Perlmutt von Hepho ================================================================================ LESTARD (VII): »Kein Ding schickt sich, dünkt mich, bass, als gut Trank und gute Lieder.« ----------------------------------------------------------------------------------------- Der Name der Kneipe war in Metalllettern an die Außenmauer geschlagen. Auf Deutsch. Und er sprach sich absolut schrecklich aus. Deutsches Viertel. Das vertrug sich nicht mit unserer Satzgrammatik. Dagegen klang Solweigs Formulierung »irgend so eine Kneipe« hochgradig elaboriert. Deutsches Viertel. Ich spürte regelrecht den Pelz auf der Zunge. Noch dazu trugen die Umstände, unter denen wir ankamen, maßgeblich zu meiner dürftigen Laune bei. Der entscheidende Grund, weshalb Mum mich nicht dazu verdonnerte, im Auto auf ihre Rückkehr zu warten, ist simpel: Das besagte Auto war nicht ihres. Schlimmer noch – es war ein Streifenwagen. Ein Gardewagen. Zumindest diesmal konnte sie mich nicht einfach so abwimmeln. Beim Aussteigen genehmigte ich es mir, meinen kleinen Triumph zu feiern, indem ich die Wagentür mit einem breiten Grinsen im Gesicht und viel mehr Schwung als nötig zuschlug. Die Erwachsenen warfen mir dafür skeptische Blicke zu, und ich stellte mit Genugtuung fest, dass Mum sich die Rüge verbiss. Sie wusste genau, dass ich all das nur tat, um ihr eins auszuwischen, und später würde sie mir für mein Verhalten die Ohren langziehen. Ich beschloss, die verbleibende Zeit zu nutzen, um so viele Informationen wie möglich aufzusaugen. Dann hatte ich hoffentlich etwas, das ich ihr entgegenhalten konnte. In der nächsten Sekunde sollte sich mein Siegesgefühl jedoch ins genaue Gegenteil verkehren. Wir hatten die Straße noch nicht einmal überquert, da verließ ein blau uniformierter Kerl das Deutsche Viertel und trat auf uns zu, um Park beiseite zu ziehen und ihm irgendetwas zuzuflüstern. Ich beobachtete, wie der Inquisitor die Augen aufriss, einen kurzen Blick in unsere Richtung schickte und, als der Gardist weitersprach, das Gesicht verzog, als hätte er auf etwas Saures gebissen. Mums Hand krallte sich um meine Schulter. Als ich hochschaute, hatte sie nur Augen für die beiden Beamten und kaute angespannt auf ihrer Unterlippe. Bis Park auf uns zustiefelte und erklärte, dass er uns nun verlassen müsse, uns aber in der Obhut der Garde wohlverwahrt wisse. Ich musterte den Blaurock, der noch immer an der Stelle stand, an der Park ihn nach ihrem Gespräch zurückgelassen hatte. Er war im Höchstfall zehn Jahre älter als ich und herausgeputzt wie ein Paradepferd. Schwerer Stoff, gestärkt und erstklassig in Form gebügelt. Kein krummes Nähtchen, keine Bartstoppel, und unter seiner Kappe lugte nicht ein Härchen hervor. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, aber die Form seiner Augenbrauen hatte etwas Künstliches an sich, als würde er sie zupfen. So also musste man aussehen, wenn man der Garde angehörte: Das auf Hochglanz polierte Aushängeschild der Congregatio Magica. An seinem Waffenrock ruhten ein Paar Schlagstöcke und eine Schusswaffe. Mit Sicherheit beherrschte er beide, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Bubi sie jemals in einer ernsthaften Auseinandersetzung in Gebrauch gehabt hätte. Die alten Herren vom Vorstand der Gordon Stout wären mit der Nasenspitze aufs Pflaster gestoßen, so tief hätten sie sich vor ihm verneigt. Mum verschränkte die Arme vor der Brust. »Hat Lord Belzac Sie zurückgerufen?