Jo&max von abgemeldet ================================================================================ »kapitel 4. ----------- „Sag mal…“ Die Dunkelheit dämmerte meine Stimme geradezu automatisch. „Huh?“ Max löste den Blick vom Fernseher und sah mich fragend an. „Wohnt dein Vater eigentlich noch in dem Haus?“ „Nein. Er hat seit längerem eine Wohnung, aber genauso in der Nähe.“ „Wann fährst du morgen hin?“ Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder halb auf den Fernseher. Ein Grinsen zog sich auf sein Gesicht. Eine Stelle, über die er schon damals gelacht hatte. „Nach dem Frühstück, denk ich“, antwortete er dann. Damit endete das einzig ernste Gespräch an diesem Abend. Max war generell schon albern drauf und ich zog irgendwann mit, bis wir so viel Blödsinn redeten, als wären wir sturzbetrunken oder so. In den seltenen Momenten von geistiger Klarheit betete ich, dass niemand uns hörte. Als ich Max diese Bedenken mitteilte, fing er an mit teuflischen Verschwörungstheorien. Der Seniorenclub der anonymen Hochleistungsspanner spielte dabei genauso eine Rolle wie Barack Obama. Irgendwann blickte er selbst nicht mehr durch, glaube ich. Deswegen bezog er sich wieder auf den Film. Ein geschickt eingefädeltes Ablenkungsmanöver. Mit dem Finger deutete er auf Scrat, diese Mischung aus Ratte und Eichhörnchen aus Ice Age, den wir uns neben einigen anderen auch anschauten. „Und das war deine erste große Liebe.“ „Ganz bestimmt.“ „Du hast ihn ständig gemalt und alles. Und wolltest den als Haustier.“ „Ja, ich weiß. Das war auch ein ziemlich harter Schlag für mich, als er sich im dritten Teil plötzlich in dieses andere Vieh verknallt.“ Ich brachte Max zum Lachen. „Musstest bestimmt auch aus dem Kino raus während des Films.“ „Ja, ich konnt das nicht ertragen. Erst mal geheult wie sonst was.“ „Und dann alle Bilder zerrissen.“ „Und Briefe verbrannt.“ „Und dramatische Sms verschickt.“ „Und meinen Beziehungsstatus bei Facebook auf Single gestellt.“ Wir beendeten das Gespräch mit einem gemeinsamen Lachen und gingen nach einer kurzen Stille zum nächsten, genauso sinnvollen über. Es gab generell viel zu lachen an diesem Abend. Über jeden Scheiß. Wir erinnerten uns an unsere damaligen Helden. Konnten die Filme teilweise noch auswendig mitsprechen, weil wir sie so oft gesehen hatten – na ja, zumindest so lange, bis Max auf die Idee kam, die Sprache zu wechseln. Ich fand ja schon, dass deutsche Synchronstimmen in Kinderfilmen oft seltsam sind, aber die Türken sind da echt zum Schießen. Zumindest kann ich jetzt „Ich habe Angst“, „Ich liebe dich“ und „Ich bin ein Mammut“ auf Türkisch sagen. Also, falls die Untertitel immer gestimmt haben. „Das ist eigentlich alles, was man wissen muss, oder?“, überlegte Max. „Reicht vollkommen aus.“ „Und das nächste Mal, wenn solche Macker kommen und meine Mutter beleidigen, stell ich mich so voll cool vor die und sage: Ben bir mamutum!“ Bei der Vorstellung musste ich lachen. „Musst nur aufpassen, dass du nichts verwechselt. Liebes- oder Angstbekenntnisse kommen da nicht ganz so gut.“ „Andererseits könnten sie auch plötzlich unters Kinn greifen und ihre Masken abziehen und verrückte Professoren sein. Schwupps bin ich in deren Labor als Exemplar eines eigentlich ausgestorbenen Urzeittieres gefangen.“ „Weil verrückte Professoren sich grundsätzlich als Türken tarnen, ja?