Rushhour - Sieh mich an von Lyssky ================================================================================ Kapitel 2: II ------------- Der Empfang war gut, schließlich war es keine U-Bahn. Naruto stand dem Verbotsschild direkt gegenüber, doch er quetschte seine Hand zu seinem Hintern durch und ging trotzdem ran. Natürlich wusste er, dass allgemein Anstoß daran genommen wurde, wenn jemand die Regeln nicht einhielt, aber auch, dass niemand etwas sagen würde. Die Leute würden weghören, wenn er sprach, so tun, als gäbe es keine Störung, und er selbst würde unhöflich genug sein, die dezenten Seitenblicke zu ignorieren. Es würde ihn ein wenig von der Monotonie hier drin ablenken, denn telefonieren war besser als sich langweilen. Außer vielleicht, es war sein Chef. Naruto klappte das Handy auf, und es war sein Chef. Nicht gerade sein Favorit für das erste Telefongespräch am Morgen... Das musste wieder einer dieser sinnlosen Kontrollanrufe sein, so als ob sein Leben nur der Firma gehörte! „Hallo“, sagte er, ohne gleich zu misstrauisch klingen zu wollen. Vielleicht war es ja doch mal etwas Nettes? „Un. Aber es tut mir leid, ich bin noch in der Bahn.“ Das kümmerte seinen Chef anscheinend wenig, denn er entschuldigte sich nicht für den Anruf, der Naruto jetzt in die Klemme gebracht hätte, wenn ihm das Telefonierverbot nicht sowieso egal gewesen wäre. „Un.“ Wäre er nicht so auf das Gespräch konzentriert gewesen, hätte er bestimmt ein leichtes Prickeln im Nacken verspürt. Naruto wurde beobachtet. „Un, kann ich machen.“ Oh Mann, er hätte es wissen müssen! Der Chef wollte wieder, dass er ihm einen Kaffee mitbrachte. Den Naruto schon wieder von seinem eigenen Geld bezahlen musste. Naruto zog die Augenbrauen zusammen. Diese Sonderwünsche waren echt ziemlich irritierend. Und jetzt musste er ihm auch noch nachsprechen, damit er es auch ja richtig machte. „Mit Sojamilch, zweieinhalb Päckchen Zucker, Größe XL. Der Strohhalm darf grün oder blau sein, aber auf keinen Fall rot. Verstanden.“ Doch, er hätte es gefühlt. Spätestens jetzt hätte er das Gefühl gehabt, dass jemand ihn beobachtete. Nur wurde es im Moment von dem Ärger über seinen Chef und dessen Auftrag überdeckt. „Ja, natürlich.“ „Bestimmt.“ Okay, Naruto war genervt, aber er versuchte, sich seine Irritation nicht anhören zu lassen. Er musste schließlich von irgendwas leben. Dafür brauchte man eben einen Job, selbst wenn man sich hinquälen musste und für den Boss den Laufburschen spielen. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Bis er irgendwann im Lotto gewann! Dennoch rollte er mit den Augen, das konnte sein Chef schließlich nicht sehen. Und als seine Augen so die Runde machten, streiften sie wieder den Typ auf der Bank. Den mit den großen Kopfhörern. So wie Naruto jetzt stand, gerade dem Fenster zugewandt, konnte er seine Gestalt nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen, doch ihm war... ihm war, als hätte er ihn angesehen. Die Millisekunde, die Naruto brauchte, um sich in Bewegung zu setzen und erstaunt den Kopf zu drehen, genügte dem anderen, den Blick abzuwenden. Seine Haltung änderte sich nicht. Es waren nur die Augen, die sich bewegt hatten, und Naruto meinte, es nur ganz knapp verpasst zu haben, dass sie sich ansahen. Fast war ihm, als könnte er dabei zusehen, wie die Augen des anderen zurück an ihren Platz glitten und ihr gerades Starren wieder aufnahmen. Für einen Augenblick glaubte Naruto, der Mann hätte ihn direkt angeschaut. Nicht mit einem dieser vorsichtigen, schwachen Blicke, die sofort leer