Perlmutt von Hepho ================================================================================ SILVESTER (III): »Beide Hände noch dran, wie ich sehe.« ------------------------------------------------------- In unserer Straße kam ich zum Stehen, keuchend und zitternd. In den Oberschenkeln spürte ich das Blut rauschen, der Schweiß lief mir an den Schläfen herab. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre im Schnee in die Knie gegangen. Als ich den Kopf hob, schaute ich geradewegs auf die blank verputzte Fassade unseres Hauses. Mich trennten vielleicht hundert Meter von ihr. Der Schnee war hier fast unberührt und ich stapfte zielstrebig hindurch auf die Haustür zu. Der Türklopfer, der nur noch zur Zierde auf dem dunkel lasierten Holzes prangte, hatte die Form eines Elefantenkopfes, aber Eiskristalle hatten ihn überzogen und die Konturen verwischen lassen. Ich strich mit einer Hand darüber wie über einen Talisman, während ich mit der anderen in meiner Jackentasche nach dem Flugblatt tastete. Ein wilder Magier in meinem Alter war nichts Besonderes. In dieser bestimmten Situation zwar recht delikat, aber nichts Besonderes. Die meisten wurden während ihrer Pubertät »gefunden«, wie man es bezeichnete, und von der Congregatio registriert. Wenn man die Berichte in den Nachrichten hörte, erreichte der Begriff »gefunden« eine Bandbreite von »freiwillig angemeldet« über »zufällig entdeckt« bis hin zu »gewaltsam festgenommen«. Um ehrlich zu sein, hatte ich noch nie jemanden Magie wirken sehen. Aber zum ersten Mal machte ich mir überhaupt schwindlige Gedanken darum – es musste nicht sein, dass ich tatsächlich Magier war. Vielleicht hatte ich wirklich einfach nur Kreislaufprobleme. Zumindest schaffte ich es für den Moment, mir das einzureden. Jetzt war ich mir immerhin darüber klar geworden, dass ich Mum so schnell wie möglich von dem Leuchten erzählen musste. Ich wühlte weiter in meinen Taschen, doch statt des Flugblattes streiften meine Finger den fest verklebten Brief des Ophthalmologen. Ich hielt im Wühlen inne. Graham hatte es gewusst. Zumindest geahnt. Ich lehnte die Stirn gegen die vereiste Haustür. Die Kälte kribbelte mir auf der Haut und klärte meinen Kopf. Jeod Faraday also. Faraday wusste, wie mir zu helfen war. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, Mum vorerst unbehelligt zu lassen. Sie hatte genug Sorgen, und ich bezweifelte, dass ihr ein wilder Magier als Sohn momentan eine große Hilfe wäre. Vor Aufregung vergaß ich fast, meine Schuhe auf dem extra dafür drapierten Läufer abzuklopfen. Hätte unser Nachbar später meine nassen Schuhabdrücke entdeckt, die sich über den altehrwürdigen Dielenboden ausgerechnet bis zu unserer Wohnung erstreckten, hätte es ein Donnerwetter gegeben. Nach eigener Behauptung musste er sie mit schöner Regelmäßigkeit fast jede Woche vom empfindlichen Holz entfernen lassen. Richtig – lassen. Vor unserer Wohnungstür strauchelte meine Entschlossenheit. Ich brauchte drei Anläufe, ehe es mir gelang, den Schlüssel ins Türschloss zu rammen. » ...regatio ist auf dem Weg hierher, und dir fällt nichts Besseres ein, als mich herzuzitieren!?« Ich stutzte. Die Stimme kannte ich. Ich erinnerte mich bloß nicht, wo ich sie schon einmal gehört hatte. Lautlos trat ich über die Schwelle. »Wir sitzen alle im selben Boot, ob es Ihnen passt oder nicht«, sagte Breca. Sie waren in der Küche. Einen Moment herrschte Schweigen. »Sie wären sowieso zu dir gekommen«, setzte Mum schlaff nach. »Als Allianz stehen wir aber um Längen schlechter da!« Die Männerstimme seufzte. »Die tauchen hier auf, sehen mich in eurer Gesellschaft und zerreißen uns in der Luft, alle drei.