“ Er ignorierte meinen kritischen Blick und nickte heftig. „Diese Theorie verfolge ich schon lange.“ Wir griffen gleichzeitig mit den Händen in eine Süßigkeitentüte. Schnell zog ich die meine zurück. Er guckte mich an, ein schelmisches Grinsen auf den Lippen, und hob die Augenbrauen. „Bin ich etwa elektrisch? Oder vergiftet?“ Ich legte meine eine Hand über die andere, wie, um sie zu beschützen, und konnte seinem Blick nicht standhalten. „Nein, ich… Ich mag das nur nicht so.“ „Ah.“ Einen Augenblick lang schaute er mich noch an. Es war so schwer zu erkennen, was er dachte. Schließlich wendete er sich der Haribonascherei in seinem Griff zu und knabberte darauf rum. Der vierte Abspann flimmerte über den Fernseher, begleitet von lebendiger, fröhlicher Musik. Mittlerweile waren meine Lider ein wenig schwer geworden. Ich hatte mich tiefer ins Kissen sinken lassen, die Decke an mich gedrückt, und wir beide waren fast verstummt. Max zählte nicht mal mehr mit, wie oft sein Vorname im Nachspann vorkam. Müde betrachtete ich den Bildschirm und hing irgendwelchen Gedanken nach, bis es nichts mehr zum Hören und Sehen gab. Die Stille dauerte länger als sonst. Stirnrunzelnd beugte ich mich etwas vor, um zu schauen, ob Max schon schlief. „Bist du noch wach?“ „Nein.“ Er gähnte und streckte sich. „Ich schlafe tief und fest.“ Ein müdes Grinsen. „Sollen wir schlafen?“ „Ach was, die Nacht ist doch noch jung.“ Es war fast wie ein Blitz, der mich durchzuckte. Dauerte vielleicht fünf Sekunden und ließ mich trotzdem nahezu durchdrehen. Die Frage, die in mir aufgekommen war. Die erste Art, es zu verstehen. Meinte er etwa…? Bestimmt war es Übermüdung gewesen, grenzenlose Übermüdung und Verwirrung und manchmal wünschte ich, eine Frau zu sein, um einfach alles auf meine Regelblutungen schieben zu können. Vielleicht war es auch ein wenig die Art gewesen, wie er mich angeschaut hatte. Und wie er da gelegen hatte. Der Daumen an der Unterlippe. Die Haare zerstreut. Zum Glück fiel es nicht wirklich ins Gewicht, dass meine Antwort ausblieb. „Außerdem hast du noch gar nichts erzählt.“ Seufzend stand ich auf. Mit einem Mal war es so, als hätten sich meine Augen nie an die Dunkelheit gewöhnt gehabt. Schwankend tastete ich mich bis zum Lichtschalter. Max zog das Kissen über den Kopf und beschwerte sich. Dabei war es gar nicht so schlimm, man musste bloß ein paar Mal blinzeln. Ich machte Fernseher und DVD-Player aus. Seufzend drehte ich mich zu Max, der sich tapfer dagegen wehrte, Helligkeit in seine Augen zu bekommen. „Eine traditionelle Erzählrunde also, ja?“ „Ganz genau“, kam die Stimme aus dem Kissen. Das erinnerte mich an das Lied von Rammstein, was mir damals ein wenig Angst gemacht hatte, während Max eifrig versucht hatte, wie der Sänger mit tiefer, männlicher Stimme zu singen und bedrohlich das R zu rollen. „Also sollten wir die Matratze was näher an mein Bett schieben, ich will nicht so schreien.“ Max rührte sich nicht. Er ignorierte meinen Vorschlag einfach. Na schön. Ich versuchte, die Matratze mitsamt ihm zur Seite zu schieben, und beschwerte mich, dass er sich nicht so schwer machen sollte. Dafür zog er mir eins mit dem Kissen über den Kopf und nahm es blitzschnell zurück, wo es doch sein Schutzschild gegen das böse Licht war. Unvorbereitet verlor ich das Gleichgewicht, meine Arme knickten ein und ich landete auf seinem Rücken. Er keuchte auf. „Urghs! Du solltest dich mal nicht so schwer machen.