«, fragte sie Park. Der Inquisitor schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln und schritt ohne ein weiteres Wort an uns vorbei. Mir schoss der Gedanke an einen gut gezielten Faustschlag durch den Kopf. Mums Blick nach, musste sie an etwas Ähnliches denken. »Richten Sie dem Sekretär aus, dass ich mich nicht länger gängeln lasse«, fauchte sie hinter ihm her. Park drehte sich zu ihr um. »Wir wollen Ihnen nichts Böses, Mrs Furlong«, sagte er, »auch wenn wir Sie nicht in jeden unserer Schritte einweihen. Sie sollten damit aufhören, unsere Operation zu boykottieren.« »Oh, empfiehlt sich das?«, fauchte Mum ironisch. »Halten Sie sich zurück«, entgegnete er. Ich konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. Sie sollten damit aufhören. Er klang schon genauso wie der Sekretär. Mum kochte vor Wut, sagte aber nichts mehr. Ich streckte eine Hand nach ihrer aus, bremste mich jedoch mittendrin. Mein Großvater hätte hier sein müssen – von ihm ließ sie sich wenigstens beeinflussen. Also drückte Park uns den Blaurock aufs Auge (oder umgekehrt – der Blick des Gardisten ließ beide Schlüsse zu) und stieg zurück ins Auto, um sich zu Lord Belzac fahren zu lassen. Mum und ich standen auf dem Bordstein und starrten dem Streifenwagen nach, bis er außer Sicht verschwunden war. Da angelte Mum ihre Zigaretten aus der Jackentasche. Der Gardist räusperte sich. »Das wird noch ein wenig warten müssen.« Mum verdrehte die Augen, senkte aber das Feuerzeug. »Der Hauptmann will Sie sprechen«, sagte der Gardist. Seufzend nahm Mum die Zigarette aus dem Mund und packte sie wieder ein. »Na, das überrascht mich aber.« Als wir den Schankraum betraten, wandte sich uns eine Schar Gesichter zu. Die rege Geräuschkulisse riss ab, als hätten alle Gäste zugleich ihre Zungen verschluckt. Vom Tresen her hörte ich ein Glas klirren – der Kellner hatte danebengegriffen. Die Leute tauschten irritierte bis ungläubige Blicke miteinander. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass unsere Ankunft in Begleitung eines Gardisten nicht gerade ein feierlicher Umstand war. Der Einzige, der kein bisschen irritiert schien, war ein ebenfalls uniformierter Zweimetermann, der am Tresen stand und sich mit einem Lächeln auf den Zügen zu uns umgedreht hatte. Den Abzeichen auf seiner Uniform nach, musste er um Einiges höher stehen als der Gardist, der uns hergebracht hatte. Also war er der Hauptmann. Ich beobachtete, wie der Wirt sich zu ihm hinüberbeugte und mit strenger Miene irgendetwas murmelte. Der Riese lächelte ihm entschuldigend zu und winkte mit einer knappen Erwiderung ab. Dann richtete er sich auf und kam zwischen den Tischen hindurch auf uns zu. Ich schaute über die Schulter. Mum stand stocksteif hinter mir, die Lippen zusammengepresst und die Augen auf den Hünen gerichtet, ohne einmal zu blinzeln. Das war ein ganz schlechtes Zeichen. Die Leute am Tresen und an den Tischen verfolgten jede seiner Bewegungen, als hätten sie Angst, dass er sie im nächsten Moment vom Stuhl zerren könnte. Da blieb er stehen und blickte kopfschüttelnd in die Runde. »Also bitte. Weitermachen, Leute.« Und tatsächlich wandten sich die Gäste nach und nach wieder ihren Tischnachbarn zu. Die Gespräche hoben erneut an, wenn auch merklich gedämpfter. »Hallo Charlotte«, sagte er. »Hallo Jorrin«, sagte sie steif. »Du hast dich gemausert, wie ich sehe.« Er zwinkerte ihr zu. »Was treibt dich her?« Mum neigte den Kopf und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. »Das weißt du sehr gut.« Er seufzte tief. »Du kennst die Regeln. Uniform hin oder her.« Ich schluckte. Zeitgleich bemerkte ich jedoch, dass Mums Verkrampfung sich löste. Ich musterte den Hauptmann, mit dem sie augenscheinlich per Du war. Welche genaue Bedeutung seine Worte auch haben mussten, sie konnte nicht schlecht für uns sein. Ich spürte, dass sie mir eine Hand auf die Schulter legte. »Jorrin de Rijk«, sagte sie, »das ist Yuriy.