« Mein Herz schlug, als wollte es mir in die Mundhöhle hüpfen. Während ich lauschte, schob ich tastend hinter mir die Tür zu. Das dumpfe Poltern, mit dem sie ins Schloss schnappte, hatte nicht zu meinem Plan gehört. Die Stimmen verstummten. Jetzt musste ich mir keine Mühe mehr geben. Kurz überlegte ich, so zu tun, als hätte ich nichts mitbekommen, verwarf den Gedanken dann aber. Verlegen betrat ich die Küche. Mums Anblick ließ mich innehalten. Sie saß am Esstisch, hatte den Kopf auf die Hände gestützt und trug noch ihre Kleidung vom Vortag. Ihr ausgefranster Blick lugte hinter ihrer Armbeuge hervor. Sie hatte keine Minute geschlafen. Breca stand hinter ihr, die Hände um ihre Schultern geschlungen, genau wie letzte Nacht. Der Mann, dessen Stimme mir so vertraut vorgekommen war, hatte sich mit verschränkten Armen gegen die Küchenzeile gelehnt und musterte mich über seine Augenringe hinweg. Die altmodische Frackjacke stand offen und gab den Blick auf ein zerknittertes Hemd frei. Das Haarband hielt nur einen Teil seiner langen dunklen Haare zusammen, der Rest hing ihm in Strähnen am Gesicht herab, als wäre er überstürzt aufgebrochen. Er lupfte eine Augenbraue, als er mich erkannte. »Sie!«, stieß ich hervor, was zu meinem Ärger eher nach Schluckauf klang als nach einem Wort. »Ich berichtige: alle vier«, sagte der Mann ungerührt. Mit einem Kopfschütteln ließ er die Arme sinken und hakte die Daumen in seinen Gürtel. »Guten Morgen, Yuriy. Beide Hände noch dran, wie ich sehe.« »Sie … Urian.«, stammelte ich und rieb mir mit dem Jackenärmel über die Wange. Was suchte der denn hier? Was ging es ihn an, wie ich herumlief? Breca runzelte die Stirn und wechselte einen Blick mit Mum. »Woher kennt ihr euch?«, fragte sie und setzte sich auf. »Wir kennen uns nicht«, erklärte ich. »Nicht wirklich.« Der Mann stieß sich von der Arbeitsplatte ab. »Wir sind uns einmal auf der Straße begegnet, ohne zu wissen, wer der Andere war«, sprang er für mich in die Bresche. »Gestern«, fügte ich trotzig hinzu und erschrak darüber, wie wenig Zeit seitdem vergangen war. Der Mann warf mir einen überraschten Blick zu, dann zuckte er die Achseln. Der sollte bloß nicht glauben, ich sei hilflos! »Da hast du deine Mittäterschaft«, sagte Mum düster. »Du könntest uns auch ausspioniert haben.« »Und dann den Kardinalfehler begehen, mit meinem Ziel zusammenzustoßen?« Sein Mundwinkel zuckte. »Dann doch lieber andersherum und stets zu Diensten.« Mum bedachte ihn mit einem harten Blick. »Wenn du vorhast, irgendwelche Halbwahrheiten zu erfinden, dreh ich dir deinen Strick höchstpersönlich.« Der Mann setzte zu einer Antwort an, entschied dann aber, dass Schweigen wohl die bessere Alternative wäre. »So so, zusammengestoßen seid ihr.« Breca streckte sich mit einem Augenzwinkern. »Da löst sich das Rätsel um das besagte kaputte Handy, was? Deshalb ist der umtriebige Herr gestern Abend nicht ans Telefon gegangen.« Das Handy! Plötzlich erinnerte ich mich daran, wie verdrießlich der Mann nach unserem Zusammenstoß auf sein altes Mobiltelefon gestarrt hatte. Also war er es gewesen, den Mum letzte Nacht so verzweifelt zu erreichen versucht hatte. Ich bemerkte erst, dass ich ihn mit offenem Mund anstarrte, als er meinen Blick erneut auffing. Mum winkte mich zu sich heran und hielt mich am Arm fest. »Urian Adlard«, sagte sie, »ist ein guter Freund von mir.« Ein misstrauischer Blick war alles, was ich ihm zur Begrüßung zuteilwerden ließ, also verzichtete er umsichtiger weise auf einen Handschlag. »Arbeiten Sie auch für die Congregatio?