“ Das Ganze war mir äußerst unangenehm. So schnell wie möglich versuchte ich, zurück auf die Beine zu kommen. „Ich geh jetzt ins Bad“, verkündete ich daraufhin. „Und wenn ich zurückkomme, liegt die verdammte Matratze neben meinem Bett oder ich erzähle gar nichts.“ „Mach das Licht aus“, murrte Max. Ich verdrehte die Augen und gehorchte. Im Bad betrachtete ich mich im Spiegel. Das weiße Röhrenlicht ließ mich blass und müde aussehen. Von vollkommener Stille umgeben spürte ich, wie mein Herz raste, wie meine Fingerspitzen kribbelten, wie mein Kopf glühte. Verfluchte Scheiße. Wie in den Filmen spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, was mich zumindest ein wenig wacher machte. Unangenehm war es trotzdem und so gar nicht beruhigend. Ich beeilte mich mit dem Zähneputzen, wollte ihn nicht so lange warten lassen. Früher waren wir nie ins Bett gegangen, ohne vorher noch mindestens eine halbe Stunde lang zu quatschen. Manchmal hatten wir bloß gemeinsam eine Geschichte erzählt oder über irgendeine Serie geredet. An anderen Abenden führten wir supergeheime Gespräche und schworen uns danach mit ernsten Gesichtsausdrücken und erhabenen Stimmen, dass nichts davon das Zimmer je verlassen dürfte. Ich fragte mich, wie es diesen Abend laufen würde. Das Problem war, dass Max die Matratze tatsächlich brav verschoben hatte und das Kissen sogar zivilisiert unter und nicht über seinem Kopf lag, also musste ich etwas erzählen. Ich wusste nur bei bestem nicht, was. „Gut, dann stelle ich Fragen und du beantwortest sie. Wie bei der Polizei. Und wenn du lügst, darf ich dich anzeigen.“ Ich krabbelte auf mein Bett und hüllte mich in die Decke ein. „Alles klar, Kommissar.“ „Also gut, wo waren Sie am Freitag um 17 Uhr 30, Mister Anderson?“ Mit veränderter Agentenstimme fuhr er fort: „Mr. Anderson. Willkommen zurück. Wir haben sie vermisst.“ Ich lachte leise. „Nein, okay“, sagte er mit normaler Stimme. „Wie läuft es bei dir in der Schule?“ „Ganz gut“, antwortete ich. „Also, durchschnittlich. Nirgends herausragend, nirgends wirklich schlecht.“ „Mhm… Und Freunde?“ Ich überlegte kurz. „Ich hab da schon einige Leute, die ich mag. Und mit denen ich was mache. Aber halt mehr so gemeinsam zocken oder grillen gehen.“ „Ja“, sagte er und nickte bedächtig, als hätte ich etwas unheimlich Tiefgründiges, Schlaues gesagt. „Und… Was macht die Liebe?“ Au weia, da hatte er ja ein ganz tolles Thema erwischt. „Reicht es, wenn ich sage, dass ich nicht so der Frauenheld bin?“, brummte ich. Er kicherte. „Klar, ist gebongt.“ Für einen Moment hörte ich ihn nur leise atmen. Dann legte er sich auf den Rücken, die Arme hinter den Kopf, und schaute gen Decke. „Soll ich dir verraten, wie ich dich mir vorgestellt hatte?“ „Okay“, willigte ich ein. „Gymnasiast. Vorbildlicher Schüler, gute Noten. Nicht so der Typ, der im Mittelpunkt steht und von allen angeschwärmt wird, aber schon beliebt und freundlich und hilfsbereit. Schweigsam.“ Er lachte kurz auf. „Eher so der Naturwissenschaftler und vielleicht noch so was wie Erdkunde und Politik. Außerdem hab ich erwartet, dass du ein Instrument spielst, aber nicht Gitarre, mehr so Klavier oder Geige. Eine hübsches Mädchen hast du an deiner Seite, intelligent und intellektuell. Nicht so die heiße Blondine, aber unheimlich lieb… Die Zukunft steht dir offen. Du bist bereit, Karriere zu machen und deine Mutter ist wahnsinnig stolz auf dich. Alles in allem ein perfektes Leben.