werden, wenn man ihnen aus Versehen begegnet. Es musste mehr gewesen sein, viel mehr. Denn jetzt spürte er endlich das Prickeln in seinem Nacken, und es war so stark, dass er das Handy an seinem Ohr völlig vergaß. All dies geschah in Sekundenbruchteilen. Mit dem nächsten Wimpernschlag war die Ordnung wieder hergestellt. Die Gewissheit, etwas Außergewöhnliches gesehen zu haben, verkam zu einem flüchtigen Eindruck. Der Typ hatte ihn nicht angeschaut, er trug schließlich eine perfekte Maske der Unberührbarkeit, wie er so dasaß, mit den Händen in den Hosentaschen und völlig in sich gekehrt. Wer so ein Gesicht machte, als sei er nicht von dieser Welt, konnte wohl kaum vor einer Sekunde ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen und einen anderen Fahrgast so intensiv angestarrt haben, dass dieser ein Prickeln im Nacken verspürte. Es gab immer eine Übergangsphase, die Zeit, die es brauchte, die Gesichtszüge zu glätten, den Herzschlag zu beruhigen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, oder einfach gar nichts mehr zu denken. In der langen Zeit, in der Blicke schon an ihm abglitten und wieder zu Leere wurden, hatte Naruto gelernt, die Menschen zu beobachten, diesen Rückzug in sich selbst zu erkennen. Es war unmöglich. Er musste sich getäuscht haben. Naruto fühlte eine Art dumpfe Enttäuschung, die er sich selbst nicht recht erklären konnte. Was hatte er denn erwartet? Zerstreut fiel ihm das Handy wieder ein, das er noch immer in der Hand hielt, und klappte es zu. Die letzten Worte seines Chefs waren ihm wohl entgangen. Und da wusste er plötzlich ziemlich genau, was er erwartet hatte. Selbst ein böser Blick für sein unverschämtes Telefongespräch wäre ihm lieber gewesen als die totale Abschottung um ihn herum, nicht nur von diesem blassen Menschen auf der Bank, sondern von allen! Naruto ballte die Faust um sein Mobiltelefon. Bewusst ließ er jetzt seinen Blick auf dem anderen hängen, obwohl er sich klar war, dass die Leute es nicht mochten, so direkt angesehen zu werden. Dieser da vermutlich besonders wenig. Bis vor wenigen Augenblicken hatte Naruto noch gedacht, dass er gelernt hätte, das zu akzeptieren. Aber jetzt wurde er plötzlich richtig sauer, und er hatte keine Lust mehr, irgendwas zu akzeptieren. Er wollte eine verdammte Reaktion! Und er wollte sie nicht von irgendwem, sondern von diesem da, diesem betont coolen Mann mit seiner stylischen Frisur und dieser „du kannst mich mal“-Aura. Weil er dieses feige Spiel perfekter beherrschte als alle, denen Naruto jemals begegnet war. Weil seine Missachtung war wie ein Schlag ins Gesicht. Weil er all das war, was Naruto haben wollte, und nicht haben konnte. Naruto bohrte seinen Blick in den Fremden. Er tat es, um ihn provozieren, und dabei wurde ihm auf einmal etwas klar. Dieser Typ wirkte so anders, weil er völlig entspannt aussah. War seine Maske vielleicht gar keine Maske im eigentlichen Sinne? Es schien mehr so, dass er einfach so war. Die Coolness, die Unberührbarkeit, nichts davon war erzwungen. Ja, das musste es sein. Ihn berührte einfach wirklich nichts von dem, was um ihn herum geschah, nichts in diesem Abteil, nichts auf seinem Weg wer weiß wohin, vielleicht einfach nichts auf dieser Welt. Wie ein Wesen aus der Geisterwelt, das in der Welt der Menschen nur auf der Durchreise ist. Das war natürlich völliger Quatsch. Naruto hatte eine Heidenangst vor Geistern, und dieser Kerl war bestimmt keiner. Naruto wollte ihn irgendwie wachrütteln. Was bräuchte es wohl, um jemanden wie ihn dazu zu bringen, seine Verbindung zur Außenwelt einzuräumen? Einzugestehen, dass es auch noch andere Menschen auf diesem Planeten gab? Dreißig Millionen Menschen allein in diesem Großraum, täglich zwei Millionen, die in Shinjuku umsteigen. Hundertzwanzig andere in diesem Abteil. Da war etwas an seiner Art, das Naruto grenzenlos provozierte, so wie er starr geradeaus sah und ihn ignorierte. Zehn andere, die so nahe standen, dass er sie berühren könnte. Naruto war einer von diesen zehn. Nur einem Einzigen anderen Relevanz zuzugestehen– „Meguro, Meguro desu.