Rushhour - Sieh mich an von Lyssky ================================================================================ Kapitel 1: I ------------ a/n: Was sagt ihr zur Optik? Kann man das so lassen, oder soll ich lieber Leerzeilen zwischen die Absätze machen? Sieht das aus wie ein riesiger Block Text, den man dann eh nicht liest? ?_? Rushhour Sieh mich an und sage mir, dass ich am Leben bin. Mehr als 3 Millionen Menschen fahren mit der Yamanote-Bahn, die mit ihren 29 Stationen ringförmig die wichtigsten Bahnhöfe Tokios miteinander verbindet, um zur Arbeit, zur Schule, zur Universität oder zum Einkaufen zu kommen – jeden Tag. Während die Linie zu entspannteren Tageszeiten durchaus auch für den Freizeitverkehr nutzbar ist, gehört sie zu den Stoßzeiten morgens und abends ganz den Pendlern. Besser gesagt, wären die Wagen mit ihrer charakteristischen grünen Lackierung nicht aus widerstandsfähigen Materialien wie Eisen, Stahl und Hartplastik gefertigt, würden sie ob der schieren Massen, die sich wie Sardinen in der Büchse in sie hineinquetschen, förmlich aus allen Nähten platzen. Naruto war auf dem Weg zur Arbeit und seufzte innerlich, als er sich unter die Wartenden am Bahnhof Shinagawa einreihte. Der letzte Zug war erst vor einer halben Minute abgefahren, doch der Bahnsteig war schon wieder so voll, dass er dennoch mehr als eine weitere Minute gebraucht hatte, um sich unter unzähligen Entschuldigungen bis zum Ende seiner Schlange vorzuarbeiten. An dieser Stelle würde die Tür zu genau dem Wagen halten, der ihn in Shinjuku am nächsten zu seinem Ausgang bringen würde. Die wenigsten Leute machten von sich aus Platz, wenn sie ihn hörten. So wichtig Höflichkeit und Respekt in allen anderen Bereichen des Alltags auch waren, so überflüssig schienen ein paar freundliche Worte im täglichen Wahnsinn des Nahverkehrs in Tokio. Wer nicht zumindest ein bisschen grob war, wer ständig anderen auswich und zuvorkommend wartete, kam nicht weit, und sicher nicht dorthin, wohin er wollte. Dem eigenen Vorwärtskommen Vorrang zu geben war geradezu lebensnotwendig. Naruto hatte kein Problem damit, die Leute energisch mit der Schulter aus dem Weg zu schieben, aber er brachte es irgendwie nicht übers Herz, dabei überhaupt nichts zu sagen. Gomen. Gomen. Sumimasen. Er sagte es laut und deutlich. Vielleicht war es eine Art Trotz gegen die harsche Realität, aber er konnte schlecht so tun, als bemerkte er die Anwesenheit der fünfhundert anderen auf dem Bahnsteig nicht. Sie waren ja auch kaum zu übersehen. Die wohlbekannte Melodie für den einfahrenden Zug des äußeren Rings ertönte, eine Flut von Fahrgästen wurde ausgespült und seine eigene Reihe setzte sich langsam in Bewegung, um in den Zug zu kommen. Wie üblich gaben ihm die fehlenden Reaktionen auf seine Worte auch heute das Gefühl, auf eine Gemeinheit, die erklärbar und verständlich war, nämlich das rücksichtslose Sich-Hindurchquetschen, noch eins draufzusetzen, indem er die Leute auch noch damit belästigte, sich ehrlich entschuldigen zu wollen. Dieses alltägliche Ritual hatte er inzwischen oft genug wiederholt, um bemerkt zu haben, dass er mit seinem Verhalten ein wenig aus er Reihe tanzte. Nachdem ein Bahnhofsangestellter mit seinen peinlich sauberen weißen Handschuhen kräftig nachgeholfen und die Leute, die direkt an der Tür standen, noch weiter in den Zug hineingedrückt hatte, rollte die Bahn los. Naruto war so weit hineingeschoben worden, dass er zumindest nicht mehr im Eingangsbereich stand, sondern schräg vor einer der Sitzbänke, die parallel zur Wand angebracht waren. Wenn er sich noch ein bisschen drehte – so –, konnte er über die Köpfe der wenigen glücklichen Sitzenden hinweg aus dem Fenster sehen. Er ergatterte sogar eine der grauen