Briefe an Gary von -Fred ================================================================================ Kapitel 3: Ablenkungen ---------------------- Ablenkungen Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Gary sich aufsetzte. Er war eingeschlafen, vielleicht hatte er auch vor lauter Kummer nicht mitbekommen, wie spät es bereits war; Fakt war jedoch, dass er den Postboten verpasst hatte und somit das erste Mal bei einem der anderen Nachbarn klingeln musste. Außer der Mitteilung des Paketboten fand er zwei Briefe und eine CD, ohne Cover, ohne Beschriftung. Schulterzuckend steckte er sie ein und machte kehrt, um sein Paket zu holen. Die Überraschung war beiderseits, als Gary die Klingel betätigte und nach polternden Schritten niemand Anderes öffnete als der rothaarige Zwilling, den er vor dem Meldeschalter getroffen hatte. Sie stutzten, bevor sie fast synchron grüßten. „Du willst sicher dein Paket holen.“ Er duzte ihn, und das gefiel Gary. Sein Gegenüber beugte sich nach rechts und erschien gleich darauf wieder im Türrahmen, ein kleines, mit viel Paketband umwickeltes Päckchen in der Hand. Als er es Gary überreichte, fiel sein Blick auf die Briefe, die aus der Kängurutasche des Sweaters lugten. „Kannst du deinen Pass auch schon abholen?“, fragte er neugierig. „Was?“ Gary folgte seinem Blick und zog den vordersten Brief hervor. Er war maschinell adressiert und trug anstatt einer Briefmarke einen amtlich wirkenden Stempel. Der Absender war ein gewisses Zentralamt des Bezirks C31. Schnell riss er das Kuvert auf und überflog das Schreiben. „Wenn du magst, können wir zusammen hingehen.“ Der Rotschopf versuchte ein Lächeln, das Gary nur zu gern erwiderte. Sein Gesicht fühlte sich seltsam verkrampft an, als ob er für Stunden eine Grimasse gezogen hätte. Das Schweigen wurde unangenehm, und Gary beeilte sich zu sagen: „Ähm… Ich bin Gary, Gary Catrall.“ „Ted Weatherby. Freut mich, Gary“, antwortete der Zwilling und sein Lächeln war gleich um Einiges herzlicher. „Okay, Ted. Wann hattest du denn geplant, loszugehen?“ Und wo ist dieses Amt überhaupt, wollte er hinzufügen, besann sich aber rechtzeitig auf die Karte, die nutzlos in einer Schublade im Flur lag. Ted zuckte mit den Schultern. „Pack doch erstmal aus, ich hab eh noch nicht gegessen. Wenn es dir nichts ausmacht, komme ich dann und hole dich ab.“ Sie beließen es bei dieser Abmachung und verabschiedeten sich. Gary stieg die Treppe wieder empor und trat in seinen Flur. Er war froh, dass Ted und er im selben Haus wohnten, es nahm dieser ganzen Welt etwas von ihrer Monstrosität. Sie kannten sich kaum, aber beide waren sie Hals über Kopf aus einem jungen Leben gerissen und hierher gebracht worden, in ein Paralleluniversum, dass ihm bis jetzt nur zu einem Bruchteil offenbart worden war. Gary gestand sich ein, dass er sich so lang wie möglich vor dem Besuch in diesem Zentralamt gedrückt hätte. Aber zu zweit ist man immer mutiger, sagte er sich, während er die Post auf den Küchentisch legte und nach einer Schere fahndete. Er fand sie in der Besteckschublade und erinnerte sich mit einem Gefühl belustigter Wehmut daran, wie sein Vater immer geschimpft hatte, weil seine Mutter sämtliche Scheren in die Küche verschleppte. Er schluckte und öffnete das Paket. Es war recht schwer gewesen, was daran lag, dass es fast vollständig mit allerlei Tand gefüllt war. Ganz obenauf lagen ein verknotetes Wollknäuel und ein Foto, das ihn und seine Familie bei einem Grillfest vor zwei Jahren zeigte. Beherzt kippte er das Päckchen aus und forstete sich durch das Sammelsurium an