“ Ein Ellenbogen, der sich plötzlich schmerzhaft in seinen Rücken bohrte, lenkte Naruto ab. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie wieder in einen Bahnhof eingefahren waren und das Gedränge wieder losging. Etwas ärgerlich drehte er sich um und sah erstaunt einen schmächtigen älteren Mann, der sich verzweifelt an einen riesigen quietschbunten Koffer mit Hello-Kitty-Aufklebern klammerte und im Gewühl fast von den Beinen gerissen wurde. Warum jemand zur Rushhour mit so einem Koffer, den er kaum tragen konnte, mit dieser Linie fahren musste, war Naruto ein komplettes Rätsel. Aber er musste bei dem Anblick unwillkürlich grinsen. Er hatte einfach ein Faible für verrückte Leute. Als er sich wieder umdrehte, lag das Grinsen noch immer auf seinem Gesicht. Und der Typ, den er eben noch beinahe mit einem Geist verwechselt hatte, sah ihn an. Nicht den komischen Kauz mit seinem überdimensionierten knuffigen Koffer hinter ihm, sondern ihn. Naruto. Ihm blieb fast das Herz stehen. Der Typ mit dem Kopfhörer sah ihn an, und in seinem Gesicht bewegte sich etwas. Er schmunzelte. Mit einem ironischen Lächeln kommentierte er die Szene hinter Naruto, oder vielleicht auch die Szene mit Naruto. Vielleicht gefiel es ihm, dass er einen heftigen Stoß abbekommen hatte. Vielleicht war das Schadenfreude, oder Ausdruck seiner Belustigung über die unendliche Dummheit gewisser Menschen in diesem Abteil. Es war egal. Er sah ihn direkt an, und er zuckte mit den Mundwinkeln. War das eine Reaktion? Auf ihn, Naruto? Er konnte später nicht sagen, ob das Grinsen auf seinem Gesicht festfror oder ob es langsam schmaler wurde und verschwand. Er hatte keine Ahnung, wie er in dem Moment aussah, und auch keine Kontrolle über sich. Sieht er mich wirklich an? Naruto konnte es kaum glauben. Seine Augen. Schwarz. Tief– Das Lächeln verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war, und sogleich war es, als wäre es nie dagewesen. Sie beide sahen zur selben Zeit weg, und Naruto schluckte schwer. Er musste träumen, er musste wirklich Gespenster sehen. Aber der andere hatte ihn angeschaut. Naruto hatte ihn ja auch angeschaut, es hatte ja eigentlich nichts zu bedeuten. Moment, was hätte es denn schon bedeuten sollen, bitte? Naruto hatte doch ihn provozieren wollen, warum war er dann plötzlich so nervös? Vielleicht, weil er gar nicht damit gerechnet hatte, dass es wirklich funktionieren würde? Wieder trafen sich ihre Blicke. Und diesmal schauten sie sich zu lange an, um noch so tun zu können, als hätte man den anderen nur gestreift. Sie schauten sich so lange an, dass in wenigen Sekunden eine Million Dinge geschahen. Der Mann schaute nicht mehr aus den Augenwinkeln, sondern hatte Naruto das Gesicht zugewandt. Er hatte seinen Kopf tatsächlich gedreht, um ihn frontal anzusehen. Naruto gab ein unfreiwilliges Keuchen von sich. Das Feuer in den Augen des Mannes, schwarz wie die Nacht, traf ihn völlig unvorbereitet wie ein Schlag aus dem toten Winkel. Diese Augen brannten. Vor Zorn, vor Gier, vor Verlangen