sofort auf und Tagelang sprach ich nur wenig über das Thema. Ich beantwortete seine Anrufe nicht und sagte meinen Kollegen nicht, warum ich so blass war. Ich aß wenig und schlief kaum. Dann durchforstete ich des Nachts das Internet nach ähnlichen Geschichten und weinte mich in den Schlaf. Ich wusste sehr wohl, dass ich nicht die einzige Frau auf der Welt war, die mit einem schwulen Mann gelebt hatte, doch ich kam mir vor, als sei ich unheimlich einsam. So sehr meine Freunde es versuchten, sie kamen nicht vollkommen an mich heran. Sein steckten nicht in meiner Haut, sie konnten mich nicht verstehen. Außerdem begriffen sie nicht, warum ich ihn nicht hassen konnte. Auch ich wusste das nicht, ich spürte nur, dass es so war. Ich hasste ihn nicht. Irgendwo wusste ich sogar, weshalb er es getan hatte. Doch warum hatte es ausgerechnet mich treffen müssen? Nach ein paar Tagen erschien der Artikel. Bevor ich ihn überhaupt lesen konnte, hatte ich schon die Neuigkeit im Radio und Fernsehen gehört. Mein Handy drehte durch, jeder, den ich kannte, wollte plötzlich mit mir sprechen. Und mir wurde schlecht bei dem Gedanken. Ich fragte mich doch schon seit Tagen, weshalb ich so doof gewesen war, es nicht zu bemerken. Sollte ich die Frage nun etwa unzähligen anderen Menschen beantworten müssen? Ich blieb die meiste Zeit stumm und redete auch nur mit wenigen Freunden über die Angelegenheit. Aber ich verfolgte die Nachrichten mit Argusauge, selbst wenn sich mir dabei immer wieder der Magen umdrehte. Es war, wie ich erwartet hatte: er wurde fertig gemacht, als Lügner bezeichnet; und ich war das dumme Weibchen an seiner Seite, die nichts bemerkt hatte. „Haben Sie danach mit ihm geredet?“ „Ja. Ein paar Tage später bin ich wieder nach Hause gefahren, welches von Reportern umlagert wurde, ebenso wie das Haus meiner Freundin übrigens. Als ich rein kam, wäre ich am liebsten wieder umgedreht…“ „Weshalb?“ „Weil Mathew bei ihm war. Und der wollte sich natürlich sofort bei mir entschuldigen…“ „Und Sie?“ „Ich wollte nichts davon hören und bat ihn, zu gehen. Tatsächlich ging er dem nach und dann waren wir wieder alleine… das gescheiterte Paar…“ „Wie ging es weiter?“ „Wir diskutierten zum ersten Mal richtig über die Situation. Wir stritten und schrieen und weinten. Ich wusste plötzlich so viele Details aus dem Artikel…“ „Zum Beispiel?“ „Dass er in Sexkinos gegangen war… oder dass das mit Mathew noch schon früher begonnen hatte, als er zugegeben hatte…“ „Was sagte er dazu?“ „Er versuchte, es mir zu erklären…“ Es fiel mir schwer, ihm wirklich zuzuhören, wenn er Argumente nannte. Er versuchte mir eindringlich, zu erklären, wie die Zeit für ihn gewesen war. Er suchte kein Mitleid, keine Vergebung, lediglich ein klitzekleines bisschen Verständnis. Und es war schwer, dies nicht aufzubringen. Natürlich verstand ich ihn, doch mir wäre es lieber gewesen, ich hätte es nicht. Ein solches Gespräch zu führen, tut weh. Er beschrieb, wie er uns gesehen hatte, und ich konnte wieder nur ungläubig starren, darüber, wie unterschiedlich wir uns wahrgenommen hatten. Was er sagte, war etwas, dass ich nicht auf diese Weise wahrgenommen hatte. Was für ihn Freundschaft, gar Seelenverwandtschaft gewesen war, war für mich die einzige wahre Liebe gewesen. Wie hatte er es bloß anders sehen können? An diesem Abend ging ich mit aufgewühlteren Gefühlen ins Bett als die Tage zuvor. Ich lag lange wach und starrte in die Dunkelheit, während sich seine Erklärungen in meinem Kopf drehten. Es klang alles logisch, so unrecht er auch gehandelt hatte. Wieso konnte es nicht einfacher sein, ihn zu hassen? Mitten in der Nacht stand ich wieder auf, von einem Albtraum gejagt. Ich schlich in die Küche und saß lange dort, vor einem Glas Wasser, welches ich nach dem Einschenken nicht mehr angerührt hatte. Ich sah zu, wie die Mineralswasserperlen an die Oberfläche stiegen und hörte nur nebenbei, wie jemand die Küche betrat. Es dauerte lange, bis ich meinen Kopf zu ihm hob. Sein Gesicht war traurig und er kam zögern auf mich zu. Vor mir sank er in die Knie und nahm meine Hand. Er schob einen Ring über meinen Finger und alleine daran, dass er zu groß war, erkannte ich, was es für einer war. Mir stiegen wieder Tränen in die Augen, wie ich sie auch bei ihm sah. Dann küssten wir uns und er sagte mir, dass er mich liebte. Er würde mich immer lieben. Zwei Wochen nach Erscheinen des Artikels zog ich aus. Ich nahm mir Urlaub und nur meinen Eltern und wenigen Freunden sagte ich, wo ich mich aufhalten würde, denn ich hatte Angst, von Reportern belagert zu werden. Bisher hatte ich mit keinem einzigen gesprochen und ich hatte auch nicht vor, es jemals zu tun. Ich war bereits mit in diese Geschichte hineingerissen worden, sie musste nicht auch noch meine Worte ausbeuten. Fast zwei weitere Wochen lang lebte ich danach, ohne das Radio und den Fernseher anzuschalten. Auch Zeitungen las ich nicht mehr und entsprechende Internetseiten mied ich. Ich tat dies, weil ich nun, da ich alles wusste, Abstand gewinnen wollte, irgendwie zumindest. Liz versuchte immer wieder, mich abzulenken, und auch mit Cheila traf ich mich zwei Mal, die mir schließlich die neusten Kleinigkeiten erzählte: er war sozusagen „freiwillig gegangen worden“ und die Welt labte sich an seiner Geschichte. Als ich mir schließlich den Zugang zu den Medien wieder erlaubte, glaubte ich, dass ich einigermaßen gefestigt sei. Ich zog mir alle möglichen Berichte rein und hörte viele Reportagen über das Thema. Ich weinte und fühlte mich schrecklich, fragte mich immer wieder, weshalb gerade mir so etwas passieren musste. Und weshalb ausgerechnet ihm? Ich begriff es kaum, doch ich konnte ihm noch immer nicht nur böse. Natürlich war ich es. Ich trug ihm nach, dass er mich belogen und betrogen hatte, doch es war nicht so einfach, ihn dafür zu hassen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Hätte man mich in der glücklichen Zeit gefragt, was ich von Frauen halte, welche ihren Mann unterstützen, nachdem er sich geoutet und sie verlassen hat, dann hätte ich wahrscheinlich angedeutet, dass sie spinnen würden. Ich würde so etwas niemals können, hätte ich dann gesagt. Sie sind sicherlich schwach und abhängig von ihm. Nun genau in dieser Situation erkannte ich erst, was genau in einem vorgeht, wenn man das erlebt. Ich denke, es besteht ein großer Unterschied darin, ob man von seinem Mann mit einer Frau oder mit einem gleichgeschlechtlichen Partner betrogen wird. Letzteres sagt viel mehr aus, als dass er einfach nur Spaß haben wollte, den er Zuhause nicht bekommt. Auch war es keine plötzliche Schwäche für einen fremden Körper, sondern eine Sehnsucht, die lange schon da gewesen war, aber nie hatte erkundet werden können. Je mehr ich über das Thema las, desto mehr begann ich, ihn zu bemitleiden, mehr noch, ihn gar zu verstehen. Es ist schwer zu erklären, wie man wirklich fühlt. Manchmal weiß ich es selbst nicht und ab und an habe ich tatsächlich Tage, an denen ich ihn zum Teufel wünsche, doch die meiste Zeit weiß ich auch, was alles hinter einem Betrug, hinter seinen Lügen steckte. Und ich sehe, höre den Unterschied, wenn ich heute mit ihm spreche. Ich sehe, wie er sich langsam verändert, wie er offener wird, ruhiger, auf eine natürlichere Weise als früher, ausgeglichener. Wenn nicht gerade die Traurigkeit in ihm spielt, dass er den Fußball verloren hat und ein Teil der Welt auf ihm herumtrampelt, dann sehe ich, wie gut ihm seine Entscheidung getan hat. Und dann kann ich nicht anders, als mich für ihn zu freuen, selbst wenn ich auf der Strecke zurückgeblieben bin. Dann kann ich nicht anders, als froh zu sein, dass der Mensch, den ich über alles liebe, auf dem Weg ist, vielleicht endlich einfach nur glücklich zu werden. „Glauben Sie, dass er es eines Tages wird?“ „Ganz sicher, ja.“ „Mit Mathew?“ „Ich hoffe es für ihn, denn so weh es noch tut, die beiden zusammen zu sehen, erkenne ich doch, wie gut er ihm tut…“ „Sehen Sie die beiden oft?“ „Nein, nur ab und an. Ich denke, dass es mit der Zeit mehr werden wird, doch noch brauche ich Abstand…“ „Wie genau fühlen sie heute?“ „Es geht mir noch immer nicht gut damit. Jeden Tag denke ich an ihn und vermisse ihn. Ich wünsche mir, wenn ich abends ins Bett gehe, dass alles nur ein Traum war und ich am nächsten Morgen in seinen Armen aufwachen kann…“ „Aber das wird nicht geschehen.“ „Nein, leider nicht.“ „Haben Sie sich durch die Sache verändert?“ „Das weiß ich ehrlich gesagt nicht… vielleicht bin ich misstrauischer als zuvor, oder etwas zynischer, doch andererseits ist noch zu wenig Zeit vergangen, als dass man das wirklich beurteilen kann…“ „Und er?“ „Wie gesagt, ja… Ich glaube, er findet erst jetzt so richtig zu sich…“ „Wie wird es weiter gehen?“ „Womit?“ „Überhaupt. Mit ihnen, oder auch mit ihm…“ „Ich werde versuchen, irgendwie über ihn hinweg zu kommen. Man sagt, man braucht die hälfte der Beziehungszeit, um von einem Menschen loszukommen… Ich hoffe, dass es bei mir schneller geht, auch wenn ich mir das gerade nicht vorstellen kann…“ „Und er? Glauben Sie, dass er noch mal Fußball spielen wird?