«, fragte ich ihn. Mum riss die Augen auf. Breca streichelte schmunzelnd ihre Schulter. Urian Adlard lehnte sich wieder gegen die Küchenzeile. Gut, dass es nicht die weiße Wand war. Ich fragte mich, ob Mum ihn dann genauso brüsk angefahren hätte, wie sie es bei mir zu tun pflegte. Das hätte ich gerne gesehen. »Schuldig«, antwortete er, unbemüht, seine Neugier zu verbergen. »Deshalb habe ich nie von Ihnen gehört«, sagte ich schroff. Breca drückte Mums Schulter und ließ mich machen. Solange ich das Wohlwollen meines Großvaters genoss, würde ich mich bestimmt nicht zurückhalten. Urian Adlard lachte, wofür ich ihm einen vernichtenden Blick zuteilwerden ließ. Mir war nicht im Geringsten nach Lachen zumute. Er meinte es ehrlich, und das verwirrte mich. »Im Übrigen hätte das auch so bleiben sollen«, ging Adlard auf mich ein. »Dann verschwinden Sie«, erwiderte ich und spürte Mums warnenden Blick im Nacken. Hätte Breca sie nicht in Schach gehalten, hätte sie mich spätestens jetzt zum Schweigen gebracht. Adlard legte den Kopf schief und musterte mich. »Und das war noch recht freundlich, was?« Ich beschloss, härtere Geschütze aufzufahren. Nicht, dass dieser Kerl an meiner Aufmüpfigkeit noch seinen Spaß fand! »Sie scheinen ja hier den Durchblick zu haben. Sind Sie zufällig auch der Kerl, von dem wir die Alarmanlage bekommen haben?« »Der Kerl bin ich.« »Sie ist Bockmist.« Adlard beobachtete mich mit unverhohlenem Interesse. »Wie viel weißt du über die Dinge, die gestern Abend besprochen worden sind?« Ich zuckte die Achseln. Vorsichtshalber. Er schaute geschlagen zu Boden, dann wieder zu mir. »Schlechte Antwort«, sagte er. »Er weiß gar nichts!«, ging Mum dazwischen, bevor ich einen Kommentar abgeben konnte. Ich starrte sie an. »Ich weiß, dass ihr irgendeine Verbindung zu Atlantis habt!« Mums strenger Blick hieß mich Schweigen, aber ich dachte gar nicht daran. Adlard zuckte die Achseln und schob die Hände in die Jackentaschen. Seine Schuhspitze bohrte sich in den Boden. »Charlotte, ich glaube, du kannst beruhigt sein.« »Urian!« Mum fuhr in die Höhe. »Er hat nicht für ein Staubkorn Ahnung! Die Congregatio wird sich nicht damit aufhalten«, entgegnete Adlard, und seine eine Hand kam für eine ausholende Geste wieder zum Vorschein. Es war ein faszinierendes Schauspiel, wie er sich in seine Argumentation hineinsteigerte. »Er weiß Nichts, also bleibt er außen vor. Was willst du mehr?« »›Er‹ verlangt Antworten«, knurrte ich. Brecas Blick ließ mich verstummen. Es behagte mir gar nicht, wie bevormundend sie über mich sprachen. Ich rieb mir die Wange unter dem blauen Auge und entschied, dass es klüger war, dieses Mal auf ihn zu hören. Vorige Nacht wäre ich so vielleicht auch besser gefahren. »Mr Adlard hat Recht, Charlotte«, sagte mein Großvater langsam. »Was Yuriy weiß, ist nicht von Belang. Sie werden ihn nicht anrühren.« Er stockte. Sein Blick suchte den von Adlard. »Wie Lestard sagte.« Für einen Moment verlor Adlards Gesicht jeden Biss. Mum fasste nach meiner Hand. »Aber Lestard ...«, setzte sie an. Adlard schüttelte energisch den Kopf und Mum brach ab. Ich hatte das Gefühl, sie ließe sich dankbar abwürgen. »Lestard will den Schlüssel – wohin auch immer der ihn bringen soll«, sagte Adlard. »Er hat kein Interesse an emotionalen Ränkespielchen. Schon gar nicht an dem Jungen.« Er hob entschuldigend die Hand in meine Richtung. Mums Hand umschloss meine so fest, dass es wehtat. Ich drückte zurück, weil ich nicht wusste, wie ich ihr sonst helfen konnte, und erst da bemerkte sie, wie verkrampft sie sich an mich klammerte. Beinahe verlegen lockerte sie ihren Griff. »Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte sie Adlard. Der musterte die grauen Quarzfäden, die sich zu seinen Füßen durch den Marmor zogen. »Ist eine Weile her.« »Urian.« In Mums Stimme schwang ein drohender Unterton. »Zwei bis drei Monate«, räumte er ein. »Die Begegnung hat zufällig stattgefunden. Willst du es auf den Tag genau?