nach irgendetwas, er konnte es nicht sagen. Er wusste nur eins: Dass er völlig falsch gelegen hatte. Dieser Mensch schwebte nicht in irgendeiner höheren Sphäre. Er war nicht unerreichbar. Ganz im Gegenteil, er war mehr im Hier und Jetzt, als Naruto sich selbst gerade fühlte. Er war so real, wie etwas nur real sein konnte. Sein Blick war zupackend und kompromisslos, und er gab Naruto das Gefühl, selbst irgendwie... verdrängt zu werden, wenn er nicht aufpasste. Naruto hatte den Eindruck, dass sie regelrecht miteinander rangen. Aber du kriegst mich nicht klein, du schüchterst mich nicht ein, dachte er und starrte zurück, obwohl er spürte, wie eine Art Fluchtinstinkt seine Hände schwitzig machte. Und da war auch noch etwas anderes. Der andere riss ihm gnadenlos die Kleider vom Leib und warf ihn ins eiskalte Meer, nur um ihm dann eine kameradschaftliche Hand entgegenzustrecken, ihn wieder herauszuziehen und in eine warme Decke zu hüllen, mit seinem Blick allein. Eine heißkalte Gänsehaut überfiel Narutos Körper vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen, jedes einzelne Härchen stellte sich auf und zitterte aufgeregt. Der harte Griff, mit dem der andere ihn festhielt, gab ihm ein unerwartet wirbelndes Gefühl in der Magengegend, ein erwartungsvolles Beben, das ihn überraschte, so heftig war es. Es dauerte und dauerte und dauerte an, und keiner ließ vom anderen ab. Naruto saugte die visuellen Reize auf wie ein trockener Schwamm. Unbewusst befeuchtete er seine Lippen mit der Zunge. Ihm war auf einmal viel zu warm in seinem Pulli. Diese tiefschwarzen Augen, die alles andere mit frostiger Indifferenz betrachteten, doch ihn, Naruto, ihn als Einzigen das lodernde Feuer spüren ließen, das ihnen innewohnte, waren so wahnsinnig erotisch! Der Mann, dem sie gehörten, musste ein ruhender Vulkan unter einem vereisten Gletscher sein, der seine wahre Natur vor dem Rest der Welt gut zu verbergen wusste. Niemand konnte die Lavaströme sehen, die tief in seinem Inneren brodelten, doch sie waren da und sie wollten entfesselt werden. Naruto wollte derjenige sein, der sie entfesselte. Scharf, dachte er, während ihm fast schwindelig wurde, weil ihm alles Blut in den Unterleib rauschte, du bist rattenscharf. Du bist – purer Sex! Naruto starrte und schluckte. Sie sahen sich immer noch an. Wie lange sollte das gehen? Wo führte das hin? Waren sie wirklich im vollen Zug und nicht eher in irgendeiner Kampfarena, in der gegeneinander angetreten und hemmungslos geliebt wurde? Naruto wollte nicht wegsehen, nicht nur, weil er nicht der Erste sein wollte, der wegsah, sondern auch, weil er die explosive Mischung aus Rivalität und Erotik, die zwischen ihnen die Luft elektrisierte, nicht zerstören wollte. Aber aus genau diesem Grund musste er wegsehen. Wenn er dem Mann nur eine Sekunde länger ins Gesicht sah, würde er hier an Ort und Stelle einen Ständer kriegen, den man selbst mit gutem Willen nicht übersehen konnte. Narutos Gesicht stand ohnehin schon in Flammen. Er wusste, dass er rot war wie eine Tomate und ihm beinahe die Augen herausfielen. Mit einer unmenschlichen Willensanstrengung riss er sich schließlich los und schaute dankbar auf die Gummiabdichtung zwischen Wand und Fenster. Das brauchte er jetzt, um wieder herunterzukommen: leblos und neutral. Als die stickige Luft im Wagon mit Gewalt in seinen Brustkorb zurückströmte, schmerzte es fast. Naruto hatte überhaupt nicht gemerkt, dass er den Atem angehalten hatte, doch jetzt fühlte er sich auf einmal, als wäre er nur knapp dem Erstickungstod