Plastikschlaufen, um sich festzuhalten. Vielleicht wurde der Tag ja gar nicht so übel! Automatisch fuhr Narutos freie Hand in die Tasche seiner Jeans, um nach seinem MP3-Player zu greifen, doch dann hielt er inne. Ach stimmt ja. Etwas grummelig zog er die Hand wieder zurück. Dass der Akku leer war, hatte er vorhin schon feststellen müssen, bevor er umgestiegen war. Er hatte es bemerkt, sich geärgert und es dann wieder vergessen. Also keine Musik. Naruto schaute sich um. Der Mann rechts neben ihm hatte sein Handgelenk durch die Halteschlaufe gesteckt, seine Stirn auf den ausgestreckten Arm gelegt und die Augen geschlossen. Ohne Zweifel konnte er in dieser Position tatsächlich schlafen. Auf den Sitzen vor Naruto bot sich ein ähnliches Bild: Der Mann um die vierzig, der direkt vor ihm saß, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schnarchte mit offenem Mund, während der Kopf der schlafenden jungen Frau, die neben ihm saß, auf seine Schulter gefallen war. Was nicht heißen musste, dass die beiden zusammengehörten. Vermutlich taten sie es nicht. Ungeduldig wippte Naruto auf den Fußballen auf und ab. Weil er aus Yokohama kam, war er jetzt schon fast eine Stunde unterwegs und langweilte sich schrecklich. Schlafen kam für ihn nicht in Frage, um die Zeit in der Bahn totzuschlagen. Erstens schlief er wie ein Stein und fühlte sich morgens, wenn er es erst ins Bad, unter die Dusche und zum Frühstück geschafft hatte – wenn es ihm also erst gelang, im frühmorgendlichen Tran das Haus zu verlassen –, so ausgeruht und hellwach, dass er unmöglich noch einmal einschlafen konnte. Bahnfahren machte ihn nicht müde, sondern zappelig. Und zweitens war er sich nicht sicher, ob er das Automaten-Gen besaß. Das war in Narutos eigenen Worten die Fähigkeit tief schlafender Passagiere, trotz völliger geistiger Abwesenheit bei der Durchsage ihrer Station rechtzeitig aufzuwachen und auszusteigen, als wäre genau im richtigen Moment irgendein Schalter im Hirn umgelegt worden, der sie zuverlässig nach draußen steuerte. Wenn er wirklich in der Bahn einschlief, würde Naruto vermutlich als einziger Idiot bleiben, wo er war, und bis zur Endstation weiterfahren. Aber haha, wenn die Ringbahn überhaupt eine Endstation hätte! Unbewusst zog Naruto eine Schnute bei der Vorstellung, dreimal im Kreis um ganz Tokio zu fahren, ohne dass ihn jemand weckte, und dadurch so phänomenal spät zur Arbeit zu kommen, dass er sofort gefeuert wurde. Schließlich war er bloß ein armer Temp, kein Festangestellter, und mit denen konnte man es bekanntlich ja machen. Er würde seinen Job verlieren, könnte seine Wohnung nicht mehr bezahlen und würde auf der Straße landen, und irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würde er in einer dunklen Gasse jämmerlich verenden, ausgeraubt und mit dreckverschmiertem Gesicht. Und alles nur, weil er das Automaten-Gen nicht hatte! So weit würde er es bestimmt nicht kommen lassen! Langsam wanderte Narutos Blick von der Aussicht vorbeiziehender Hochhäuser draußen zu dem Mann, der vor ihm saß und schnarchte.Ich könnte versuchen, ihm Papierkügelchen in den Rachen zu schnipsen und meine Treffer zählen, überlegte er. Wieder fuhr seine Hand in die Tasche, doch er hatte leider keine Papierkügelchen parat. Da war nur sein nutzloser MP3-Player. Öhm... nein. „Tsugi wa, Gotanda“, sagte die freundliche Frauenstimme aus den Lautsprechern. Noch sieben Stationen, die sich ziehen würden wie Kaugummi. Naruto schaute sich weiter um. Links neben ihm surfte eine Frau mit ihrem Handy im Internet. Der Schüler neben dem schnarchenden Mann, der unschwer an seiner dunkelgrauen Uniform zu erkennen war, tippte ebenfalls irgendetwas auf seinem lila Telefon. In Ermangelung einer interessanteren