« »Zwei bis drei Monate?«, echote ich. »Gehen Sie mit dem Kerl regelmäßig einen heben, oder was?« Adlards Blick heftete sich auf mich. Etwas wie Fassungslosigkeit lag darin, das mir unangenehm war. »Yuriy, bitte.« Mums freie Hand schloss sich wie ein Schraubstock um meinen Arm. Brecas Fingerspitze strich über eine von Mums Haarsträhnen. »Jedenfalls braucht er uns als Lockvogel, so wie er es formuliert hat.« Da gewann Adlard einen Teil seiner Haltung zurück. »Und Jean war bei ihm, sagen Sie?« Breca nickte. Zwischen Adlards Augenbrauen bildete sich eine steile Konzentrationsfalte. Ohne dass er es bemerkte, fegte seine Hand durch sein Haar und zerrte eine weitere Strähne aus dem Zopf. »Jean folgt Lestard wie ein Welpe«, murmelte er schließlich. »Mich würde interessieren, was Phinæus dazu zu sagen hat.« Das schien er eher an sich selbst zu richten als an uns. Phinæus. Der Name sagte mir etwas. In meiner Erinnerung kramte ich nach dem Wissen, das ich von dem knappen Referat meines Mitschülers behalten hatte, und wurde fündig. Vor meinem geistigen Auge blitzte die frei in den Raum projizierte Portraitfotografie eines Mannes um die Sechzig auf, mit kurzem schlohweißem Haar und strengen Gesichtszügen. Lord Phinæus Sheldon, förderte meine Erinnerung zutage. Spross einer altenglischen Landadelsfamilie, die über die Generationen ein anständiges Vermögen herangewirtschaftet hatte. Er war der Gründer von Atlantis. Damals war es eine rein caritative Organisation gewesen. Die politische Einmischung hatte erst viel später angefangen. »Kennen Sie ihn gut, Mr Adlard?«, fragte Breca. »Lord Sheldon meine ich.« Adlard schenkte ihm ein wölfisches Grinsen. »Wir haben das eine oder andere intensive Gespräch miteinander geführt.« »Kannst du das nicht herausfinden?«, schaltete Mum sich ein, als ich gerade einen bissigen Kommentar einwerfen wollte. Ich schluckte die Bemerkung herunter und spitzte die Ohren. »Phinæus ist in London ungefähr so leicht zu finden wie ein verlorener Penny«, erklärte Adlard. »Was sagtest du, wie viel Zeit Lestard euch eingeräumt hat?« »Dann versuch es wenigstens«, sagte Mum unbeirrt. Adlards Blick bohrte sich in ihren. Sie setzte sich kerzengerade auf. »Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen.« »Ich glaube es bald«, grollte Adlard. Mum blieb stur. »Bitte, Urian.« Eine Weile hielt Adlard ihr stand, dann zwang ihn die geballte Macht unserer Blicke in die Knie. Mit einem geschlagenen Seufzer sank er in sich zusammen. »Wenn die Congregatio mich lässt, kann ich ihn suchen gehen. Wir werden sehen, was sich ergibt«, sagte er mit belegter Stimme. Ich schnaubte und musterte ihn, während ich insgeheim Zwischenbilanz zog. Adlard arbeitete für die Congregatio. Allerdings war er nicht erpicht darauf, ihren Funktionären unter die Augen zu treten. Er kannte Phinæus Sheldon und Lestard persönlich. Und er wusste Einiges über Atlantis. Also horchte man wohl – um es mit Lestards Worten auszudrücken – auch bei Erwähnung seiner Person auf. Ich wandte mich zu Mum um. »Heute reden wir. Das war die Abmachung.« »Ich weiß.« Sie ließ die Schultern hängen. »Aber ich kann nicht – zumindest jetzt noch nicht.« Was ist heute wieder wichtiger? Im letzten Moment konnte ich mir auf die Zunge beißen. Adlard rieb sich seufzend die Augen. »Siehst du?«, rief ich, verzweifelt, weil mir die Chance entglitt. »Er ist nicht deiner Meinung!« Über seine Handfläche hinweg warf Adlard mir einen schneidenden Blick zu. »Du lehnst dich gerade weit aus dem Fenster.« »Wenn ich dann gucken kann!« Ich war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. »Hände ab«, sagte er trocken. »Selber, wie mir scheint!