« Sein Blick heftete sich auf mich, und er war freundlicher, als ich erwartet hätte. Als er mir die Hand gab, deutete er eine Verbeugung an, damit ich den Kopf nicht ganz so hoch recken musste. Dann legte er Mum den Arm um die Schultern und führte sie von der Tür weg. Der junge Gardist richtete seinen Waffengurt – anscheinend nur, um etwas zu tun zu haben, denn er saß jetzt nicht anders als zuvor – und folgte uns. »Du wirst dich nicht erinnern«, sagte der Hauptmann zu mir, »aber als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du mir nicht mal ans Knie gereicht.« In Gedanken feierte ich mein Glück: Noch einer mehr, bei dem ich auf jedes Wörtchen achten musste. »Bis an die Nasenspitze werde ich Ihnen wohl auch nie reichen«, sagte ich. Da breitete sich ein spitzbübisches Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Charlotte, so gern ich dich hab – aber das ist der Vater, so viel steht fest.« Ich spitzte die Ohren. Prompt bohrten sich Mums Finger in meine Schulter. Nicht fragen. Klappe halten. Eine klare Ansage. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass ich mir noch unsicher war, wie ich diesen Jorrin zu nehmen hatte. Ansonsten hätte ich ihn nach allen Regeln der Kunst ausgehorcht. Ich wusste, wie man als Kind Erwachsene umgarnte. Dafür hatte sie mir oft genug die Leviten gelesen. »Ich muss hier etwas erledigen«, erklärte sie schroff. Jorrin de Rijk ließ von ihr ab und hob abwehrend die Hände. »Dann wollen wir dich nicht aufhalten.« Sie betrachtete ihn eingehend. »Ich bin gleich wieder zurück.« Er zuckte die Achseln und zündete sich demonstrativ eine Zigarette an. »Wir haben Zeit.« »Das hab ich befürchtet«, erwiderte sie und fasste mich an der Schulter, um mich ein Stück weit zurückzuziehen. »Warte hier«, sagte sie zu mir und wollte sich an den Blauröcken vorbeischieben. Der junge Gardist fasste nach ihrem Arm, aber Mum zuckte schneller zurück als er zupacken konnte. »Das unterlassen Sie besser«, sagte er. »Dito«, zischte sie. Der Hauptmann klopfte ihm auf die Schulter. »Sachte – was könnte eine Dame in Herrenbegleitung in einer gastronomischen Lokalität in Ruhe tun wollen?« Der Gardist runzelte skeptisch die Stirn, aber als er dem Blick seines Vorgesetzten begegnete, zog er sich von Mum zurück. »Herzlichen Dank«, zischte sie den jungen Kerl an. Dann bedachte sie den Hauptmann mit einem dankbaren Nicken und nahm, anders als zuvor beabsichtigt, jetzt den Weg mitten zwischen ihnen hindurch. Ihr Ziel war der schmale Flur hinter dem Schankraum, in den ich Adlard in der letzten Nacht gefolgt war. Ich reckte den Hals, um an den Gardisten vorbeisehen zu können. Als Mum abgebogen war, ließ ich mich gegen die Tischplatte sinken. Ich musste mich zusammenreißen, um Jorrin de Rijk nicht von Kopf bis Fuß zu mustern. Wie gerne hätte ich ihn ausgefragt! Zur Ablenkung stieß ich mit dem Fuß gegen eines der Tischbeine. Der Hauptmann warf mir einen Seitenblick zu. »Ich glaube, ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte er. »Aber dein Benehmen wirft kein besonders gutes Licht auf deine Mutter.« Ich setzte beide Füße auf dem Boden auf und schaute von ihm zu seinem Lakaien und wieder zurück. »Die Bemerkung über die gastronomische Lokalität … Was sollte das gerade?« Der Gardist bedachte mich mit einem Blick, der mir eindeutig mitteilte, dass mich das einen feuchten Kehricht anging. Ich erwiderte seine Freundlichkeit mit gleicher Münze. Der Hauptmann zwinkerte mir zu. »Diese vier Wände sind wie eine eigene kleine Welt, weißt du.« Und wie ich das wusste! Mums Worte von unserem Gespräch in der letzten Nacht hatte ich noch deutlich im Ohr. »Im Deutschen Viertel gibt es genug Leute, die ihre Finger im Spiel haben könnten.