“ Da verstummte er. Ich stockte. Meinte er das… ernst? „Das war eine Beschreibung für einen dreißigjährigen Spießer“, sagte ich monoton. „Ich weiß“, war die Antwort. „Und scheiße Mann, da hatte ich wahnsinnig Angst vor. Dass du erwachsen geworden bist und dein Leben sich so verfestigt hat, dass ich… Also… Dass es da keinen Platz mehr für irgendeinen Idioten aus der Vergangenheit gibt.“ Seine Stimme war stetig leiser geworden. Die Worte blieben eine Zeit lang in der Luft hängen. Sanft und ehrlich. „So ein Blödsinn“, murmelte ich. Sein Lachen klang erleichtert. „Ja, Mann. Aber ich wette, du hast dir mindestens genau so großen Blödsinn ausgedacht. Stimmt’s?“ Ich fühlte mich ertappt. „Ja, schon…“, gab ich zu. „Na also.“ Seltsamerweise fragte er nicht weiter danach. Nach und nach füllte sich der Raum mit Ruhe. Irgendwann drehte Max sich auf die Seite, kehrte mir den Rücken zu. Sein Atem wurde flach und regelmäßig. Ich lauschte dem noch lange, bis ich endlich in einen traumlosen Schlaf fiel. Max respektierte mein Morgenmuffeldasein, was ich ihm hoch anrechnete. Meine Mutter, gebürtige Frühaufsteherin, hatte schon längst gegessen und vermutlich auch schon das ganze Haus gefegt, geputzt und poliert, als wir gegen 12 Uhr die Treppe runtergeschlurft kamen. Mühsam redete ich ihr aus, den Tisch für uns zu decken, weshalb sie sich ein wenig beleidigt ins Wohnzimmer verzog und ein Buch las. Obwohl Max frisch und fröhlich wie immer aussah, hatte ich das Gefühl, dass ihm mulmig zumute war wegen seinem anstehenden Besuch. Denn wenn er mich ansah, grinste er zwar typisch, aber sobald er sich unbeobachtet fühlte, schweifte sein Blick nachdenklich durch die Gegend. Doch er zögerte es nicht mal hinaus. Schneller als erwartet stand er vor der Haustür. „Und du weißt, wo du hin musst?“, fragte meine Mutter besorgt. „Klar“, lächelte er. „Ich kann dich auch fahren, wenn du willst.“ „Nein, nein, das ist schon okay so“, winkte er ab. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Viel Glück? Gutes Gelingen? Viel Spaß? Das klang alles nicht wirklich richtig, also verabschiedete ich ihn mit „Bis dann.“ Er nickte. Ein letztes Peace-Zeichen, dann machte er sich festen, sicheren Schrittes auf den Weg. Wenn meine Mutter nicht neben mir gestanden hätte, wäre ich stehen geblieben und hätte ihm nachgesehen, bis er weg gewesen wäre. Aber so ging ich seufzend rein und machte die Tür hinter mir zu. Sofort öffnete meine Mutter ihren Mund. „Besser hätte es nicht laufen können, wie?“, lächelte sie. „Ihr beide seid jetzt schon wieder Feuer und Flamme. Vielleicht kann ich euch ja bald wieder mit Jomax rufen.“ „Jomax“, wiederholte ich. Es klang so fremd und vergessen, wie verstaubt. „Es ist beinahe wie… Als wäre ein verloren geglaubter Sohn zurückgekehrt.