«, fauchte ich. Da war er sprachlos. Seine Mimik dümpelte unentschlossen irgendwo zwischen Empörung und Amüsement. Mum drehte mich zu sich herum, bevor ich ihn weiter provozieren konnte. Ihr Griff war fest, aber nicht schmerzhaft. So durcheinander sie auch sein mochte, die echte Charlotte Furlong schlug allmählich wieder durch. »Ich kann es dir nicht sagen«, wiederholte sie mit festerer Stimme. »Nicht innerhalb der nächsten drei Tage.« »Aber wenn ich Bescheid weiß, kann ich vielleicht helfen!« Das hatten wir doch alles schon einmal durchgekaut! Mum packte mich bei den Schultern. »Hör mir jetzt zu! Ich habe einmal Kontakt zu Atlantis aufgenommen. Das ist über zehn Jahre her. Ich weiß nicht, warum sie jetzt auf Breca und mich zugekommen sind. Und ich weiß auch noch nicht, wie die Congregatio darauf reagieren wird. Der einzige Grund, warum ich nicht mit dir darüber rede, ist, dass du nur so in Sicherheit bist.« Ich erstarrte. Das hatte ich doch längst gewusst. Natürlich war es so einfach. Warum konnte sie mir denn nicht vertrauen? Meine Hand zuckte zu der Tasche, in der das Flugblatt ruhte. Und stoppte am Reißverschluss. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Die Flugblätter. Plötzlich wunderte ich mich, wieso noch kein Wort über die Unruhe in der Innenstadt gefallen war. Die Berichte mussten doch brühwarm durch die Medien gegangen sein! Innerlich gab ich mir selbst eine Ohrfeige. Bestimmt hatten Mum, Breca und Adlard das Thema bereits ad acta gelegt. Ich war zu spät zurückgekommen und hatte meine Gelegenheit verpasst, die Informationen von Adlard persönlich zu bekommen. Der schien gerade einen Geistesblitz zu haben, denn seine Hand schlug auf die Arbeitsplatte und seine Augen strahlten. »Was ist mit den Kameraaufzeichnungen?«, fragte er Mum unvermittelt. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er die Alarmanlage meinte. »Es gibt keine«, sagte Mum. Er starrte sie verständnislos an. »Lestard hat das Telefon zerschossen«, brummte Breca durch die Zähne. Voll Unglauben wiederholte Adlard seine Worte. Auf halber Strecke versagte ihm die Stimme und er musste die Augen schließen, solch einen Eindruck hatte Brecas Bemerkung auf ihn gemacht. Als er wieder aufschaute, spielte ein dünnes Lächeln um seine Lippen. Mums Hand zitterte leicht in meiner. Breca zog sich von ihr zurück und bedeutete mir stumm, ihm zu folgen. Was jetzt kam, war nicht für meine Ohren bestimmt. Ich folgte ihm nur widerwillig. Demonstrativ schlurfend, versenkte ich die Hände in den Hosentaschen. »Ich schlage vor, dass er sofort packt«, sagte Adlard, sobald ich über die Schwelle getreten war. Packen!?, durchfuhr es mich. »Packen!?«, entfuhr es Mum. »Ich bleibe hier!«, rief ich zurück. »Ganz bestimmt nicht«, entgegnete Adlard. »Wo kann er für drei Tage unterkommen?« »Über Silvester?« Mum zögerte. »Ich weiß nicht ...« Die Lüge ging am Krückstock. Mum wusste genau, dass die Familien von Matt und Solweig uns unterstützen würden (wobei ich bezweifelte, den gekränkten Matt drei Tage lang ertragen zu können). Sie vertraute offenbar auf Adlards Entschlusskraft, fürchtete aber gleichzeitig um mein Wohl. Es behagte ihr nicht, ihre Hand nicht über mich halten zu können. Das war der Grund. »Wenn die Congregatio ihn so zu Gesicht bekommt«, konterte Adlard mit wegwerfender Geste in meine Richtung, »kriegst du ganz andere Probleme.« Was bildete der sich eigentlich ein? Ich wollte schon zurückstampfen, aber Breca schob mich weiter und schloss hinter uns die Küchentür. »Charlotte kann gut für sich selbst einstehen«, ermahnte er mich. Wenn ich ihr weiterhin dazwischenfunkte, war ich haarscharf davor, eine Grenze zu überschreiten. Aber wie einen Sack herumschubsen ließ ich mich auch nicht, schon gar nicht von so einem Dahergelaufenen! Ich hörte, wie Mum in ihrem üblichen rügenden Ton zu sprechen ansetzte, und war stolz auf sie. »Der quartiert mich nicht aus!