“ „Ich wünsche es ihm, doch daran zu glauben ist schwer, wenn man die Medien verfolgt… Obwohl mir auch positive Berichte über den Weg laufen, in denen steht, wie schwer er es gehabt hat, dass man Randgruppen mehr tolerieren sollte und so weiter… doch letztendlich kann das nur sehr schwer gelebt werden… Wenn es wirklich dazu kommen sollte, ist es für ihn wahrscheinlich schon zu spät.“ „Das ist traurig.“ „Ja, das ist es…“ „Sie scheinen ihm auf gewisse Weise wirklich verziehen zu haben.“ „Nun ja. Das kommt darauf an, was Sie meinen. Ich habe ihm verziehen, dass er schwul ist. Natürlich, immerhin kann er nichts dafür, er kann es nicht ändern. Ich habe ihm auch verziehen, dass er sich in Mathew verliebt hat und dass er mit der Sache an die Öffentlichkeit gegangen ist… doch eines habe ich ihm nicht verziehen und das werde ich vielleicht auch nie…“ „Und das wäre?“ „Dass er mir mit einem Ring versprechen wollte, für immer an meiner Seite zu bleiben, und mich dann alleine gelassen hat.“ Kapitel 10.02 - ENDE ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Wer bei Kapitelerscheinen von mir eine ENS bekommt, der kennt auch den folgenden Beitragslink schon... für alle anderen: "Wir funktionieren wir alle anderen!" - ein sehr interessanter Bericht des Sportstudios zu Anfang des Monats! =) http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1184058/Wir-funktionieren-wie-alle-anderen?setTime=2#/beitrag/video/1184058/Wir-funktionieren-wie-alle-anderen ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ <10.03> Der Blick durchs Tor ---------------------------- „Sechs Monate sind eine lange Zeit.“ „Finden Sie? Wenn ich nicht gerade darüber nachdenke, kommt es mir vor, als seien erst ein paar Wochen vergangen.“ „Wieso?“ „Weil es noch immer nicht viel ruhiger geworden ist.“ „Sie meinen die Presse?“ „Ja. Und die Fans, seien es noch vorhandene oder ehemalige… Sie lassen ihn nicht in Ruhe.“ „Damit war doch zu rechnen, oder?“ „Ja, aber er hat gehofft, dass sich das Interesse an der Sache schneller verliert...“ Das Outing vor einem halben Jahr war keine besonders große Überraschung für mich. Von Anfang an hat er darüber gesprochen. Gleich zu Beginn unserer Beziehung, wenn man die damalige Affäre überhaupt so bezeichnen darf, hat er überlegt, sich zu outen. Es war wie ein Hirngespinst, das sich irgendwo in seinem Kopf festgesetzt hatte, und es wollte einfach nicht verschwinden. Immer wieder sah ich ihm an, dass er daran dachte, selbst wenn er es immer seltener zur Sprache brachte, weil er wusste, dass ich dem sehr kritisch gegenüber stand. Dabei sollte man wohl meinen, dass mich diese Überlegungen erfreut hätten, vielleicht gar glücklich machten. Er wollte immerhin wegen mir diesen Schritt wagen, für den „riskant“ ein noch zu leichter Ausdruck ist. Stattdessen aber erschreckte es mich. Heute ist das Gefühl, welches ich damals hatte, nur noch schwer zu greifen, da ich mich in die Zeit niemals zurück wünschen möchte, doch selbst damals war es kaum richtig zu erklären. Ich habe einmal versucht, es ihm anhand eines Käfigs zu erklären, in den er mich damit sperrte. Natürlich war es ein schönes Gefühl, zu wissen, wie wichtig ich ihm war, doch gleichzeitig gehen mit einem solchen Schritt auf gewisse Weise auch Verpflichtungen einher. Und Risiken. Den Ausspruch getätigt, war es schwer, ihm klarzumachen, was ich damit meinte. Meinte ich es etwa gar nicht ernst mit ihm? Wollte ich nur heimlich mit ihm zusammen sein? Mich wohlmöglich bald schon wieder trennen? Was waren meine Beweggründe? Egal wie oft sie ich ihm nahelegte, lange hatte ich das Gefühl, dass er es nicht vollends verstand. Er liebte mich, er wollte mit mir zusammen sein… wie konnte es mir da anders gehen? Dabei ging es mir nicht anders, ganz und gar nicht. Ich liebte ihn. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie einen Menschen so sehr geliebt wie ihn, doch genau hier lag das Problem. Diese Liebe sollte nun der Auslöser für das Outing sein. So viele Jahre lang hatte er sich dagegen gesträubt, hat eine Maske konstruiert und ein Versteckspiel um sich herum aufgebaut. Er hatte sein größtes Hobby zu seinem Beruf gemacht und eine Frau gefunden, welche ihn über alles liebte. Er hatte, eigentlich, das perfekte Leben und nur wegen unserer Liebe war er bereit, dies alles aufzugeben, wie es mir vorkam, mit einem Wimpernschlag. Was, wenn er es ebenso schnell wieder bereuen würde? Dann gäbe es kein Zurück mehr. Und an mir würde er diesen Fehler auf ewig messen. Zu Anfang meiner Argumentation wurde er wütend. Glaubte ich ihm nicht? Dachte ich etwa, dass seine Gefühle schon bald nachlassen würden? Vertraute ich ihm nicht? Er war gereizt und traurig und mir fiel es noch schwerer, ihm zu erklären, worum es eigentlich ging. Ich wollte mit ihm zusammen sein, ich wollte mit ihm mein Leben teilen, doch ich wollte nicht die Bürde tragen, für das Ende seiner Karriere verantwortlich zu sein. Wie würde eine Beziehung unter dem Gewicht bestehen können? Wollte er mir täglich in die Augen schauen und wissen, dass ich es war, wegen dem er alles andere beendet hatte? Es brauchte viele Stunden des Redens, des Berührens und Schweigens bis er es endlich begriff, bis er endlich verstand, worum es mir ging. Und dennoch war mir vom ersten Moment an klar, dass er den Gedanken des Outings nie ganz von sich schieben würde. Ich war einfach nur froh, dass der erste Moment der Überschwänglichkeit vorbei war. „Letztendlich hat er sich wirklich geoutet.“ „Ja.“ „Waren Sie denn damit einverstanden?“ „An dem war es nicht mehr an mir, zu entscheiden, was geschah…“ „Wie meinen Sie das?“ „Anders als Monate zuvor hatte er sich mittlerweile genug Gedanken über alles gemacht… Natürlich waren ihm auch vorher die Konsequenzen bewusst gewesen, doch wenn man sie sich öfter vor Augen hält, erkennt man irgendwann, ob man wirklich mit ihnen leben kann oder nicht…“ „Und er dachte, dass er es kann?“ „Genau. Auch wenn ich nicht vollends für sein Outing war, sah ich ihm doch an, dass er es dieses Mal mit kühlem Kopf entschieden hatte… und letztendlich…“ „Ja? „Letztendlich… war es einfach seine Entscheidung.“ „Und das kam für sie nicht wirklich überraschend?“ „Wie man es nimmt…“ Im Nachhinein hätte ich vielleicht erkennen können, dass das Outing so gut wie bevor stand. Zwar sprach er nicht mehr wirklich über das Thema, aber in den letzten Wochen davor war er zunehmend gereizt. Ein paar Mal ging er mir aus vollkommen unwichtigen Punkten sprichwörtlich an die Gurgel und auch in alltäglichen Gesprächen war er fast schon aggressiv. Die Ruhe, die ihn sonst ausmachte, verschwand oft, wenn er über das Training oder gar die Spiele sprach. Dann wirkte er fast aufgewühlt und wechselte manchmal schnell das Thema. Je öfter wir uns sahen, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass er sich mehr zurück zog. Dies wollte ich dann aber aufgrund seiner Stimmung lieber nicht ansprechen. Ich versuchte mehr, ihn zu beruhigen, ihn abzulenken, auf andere Gedanken zu bringen. Dennoch spürte ich irgendwie, dass er sich selbst immer weniger gefiel. Vielleicht war der endgültige Schritt dann auch einfach nur an der Zeit. Vielleicht war er sogar gut so, denn welchen Ausweg aus seiner Unzufriedenheit hätte es sonst gegeben? Der Tag, an dem er es mir sagte, war der, an dessen Abend er auch Miriam die Wahrheit sagen wollte. Kaum war sie morgens aus dem Haus gegangen, hatte er mich zu sich gebeten, und ich spürte sofort, dass dieses Treffen keines der üblichen war. Dabei war es nicht ungewöhnlich, dass er mich anrief und bat, zu kommen. Wir sahen uns so oft, soweit es meine Arbeit, sein Sport und sein Privatleben zuließen. Wir nutzten fast jede Gelegenheit, alleine zu sein. Wir waren sehr vorsichtig dabei, manchmal, wenn wir einfach ein komisches Gefühl dabei hatten, berührten wir uns stundenlang nicht, dann wieder fielen wir wie zwei junge Hüpfer übereinander her. So oft sagte er mir, wie er es genoss, bei mir zu sein. Es sei anders als mit Miriam, bei mir fühlte er sich, so beschrieb er es, vollkommen. Ich erkannte diesen Unterschied an ihm auch. Er verhielt anders, wenn wir alleine waren. Wenn Miriam oder Thomas oder irgendwer sonst dabei war, erkannte ich nichts in seinen Augen. Sie verschlossen sich, er verschloss sich und ließ keine engen Gefühle an sich heran. Auch lachte er anders und seine Körpersprache unterschied sich ein wenig. Wirklich nur minimal, doch so sehr, dass es mir bewusst auffiel. Dabei war er kein anderer Mensch, zu jeder Zeit erkannte ich doch ihn selbst daraus, auch dann, wenn er auf dem Spielfeld stand, und dennoch mochte ich ihn am liebsten in unserer Zweisamkeit, egal ob dies im Bett oder beim Training im einsamen Geräteraum war. Wenn wir alleine waren, war er der Mann, den ich liebte, ohne den Schleier einer falschen Welt. „Wo wir gerade in diese Richtung driften… Wieso haben Sie sich damals überhaupt auf ihn eingelassen?“ „Das fragen Sie ernsthaft? Weil ich mich Hals über Kopf in ihn verliebte.“ „Liebe auf den ersten Blick also?