Alternative zählte Naruto alle Leute mit Handy und kam zu dem Schluss, dass ungefähr jeder Zweite im Abteil damit beschäftigt war, scheinbar völlig unberührt von dem Gedränge. In einer Situation, wo 70 Prozent der eigenen Körperoberfläche gegen irgendwelche fremden Leute gepresst waren, schaffte es wohl eine Illusion von Privatsphäre, so intensiv auf das Display zu schauen. Es war eigentlich einleuchtend. Auch Naruto fand die Enge unangenehm. Weil er sich irgendwie ablenken wollte, begann er, nach seinem Telefon zu suchen. Doch dann – dann sah er ihn. Naruto musste unwillkürlich schlucken, der Gedanke an Ablenkung war wie ausradiert. Wie er dieses kühn geschnittene, beispiellos blasse Gesicht, das von kinnlangen, seitlich herabfallenden schwarzen Haarsträhnen eingerahmt wurde, bis jetzt hatte übersehen können, war ihm ein Rätsel. Vielleicht, weil er bloß Leute mit Handys gezählt hatte, und dieser Typ hatte keins. Stattdessen trug er ein Paar riesiger metallicfarbener Kopfhörer, die zu dem schwarzen Anzug und den eleganten Schuhen wie ein Stilbruch wirkten. Ein gewollter Stilbruch, der ihn ziemlich lässig aussehen ließ, um nicht zu sagen verdammt cool. Der junge Mann, der ungefähr in Narutos Alter sein musste – vielleicht 24, 25 –, saß gleich links neben dem Nachrichten tippenden Schüler, keine fünf Schritte entfernt, und schaute teilnahmslos geradeaus, als ginge ihn nichts von dem Gequetsche im Abteil irgendetwas an. Fasziniert blieb Narutos Blick an ihm hängen, einen guten Augenblick länger, als es höflich gewesen wäre. Er merkte selbst, dass er starrte, und dennoch konnte er den Blick nicht von dem ahnungslosen Mann nehmen. Warum war er so fasziniert? Es musste etwas damit zu tun haben, wie alles um ihn herum einfach von ihm abzuperlen schien wie Wassertropfen von der Lotuspflanze. Seine Art, an seinem Platz zu sitzen und mit der Atmosphäre von Stress, Hektik, Bedrängnis und Ergebenheit in die Situation umzugehen, war mit niemand anderem zu vergleichen. Manche Leute schwitzten, weil es trotz der kühlen Temperaturen draußen sehr warm im Zug war, so wie die Frau in den Dreißigern, die in der Nähe der Türen stand und sich dezent die Stirn abtupfte. Aber nicht dieser Typ. Er schaute sich auch nicht verstohlen um wie der supermodische Junge, der vermutlich gerade die Schule abgeschlossen hatte und sich nun ständig vergewissern wollte, wie die Wahl seiner Kleidung bei anderen ankam, jetzt wo er endlich keine Schuluniform mehr tragen musste. Genauso wenig war er mit den Angestellten vergleichbar, die nervös an ihren Krawatten zupften und aussahen, als müssten sie gleich ersticken. Denen die Anspannung vor dem langen Arbeitstag förmlich ins Gesicht geschrieben stand, denen es anzusehen war, wie sie im Kopf die Tagesordnung durchgingen, sich innerlich für die Besprechung mit Kollegen wappneten, sich bereits den späten Feierabend vor Augen hielten wie ein Mantra. All das traf nicht auf den Mann zu, den Naruto so unhöflich anstarrte. Er wirkte nicht einmal, als bekäme er von den anderen Fahrgästen auf jene übereifrige Art und Weise nichts mit, die man sofort als gewollt und erzwungen identifizieren konnte, wie es bei so vielen anderen hier der Fall war. Dieser Typ sah aus, als könnte nichts zu ihm durchdringen, so als trüge er einen unsichtbaren Schutzschild um sich herum, der nicht nur dafür sorgte, dass man automatisch Abstand zu ihm hielt, sondern der auch seine eigene Wahrnehmung vor allem Unangenehmen abschirmte. Er besaß die perfekte abweisende Oberfläche. Naruto sah es ihm an, am unberührten Ausdruck seines Gesichts und an seiner indifferenten Haltung. Wieder schluckte Naruto, seine Kehle fühlte sich plötzlich ganz trocken an. Dieser Mann war... anziehend. Die