«, raunzte ich. Breca erwiderte meinen Blick hart. »Wenn es sein muss, werden wir seinem Plan zustimmen.« Ich war fassungslos. »Wer ist der Kerl, dass er hier einfach aufkreuzen und uns herumkommandieren kann?« »Charlotte und er haben –« Breca unterbrach sich, überlegte kurz und winkte mich dann ins Wohnzimmer. Nachdem er auch dort die Tür geschlossen hatte, setzte er neu an: »Die Congregatio setzt alles daran, Atlantis als Feind auszuweisen, damit sie sie verbieten können.« Das war mir nicht neu. Wenn in den Nachrichten von Anschlägen die Rede war (ob erfolgreich oder nicht, sei hier mal dahingestellt), kursierten meistens Gerüchte, dass Atlantiner die Attentäter gewesen seien. Atlantiner. Das Wort hatte sich bereits eingebürgert. »Humbug!«, schimpfte Mum dann meistens. »Die suchen nur einen Sündenbock.« Ich war viel zu aufgeregt, um mich zu setzen, also standen wir uns vor der geschlossenen Tür gegenüber. Breca wägte sehr genau ab, was er mir von seinem Wissen preisgeben konnte. »Charlotte und Mr Adlard haben damals Kontakt zu Atlantis aufgenommen«, sagte er langsam, »weil sie auf Verhandlungen gehofft haben.« »Und Lestard war ihr Kontaktmann«, fügte ich halblaut hinzu. Breca kniff die Augen zusammen. »Zuerst nur der von Mr Adlard. Charlotte wollte mit ihm in Verbindung treten und Mr Adlard hat ihr den Zugang ermöglicht. Sie hat ihn ein paar Male getroffen, bevor die Congregatio Wind von der Sache bekommen hat.« Er räusperte sich verhalten. »Sie kann von Glück reden, dass sie sie damals nur degradiert und nicht hinausgeworfen haben.« »Und Adlard?« Ich schauderte beim Gedanken daran, dass er erst knapp an die Dreißig heranreichte. Dann war er zu jener Zeit nicht einmal zwanzig gewesen. Gib mir noch ein paar Jahre, dachte ich düster. Der Typ hatte seine Spuren hinterlassen. Breca wollte lachen, brachte aber bloß ein Grunzen zustande. »Mr Adlard. Um den mussten wir uns nicht besonders sorgen. Er stand in der Gunst des Sekretärs und hat immer noch gewisse Beziehungen.« »Und so ist er an die Alarmanlage gekommen?« Mir kam ein Gedanke, der mich stocken ließ. »Dann hat er euch vor Lestard gewarnt.« Brecas Schweigen war unmissverständliche Zustimmung. »Ist Mr Adlard immer noch mit ihm in Verbindung?«, fragte ich. Die Worte fühlten sich auf meiner Zunge spröde an. »Zwei oder drei Monate«, echote Adlards Stimme in meinem Kopf. »Die Begegnung war rein zufällig.« »Wir glauben es nicht. Zumindest nicht im gegenseitigen Austausch.« Breca rieb sich die Nase. »Aber ob er Atlantis komplett den Rücken gekehrt hat, kann ich nicht sagen.« »Und Mum?« »Was meinst du?« »Kennt sie noch mehr Atlantiner?« Breca zuckte demonstrativ die Achseln, ohne mich aus den Augen zu lassen. Das war mein Stichwort, aufzugeben, aber ich wollte noch einen letzten Versuch wagen. »Was ich weiß, kann mir keiner nehmen«, sagte ich. Mum benutzte den Satz gern, wenn ich zu faul zum Lernen war. Aber diesmal rezitierte ich ihn in vollem Ernst. Breca grinste verschwörerisch. »Jeden Tag ein bisschen mehr. Das ist unser kleines Geheimnis.« »Findest du das nicht ein wenig dröge für heute?« »Charlotte und Mr Adlard haben doch gut vorgelegt. Lassen wir es ruhig angehen.« Ich zuckte ergeben die Achseln. Breca ließ sich schmunzelnd in seinen Sessel fallen und streckte die Arme aus, glücklich mit seiner Idee. »Also, was sagt der junge Herr?« Ich schluckte. Das würde Mum nicht gefallen. Aber mir gefiel es. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)