“ „Nein, daran glaube ich nicht… aber eine gewisse Anziehung verspürte ich vom ersten Moment an…“ „Wie äußerte sich das?“ „Naja, zu Anfang fand ich ihn einfach nur interessant, doch je mehr ich ihn beobachtete oder mit ihm sprach, desto stärker wurden die Gefühle…“ „Und wie war das bei ihm?“ „Das war das kuriose… ziemlich schnell bemerkte ich, dass es ihm scheinbar ähnlich ging.“ „Woran haben Sie das erkannt?“ „Ehrlich gesagt ist das nicht zu erklären. Es war ein Gefühl, wenn wir uns ansahen. Wahrscheinlich hätte es niemand anderes bemerkt, dafür saß seine Maske zu perfekt, doch irgendwie gab es da etwas zwischen uns, etwas sehr Intensives…“ „Sind Sie nie auf den Gedanken gekommen, ihm aus dem Weg zu gehen?“ „Doch, natürlich. Erst wollte ich die Gefühle verdrängen und versuchte, ihn auf Abstand zu halten… doch irgendwann ging das einfach nicht mehr…“ Bis zu einem gewissen Grad ist man in der Regel vernünftig veranlagt, so auch ich. Ich wusste, dass die Anziehung zwischen uns auf keinen guten Grundlagen basierte. Zu aller erst einmal war er ein Profispieler. Auch ich wusste natürlich bestens, dass dies ein sehr homophobes Pflaster war. Obwohl ich eigentlich offen schwul war, hatte ich das von meiner Arbeit immer tunlichst getrennt. Ich sprach zwar von meinen vergangenen Beziehungen, allerdings immer, ohne explizit ein Geschlecht zu nennen. Mir war klar, dass ein schwuler Physiotherapeut nicht so gerne gesehen würde, also schwieg ich, auch wenn ich mich nie wirklich verstellte – anders als er. Er hatte sogar eine Freundin. Ich lernte sie bald kennen und erkannte schnell, dass sie mehr als die typische Alibifreundin eines schwulen Fußballers war. Miriam bedeutete ihm sehr viel, gleichzeitig hatte es seine Grenzen. Diese überschritt er jedoch mitunter im Bezug auf mich. Das Leben hatte mich gelehrt, mit Signalen von außen vorsichtig, nicht leichtfertig umzugehen. Vielleicht waren seine nur aus Neugierde begründet, redete ich mir erst ein, vielleicht fand er mich auch nur übermäßig sympathisch und ich deute es falsch. Vielleicht sah ich Dinge, die nicht existierten. Das redete ich mir nachts oft ein, doch schon am nächsten Tag wurde ich jedes Mal eines besseren belehrt, wenn er wieder eine Sekunde zu lange an meinem Blick hängen blieb. Aber wie gesagt, bis zu einem gewissen Grad, ist man vernünftig veranlagt. So versuchte auch ich zunächst, auf Abstand zu gehen oder zumindest, mir nicht mehr anmerken zu lassen als ohnehin schon. Ich versuchte, nicht immer auf ihn zu achten, auch die anderen deutlicher wahrzunehmen und mich gefühlsmäßig nicht auf ihn einzulassen. Das konnte kein gutes Ende haben, sagte ich mir selbst. Wie hätte das auch aussehen sollen? Dennoch gibt es Momente, in denen man schwach wird, so sehr man sich auch kontrollieren will. Bei mir war dieser Moment nach dem Sieg in der Gruppenphase, als wir einander einen kurzen Augenblick lang in den Armen lagen. Plötzlich schlug mein Herz so fest wie seit Jahren nicht mehr und den restlichen Abend konnte ich an nichts anderes mehr denken. Ich beobachtete ihn die ganze Zeit, so unauffällig wie möglich und doch so deutlich, dass sich immer wieder unsere Blicke während der Party trafen. Ich lächelte und er erwiderte es und ich wusste, dass ich ihm einfach mal so vollends verfallen war. Warum auch immer ausgerechnet diesem Mann. Es war ausgerechnet diese Nacht, in der er zu mir kam und das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich jegliche Vernunft über Bord geworfen hatte. Es war mir egal, was passieren würde, ich wünschte mir bloß noch, bei ihm zu sein. Ihm ging es ähnlich, das wurde so deutlich in den folgenden Tagen. Wann immer wir uns ansahen, sprachen die Gefühle zwischen uns und ich hätte wohl alles für nur einen einzigen Kuss gegeben. Dass es zu diesem bis zum Ende der WM nicht kommen würde, damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Im Nachhinein ärgerte ich mich so sehr, dass ich unsere Zweisamkeit am letzten Abend nicht ausgenutzt hatte, denn wahrscheinlich würde ich doch nie wieder eine Chance bekommen. Dem folgten zwei Jahre, in denen wir einander nicht sahen. Zunächst dachte ich, dass ich ihn vielleicht wirklich vergessen konnte, in dieser Zeit, doch ich begriff schnell, dass es so einfach nicht war. Meine Gefühle erloschen nicht, sie ließen mich nicht los. Ich konnte einfach nicht anders, als ihn in den Zeitungen, im Fernsehen, im Radio zu suchen. Ich sehnte mich nach jeglicher Nachricht über ihm, sei sie auch noch so winzig. Ich saugte alles in mich auf und es tat weh, doch aufhören konnte ich damit dennoch nicht. Dabei ging abseits davon mein Leben weiter. Ich plante nicht, mich nochmals auf dieses Spiel einzulassen. Stattdessen hatte ich einige One Nights Stands und eine viermonatige Beziehung. Ich versuchte wirklich ganz bewusst, ihn aus meinem Herzen zu verbannen, doch irgendwie hatte er einen festen Teil davon in Beschlag genommen und war nicht bereit, diesen wieder loszulassen. Ich verglich viele Männer mit ihm, was nicht ungewöhnlich für mich war. Nach der Auflösung meiner Verlobung Jahre zuvor war es mir ähnlich ergangen, doch das hatte nachgelassen. Schon bald hatte ich nicht mehr an Steve denken müssen, hier allerdings war es weniger einfach. Über Monate zog es sich hin und die Sehnsucht brannte. Ich fragte mich, ob sie weniger wäre, wenn wir uns einander einfach ein einziges Mal hingegeben hätten. Wäre ich dann befriedigt? Wäre es mir dann genug, nach einem Mal so richtig heißem Sex mit ihm? Vielleicht hätte auch ein Kuss genügt oder intensivere Worte. Ich wusste es nicht, denn ich konnte dies alles nur erträumen und nie spüren. Und über die Vorstellungen wuchs der Wunsch, ihn wiederzusehen. Aus dem Grund entschied ich mich, noch einmal auf das Spielbrett zu treten. Es war gefährlicher als zuvor, denn ich setzte sehr viel. Doch besonders für ihn würde es gefährlich werden, dann zumindest wenn er in de letzten Jahren auch nur ab und an mich gedacht hatte. Ich wollte ihn küssen, berühren und ihm sagen, dass ich ihn nicht einen Tag lang vergessen hatte. Wenn ich auch nur ein Anzeichen von ihm bekommen würde, dass es ihm ähnlich erging, würde ich es nicht noch einmal nur bei einfachen Blicken belassen. Das war zumindest mein Plan, die Umsetzung sah anders aus. „Inwiefern?“ „Ich sah sofort, dass auch er in den letzten Jahren an mich gedacht hatte… doch ich konnte nicht danach handeln. Ich unternahm tatsächlich nichts…“ „Wieso nicht?“ „Weil nicht ich es sein würde, der dadurch alles verlieren konnte… Wenn er dazu bereit war, musste er einen Schritt in meine Richtung tun.“ „Und das tat er?“ „Es dauerte eine Weile, aber ja… und ab dem Zeitpunkt war mir klar, dass wir das nie wieder hergeben wollte. Eigentlich war es faszinierend. Ich hatte nie geglaubt, dass es so etwas zwischen zwei Menschen geben kann.“ „Das klingt sehr romantisch.“ „Keine Ahnung. Letztendlich war es vor allem wenig heroisch… immerhin führte es dazu, dass wir Miriam beide sehr weh getan haben.“ „Womit wir den Bogen zurück schlagen. Sie wollten zuvor erzählen, wie er vor einem halben Jahr sein Outing plante…“ „Stimmt. Das war schon ein sehr schwieriger Tag…“ Wie gesagt, bemerkte ich sofort, dass etwa anders war an jenem Vormittag. Er schloss verkrampft die Tür hinter mir, dann sah er sich unruhig um, während ich ihm ins Wohnzimmer folgte. Das Wohnzimmer war abgedunkelt, was nur zur düsteren Grundstimmung beitrug. Schweigend ließen wir uns nieder, ohne einander überhaupt berührt zu haben. Sein Blick war fahrig, als kenne er sein eigenes Haus nicht oder als würde hinter jeder Tür jemand lauern. Und er hatte die Fäuste angespannt. Ich verstand überhaupt nicht, was mit ihm los war. Einen Augenblick lang befürchtete ich sogar, er würde nun mit mir Schluss machen. Das war ohnehin ein Punkt, mit dem ich immer zu rechnen hatte. Seit Monaten waren wir nun heimlich ein Paar und ich wusste, dass dies jede Sekunde ein Ende finden könnte. Dennoch ließ ich mich mit jedem neuen Tag erneut darauf ein, denn mittlerweile liebte ich ihn. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihn noch einmal vergessen zu müssen. Also ertrug ich auch, dass ich nur die Affäre war. Wir sahen uns dadurch nie regelmäßig; wenn es darauf ankam, stand immer sein Sport an erster Stelle und mit ihm Miriam. Darauf hatte ich mich eingelassen und weil ich wusste, dass es so war, hatte ich auch das Outing nie für eine gute Idee gehalten. Wenn er den Sport verlieren würde, von dem er immer mal wieder behauptete, dass er nicht so wichtig sei wie ich, wann würde dann der Tag anbrechen, an dem er es mir nachtragen würde? Wenn man es so sieht, bestanden die Monate unserer heimlichen Beziehung aus sehr viel Unsicherheit und einem gewissen Prozentsatz an Angst, dass es einmal ein jähes Ende finden könnte oder ein unglückliches. Aber vielleicht genau deshalb nahm ich mir vor, jede Sekunde mit ihm richtig zu genießen. Ich wollte nichts bereuen müssen. An dem Tag im dunklen Wohnzimmer ging mir genau das eine Sekunde lang durch den Kopf. Ich bereute nichts, doch es gab noch zu viel vor uns als dass nun Schluss sein konnte. Außerdem liebte er mich, das wusste ich. Doch wenn es nicht das war, was war dann hier los? Ich wurde unruhiger je länger er schwieg. Ich sah in seinen gesenkten Augen, dass sich etwas drastisch ändern würde, ich war mir nur nicht sicher, was es sein würde. Eine Trennung war es nicht, aber was konnte es dann sein? Das Outing? Wir hatten nun schon länger nicht mehr darüber geredet. Plötzlich, als habe jemand den Startschuss gegeben, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus ohne Pause, als habe er Angst, ich würde davonlaufen, sobald er endete. Und um ehrlich zu sein, eine Sekunde lang packte mich der Fluchtinstinkt tatsächlich, wenn auch nicht ernsthaft. Stattdessen blieb ich wie angewurzelt sitzen und konnte einfach nur seine Hände anstarren, welche während des ganzen fest ineinander verkrampft waren. Ich zuckte zusammen, als er sie löste. Er streckte mir eine davon hin, ohne zu zögern ergriff ich sie. Hier nun sagte er mir wie sehr er mich liebte. Er sagte mir, dass er Miriam liebte und wirklich vor gehabt hatte, sie zu heiraten. Und dann sagte er mir, dass er ihr die Wahrheit sagen würde; ihr und der ganzen Welt. Es könne einfach nicht mehr so weitergehen wie bisher. Er könne das nicht mehr, dieses Versteckspiel. Natürlich habe es etwas mit mir zu tun, natürlich sei ich in gewisser Weise der Grund für die Entscheidung, doch da stecke noch viel mehr dahinter als das. Er war es leid, eine Maske zu tragen. Er beneidete die Leute darum, die einfach sie selbst sein konnten, frei lachen und lieben durften. Er wollte nicht mehr schauspielern, sich nicht verstecken und so tun als sei er vermeintlich normal. Er wollte Miriam nicht länger weh tun. Er wollte morgens neben mir aufwachen und in der Öffentlichkeit zu mir gehören. Und er wollte endlich einmal er selbst sein. „Ich habe mich vor langer Zeit verloren. Jetzt möchte ich mich endlich wieder finden.“ Das waren die Worte, welche es mir, als er endlich schwieg, unmöglich machten, ihm zu widersprechen. Denn ich sah mit einem Mal die Trauer in seinen Augen. Die Furcht, Angst, die Abscheu und das Kind. Ich sah den scheuen Jungen, der er war, irgendwo gar nicht so tief in ihm drin. Der Junge hatte nie erwachsen werden dürfen, da sonst alles anders verlaufen wäre. Und genau so anders sollte es nun weitergehen. Er wollte es; es war keine leichtfertige Entscheidung, sondern ein Entschluss, der ihn heilen würde. Davon war er überzeugt und dieses intensive Gefühl, welches in seinen Augen loderte, ließ es mir nicht zu, ihm dieses Mal zu widersprechen. Es war nicht an mir, ihm die nächste Bürde aufzuzwingen. Zum ersten Mal sollte er wirklich das machen, was er für sich selbst als das beste ansah. Das sagte ich ihm und ich nahm ihn in den Arm. Ich küsste ihn und lächelte und versprach ihm dann, dass ich ihn bei allem unterstützen würde. „Anschließend sagte er es Miriam?“ „Richtig. Wir sprachen noch lange darüber. Er hatte alles bereits durchdacht, auch die Tatsache, wie sehr er sie verletzen würde. Das schmerzte ihn am meisten.“ „Und was war mit Ihnen?“ „Was meinen Sie?“ „Sie waren doch mit Miriam befreundet. Wie war das von Anfang an eigentlich möglich gewesen?“ „Das ist schwer zu sagen. Als ich vor kurzem mit ihr geredet habe, hat sie mich gefragt, ob es Berechnung gewesen ist. Wollte ich mich mit ihr anfreunden, um besser an ihn heranzukommen?“ „Und? War das der Fall?“ „Ehrlich gesagt, ich würde lügen, wenn ich nein sagen würde. Denn ich kann nicht mehr genau sagen, was ich damals, als ich die beiden kennenlernte, gedacht habe. Natürlich war sie mir sofort ein kleiner Dorn im Auge, doch das änderte nichts daran, dass sie ein wundervoller Mensch ist und man sie eigentlich gern haben muss.“ „Und das hatten sie?“ „Ja. Ob man es glaubt oder nicht, ich habe Miriam richtig ins Herz geschlossen. Auf gewisse Weise war sie mir wirklich eine Freundin, weshalb mir der Gedanke weh tat, dass ihr Mann nicht ehrlich zu ihr war und sie betrog…“ „Mit Ihnen, um genau zu sein.“ „Richtig. Und ich hatte Schuldgefühle deswegen… Doch sie wogen nicht schwer genug.“ Das Outing selbst ist ein Schritt, auf den man sich zwar vorbereiten, der aber letztendlich nie geplant sein kann. Man kann Szenarien durchgehen, sich Reaktionen ausmalen und Antworten bereit legen, doch es wird am Ende immer völlig anders verlaufen. Man kann sich nie so gut darauf vorbereiten, dass es vollkommen glatt verläuft, nach einem vorgefertigten Plan. Ich selbst habe mich vor Jahren bei meiner Familie geoutet. Der Auslöser dafür war, dass mich mein Freund gefragt hatte, ob ich ihn heiraten wollte. Zuvor war es mir immer unwichtig erschienen, meine Homosexualität vor meinen Eltern zu thematisieren und ihnen damit Kopfschmerzen zu bereiten, doch mit einem schmalen Silberring am Finger war es schwer, weiterhin den Hetero zu geben. Denn ich wollte den Ring nicht mehr abnehmen und musste ihn somit auch erklären; und meine Eltern wollten „sie“ so gerne kennenlernen. Dass die vermeintliche Verlobte letztendlich ein Mann war, brachte zunächst einen riesigen Familienstreit in Gang. Fast ein halbes Jahr lang sprach mein Vater kein Wort mit mir. Bis heute weiß ich nicht, ob er es vollends akzeptiert hat, doch irgendwie kam es, mit Hilfe meiner Mutter, doch noch zu einer Versöhnung. Und dann, kein halbes Jahr später, trennte sich mein Freund von mir. Er habe einen anderen gefunden, bei dem er erst gemerkt habe, was wirkliche Liebe sei; mit den Worten ließ er mich sitzen. Wie man sich vorstellen kann, war ich am Boden zerstört, doch vor allem war ich froh, dass die Sache meinen Arbeitsplatz und den größten Teil meines Freundeskreises noch nicht erreicht hatte. Anders war es nun, nach diesem öffentlichen Outing von einem der bekanntesten Fußballer des Landes. Schnell wurde die Frage nach dem Partner laut und somit wurde auch meine sexuelle Existenz an die Öffentlichkeit getragen. Natürlich hatten wir darüber gesprochen. Hätte ich es gewollt, hätte er sich als Single ausgegeben, doch ich hatte nicht einen Moment lang in diese Richtung gedacht. Wenn er diesen Schritt gehen wollte, dann würde ich an seiner Seite stehen. Wenn er bereit war, seine Karriere zu opfern, dann konnte ich das erst recht. „Bereuen Sie diese Entscheidung?“ „Nein.“ „Aber seither können Sie Ihren Beruf nicht mehr ausüben.“ „Das stimmt so nicht ganz. Ich bin noch immer Physiotherapeut für Fußballer, nur mittlerweile für weitaus kleinere, fast unbekannte Vereine. Aber das ist egal, ich liebe meinen Job.“ „Vereine für schwule?“ „Einer, ja. Der andere nicht.“ „Und die Spieler können damit umgehen?“ „Die meisten ja. Zunächst rede ich ausführlich mit ihnen darüber und für viele ist es in Ordnung, wenn sie sich eingehender damit befassen. Man muss ihnen einfach die Angst nehmen, die sie denken lässt, dass man auf jeden Mann scharf ist.“ „Das ist ein weitverbreitetes Klischee.“ „Richtig.“ „Glauben Sie daran, dass es sich irgendwann ändern wird?“ „Irgendwann vielleicht, doch nicht in naher Zukunft.“ „Auch nach dem Outing nicht?“ „Nein, leider nicht. Bisher hat sich kaum etwas geändert.“ Die Erwartungen, die man selbst an ein Outing stellt, sind hoch. Man glaubt, dass sich danach alles grundlegend ändert, nicht nur für einen selbst sondern auch für seine Umwelt. In gewisser Weise trifft dies natürlich zu, doch es gibt dennoch viel zu viele Dinge, die unverändert bleiben. Dazu zählen Klischees, Vorurteile und leider Tabuthemen. Ich weiß, dass er nicht vor hatte, die Welt zu verändern. Er ist ein realistischer Mensch und weiß, dass sich die Einstellung einer großen Menschengruppe nicht durch einen so kleinen Windhauch ändern wird, aber ich glaube, dass er sich dennoch ein wenig mehr erhofft hat. Zwar hat er nie erwartet, weiterhin in den großen Vereinen mitspielen zu können, doch dass die professionelle Fußballwelt fortan einen ausgesprochen riesigen Bogen um ihn machen würde, damit hat er wohl auch nicht gerechnet oder nicht rechnen wollen. Doch tatsächlich ist es so, dass auch jetzt noch, nachdem er bewiesen hat, dass auch schwule Männer richtig gute Fußballer sein können, das Klischeedenken der Welt unverändert ist. Natürlich muss jeder erkennen, dass er trotz seiner Homosexualität ein überragender Spieler ist, doch sehen ihn die meisten Menschen damit als Ausnahme an. Oder sie versuchen, einfach nicht darüber nachzudenken, streichen seine Existenz vielleicht vollkommen aus ihrem Verstand. Denn sie wollen ihr Weltbild, mit dem sie aufgewachsen sein, auf diese Weise nicht zerstören. Was das angeht, können Menschen wirklich grausam sein. Auch die Fans. Natürlich gibt es auch hier positive Stimmen, sehr viele sogar, doch letztendlich überwiegt eine einzelne negative Stimme zehn positive bei weitem. Zumindest für ihn. Es macht mich traurig, das zu sehen, denn ehrlich gesagt habe ich angenommen, dass ihm die Ablehnung weniger ausmachen würde. Ich dachte, er habe sich mittlerweile eine harte Schale aufgebaut und würde es schaffen, drüber zu stehen. Auch er dachte das, doch wir mussten gemeinsam erkennen, dass dem nicht so ist. Anders als ich hat er nie gelernt, auf Durchzug zu schalten, wenn jemand über seine Sexualität auf gemeinste Art und Weise herzieht. Böse Aussagen treffen ihn direkt ins Herz und er nimmt viel zu vieles ernst. Auch Scherze mag er nicht gerne, wenn sie selbst nur entfernt etwas mit ihm zu tun haben, und am Anfang hat er oft weggeschaltet, wenn im Fernsehen oder Radio etwas über ihn berichtet wurde. Auch die Zeitung wurde lange nur sporadisch gelesen. Das wird besser, doch noch ist es schwer für ihn, mit dem Thema umzugehen; viel schwerer, als er vermutet hatte. Die Ablehnung der Welt tut ihm weh, immer wieder, jeden Tag. „Also bereut er es?