“ Sie verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Wand. Ihre Augen blickten ins Nichts. „Ja“, nickte ich. Ich glaube, in dem Moment dachten wir beide dasselbe. Genauso entschieden wir, jeder für sich, es nicht auszusprechen, um die Stimmung nicht zu zerstören. Wir dachten an Sonntag, und selbstverständlich dachten wir an all die Kilometer. Diese riesige Entfernung. Mein Zimmer sah zum ersten Mal wieder etwas lebendiger aus. Süßigkeiten lagen überall verstreut, die Bettwäsche auf der Matratze war zerknüllt. Als ich sie aufhob, um sie zu richten, umgab mich Max’ Geruch. Am liebsten wäre ich losgerannt und hätte ihn zurückgeholt, so sehr wollte ich ihn in dem Moment um mich haben. Mit einem Ruck riss ich mich zusammen, machte das provisorische Bett ordentlich und hob den ganzen Müll vom Boden auf. Dann setzte ich mich auf die Couch und sah ein wenig fern, zappte durch die Programme, und langweilte mich. Bis ich schließlich eine Idee bekam. Aufgeregt sprang ich vom Sofa und rannte Richtung Keller. Meine Mutter würde sich schrecklich aufregen, wenn ich mich durch alte Kisten wühlte, aber ich musste die Sachen von früher wiederfinden! Die ganzen Ordner voll von bekritzelten Blättern mussten hier irgendwo sein. Ich suchte und suchte, schob und trug Kisten umher, bis ich irgendwann einen Karton mit der Aufschrift JONAS KINDERSACHEN fand. Und fünf weitere direkt daneben, auf denen überall JONAS SPIELSACHEN stand. Ich öffnete die Kiste, die Kindersachen versprach, mit zitternden Händen und – tatsächlich, ich war fündig geworden. Aufgeregt schleppte ich sie nach oben. Nervigerweise erwischte meine Mutter mich auf halbem Wege. „Jonas, was tust du da?“ „Ähm… Ich…“ Ehe ich irgendwas machen konnte, stand sie vor mir und las die Beschriftung. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Mit einem Wink verscheuchte sie mich damit auf mein Zimmer. Ich bekam also ihr vollstes Einverständnis, schön. Im Zimmer angekommen merkte ich schnell, dass ich das nicht alleine angucken konnte. Schon nach dem ersten Blatt Papier war mein Mitteilungsbedürfnis unerträglich. Ich freute mich so sehr darauf, alles mit Max durchzuschauen, dass mich die Angst beschlich, noch die Wände hochzugehen, bis er endlich zurück war. Also setzte ich mich, wie so oft, wenn ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, an den PC. Ein wunderbarer Ort, um Zeit zu verschwenden. Manchmal erschreckte es mich fast, wenn die Uhr nach einem gefühlten Augenzwinkern schon zwei Stunden weiter gelaufen war. Eine Zeit gefüllt mit Klicks und einer ziemlichen Leere, und so fühlte es sich auch an, wenn ich mich dann abends ins Bett fallen ließ. Als ob ich nichts gemacht hätte. Ich machte Musik an, schrieb mit ein paar Leuten, checkte Facebook und SchülerVZ, guckte mir ein paar Videos bei YouTube an. Nicht viel später schaute ich auch bei Frankys Blog vorbei. Mit einem neuen Eintrag! Das große Bild eines endsüßen, weißbraunschwarzen Jack Russel Terriers sprang mir ins Auge. Aufgeregt und besorgt schrieb Franky, dass sein Hund Dice entlaufen war. Seit gestern würden sie ihn verzweifelt suchen. Frankys Bruder habe ihn beim Spaziergang frei rumlaufen lassen und plötzlich sei er wegen irgendwas aufgeschrocken und weggesaust. Irgendwo in der Umgebung musste er also sein. Mitleid ergriff mich. Ich hatte nie ein Haustier besessen, weil meine Mutter eine Tierhaarallergie hat, mir aber immer eines gewünscht. Den Hund von dem alten Harald zum Beispiel hatten Max und ich geliebt. Wir hatten Stunden damit verbringen können, ihn zu kraulen oder mit ihm zu spielen. Ich fragte mich, wo er wohl geblieben war nach dem Tod seines Herrchens. Ob er den überhaupt vermisste. Oder ob er sich gewundert hatte, warum wir irgendwann nicht mehr gekommen waren, um uns mit ihm