ebenmäßige, weiße Haut, die hohen Wangenknochen, diese fein geschwungene Linie seiner Augenbrauen. Der eigenwillige, beinahe schon exzentrische Haarstil, vorne glatt und lang, hinten wild. Wenn es jemals jemanden gegeben hatte, den Naruto 'genau mein Typ' hätte nennen wollen, musste er so aussehen. Warum muss er so verdammt gut aussehen?, dachte Naruto. Warum muss hier jemand sein, der so perfekt ist? Er fühlte sich, als hätte man ihm einen Stich versetzt. Denn unter all den verführerischen Äußerlichkeiten war er die Inkarnation von alledem, was Naruto bis zur Weißglut ärgerte, weil er sich durch seine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit überflüssig und abgelehnt vorkam. Naruto konnte nichts dagegen machen, dass er sich unter den anderen Pendlern ein wenig wie ein Außenseiter vorkam. Und das lag nur zum Teil an seiner heißgeliebten knallbunten Kleidung, die sich unter den schwarzen und grauen Anzügen der Bürohengste deutlich abhob. Mit seinen hellen Augen, dem blonden Haar und einem Gesicht, das dem seines kanadischen Vaters sehr ähnlich war und in Japan als „westlich“ bezeichnet wurde, wurde er immer als Ausländer angesehen, obwohl er in diesem Land aufgewachsen war, Japanisch ebenso fließend sprach wie Englisch und durch seine Mutter, die der Abstammung nach Halbjapanerin gewesen war, sogar die japanische Staatsbürgerschaft innehatte. Aber darum ging es eigentlich gar nicht. Es ging darum, wie sich hier jeder isoliert in seiner eigenen Luftblase bewegte. Niemand war daran interessiert, auf dem Weg durch die Stadt Kontakt zu Außenwelt aufzunehmen. Naruto hatte einmal gelesen, dass es als aufdringlich empfunden wird, wenn man jemanden länger als ein, zwei Sekunden ansieht. Aber hier schaute man überhaupt nicht. Und wenn er doch einmal unerwartet den Blick eines anderen traf, streiften ihn die Augen nur kurz und ließen ihn dann wieder los. Dadurch fühlte er sich wie ein Stück zweiter Ware, das als nicht gut genug befunden und wieder ins Regal gestellt wird. Seine eigenen, offenen und neugierigen Blicke schienen die Menschen eher abzuschrecken, als dass sie einen Kontakt herstellten. Immer zogen sie sich zurück, nie hielten sie an seinem Blick fest, und sei es nur für einen kurzen Moment. Dadurch gaben sie ihm das Gefühl, gar nicht wirklich da zu sein. Er existierte gar nicht. Wenn Naruto irgendwann nachgäbe, wenn er sich so verhielte wie alle anderen und aufhörte, neugierig, laut und ein bisschen indiskret zu sein, dann würde er sich vielleicht schon irgendwann als echtes Mitglied dieser zufällig zusammengewürfelten Menge fühlen – aber es war eine Menge, deren Teile einander nicht sahen und nicht sehen wollten. So kam es ihm zumindest vor, und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Manchmal wusste Naruto selbst nicht, ob er dazugehören wollte oder sie alle hasste. Vielleicht war es ein Stück von beidem. Und jetzt hatte er also diesen faszinierenden Mann mit dem passiven Gesichtsausdruck entdeckt. Wenn die anderen Gesichter verschlossen waren, war seines eine Festung mit sieben schweren Eisentoren davor. Das privateste, am strengsten bewachte Gemach des Kaisers in der Verbotenen Stadt, dessen Betreten mit dem Tode bestraft wurde. Keiner der anderen Fahrgäste trug seine Maske, seine Verteidigung gegen die Invasion der persönlichen Distanzzone meisterhafter als dieser Typ. Er hatte nichts, worauf er starren konnte, keine Zeitung, keinen Manga, kein Handy in der Hand, nur die Kopfhörer. Seine Augen waren unbeschäftigt, sein Kern lag offen da, doch er war so eiskalt und unerreichbar, als befände er sich auf einem anderen Planeten, in einem fernen Sonnensystem. Dieser Mann auf der Bank war wie alle anderen, die Naruto das