“ „Das ist immer unterschiedlich. Manchmal bereut er es wirklich. Dann sitzt er einfach stundenlang da und starrt vor sich hin; dann geht es ihm schlecht damit und er vermisst den Sport… an solchen Tagen streiten wir uns häufig. Einmal haben wir uns anschließend über eine Woche lang weder gehört noch gesehen…“ „Also leidet ihre Beziehung darunter?“ „Natürlich. Aber bisher haben wir uns immer wieder zusammengerauft. Denn wir lieben uns und wenn man zusammen sein will, muss man dies auch in schlechten Zeiten sein. Außerdem gibt es ja auch andere Tage…“ „Gute Tage?“ „Ja. Dann ist er stolz auf sich und freut sich, er selbst sein zu können. Dann sagt er mir immer wieder, dass er es genießt, sich nicht mehr verstecken zu müssen… und dann sehe ich das Strahlen in seinen Augen, welches ich so sehr liebe...“ „Also hat das Versteckspiel aufgehört?“ „Noch nicht ganz. Wie soll es das auch, immerhin ist die Maske ein Teil seiner Persönlichkeit geworden. Dementsprechend ist es schwer, sie ganz abzulegen und frei damit umzugehen. Er hat lange gebraucht, die größten Marotten des Versteckens abzulegen.“ „Zum Beispiel?“ „Zu Anfang ist er immer sehr auf Distanz gegangen, wenn wir zusammen draußen waren. Er hat sich dann betont männlich bewegt und versucht, wie ein Macho zu sprechen, so wie er es jahrelang gemacht hat…“ „Und Sie meinen, dass ist er nicht?“ „Nein. Zwar ist es ein Teil von ihm, doch letztendlich ist es nicht sein Wesen. Denn eigentlich ist er sehr warm und herzlich. Und er sucht die Nähe von Menschen, die er mag...“ „Hat er es schon mal geschafft, in der Öffentlichkeit Ihre Hand zu nehmen?“ „Nein. Aber ich warte auch nicht darauf. Ich bin mir sicher, dass es irgendwann kommen wird, doch bis dahin wird noch eine lange Zeit vergehen. Erst einmal muss er zu sich selbst finden.“ „Hat er das noch nicht?“ „Er ist auf dem Weg dahin. Mit jedem Tag kommt er dem ein ganzes Stück näher…“ „Also ist er bereits ein anderer Mensch geworden?“ „Ein anderer nicht, aber während vieles um ihn herum gleich ignorant geblieben ist, hat er sich tatsächlich verändert.“ „Können Sie die Veränderung in Worte fassen?“ „Nur sehr schwer… aber vielleicht geht es auch anhand eines kleinen Beispiels: vor knapp einem Monat habe ich endlich Sophie kennengelernt und nächste Woche möchte er mich seinen Eltern vorstellen.“ Kapitel 10.03 - ENDE <11> .... Er wie ich und du --------------------------- „Vielen Dank, dass Sie sich noch mal zu einem Interview bereit erklärt haben.“ „Gerne.“ „Ein Jahr ist mittlerweile vergangen… Damals haben Sie gesagt, sie freuen sich darauf, nun endlich Sie selbst sein zu können… Wie denken Sie heute darüber?“ „Ich habe begriffen, dass das sehr große Worte waren… und dass man ein solches Gefühl nicht dadurch erlangt, den Menschen zu sagen, wer man ist.“ „Und wie schaffst man es dann?“ „Zuerst einmal muss man lernen, sich von den Zwängen der Umwelt zu befreien. Man muss lernen, glücklich mit sich selbst zu sein, egal was andere darüber denken, denn selbst wenn andere einen akzeptieren, führt einen das nirgendwo hin, solange man nicht den Punkt erreicht hat, an dem man sich selbst so akzeptieren kann wie man ist…“ „Und dann ist man frei?“ „Zumindest hat man dann einen großen Schritt in die richtige Richtung getan, vielleicht den größten…“ „Sind Sie ihn schon gegangen?“ „Manchmal denke ich es, ja… aber dann merke ich wieder, dass ich zu oft unzufrieden bin…“ „Womit?“ „Mit mir, mit meiner Umwelt… und dem Leben an sich…“ „Also sind Sie nicht frei?“ „Nein.“ Mein neues Leben begann mit dem Gefühl, eingesperrt zu sein. Natürlich war es nicht so, dass mich das sonderlich überraschte. Ich hatte versucht, mich innerlich drauf vorzubereiten, dass die Welt nach meinem Outing Kopf stehen würde, doch irgendwie begann es dann doch alles so plötzlich, fast von einer Sekunde auf die andere. Dabei hätte ich den Moment letztendlich gerne noch etwas weiter hinaus gezögert. Aber eigentlich war es nicht überraschend, dass das Telefon bereits ununterbrochen klingelte, noch bevor ich selbst eine Ausgabe des Artikels in der Hand hielt. Selbst mein privates Handy schien bald schon nicht mehr stillstehen zu wollen und vor dem Haus standen die Reporter Schlange. Obwohl ich irgendwie versucht hatte, mich darauf vorzubereiten, wusste ich zunächst überhaupt nicht, wie ich damit umgehen sollte. Mein Inneres fühlte sich an, als würde jemand eine Schlaufe immer mehr zuziehen und ruhelos lief ich von einem Raum zum anderen. Mathew schloss die Fensterläden, schaltete mein Handy aus und die Musik stattdessen an. Er versuchte, mich an einem Ort zu halten, doch ich konnte nicht lange sitzen. Reden über die Situation konnte ich erst recht nicht. Das hatte ich in den letzten Tagen schon zu Genüge, gerade war es, als würde mir der Kopf platzen. Was hatte ich getan? Plötzlich bereute ich es unheimlich, ganz tief in mir drin. Ab dem Punkt war es für Mathew noch schwerer, mich zu beruhigen. Ich ließ nicht einmal zu, dass er mich berührte, weshalb er irgendwann still auf dem Sofa saß und mir bei meiner Unruhe einfach zusah. Selbst das machte mich irre und ich schnauzte ihn an. Eine Sekunde später tat es mir schon wieder leid, doch anfassen konnte ich ihn trotzdem nicht. Obwohl uns keiner sehen konnte, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass alle Augen der Welt von nun an auf uns beiden liegen würden. Zu dieser Rastlosigkeit kam Thomas mitsamt dem Artikel dazu. Aufgewühlt saß ich auf dem Sofa und las ihn, spürte nur nebenbei, wie ich irgendwann Mathews Hand suchte und zerquetschte. Plötzlich brauchte ich seine Nähe wieder, nun, da ich meine Geschichte las, die sich mit seiner verknüpfte. Sie hatten den Namen geändert, auf meine Bitte hin. Wer uns persönlich kannte, würde zwar wissen, dass er gemeint war, doch abseits davon wollte ich das nicht für ihn, obwohl er gesagt hatte, es wäre ihm gleich. Nun fiel es mir schwer, einen anderen Namen an seiner Stelle zu lesen. Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, überflog ich ihn erneut, sprang anschließend auf und lief wieder herum. Nun wussten alle bescheid. Wie hatte ich das bloß tun können? Die laute Musik machte mich mit jeder weiteren Minute aggressiver, doch als ich sie abstellte, hörte ich die Stimmen von draußen deutlich. Sie wollten sich an mir weiden wie Aßgeier. Mir wurde schlecht, wenn ich nur daran dachte, was sie alles schreiben würden. Und wie ging es Miriam jetzt wohl? Ob sie den Artikel schon gelesen hatte? Plötzlich brach es mir das Herz, an sie zu denken. In den nächsten Stunden schafften es Thomas und Mathew nicht an mich heran. Ich aß nichts und lief die meiste Zeit weiter herum. Immer wieder überflog ich den Artikel. Ich wusste bestens was drin stand, kannte jedes Detail und war fast ein wenig beschämt, dass ich doch sehr viele unwichtige Dinge erzählt hatte. Und ich fragte mich, was der Rest der Welt nun von mir wollte. Sie konnten doch lesen, oder nicht? Sie wussten doch bereits alles, was ich zu sagen hatte. Mit all diesen zerwühlten Gedanken und so vielen mehr wurde es dunkel und draußen still. Thomas verabschiedete sich und Mathew stellte die Musik aus. Dann bat er mich, ins Bett zu kommen, doch auch dort war ich unruhig und konnte nicht einschlafen. Ich wehrte mich gegen seine Berührungen, bis ich sie schließlich verzweifelt suchte und mich an ihn klammerte. In unserer Nähe fand ich Beruhigung und Unruhe; hier wusste ich, warum ich es getan hatte und fragte mich dennoch immer wieder, wieso ich diesen Schritt gegangen war. Hin und her rissen mich meine Gefühl, meine Ängste und Vorstellung, wie es nun weitergehen würde. Ich wusste, dass ich den Fußball verloren hatte, zumindest in dem Ausmaße, wie ich ihn bisher mein Eigen hatte nennen können. Dafür gehörte der Mann in meinen Armen nun zu mir und ich gehörte endlich mir selbst. Leider konnte ich das in jener Nacht noch überhaupt nicht genießen. „Können Sie es heute?“ „Besser, ja… Überhaupt wurde es immer besser…“ „Was?“ „Das Gefühl, eingesperrt zu sein…“ „Wie äußerte sich das Gefühl?“ „Am meisten dadurch, dass ich mir eigentlich meine Ruhe wünschte, sie aber nicht bekam. Wo auch immer ich war, da waren auch Reporter. Doch ich hatte keine Lust darauf, unzählige nutzlose Interviews zu geben. Wieso auch? Sie wussten sowieso schon viel zu viel…“ „Aber sie gaben nicht nach.