« Und das war nicht das Einzige, was ich behalten hatte. Der Hauptmann lachte, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Guck nicht so böse, Jungchen, das sind alles nette Leute, die hier rumlaufen.« Ich verkniff mir eine Bemerkung und widerstand dem Drang, mich umzusehen. Stattdessen behielt ich die beiden Blauröcke im Auge. Der junge Gardist schien alles andere als zufrieden mit seiner Lage zu sein. Sein Blick glitt prüfend in Richtung des Flurs, der zu den Hinterzimmern führte. Er traute Mum kein Stück. Er sah aus, als würde er sie, sobald er sie gefunden hatte, ohne viel Federlesens mit sich in den Schankraum zurückschleifen wollen. Ihre Drohung schien ihn nicht zu interessieren. Er weiß ja auch nicht, wie sie zuschlagen kann, dachte ich und ließ einem entsprechenden Kurzfilm vor meinem inneren Auge freien Lauf. Jorrin de Rijk schaute sich das Verhalten seines Gefolgsmanns nicht lange an. Bevor der Gardist den Hals überhaupt richtig recken konnte, klopfte der Hauptmann ihm herrisch vor die Brust. »Hast du Bewegungsdrang? Geh und hol dem Jungen was zu trinken.« Der Gardist starrte ihn an, als hätte er sich eine Maulschelle gefangen. »Verzeihung, Hauptmann«, erwiderte er zackig und wandte sich zu mir um, damit ich bloß schnell meinen Wunsch äußerte. In diesem Moment bemerkte ich, dass mir die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben stand, und bemühte mich um etwas mehr Ernsthaftigkeit. »Danke, aber ich möchte nichts.« Der Hauptmann schüttelte entschieden den Kopf. »Nur ein Dummkopf schlägt eine Einladung aus.« Damit pfiff er seinen Gardisten bei Fuß und erklärte: »Eine Limo für den Jungen. Geht auf meine Rechnung.« Der arme Kerl wagte nicht einmal, mit der Wimper zu zucken, aber wir wussten alle drei, wie gern er jetzt im Boden versunken wäre. Als er sich zum Tresen aufmachte, sah ich, dass noch andere Gäste Zeugen seiner Disziplinierung geworden waren und teils mehr, teils weniger auffällig hinter ihm hergrinsten. Der Hauptmann drückte seine Zigarette aus. »Dass junge Leute immer glauben müssen, sie wüssten alles besser.« Ich verkniff mir eine Bemerkung und zwang mich, den Tisch loszulassen. »Es gibt einen Kodex in diesem Laden«, meinte er zu mir. »Was im Deutschen Viertel passiert, bleibt auch im Deutschen Viertel.« Ich konnte mir nicht erklären, weshalb ich so interessant für ihn sein sollte. Zumindest Mum musste ein gewisses Vertrauen zu ihm haben, wenn sie mich einfach bei ihm zurückließ. »Warum erzählen Sie mir das?« »Damit du dich beruhigst.« Er lächelte und wies zu dem Stützgebälk hinauf, das sich über den Tresen spannte. »Kannst du lesen, was da steht?« Die Verse, die er meinte, waren sorgfältig von Hand ins Holz geschnitzt und weiß eingestrichen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Trinkspruch. Die Buchstaben waren schön anzusehen, aber leider war der Text auf Deutsch verfasst. Kein Wunder. Darunter, auf Augenhöhe, kam gerade der Gardist mit meinem Getränk zurück. Der Wirt grüßte in unsere Richtung und der Hauptmann hob im Gegenzug die Hand. Als ich schweigsam blieb, las er vor: »Bitte, meine guten Brüder Auf die Musik und ein Glas! Kein Ding schickt sich, dünkt mich, bass Als gut Trank und gute Lieder. Lass ich gleich nicht viel zu erben, Ei, so hab ich edlen Wein! Will mit andern lustig sein, Muss ich gleich alleine sterben.« Was für ein Angeber. Ob man das während der Ausbildung lernte? Ich schielte zu dem Wirt herüber, der emsig damit beschäftigt war, zwischen Zapfhahn, Flaschen und Kaffeemaschine hin und her zu wuseln und dem Kellner, der um die Tische flitzte, neue Tabletts zu beladen. Vielleicht hatte der Hauptmann ja auch einfach die Deutschen gefragt. Das lag zumindest nahe, wo sie sich doch anscheinend so gut verstanden. »Ich spreche kein Deutsch«, betonte ich und nahm dem Gardisten mit einem Dankeswort von Engelszungen die Limonade ab. Da grinste der Hauptmann mich an. »Es bedeutet, dass du deine Zeit zum Guten nutzen sollst. Zum Frohsinn und Genuss. Und zur Geselligkeit.