Gefühl gaben, in eine Einzelzelle gesperrt zu sein, nur noch schlimmer: Er saß da wie der Inbegriff dieser Kälte, er trug die gleiche Maske, spielte das gleiche Spiel, nur noch besser, noch geschickter – er spielte perfekt. Na und? Dann ist er eben ein Eisblock, dachte Naruto plötzlich trotzig. Warum sollte es ihn eigentlich stören, dass er wieder nur einer von denen war, die höchstens verstohlen schauten und dann sofort wieder ihre indifferente Maske aufsetzten? Naruto wollte das alles doch sowieso nicht. Warum sollte er sich wünschen, mit so jemandem mehr zu tun zu haben? Der Typ war doch definitiv das, was Naruto an vielen anderen so störte und was ihm den Spaß am Zugfahren gründlich verdorben hatte. So lächerlich es klingen mochte: Als Naruto noch jünger war, hatte er es spannend gefunden, mit öffentlichen Verkehrsmitteln herum zu fahren. Sein neues Hobby hatte er entdeckt, als er von der Grundschule auf die Junior High wechselte, eine Schule, die nicht mit dem Fahrrad erreichbar war, noch zu Hause in seinem kleinen Heimatort im Süden des Landes. Die Leute, die er dort zufällig im Bus traf, kamen ihm alle unglaublich interessant vor. Jeder von ihnen war aufregend, trug tausend Geschichten mit sich herum, jeder hätte ja möglicherweise sein Freund werden können. Jeden Tag sah er andere Gesichter, neue Möglichkeiten, jemanden kennenzulernen. Egal, ob es Mitschüler waren oder die alte Frau, die zu einem Strandspaziergang fuhr. Oder der Busfahrer mit dem wettergegerbten Gesicht. Narutos flippige Erscheinung fiel auf, die Leute reagierten auf ihn, und er war mehr als willig, darauf einzugehen und fröhlich drauf loszuquatschen. Für den jüngeren Naruto waren Situationen wie Bus fahren, ins Onsen gehen oder Einkaufen, wo es dem Zufall überlassen ist, mit welchen Leuten man zusammentrifft, wie jeden Tag Geschenke auspacken. Aber Tokio, die summende, verrückte Millionenstadt, war anders. Obwohl es hier viel mehr Menschen und viel mehr Möglichkeiten gab, jemanden kennenzulernen, war es hier tatsächlich unglaublich schwierig, jemanden zum Reden zu finden. Die Situation in der Bahn war nur ein konzentriertes Beispiel dessen, was auf den Ballungsraum als Ganzes zutraf. Schon seit ein paar Jahren fuhr Naruto nun sechsmal die Woche in diesem wimmelnden Gedränge, zuerst zur Uni und dann später zur Arbeit, immer zur Rushhour hin und zurück. Niemand reagierte auf ihn. Und irgendwann wurde ihm klar, dass all die Menschen ihn deprimierten, wenn da kein einziger war, dem er wirklich nahe sein konnte. Je mehr Menschen um ihn herum waren, je mehr ein- und ausstiegen und so taten, als wären die anderen gar nicht da, desto mehr fühlte er sich allein. Dabei war es ja seine eigene Entscheidung. Naruto wollte ja in Tokio leben, er liebte diese abgedrehte, pulsierende, niemals stillstehende Stadt! Aber dennoch fraß sie ihn langsam von innen auf. Auf schleichende Weise war er immun gegen die Enge und gegen die ganzen unbekannten Menschen um ihn herum geworden, ob er wollte oder nicht. Sein Kopf schwirrte vor Gesprächsfetzen, Lautsprecherdurchsagen, einer Kakophonie von kurzen Signal- und Werbemelodien und dem Knallen der Türen. Er hatte versucht nicht hinzuhören, und irgendwann nach einigen Monaten in der Hauptstadt hörte er tatsächlich nichts mehr. Genau wie alle anderen hängte er sich an die runde Schlaufe, um nicht umzufallen, wurde eingelullt von dem monotonen Geräusch der Bahn auf den Gleisen. Stationen zogen vorbei und anonyme Menschenmassen, überall unzugängliche Gesichter, Anzüge und Krawatten, ein Aktenkoffer kommt, ein anderer geht. Ein paar Schüler, die mit ihrer Gruppe herumalbern. Aufgestylte junge Frauen, die ihr Make-up kontrollieren. Naruto kannte das alles, und er hatte