“ „Nein. Nicht bei mir und nicht bei den Leuten um mich herum, was fast noch schlimmer war. Ich hätte nicht jeden da hinein ziehen wollen, doch ich hatte es getan…“ Natürlich war mir klar gewesen, dass nicht nur ich nach einem Outing im Mittelpunkt stehen würde. Die Presse stürzte sich wirklich auf alle, die sie finden konnte. Die Namen aus meiner Vergangenheit waren im Artikel geändert worden, doch meine Eltern, Sophie, Thomas, die Trainer, alte und aktuelle Teamkameraden waren leicht zu finden. Auch Mathew fanden sie schnell, trotz der Namensänderung, da die Reporter es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht hatten, jeden unserer aktuellen oder ehemaligen Physiotherapeuten auszuquetschen, von dem sie wussten. Und Mathew hielt nichts davon, sich zu verstellen, sondern antwortete auf die Frage ganz simple: Ja, er sei derjenige. Mehr sagte er dazu allerdings monatelang nicht. Da mir klar gewesen war, dass sie sich sofort auf die Leute aus meiner Fußballwelt stürzen würden, hatte ich bereits mit dem Trainer gesprochen. Es war kein einfaches Gespräch gewesen, doch da ich das Interview bereits gegeben hatte, wusste ich, dass ich keinen Rückzieher machen konnte. Ein paar Tage später hätte er es sonst aus der Presse erfahren und das wollte ich auf gar keinen Fall. Er hatte ruhiger reagierte, als ich erwartet hatte. In seinem Gesicht konnte ich Überraschung lesen, wenn er ihr Ausmaß auch ziemlich gut verstecken konnte. Er knete seine Hände und sah mich eine Weile lang nicht mehr an, bis er mir erklärte, dass das nun leider ein ziemliches Problem darstellte. Homosexualität sei im Fußball noch immer ein ziemliches Tabuthema – als wäre mir das nicht klar gewesen. Das Gespräch an sich war schnell vorbei. Er müsse sich seine Gedanken dazu machen, aber ich solle schon mal ernsthaft darüber nachdenken, ob ich das meinen Mannschaftskollegen antun wollen würde. Es war, als würde er von einer ansteckenden Krankheit sprechen, und dann bat er mich mit befehlendem Ton, den Jungs die Wahrheit selbst noch heute zu sagen. Das war etwas, auf das ich nicht vorbereitet gewesen war. Viele der Jungs waren sprachlos. Thomas wollte mir zwar beistehen, doch ich ließ ihn nicht, da ich ihn nicht zu sehr in die Sache involvieren wollte. Mit zwei meiner ältesten Teamkameraden entfachte ein ziemlicher Streit, den die anderen zu stillen versuchten. Dann hörte ich abwertende Bemerkungen aber auch zwei oder drei Bekundungen, dass das kein Problem für sie sei. Allein diese Unstimmigkeit zeigte mir nochmals, dass meine Tage in der Mannschaft gezählt waren. Unruhe und Uneinigkeit ist nichts, was man auf einem Spielfeld gebrauchen kann. Die Blicke aus vielen Augen enttäuschten mich sehr, doch letztendlich, wenn ich ehrlich war, hatte ich mit nichts anderem rechnen können. Die Enttäuschung zog sich in die kommenden Wochen und Monate leider noch sehr tief hinein. Durch die neugierige Presse, die jeden ausquetschte, den sie in die Finger bekommen konnten, erfuhr ich leider ziemlich genau, was meine Teamkameraden und vermeintliche Freunde wirklich über mich dachten. Zwar hielten sich fast alle bedeckt, doch das zeigte auch, wie unsere Welt funktionierte. Für einen Fußballer ist es nicht einfach, zu einem schwulen Fußballer zu stehen, weil dann schnell Gerüchte beginnen. Also schwiegen sie nicht mir zuliebe, sondern weil sie selbst mit der Sache in der Öffentlichkeit nicht noch mehr zu tun haben wollten als ohnehin schon. Es ist eine solche Zeit, in der man merkt, wer wirklich Freund ist und wer Feind. Wer interessiert sich wirklich für dich und wem bist du egal? Das ist schnell auszumachen, wenn es um ein ernstes Thema geht, und bei mir blieben noch weniger Menschen zurück, als ich befürchtet hatte. Trotzdem bekam ich natürlich nicht nur negative Stimmen zu hören, sondern auch sehr viele Bekenntnisse des Mitleides, was teilweise noch viel schlimmer ist. Mitleid bringt einen nicht weiter, stattdessen ist es ein erbärmliches Gefühl, vor allem, wenn es in unehrlichen Augen widergespiegelt wird. Irgendwann jedoch lernt man, darüber zu stehen, so hart es auch ist. Schwerer ist das hingegen bei der eigenen Familie. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätten sie vielleicht nie etwas davon erfahren. Meine Eltern und ich sahen uns nur selten, telefonierten nur alle paar Wochen. Wenn ich nicht einen solchen Bekanntheitsstatur hätte, hätte ich es ihnen vielleicht sogar auf ewig verheimlichen können, doch leider stand dies für mich nicht zur Auswahl. Somit blieb mir nur die Entscheidung, dass auch meine Eltern die Wahrheit auf keinen Fall aus der Presse erfahren sollten. Den Mut, sie anzurufen, hatte ich allerdings nicht. Zwei Tage vor der Artikelveröffentlichung rief ich Sophie an. Wir hatten auch schon seit mehreren Wochen nicht mehr miteinander gesprochen, was aber nichts Ungewöhnliches war. Sie steckte mit allen Sinnen in ihrem neuen Job fest und ich hatte viel zu viel im Kopf, um an ihre Nummer zu denken. Einander hätten wir uns das nie vorgeworfen, doch plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so unheimlich fröhlich meldete und ich ihr etwas zu erzählen hatte, was die gute Laune definitiv zerstören würde. Tatsächlich redete ich sehr lange um den heißen Brei herum, doch dann versuchte ich das Gespräch auf Mathew zu lenken. Die beiden kannten sich nicht, weil ich immer darauf geachtet hatte, dass Sophie uns nicht zusammen zu Gesicht bekam. Meine kleine Schwester kannte mich gut, wenn auch nicht in jeder Einzelheit. Dennoch war ich mir nicht sicher, dass ihr feines Gefühl nicht etwas bemerkt hätte. Das Risiko wollte ich nicht eingehen. Durch Erzählungen kannte Sophie Mathew allerdings schon. Also versuchte ich vorsichtig, die Kurve zu bekommen, welche sie offensichtlich nicht ganz verstand. Was so besonderes mit ihm sei, wollte sie wissen, und ich schwieg lange daraufhin. Dann flüsterte ich es in den Hörer und sie verstand mich nicht. Was ich damit meinte, er sei mein Freund. Erst nach einer genaueren Detaillierung des Wortes begriff sie es, und ich hätte am liebsten den Hörer auf die Gabel gefeuert. Nach meiner Eröffnung war es lange still am anderen Ende, bis sie endlich zu fragen wagte, ob ich damit meinte, dass ich schwul sei. Ich bejahte es und es war wieder still. Immer schon? Ja. Hier nun hörte ich ein gekünsteltes Lachen in ihrer Stimme, als sie meinte, dass sie damit nun nicht gerechnet hatte. In den folgenden zwei Stunden wollte sie alles wissen, ganz genau, selbst wenn ich ihr vieles nicht sagte. Zum Glück wurde sie mit jeder Minute lockerer und der Knoten um mein Herz löste sich, bis er sich wieder vollends zusammenzog, bei ihrer Frage, was ich mit unseren Eltern machen wollte. „Haben Sie eine Lösung gefunden?“ „Wie man es nimmt… Ich hatte einfach nicht den Mut, es ihnen persönlich zu sagen.“ „Also haben Sie war gemacht?“ „Sophie war es, die mir die Last zumindest zum Teil von den Schultern nahm.“ „Sie sagte es ihnen?“ „Ja…“ „Was kam dabei heraus?“ „Ich sträubte mich ein wenig dagegen, das zu erfahren… und da ich am entsprechenden Tag ohnehin nicht ns Telefon ging, erfuhr ich es auch erstmal nicht. Dafür malte ich mir die Reaktionen immer wieder aus…“ „Das waren sicher keine schönen Vorstellungen.“ „Ganz und gar nicht… Ich hatte sogar ziemliche Angst mit der bitteren Enttäuschung meiner Eltern konfrontiert zu werden.“ Zwei Tage nach Erscheinen des Artikels tauchte überraschend Sophie vor meiner Haustüre auf. Sie schloss mich zunächst einfach wortlos in die Arme, während ich nach einer Ausrede suchte, weshalb ich noch nicht wieder mit ihr gesprochen hatte. Doch sie wollte es gar nicht hören, immerhin wusste sie schon seit Kindertagen wie ich ticke. Unangenehmen Gesprächen ging ich schon immer gerne aus dem Weg und hier war es klar, dass es alles andere als schön werden würde. Mathew war an jenem Nachmittag nicht da, was Sophie als sehr schade empfand. Sie wollte ihn so gerne kennenlernen, auch wenn ich ihr sagte, dass ich mich noch nicht bereit dazu fühlte. Das verstand sie nicht und ich konnte es nur schwer erklären. Ja, er war ein Teil von mir und ich wünschte mir, dass er das für immer bleiben würde, doch nachdem ich so lange dieses versteckte Leben mit ihm gelebt hatte, war ich mir nicht sicher, wie gut uns das öffentliche tun würde. Ich wollte mich langsam mit ihm zusammen daran annähern und war mir gleichfalls bewusst, dass das vermutlich ein recht dämlicher Weg war. Doch es war meiner und das verstand auch Sophie, weshalb sie nicht weiter bohrte. Dann sprachen wir über unsere Eltern und bei Sophie zeichneten sich tiefe Falten in die Stirn. Es war, wie ich vermutet hatte. Mein Vater war ausgeflippt und die erste Reaktion war, dass er nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollte. Dies war der Punkt, an dem Sophie für mich in Tränen ausbrach. Sie war unendlich traurig über die Reaktion unseren Vaters und ich tat ihr leid, auf diese warme Weise, wie es nur einem Geschwisterteil möglich ist. Während ich ihre Tränen sah, fühlte ich mich für einen Moment lang kalt wie Stein. Irgendwo gingen mir ihre Worte nahe, doch andererseits hatten sie mich