entkommen. What the fuck?! Der Typ hätte mich fast umgebracht! Aber Naruto war nicht wütend. Er war aufgekratzt und erregt. Der Wagen hielt, noch mehr Menschen stiegen ein, es wurde zusammengerückt. Naruto kämpfte, um an seinem Platz zu bleiben und nicht weggeschoben zu werden, und wieder suchten sich ihre Augen. Es war fast, als wollten sie beide wissen, ob sie jetzt von der Menge auseinandergerissen wurden oder nicht. Und da, tatsächlich: Ein älterer Mann in einem hellgrauen Anzug unterbrach ihren neuerlichen Blickkontakt, indem er sich direkt vor Naruto schob und ihm die Sicht auf den anderen versperrte. Den anderen, der ihn unmissverständlich angeschaut hatte. Naruto verlagerte das Gewicht auf sein rechtes Bein, weil er ziemlich unbequem dagestanden hatte, und rollte ein wenig mit dem Kopf, um seinen Nacken zu entspannen. Niemand, der ihn so sah, hätte gedacht, wie schnell sein Herz in seinem Brustkorb klopfte. Was genau hatte er da in den Augen des anderen gelesen? Ist es das, was ich hoffe? Naruto fand selbst, dass es nach diesem wortlosen Schlagabtausch etwas albern klang, aber es musste ja nicht bedeuten, dass der andere ihn ebenfalls so anziehend fand. Es könnte alles Mögliche bedeuten, vielleicht hält er mich für einen Touristen und ist einfach ein bisschen neugierig? Aber nein. Nein. Da war etwas viel Größeres aufgeblitzt als nur Neugier, das war... eine Art herausfordernde Einladung gewesen! Was, wenn er wirklich auf mich steht. Der Gedanke machte Narutos Mund trocken, während sein kleines Problem in der Hose sich wieder meldete. Er war ein gutaussehender Mann. Nein, mehr als das. Er war atemberaubend schön. Naruto hatte kein Problem damit, es zuzugeben. So, wie er schon jetzt auf ihn ansprach, auf diese blasse, ebenmäßige Haut, die wie Porzellan aussah, und die intelligenten, angriffslustigen Augen, könnte er ohnehin nicht mehr lügen. Sein Bild hatte sich bereits unauslöschlich auf Narutos Netzhaut eingebrannt. Wir zusammen wären der Hammer. Naruto wusste es einfach. Nach einer halben Ewigkeit, während der er still vor sich hingrinste und in ziemlich unzüchtige Gedanken versunken war, wie er sich ein Date mit dem attraktiven Unbekannten – ok ok, eine Nacht mit ihm – vorstellte, stellte sich der angegraute Anzugträger, der ihren Kontakt unterbrochen hatte, ein wenig anders hin. Vielleicht wollte er gleich aussteigen. Gleich war es wieder soweit. Und natürlich wollte Naruto wieder schauen. Er wusste selbst nicht, warum er plötzlich das Gefühl hatte, er müsse schauen. War ihm nicht vor einer Minute noch irgendwie bewusst gewesen, dass er die Leute damit irritierte? Erntete er mit solchen Aktionen normalerweise nicht immer nur ein stoisches Wegschauen der anderen, und frustrierte ihn das nicht jedes Mal aufs Neue? Das war doch der Grund, warum er das längst aufgegeben hatte... Ja, er wäre mehr als nur ein bisschen vor den Kopf gestoßen, wenn er jetzt, nachdem er schon so ungestüm gehofft hatte, wieder gegen so eine Mauer prallen würde. Der andere wirkte wie jemand, dem man das durchaus zutrauen könnte. Erst ein bisschen reizen, dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Aber das würde Naruto nicht mit sich machen lassen. Es könnte ihn gar dazu bringen sich durchzudrängeln, den anderen trotz Bahn und Etikette und allem am Kragen zu packen und ihn zu schütteln, bis er zugab, dass er ihn bereits als ebenbürtig akzeptiert hatte. Da wurde der Blick auf den Sitzplatz vor dem Fenster schräg vor ihm endlich wieder frei. Doch Naruto stutzte. Der andere war gar nicht mehr