Alltagsgegenständen, Kitsch und Dingen, die auf den ersten Blick in den Müll zu gehören schienen. Stück für Stück nahm er unter die Lupe, bevor er es zurück in den Karton warf. Er war ungefähr beim ersten Drittel angelangt, als er ein kleines Plättchen in der Hand hielt. Er kannte dieses Plättchen. Es war ein Plektrum, das er vor einigen Jahren auf einem Konzert gefunden und das Alice ihm abgeschwatzt hatte. Sein Vater hatte ein Loch hineinbohren müssen, damit sie es sich ans Ohr hängen konnte. Gedankenverloren strich er über die ausgefransten Ränder des Loches, den metallenen Haken. Wieder und wieder fuhr er mit dem Daumen um den Rand, während er es einfach betrachtete. Sie hatte es, soweit er den Überblick über ihre unzähligen Ohrlöcher behalten hatte, oft getragen, und er fragte sich, was es hier zu suchen hatte. Seufzend legte er es beiseite und durchkämmte weiter den Schnickschnack. Eine halbvolle Garnrolle in dunkelrot und ein kleines Messingglöckchen erregten seine Aufmerksamkeit. Er legte sie zu dem Plektrum, stierte die Gegenstände an und suchte die Verbindung zwischen ihnen, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: Es waren allesamt Gegenstände, die er irgendwann einmal im organisierten Chaos von Alice’ Zimmer gesehen hatte. Mit der Garnrolle hatte sie eines seiner alten Hemden enger gemacht und das Glöckchen hatte sie vom Halsband einer Katze abgetrennt. Nach und nach erkannte er auch die anderen Dinge aus dem Paket; das Foto, auf dem sie sein Lachen so hübsch fand, ein verknitterter Zettel mit Kritzeleien aus einer langweiligen Unterrichtsstunde, ein trockener Hundekuchen. Langsam dämmerte es ihm: Das alles mussten Dinge sein, die sie gesehen und bei denen sie an ihn gedacht hatte. Beinahe schon zärtlich nahm er das Leckerli und betrachtete es lang. Er konnte sich nicht erklären, warum ein Hundekuchen Alice an ihn erinnerte, aber es war seltsam befriedigend zu wissen – oder viel mehr zu hoffen – dass sie dieses harte Stück Brot berührt und dabei an ihn gedacht hatte. Er fühlte sich seltsam verbunden mit ihr, während er die restlichen verstreuten Dinge betrachtete und sie am liebsten alle auf einmal gehalten hätte. Jedes Stück, jeder Bindfaden stammte aus der Welt, in der Alice war und in die er gehörte. In diesem Moment hatte er den Beweis, dass sie nicht verschwunden war, dass sie einfach getrennt waren für eine unbestimmte Zeit, und es erschien ihm ungerecht, dass er ein Stück Diesseits mit der Post bekam, während seine liebste Freundin sich verzweifelt an einen Hundekuchen und eine große geschliffene Glasscherbe klammern musste. Gary ließ das Leckerli fallen und wischte die Erinnerungsstücke mit seinem Arm zurück in den Karton; er wollte es nicht mehr sehen, nicht jetzt, wo ihn eine Garnrolle beinahe zum Heulen brachte. Er verstaute das Paket auf einem der Hängeschränke, bevor er die Briefe aufhob. Wie gehofft war einer von Alice dabei. Er riss ihn auf, begierig darauf, gemeinsam mit ihr im Selbstmitleid zu versinken – doch es waren lediglich unzusammenhängende Fetzen, Bruchstücke und wirre Gedanken, sein Name. Enttäuscht strich er über die raue Stelle, an der das Papier eine Träne aufgesogen hatte. Gary konnte sich nicht erklären, warum ihn diese scheinbar wahllos geschriebenen Sätze so mitnahmen wie ihr erster Brief. Es ergab keinen Sinn, und das konnte es sein, dass ihr die Trauer die Fähigkeit nahm, einen Text zu schreiben. Mit zitternden Fingern faltete er den Brief und schob ihn ans andere Ende des Tisches. Kaum zwei Stunden war er wach, doch er fühlte sich ausgelaugt und vergrub müde das Gesicht in den Händen; so verharrte er, bis ihn das Schreien seiner Türklingel fast vom Stuhl riss. Vage erinnerte er sich, dass er ja zu diesem ominösen Amt gehen wollte (oder eher musste). Am liebsten hätte Gary abgesagt, doch als Ted vor der Tür stand, grinsend und ahnungslos ob des Gefühlschaos, das gerade in Gary tobte, brachte er es nicht über sich. Mit dem amtlichen Brief und der Karte in der Jackentasche folgte er Ted hinaus. * „Bitte lächeln!