nicht im Geringsten überrascht. Ich kannte meinen Vater und wusste noch gut, wie er immer über Schwule geschimpft hatte. Ich kannte auch meine Mutter und ihre konservativen Ansichten zu diesem Thema. Ich hatte also mit keiner anderen Reaktion gerechnet. Sophie hingegen, die sich nie mit dem Thema auseinander gesetzt hatte, war tief enttäuscht. Ich war froh, dass es mir letztendlich weniger weh tat. Am Abend reiste Sophie wieder ab und ich überlegte kurz, auf ihre Bitte hin, mich bei meiner Mutter zu melden. Sehr schnell fiel die Entscheidung dagegen. Ich war ihr Sohn, ich hatte nun eine schwere Zeit vor mir, wenn ihnen etwas an mir lag, mussten sie sich bei mir melden – das sagte ich mir zumindest, doch eigentlich hatte ich bloß Angst vor einer direkten Auseinandersetzung. Ich wollte sie lieber aufschieben und so trug ich sie lange vor mir her. Es dauerte tatsächlich länger als eine Woche bis sich meine Mutter bei mir meldete. Mir sank das Herz in die Hose als ich ihre Nummer sah und eine Sekunde lang wollte ich nicht abnehmen. Als ich es schließlich doch tat, war meine Stimme zu belegt zum Sprechen. Zum Glück hielt das Schweigen nur wenige Sekunden an, dann sprang meine Mutter über ihren Schatten, wofür ich ihr noch heute sehr dankbar bin. Sie habe mich noch immer lieb, flüsterte sie, während ich am Boden zusammen sank. Mathew kam erschrocken zu mir, doch ich schüttelte den Kopf, während mir Tränen über die Wangen liefen. Er kauerte sich also einfach neben mich, ohne mich zu berühren, und gab mir mit dieser Nähe Kraft, während meine Mutter mir nochmals versicherte, dass ich noch immer ihr Sohn sei. Vater, allerdings, sei zutiefst enttäuscht von mir. In den kommenden Wochen und Monaten sprach ich nur selten mit meiner Mutter, mit meinem Vater wechselte ich hingegen kein einziges Wort. Er war nicht bereit dazu und ich war zunächst zu ängstlich, dann war ich trotzig und schließlich meinerseits enttäuscht. Ich war doch sein Sohn; es war seine Aufgabe, mich zu lieben, egal was, wie oder wer ich war. Wieso knüpfte er seine Vatergefühle an so ein winziges Wort wie Heterosexualität? Ich verstand es nicht und ich zwang mich, nicht zu oft darüber nachzudenken, denn je mehr ich das tat, desto mehr verbitterte es mich. Mittlerweile hatte ich Mathews Eltern kennengelernt und wusste, wie bedingungslose Liebe auszusehen hatte. Wieso konnte mein Vater nicht dergleichen empfinden? Und weshalb auch meine Mutter nicht? So oft sie es auch sagte, hatte ich jedes Mal wieder das Gefühl, dass sie mir nur sagte, dass sie mich immer noch lieb hatte, um sich selbst davon zu überzeugen. Sophie war es, die schließlich ein Machtwort sprach und entschied, dass es so nicht mehr weitergehen würde. Weihnachten stand bald schon wieder vor der Tür und sie wollte keine Familie haben, die zerstritten war. Auch mir schrieb sie einen schlechten Part in der Sache zu, immerhin war auch ich nie einen Schritt auf meinen Vater zugegangen. Es war ein Winterabend, an dem sie meine Eltern, Mathew und mich zu sich zum Essen einlud. Ich hatte überhaupt keine Lust darauf und mit Sicherheit konnte ich sagen, dass es auch meinem Vater so ging. Mittlerweile war mehr als ein halbes Jahr vergangen und jetzt sollte er zum ersten Mal ganz direkt mit der Homosexualität seines Sohnes konfrontiert werden. Ich bereitete Mathew darauf vor, dass es alles andere als einfach werden würde. Eigentlich konnte es nur schief gehen. Der Abend begann zunächst verkniffen und mit unnormaler Normalität. Sophie und ihr Freund versuchten, irgendwelche harmlosen Themen zu finden und auch Mathew beteiligte sich ungeschickt daran, während meine Mutter ängstlich zwischen meinem Vater und mir herum schielte. Sie wartete auf den Ausbruch, ebenso wie ich es tat. Wahrscheinlich warteten wir alle darauf, weshalb letztendlich niemand wirklich überrascht war, als es endlich soweit war. Die Fragen waren simple: Wieso tat ich ihnen das an? Schämte ich mich denn nicht, in der Wohnung meiner Schwester mit meinem Lover aufzutauchen wie ein Perverser? Hätte ich denn nicht einfach so weitermachen können wie zuvor? Miriam war doch eine tolle Frau; was bildete ich mir ein, mehr haben zu müssen? Sophie, ihr Freund und meine Mutter versuchten alles, um meinen Vater zu beruhigen. Mathew war derweil damit beschäftig, mich in Zaum zu halten, damit ich nicht vollends an die Decke ging. Ich hatte alle möglichen Sachen auf den Lippen, welche ich nicht einmal denken wollte. Es waren Vorwürfe und Flüche, ernste und irrsinnige Aussagen, und leider sehr viel Hass. Wir schrieen uns an, und das ganze hatte nur ein Ende, weil Mathew es irgendwie schaffte, mich aus der Wohnung zu treiben. Er brachte mich zum Wagen und verweilte hier einen Moment mit mir, bis ich zumindest etwas ruhiger war. Dann ging er noch einmal zurück, wie er sagte, um sich bei meiner Schwester zu entschuldigen. Auch wenn er anschließend nie mit mir darüber sprechen wollte, von meiner Mutter weiß ich, dass er mehr getan hat als das. Er hat sich mit meinem Vater angelegt und versucht, ihm klarzumachen, was wirklich all diese Jahre geschehen ist. Die Gesellschaft habe es mir nicht möglich gemacht, ich selbst zu sein, und er sei einer der Bestandteile, weshalb sich das vielleicht auch nie ändern wird. Wegen Menschen wie ihm können Menschen wie wir nicht frei sein. Und wünschte er sich denn nicht, dass sein Sohn glücklich wurde? „Hat es etwas gebracht?“ „Das hat es tatsächlich… Erst einmal hat meine Mutter am nächsten Tag angerufen, um sich zu entschuldigen, und zwei Wochen später hat mich mein Vater besucht, um mit mir zu sprechen.“ „Wie ist es gelaufen?“ „Überraschend gut, wenn auch ziemlich distanziert. Aber ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass es zwischen uns nicht mehr so werden wird wie zuvor. Wenigstens hat er mittlerweile verstanden, weshalb ich es verheimlicht habe…“ „Und hat er Sie akzeptiert?“ „Auf seine Weise ja. Doch ich glaube, irgendwie wird er immer von mir enttäuscht sein.“ „Das ist sehr schade.“ „Ja, aber nicht zu ändern…“ „Und wie sieht es mit Miriam aus? Sprechen Sie wieder miteinander?“ „Ja, und dafür bin ich sehr dankbar.“ „Sind aus Ihnen Freunde geworden?“ „Vielleicht zu einem Teil. Wir sehen uns nicht oft, aber wir telefonieren mindestens einmal in der Woche, worüber ich sehr froh bin.“ „Das klingt, als sei Sie ihnen noch immer sehr wichtig.“ „Natürlich… und das wird sie auch immer sein.“ Ich hatte nicht erwartet, dass ich Miriam so sehr vermissen würde wie ich es tat oder noch immer tue. Seit vielen Jahren war sie ein fester Bestandteil meines Lebens, doch irgendwie hatte ich gedacht, so hart es klingen mag, dass ich kein zu großes Problem damit haben würde, sie nicht mehr an meiner Seite zu haben. Das war ein Irrtum. Miriam war in den Jahren, die ich mit ihr verbrachte, der wichtigste Mensch in meinem Leben geworden. Sie war meine Vertraute und meine beste Freundin. Sie konnte meine Launen einschätzen und wusste, wie sie mich zum Lachen bringen konnte. Ich teilte wirklich alles mit ihr, solange es nichts mit Homosexualität zu tun hatte. Sie war mir unheimlich nah und unbeschreibbar wichtig. Irgendwo dazwischen habe ich Mathew kennengelernt. Ich verliebte mich in ihn und es brach mir das Herz, zunächst wieder getrennte Wege zu gehen. Man konnte damals meine Gefühle für ihn nicht mit denen für Miriam aufwiegen, doch sein Verlust hinterließ in mir eine so tiefe Lücke, dass ich sie zwei Jahre später, als er wieder vor mir stand, noch immer spüren konnte. Ab dem Zeitpunkt entstanden Gefühle, die ich nie gekannt hatte. Eine bedingungslose Zuneigung wuchs in mir, das Gefühl des puren Vertrauens und eine Leidenschaft, die ich niemals in Worte fassen könnte. Dieser Mann wurde mir wichtiger als alles und jeder andere, weshalb ich mich veränderte, ernsthafter über ein Outing nachdachte, über alle Folgen und Wege, die ich anschließend gehen würde. Natürlich dachte ich bei all dem auch an Miriam, doch darüber vergaß ich die Gefühle, welche ich für sie so lange empfunden hatte. Und so riss ihr Verlust eine Wunde auf, welche vielleicht nie ganz zu heilen sein wird. In unseren gemeinsamen Jahren machte Miriam so vieles mit mir mit, viele frohe und traurige Situationen durchlebte sie mit mir und sie führte ihr Leben verbunden mit dem meinem; da ist es nur normal, dass etwas fehlt, wenn dieser Teil weggeschnitten wird. Wie hatte ich das zuvor nur außer acht lassen können? Auch heute, ein Jahr später, fehlt mir dieser Teil noch immer. Dabei sind es nur ganz winzige Situationen, in denen ich noch heute wehmütig an sie denken muss. Es mag nur eine Kaugummipackung im Supermarktregal sein, die mich an sie erinnert, doch es kann traurig machen, wenn es mich an schöne Zeiten mit ihr zurück denken lässt. Ab und an streite ich mit Mathew darüber, was irrsinnig ist, da er genau weiß, dass er nicht eifersüchtig sein muss. Aber wenn er schlecht drauf ist, macht es ihn rasend, wenn ich liebevoll über die einzige Frau rede, die je diesen besonderen Platz in meinem Herzen einnehmen wird. Dann ist es schwer, ihm