da. Naruto blinzelte ein paar Mal verdutzt, aber das Bild blieb dasselbe. Dort saß jetzt eine ältere Frau mit Hut und Kleidung in dunklen, gedämpften Farben, die braune Handtasche auf dem Schoß. WAS?! Es war ein Schock. Wo war sein Unbekannter hin? Naruto starrte mit weiten Augen, als er sich hektisch umsah und das erste Mal seit mehreren Minuten mitbekam, wo sich der Zug gerade befand. Er hatte von seiner Umgebung überhaupt nichts mehr wahrgenommen. Seit ihrem ersten Blickkontakt hatten in seinem Kopf nur noch sie beide existiert, Mr. Fucking Hot Sex und er. Er hatte nicht mitbekommen, wie der Zug die Station verlassen hatte, wo er den Ellenbogen in den Rücken bekommen hatte. Draußen waren Hochhäuser, riesige Werbeplakate und Hochspannungsleitungen vorbeigeflogen, ohne dass er auch nur ein einziges Detail registriert hätte. Solange der Unbekannte mit den Onyxaugen da war, war alles andere irgendwie egal gewesen. Und jetzt war er fort. Naruto schluckte schwer, als er merkte, dass sie wieder in einem Bahnhof standen. Shibuya. Shit. Naruto erschlaffte an seiner Halteschlaufe. Der Typ war ausgestiegen, einfach so. Es fühlte sich ein bisschen an wie vorhin, als er glaubte, er hätte sich darin getäuscht, von dem anderen angesehen worden zu sein. Aber jetzt war es viel schlimmer. Narutos Enttäuschung war bodenlos, obwohl er doch gewusst hatte, dass so etwas passieren konnte. Was hatte das alles denn dann gesollt? Dieser lange Blick, das Lächeln... diese Intensität, die ihn so überrumpelt hatte? Ach Mist, aber er wusste ja selbst, dass er sich mal wieder die tollkühnsten Sachen einredete. War das hier nicht genau so eine Situation, wie er sie in Zukunft hatte vermeiden wollen, weil er schon zu oft enttäuscht worden war, in seinen ersten Monaten in Tokio? Wider besseres Wissen hatte er auf jemanden gesetzt, den er überhaupt nicht kannte, und war auf die Nase gefallen. Wie es ihm alle, denen er seine Tagträumereien von weltbewegenden Zufallsbekanntschaften irgendwann einmal anvertraut hatte, schon tausendfach prophezeiht hatten. Das war ernüchternd und brachte ihn für einen Moment ins Schwanken. Es war eigentlich total lächerlich, aber er fühlte sich irgendwie, als hätte der andere ihm den Laufpass gegeben. Haha, nach unserer 90-sekündigen Beziehung. Er musste gestern schlechten Fisch gegessen haben, um auf so verrückte Gedanken zu kommen. Ich meine, ‚Beziehung’?! Naruto klatschte sich die Hand gegen die Stirn, so dämlich kam er sich gerade vor. Sich mal kurz in der Bahn anzuschauen ist keine Beziehung, Uzumaki, sagte er streng zu sich selbst. Es ist auch keine solide Basis für eine. Es ist nicht mal ein richtiger Kontakt, geschweige denn miteinander fl– Oh verdammt verdammt, aber das war ein Kontakt, und er wollte für ewig in der Hölle schmoren, wenn das nicht auch ein Flirt gewesen war! Jetzt wollte er sich doch am liebsten ein Bein ausreißen. Warum kapierte er das erst jetzt? Das war ein Flirt, wie er unter gegebenen Umständen eindeutiger nicht sein konnte! In einer Situation, wo man nicht nur unter keinen Umständen miteinander redete, sondern sich nicht mal ansah! Dieser Typ würde vermutlich nicht mal mit der Wimper zucken, wenn ihm ein Yakuza mit der Knarre in der Hand „Deine Mama hatte mal einen Sohn“ ins Ohr knurren würde. Aber Naruto hatte er angesehen. Aus welchen mysteriösen Gründen auch immer hatte er ihn ausgewählt, als Einziger unter wer weiß wie vielen anderen nicht unsichtbar zu sein. Er hatte sich ein bisschen über ihn lustig gemacht, und er hatte gelächelt. Und danach... Da war