die Zeit zu vertreiben. Seufzend scrollte ich bei dem Blog wieder etwas runter, und sofort hatte ich mich festgelesen. Franky hatte eine Art zu schreiben, die mich faszinierte. In seinen Zeilen fühlte ich mich oft verstanden, so als ob er das ausdrücken könnte, was ich fühlte. In letzter Zeit deutete er öfter an, dass es ihm nicht gut ging. Dass er mit seiner Familie und der Schule etwas Stress hatte. Ich wär so gern zu ihm gegangen, hätte einfach mit ihm geredet, ihm ein wenig Mut gemacht oder so… Aber er war ja immer umringt von all den Leuten, die ich nicht wirklich kannte, mit denen ich nichts zu tun hatte. Ich redete mir ein, dass sie in einer anderen Liga spielten, doch mittlerweile weiß ich, dass es meine übertriebene Zurückhaltung, ja schon fast Verschanzung war, die sie davon abhielt, mit mir zu reden. Das ist ja der ganze Teufelskreis. Du willst gemocht werden, aber du weißt nicht, wie du das anstellen sollst, bist da eventuell sogar schon mal auf die Schnauze gefallen mit, also ziehst du dich lieber in dein schützendes Schneckenhaus zurück. Nach außen hin wirkt es nun so, als würdest du gar nichts mit denen zu tun haben wollen, ja, plötzlich bist du sogar der Arrogante, der sich zu schade für die anderen ist. Der eiserne Einzelgänger. Und die Leute nehmen immer mehr Abstand, wodurch du stärker und stärker frustrierst. Ich meine, ich war ja nie komplett allein, fühlte mich auch nicht so. Doch etwas fehlte. Diese Vertrautheit. Dieses Gefühl, einen Menschen wirklich ins Herz geschlossen zu haben, nicht nur in die Arme. Max war jemand, der mir das geben könnte, doch meine Gefühle waren auf dem besten Wege, alles kaputt zu machen, auch wenn ich mir das nicht eingestehen wollte, es möglicherweise nicht mal kapierte. Du brauchst dringend eine Freundin, schoss es mir durch den Kopf. Ein Satz, den ich schon oft gehört hatte. In meinem Freundeskreis galt eine Freundin sozusagen als Lösung aller Probleme. Sobald ich irgendwie anfing, herumzujammern, bekam ich es an den Kopf geworfen. Eine schlechte Note in Mathe - Mann, Jonas, du brauchst dringend ’ne Freundin. Eine Nacht schlecht geschlafen – Ich glaube, du brauchst mal eine Freundin. Stress mit meiner Mutter – Weißt du, Jonas, du brauchst echt eine Freundin. Der einzige, der diesen Satz genauso oft zu hören bekam wie ich – und dabei waren wir beide nicht die einzigen Singles in der Clique – war Alex, aber der war ja auch dauergeil und sprach praktisch nur von Sex. Während ich so gut wie kein Wort darüber verlor. Wir bildeten sozusagen einen starken Kontrast und brauchten doch dasselbe Wunder: Eine Freundin. Ich wusste nicht, wie das sein mochte, eine zu haben. Hatte ich noch nie, und hatte ich mir auch nie wirklich gewünscht. Es war ja nicht so, dass ich Mädchen komplett uninteressant fand. Es fehlte nur irgendwie der Reiz. Mit der Begeisterung ging es bis zu einer Stelle und nicht weiter. Wahrscheinlich, weil die Richtige lediglich noch nicht bei mir vorbeigeschaut hatte, redete ich mir ein. Sie saß irgendwo da draußen und sehnte sich genauso nach der großen Liebe, jawohl. Und falls sie in der Türkei saß, war das gar nicht so schlimm, denn jetzt konnte ich ihr meine Liebe ja auch auf Türkisch gestehen. Super. Ich legte den Kopf mit einem dumpfen Knall auf den Schreibtisch und seufzte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)