sich daran gewöhnt, dass alle versuchten, der zu großen körperlichen Nähe auf ihre Weise zu entkommen. Alle versteckten sich. Alle liefen zwischen den Scheuklappen ihres Arbeitsalltags stur geradeaus. Sie schlossen die Umgebung aus, sie schalteten sich ab, sie taten so, als wären sie gar nicht da. Die Menschen zogen sich komplett in ihr Inneres zurück. Als ihm irgendwann klar geworden war, was ihn so frustrierte, hatte er sich gedacht, dass wenigstens er selbst niemals so werden wollte. Aber wenn er ganz ehrlich war - war er denn nicht auch schon ein bisschen so? Mit seinen Kopfhörern im Ohr hätte doch auch er den anderen Passagieren keine Aufmerksamkeit geschenkt und sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen, genau wie dieser unverschämt gutaussehende Typ da. Deswegen nahm er doch immer Musik mit: Damit er wenigstens so tun konnte, als machte es ihm nichts aus, mit sechs anderen Leuten einen Quadratmeter Fußboden zu teilen und sich dennoch so isoliert vorzukommen. Früher hatte Naruto immer Augenkontakt zu den anderen Pendlern gesucht, aber jetzt schaute er nicht mehr, zumindest nicht mehr richtig. Sicher, er war immer noch neugierig, aber er konnte die unüberwindlichen Mauern, die alle um sich herum aufbauten, irgendwie nicht länger ertragen. Die Gesichter, denen er begegnete, gaben keine Antworten, sie sagten ihm nichts, und in ihnen nichts zu finden war irgendwie schlimmer, als wenn sie gar nicht da gewesen wären. Aus diesem Grund hatte auch Naruto angefangen, sie zu übersehen, hatte sich dazu bringen müssen, sie zu übersehen. Schließlich glitt sein Blick von dem anderen ab, dessen Anblick so widersprüchliche Gefühle in ihm auslöste, und fand das Spiegelbild seines orangefarbenen Kapuzenpullis im Fenster. Der Tag fängt ja gut an, wenn ich auf einmal wieder über diese Sachen nachdenke... Er hatte doch längst gelernt hier zu leben und dieses Gedränge auszuhalten, also was war los mit ihm? Es war eben einfach ein erforderlicher Transportweg, ein notwendiges Übel, eine leere, tote Zeit, die man jeden Tag aufs Neue durchschreiten musste, ohne etwas daraus mitzunehmen. Gab es denn überhaupt einen Grund, auf einmal so niedergeschlagen zu sein? Naruto hatte doch einen Job, er hatte auch ein paar gute Freunde, die er nur zu selten sah, weil sie so weit auseinander wohnten, und ein kleines Apartment für sich. Es lief doch alles ganz gut. Sicher, er sollte vermutlich mehr auf sich achten. In letzter Zeit schaffte er meistens nur den Gang zum nächsten Lawson. Seine Miniküche war verwaist, er lebte von Instantramen und seinem Wasserkocher. Die Abende verbrachte er im Fitnessstudio in der Nähe des Büros. Nun, es gab sowieso niemanden, der zu Hause auf ihn wartete. Aber alles in allem war Narutos Leben doch okay. Er war okay. Und an Tagen wie diesen musste man eben einfach versuchen, die endlose Bahnfahrt irgendwie hinter sich zu bringen. Naruto warf seinem Spiegelbild im Fenster einen entschlossenen Blick zu. Was auch immer es war, das ihn heute so irritierte – er würde sich nicht unterkriegen lassen. Er war bestimmt keiner, der so einfach klein beigab und sich fertigmachen ließ, auch nicht und schon gar nicht von jemandem, bei dem er sich nicht entscheiden konnte, ob er ihn anmachen oder ihm für seine Arroganz eine reinhauen wollte! Hatte er etwa ein Problem damit, dass sich alle hier so kunstvoll ignorierten? Nein, ganz bestimmt nicht. Sollten sie doch aneinander vorbeischauen, so viel sie wollten! Dann würde er es eben genauso machen. Pah, das habt ihr euch so gedacht! Ihr könnt mich alle mal! Da ging plötzlich der Vibrationsalarm seines Handys in der hinteren Hosentasche los. * ~ * ~ * ~ * ~ * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)