immer noch zu viel Verwirrendes in diesem langen, brennenden Blick gewesen, als dass Naruto schon richtig aussortieren konnte, was genau das eigentlich gewesen war. Aber es war definitiv nicht 'nichts'. Es war eher das genaue Gegenteil von 'nichts' – es war etwas, und zwar etwas verdammt Aufregendes und zugleich auch Tröstliches. Dieser Fremde hatte ihm mit seinen Blicken gesagt, dass er wusste, dass Naruto auch da war. Das klang so banal, so unbedeutend - aber Naruto hatte sich plötzlich nicht mehr so allein gefühlt. Damn it. War sie da nicht wieder, diese verzwickte Sache mit der Einsamkeit? Bedrückt kaute Naruto auf seiner Unterlippe herum. Als ihn wieder jemand anrempelte, kämpfte er nicht, um seinen Platz am Fenster und an der Halteschlaufe zu verteidigen. Der Druck der Masse war in den großen Stationen immer besonders schlimm, und Naruto ließ es zu, dass er einfach weitergeschoben wurde, bis er irgendwo in der Mitte des Abteils so eng eingequetscht stand, dass er sich keinen Millimeter mehr rühren konnte. Der Rucksack auf seinem Rücken machte es nicht besser, und Naruto schenkte ihm einen flüchtigen Gedanken in der Hoffnung, dass er nicht abgerissen wurde. Aber eigentlich war er nicht bei der Sache. Der Unbekannte – ok, der sexy Unbekannte, sieh der grausamen Wahrheit ins Auge – ging ihm nicht aus dem Kopf, genauso wenig wie seine eigene Dummheit. Wenn er früher kapiert hätte, was da zwischen ihnen eigentlich ablief, hätte er ihn doch einfach angequatscht, oder nicht? Dafür war er in seiner kleinen Heimatstadt schließlich berüchtigt. Das war eine seiner besten Qualitäten: Es war ihm einfach egal, ob seine „Opfer“ es vielleicht ungewöhnlich oder peinlich fanden. Er hätte zwar gar nicht genau gewusst, was er hätte sagen sollen, aber das wäre ihm dann spontan schon eingefallen. Der andere hätte ihn bestimmt nicht abgewiesen, da war er sich sicher. Geschah ihm nur recht, dass er jetzt kaum zwischen dem mit Altersflecken übersähten, spärlich behaarten Hinterkopf rechts und der von Schuppen übersähten Schulter links hindurchschauen konnte. Denn in dem einen Moment, wo er seine Spontaneität wirklich hätte brauchen können, war er zu langsam und begriffsstutzig gewesen. Aber schließlich war er auch noch nie jemandem begegnet, der ihn mit einem Blick allein so in Atem halten konnte. Sowas wie eben war ihm noch nie passiert. Andererseits, überlegte Naruto, war es doch nicht gerecht, dass unbedingt er derjenige sein sollte, der den ersten Schritt machte. Warum musste es Naruto sein, der ihn ansprach? Warum sagte der andere nicht einfach etwas, wenn er an ihm interessiert war? Es war doch irgendwie unfair, dass er heimlich still und leise darauf wartete, von Naruto angesprochen zu werden, und dann einfach ging. Klar mussten sie beide irgendwann aussteigen, aber Naruto konnte doch nicht wissen, dass der andere schon vor ihm rausmusste. Wenn er das gewusst hätte, hätte er früher etwas getan. Und jetzt war es zu spät, schließlich standen die Chancen, dass sie sich nochmal zufällig trafen, schlechter als eins zu eine Million. Der Typ war ein verdammter Bastard, ihn so zu reizen und dann einfach abzuhauen! Ja, ein arroganter Bastard! Das hatte er doch gleich gesehen. Naruto ärgerte sich noch immer über die verpatzte Chance, aber eigentlich hatte der andere die Genugtuung, dass er ihn so an der Nase herumgeführt hatte, doch gar nicht verdient. So toll war er nun auch wieder nicht. Er versuchte, nicht mehr daran zu denken. * ~ * ~ * ~ * ~ * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)