zu erklären, was wirklich in mir vorgeht. Er ist es, den ich an meiner Seite haben möchte wie niemanden sonst und ich würde ihn immer wieder über sie wählen, doch ebenso wenig möchte ich die Zeit, welche ich mit ihr verbracht habe, vergessen müssen. Sie ist mir wichtig und zu einem großen Teil hat auch sie mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Miriam ist natürlich nicht das einzige, was ich vermisse. Es gibt einige Dinge und Gefühle, die ich nie zurückbekommen werde. Ein ganz starkes dabei ist das, auf dem Platz zu stehen, vor tausenden Zuschauern. Es ist atemberaubend und beflügelnd wie nichts anderes. Und wenn man dann hinter dem kleinen Ball her rennen kann, den Jubel in den Ohren, dann kann man alles vergessen. Man hat einfach nur ein Ziel vor Augen und lebt einen Moment lang nur dafür. Das ist ein Gefühl, welches man nicht greifen kann, und ich vermisse es, diese besondere Art von Adrenalin. Es fällt mir unheimlich schwer, mir Fußballspiele der Nationalmannschaft im Fernsehen anzuschauen, denn ich weiß, dass ich dabei sein könnte. Nein, wenn ich ehrlich bin, ich wäre dabei. Ich würde mit auf dem Platz stehen und um den Sieg kämpfen. Vielleicht würde ich ein Tor schießen oder ein Foul kassieren. Das ist eigentlich ziemlich egal, ich wäre einfach dabei… Überhaupt habe ich, wenn ich ganz ehrlich sein soll, oft das Gefühl, mehr verloren zu haben als gewonnen. Ich weiß, dass das daran liegt, dass man negativen Dingen im Leben mehr Bedeutung zuteilt als Positiven. Positives wird schnell als selbstverständlich angesehen, egal wie sehr man sich vornimmt, sich über alles zu freuen. Stattdessen ärgert man sich mehr, wenn etwas schief geht, wenn man etwas verliert oder vermisst. Eigentlich ist das eine ziemlich undankbare Lebenseinstellung, doch so sehr ich es versuche, es gibt viele Tage, an denen ich sie nicht ändern kann. Dabei weiß ich, dass ich den Traum der Profikarriere in erster Linie nur leben konnte, weil ich etwas ganz Essentielles von mir aufgeben wollte. Ich habe den Teil weggeschlossen und stattdessen für den Fußball gelebt und alles getan, damit der Traum nicht kaputt geht. Ich habe ganz am Anfang stehend Karim verletzt und über Jahre hinweg Miriam belogen, für etwas, das mich zwar glücklich gemacht hat, mich aber nie vollends erfüllen konnte. Irgendwo fehlte mir immer etwas, was dann und wann zum Vorschein kam, wenn ich es am meisten verstecken wollte. Es war der negative Teil meines damaligen Lebens. Ihn habe ich überwunden. Um endlich wirklich ich zu sein, habe ich meine Karriere aufgegeben. Ich wollte endlich so leben, wie ich bin, so lieben, wie ich bin. Ich wollte Mathew bei mir haben und zeigen können, dass er zu mir gehört. Ich wollte in die Kamera lächeln können, stolz, um zu sagen, dass ich schwul bin und damit kein Problem habe. Das habe ich mir vorgestellt, doch auf gewisse Weise habe ich noch immer nicht das erreicht, was ich mir erhoffte. Ich stehe heute zwar dazu, was ich bin, doch ich bin nicht stolz darauf oder glücklich darüber. Zwar kann ich mir nichts mehr wünschen, als Mathew an meiner Seite, doch ich schaffe es nicht, dies auch in der Öffentlichkeit zu leben. Es fällt mir noch immer schwer, mit ihm offen umzugehen, wenn Augen auf uns gerichtet sind, egal wie oft er mir sagt, dass das nachgelassen hat. Er zeigt mir immer wieder, dass nicht jederzeit alle auf mich achten, doch völlig durchatmen kann ich dennoch nicht. Bereits vor meinem Outing hatte ich Angst, vor schiefen Blicken, hab mich immer und überall beobachtet gefühlt. Vielleicht ist es mein Los, dass ich dies Gefühl nie ganz verlieren werde. Dabei würde ich es so gerne, denn das schlimmste ist, wenn man sich in sich selbst eingeschlossen fühlt, wenn man nicht mehr frei atmen kann, weil man Angst hat, jemand könnte den Windhauch spüren. Dabei dreht sich die Welt auch ohne das zutun eines einzelnen Menschen. „Das heißt, Sie bereuen mittlerweile Ihre Entscheidung?“ „Nein. Dem ich definitiv nicht so, obwohl ich mir manchmal wünsche, die Zeit zurückdrehen zu können. Dann aber frage ich mich… zu welchem Moment? Zum Anfang? Wenn ich damals schon die Wahrheit gesagt hätte, wäre es mir dann nicht besser ergangen? Ich hätte Miriam nie weh getan und mich nie in diese aussichtslosen Lügen verstrickt…“ „Aber Sie hätten Mathew nie kennengelernt.“ „Genau. Und das ist es, was ich mir am wenigsten vorstellen kann. Ich will mir ein Leben ohne ihn nicht ausmalen. Es ist für mich unmöglich, mir vorstelle, er wäre nicht bei mir.“ „Also war es doch alles gut so?“ „Das denke ich in den Momenten auch. Vielleicht hatte doch alles einen Sinn, irgendwo, auch wenn ich ihn nicht ganz verstehen kann...“ „Es hat Sie zu dem gemacht, der Sie heute sind.“ „Das ist richtig. Die Wahrheit zu verstecken hat mich stark gemacht... aber, wissen Sie, mit der Wahrheit offen zu leben, das macht mich noch stärker. Das wichtigste dabei ist aber, die richtige Person an seiner Seite zu haben.“ „Und das haben Sie.“ „Ja. Auch wenn ich zugeben muss, dass es immer wieder Tage gibt, an denen ich das vergesse, es gibt nichts Wichtigeres als das Gefühl, ihn an meiner Seite zu haben.“ „Das hört sich schön an… und Sie lächeln wieder.“ „Ja.“ „Und abseits davon… was hat sich noch für sie verändert?“ „Naja, ich bekomme mittlerweile andere Fanpost. Am Anfang war sehr viel negative dabei, doch wenigstens sterben diese Stimmen schneller ab als die positiven. Auch jetzt noch bekomme ich Briefe, in denen Menschen mir schreiben, dass ich ihnen Mut gemacht habe…“ „Wie sieht es mit anderen Fußballspielern aus?“ „Das ist verschieden. Zwar ist die Rückmeldung hier nie offen negativ, doch man merkt es daran, wie sie mit einem umgehen… man sieht es in den Blicken.“ „Gibt es schwule Spieler, die das Gespräch mit Ihnen suchen?“ „Ja, aber sie sind alle von kleinen Vereinen. Ich habe gehofft, dass nach mir vielleicht noch der ein oder andere Profi den Schritt an die Öffentlichkeit wagen würde, doch bisher ist dies nicht geschehen…“ „Würde das etwas ändern?“ „Sehr viel, denke ich. Wenn die Menschen merken, dass Homosexualität auch im Fußball Gang und Gäbe ist, würden sie vielleicht irgendwann aufhören, das Thema zu tabuisieren. Dann würden sie vielleicht endlich darüber reden…“ „Es gibt schwule Vereine.“ „Das stimmt, aber die sind klein und leider sehr unbekannt. Und so, wie die Dinge stehen, hat keiner der Spieler die Chance, einmal einer der großen zu werden, egal wie gut er ist. Die Welt hat noch zu viel Angst davor, diesen Schritt zu gehen…“ „Vielleicht ändert sich das ja doch noch irgendwann.“ „Das hoffe ich wirklich.“ „Ich auch. Sagen Sie, wie geht es jetzt mit Ihnen weiter? Was machen Sie im Moment?“ „Im Moment denke ich darüber nach, studieren zu gehen. Am liebsten natürlich irgendwas mit Sport, aber vielleicht auch in Richtung Psychologie.“ „Damit Sie anderen schwulen Spielern helfen können?“ „Nicht nur ihnen. Es gibt noch andere Tabuthemen im Sport und viele Spieler, die nicht offen sein können, wie sie sind.“ „Fußballspielen wollen Sie aber nicht mehr?“ „Es geht dabei nicht darum, was ich will. In den großen Vereinen gibt es keinen Platz für einen geouteten Spieler… Im Moment laufen aber Gespräche, ob ich nicht eine Nachwuchsmannschaft trainieren könnte. Natürlich steht meine Homosexualität auch da ziemlich als Hindernis im Weg… aber vielleicht geschieht ja ein kleines Wunder. „Das hoffe ich sehr für Sie.“ „Vielen Dank.“ „Gerne.“ „Haben Sie sonst noch Fragen?“ „Sehr viele sogar, aber langsam sollten wir zum Ende kommen… Außerdem, ein paar Geheimnisse muss es ja immer noch geben…“ „Da haben Sie recht.“ „Vielen Dank für das Interview.“ „Ich danke ebenfalls.“ „Gerne. Ach, wissen Sie, eine Frage hätte ich doch noch…“ „Und die wäre?“ „Wir Reporter schreiben immer gerne ein Fazit am Ende. Daher… gibt es vielleicht noch eine abschließende Botschaft, die Sie unseren Lesern mit auf den Weg geben möchten? „Ja… eines habe ich in meinem Leben gelernt: Toleranz für das Leben anderer ist eines der größten Zeichen von Menschlichkeit.“ Ende ~ Verstecktes Leben im Abseits ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kapiteltitel: Hier haben wir den einzigen Kapiteltitel der Geschichte vorliegen, der gar nichts mit Fußball zu tun hat... aber irgendwie kam er mir in den Sinn, als ich dieses Kapitel geschrieben habe, und komischerweise mag ich ihn sehr gerne dafür. Ob er passt, weiß ich gerade gar nicht so recht, aber für mich gibt es gerade keinen besseren ;) Danke: Viiiielen Dank für die ganzen lieben Kommentare! Ich habe mich wirklich über jeden einzelnen gefreut, weshalb ich mich noch mal ganz herzlich bei euch bedanken will!! Eigentlich wollte ich dieses Kapitel auch als kleines Weihnachtsgeschenk bringen, aber in den letzten zwei Wochen hatte ich einfach keinen freien Tag oder auch nur Abend, an dem ich mich daran hätte setzen können... also kommt es jetzt für euch und ich hoffe, dass ihr das 29. Türchen gerne geöffnet habt ;) Jetzt zum Abschluss aber nochmals vielen Dank fürs Lesen!! ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)