« Ich zwang mich, das Lächeln zu erwidern, verkorkste es aber. Jorrin de Rijk musterte mich. Mit Wohlwollen, aber intensiv. Ich riss mich zusammen. »Soweit ich weiß, hat dir niemand verboten, dich umzusehen«, sagte er. »Aber fass nichts an.« »Keine Sorge«, erwiderte ich gedehnt. Unter dem wissenden Blick des Hauptmanns entfernte mich von ihnen. Ich drehte das Glas in den Händen und ließ den Blick über die Tische schweifen, während ich auf den Tresen zulief. Die Leute, die mein Interesse bemerkten, warfen mir ihrerseits Blicke zu. An sich keine verwunderliche Reaktion. Ein Minderjähriger hatte hier nichts zu suchen. Ich atmete tief durch. Ein ganz normaler Pub – genauso wie in der Nacht zuvor, als ich das Deutsche Viertel tatsächlich für nichts anderes gehalten hatte. Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte. Innerlich zählte ich die Sekunden. Mum war immer noch nicht zurückgekommen. Ich wollte wissen, was sie so lange trieb. Der Kodex des Hauptmanns konnte mir gestohlen bleiben. Wahrscheinlich würden die Blauröcke mich im Auge behalten. Aber wenn ich es ganz, ganz geschickt anstellte, konnte ich mich vielleicht außer Sicht und dann in den Flur zu den Hinterräumen schleichen. Ich warf einen prüfenden Blick zurück zu der Stelle, wo ich Jorrin de Rijk und seinen Gefolgsmann zurückgelassen hatte, und stockte, als ich nur den jungen Gardisten dort stehen sah. Der schaute missmutig zwischen dem Flur und mir hin und her. Sofort suchte ich den Schankraum mit den Augen ab, aber den massigen Körper des Hauptmanns entdeckte ich nirgendwo. Der Fall lag auf der Hand. So ein Stinktier! Ich knallte das Glas auf den Tresen, dass die Limonade spritzte. Der Wirt und ein Gast, der direkt neben mir auf einem Hocker saß, starrten mich aus großen Augen an, aber ich ignorierte sie und stampfte auf die Eingangstür zu. Der Gardist blickte hinter mir her, augenscheinlich nicht ganz sicher, ob er mir nun auch noch würde hinausfolgen müssen. Als ich auf der Straße stand, sah ich, dass er sich immerhin ans Fenster bemüht hatte, um mich nicht aus den Augen zu verlieren. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Die Straßen hatten sich geleert; die Leute, die es an Tagen wie heute auf die umliegenden Märkte trieb, waren entweder bereits dort angekommen oder hatten für die Dauer des Schneefalls einen Unterschlupf gesucht. Ich spielte mit dem Gedanken, den Gardisten zu einer Runde »Katz und Maus« herauszufordern, verwarf die Idee jedoch recht schnell wieder. Ich hatte keine Ahnung, was der Hauptmann gerade mit Mum besprach. Für den Fall, dass es sich um keine allzu freundliche Unterhaltung handelte, wollte ich nicht auch noch querschlagen und ihr noch mehr Schwierigkeiten bescheren. Also würde ich notgedrungen hier vor der Tür warten und Däumchen drehen. Wenn ich auch nur einen Fuß zurück in diese Kneipe setzte, würde ich explodieren. Ich sollte ihr wenigstens Bescheid sagen, schoss es mir durch den Kopf. Fahrig kramte ich mein Handy aus der Hosentasche. Ich hatte das SMS-Menü schon geöffnet, da hielt ich inne. Nein. Zumindest das sollte der Gardist ruhig für mich übernehmen. Sich an Charlotte Furlong heranzuschleichen, war normalerweise ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest während ihrer Ausbildung hatte Jorrin de Rijk stets das Gefühl gehabt. Sie alle hatten Techniken gelernt, um sich lautlos zu bewegen, doch bei Charlotte war es so gewesen, als liefe sie auf Luft. Umso mehr überraschte es ihn jetzt, dass er direkt an sie herantreten und sie zweimal ansprechen musste, ehe sie reagierte. »Und, alles erledigt?« Charlotte lächelte mild und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Heute nicht bei der Neujahrsparade, Hauptmann?« »Dort sind andere.« Jorrin grinste und blickte sich im Innenhof um. Im Sommer herrschte hier ein reger Biergartenbetrieb, aber zu dieser Zeit des Jahres lag das Pflaster brach und eisüberzogen vor ihnen. In der letzten Nacht musste hier eine ansehnliche Menge Leute herumgelaufen sein; braune Fußspuren hatten den Schnee zerwühlt. Sie waren das Einzige, das noch von der Feier zeugte. »Uns zieht es eher an zwielichtige Orte, was?«, fügte er hinzu. »Was dagegen, wenn ich mitrauche?« Charlotte zuckte die Achseln. »Du hast lange nichts von dir hören lassen«, bemerkte er. »Ich hatte eigentlich auch nicht vor, mich hier noch einmal sehen zu lassen«, erwiderte sie. Er zögerte einen Moment. »Vielleicht hättest du es dabei belassen sollen.« Sie wandte sich zu ihm um. »Hat der Sekretär dich auf mich angesetzt?« Jorrin lachte. »Selbstverständlich hat er das. Und er weiß genauso gut wie wir, was für ein Ort das Deutsche Viertel ist.« Charlotte schüttelte den Kopf. In diesem Moment begann es wieder zu schneien. Sie nahm sich die Zeit, den letzten Zigarettenzug schweigend zu genießen, zusammen mit dem Blick auf die weiße Fläche, die sich vor ihren Füßen schloss. Sie wollte den Stummel gerade in den Schnee fallen lassen, als Jorrin ihr den Aschenbecher hinhielt. Darin befanden sich bereits zwei Kippen – jemand hatte eindeutig vor ihr die Idee gehabt, hier seiner Sucht zu frönen. Sie kam um ein Lächeln nicht herum. »Du bist so korrekt.« Er zwinkerte ihr zu und stellte den Aschenbecher auf die Fensterbank zurück, von der er ihn genommen hatte. »Ist nicht die schlechteste Eigenschaft.« Sie verdrehte die Augen und fingerte in ihrer Jackentasche nach dem Feuerzeug und nach ihren Zigaretten. Letztere klemmten. Schon wieder. Jorrin schaute ihr einen Moment lang schmunzelnd zu, dann bot er ihr seine Packung an. »Alles, was Recht ist«, meinte er. Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu, nahm die Zigarette aber an. »Also«, fuhr sie fort und zog die Glut an. »Warum lässt er zu, dass ich mich hier aufhalte? Dass ich tue und lasse, was ich will?« Er betrachtete sie aus dem Augenwinkel. »Willst du ihm wieder querkommen?« »Ich will wissen, was gerade passiert«, gab sie zurück. »Und wage es nicht, mir jetzt zu raten, dass ich ihn einfach machen lassen soll. Das steht mir bis Oberkante Unterlippe!« Jorrins Mundwinkel zuckten. »Dann halte ich wohl besser die Klappe, was?«, sagte er und schnippte mit gewichtiger Miene Asche in den Schnee. Charlotte warf ihm unter gehobenen Augenbrauen einen Blick zu, den er mit einem breiten Grinsen quittierte, die Zigarette zwischen den Zähnen. Jorrin sah die Belustigung, mit der sie ihn betrachtete. Ihre Haltung hatte sich ein wenig entspannt. Die restlichen Minuten standen sie schweigend nebeneinander. Schließlich streckte Charlotte fordernd die Hand aus und er reichte ihr mit einer kleinen Verbeugung erneut den Aschenbecher. »Und, was machst du jetzt?« Ihr Blick glitt zwischen der Eingangstür und dem Innenhof hin und her. »Ich weiß noch nicht. Nach Hause gehen und mir etwas überlegen.« »Ich kann euch fahren«, erklärte er. Charlottes Augen wurden schmal. Sie suchte die Stellen im Schnee, wo zuvor die Asche hingerieselt war, doch unter den frischen Flocken war kaum mehr etwas auszumachen. »Ich glaube, das wäre mir recht.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)