“ Garys Mundwinkel verzogen sich. Es blitzte und sofort entspannten sich seine Züge wieder. Der Fotograf betrachtete das Foto kritisch auf dem Monitor, und Gary konnte es ihm nicht verübeln; er bezweifelte, dass auf diesem Bild auch nur der Ansatz eines Lächelns zu sehen war. Der bärtige Mann zuckte die Schultern und ließ das Bild drucken, bevor er es auf dem unterschriebenen Pass befestigte und laminierte. Indes gesellte sich Gary zu Ted, der seinen Pass bereits in der Hand hielt und ihn neugierig drehte und wendete. „Bürokratie im Jenseits, schon krass, oder?“ Gary brummte. Ted war, seit sie über die Schwelle des gelb getünchten Neubaus getreten waren, von einer unerschütterlichen Euphorie gepackt gewesen. Der alte Herr, der vor dem Tresen hinter ihm gestanden hatte, hatte sich mehrmals vernehmlich geräuspert, doch Ted hatte nicht im Traum daran gedacht, seinen Pass zu unterschreiben, sondern mit der Beamtin geplaudert und ihr eine Frage nach der anderen gestellt. Gary konnte diesen Wissensdurst beim besten Willen nicht teilen; dass das Jenseits so normal war, machte ihm tatsächlich nur mehr Angst vor dieser Welt und er wollte nichts sehnlicher, als alles schnell hinter sich bringen. Folglich hatte er nur kurze Worte des Dankes übrig, als der Fotograf ihm seinen Pass aushändigte, und zog Ted sogleich zum Ausgang. „Was hast du denn für einen Geist gesehen?“, fragte Ted amüsiert, als sie in den warmen Schein der Nachmittagssonne traten. Die Straße war mäßig belebt, einige drängten sich an ihnen vorbei, als sie den Schotterweg zurück zum Bürgersteig gingen. Gary antwortete nicht und Ted folgte ihm einfach, bis sie aus dem Stadtzentrum heraus waren, wo die Straßen kleiner und die Gärten zwischen den Villen größer wurden. Er blieb stehen und atmete einmal tief durch. Gerne wäre er weitergegangen, immer weiter und weiter, auch wenn Ted umkehrte; er wollte laufen bis ihn seine Füße nicht mehr trugen oder er das Ende dieser verwirrenden Welt erreicht hatte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Ted zögerlich. „Ja, das heißt, Nein“, gab Gary zu. Er unterdrückte den Impuls, einen sagenhaften Sprint hinzulegen und wandte sich dem Rotschopf zu. „Ich meine… guck- guck dir das doch an!“ Er hielt den Pass hoch, der seinem alten Personalausweis bis auf die Schriftart glich. „Ein Pass im Jenseits? Ich bin gestorben und nicht volljährig geworden! Das ist doch vollkommen bescheuert. Warum sitzen wir nicht auf bekloppten pinken Wolken bei Gott oder Petrus oder Elvis und gucken uns die Welt der Lebenden an? Warum ist hier alles so widerlich normal? Es ist als wäre ich umgezogen und ich hab verdammt noch mal keinen Bock umzuziehen, ich will mein altes Leben und meine alten Freunde und ich will bei meinen Eltern wohnen und verdammt noch mal Geld für krebserregendes, fetttriefendes Junk Food ausgeben und den Leuten im Chat antworten können und mir nicht dieses gottverdammte Trauergedöns anhören müssen! Ich will…“, endlich holte er Luft und stieß sie in einem deprimierten Seufzer aus. „Ich will einfach nur nach Hause.“ Ted hatte ihm schweigend zugehört, jetzt runzelte er die Stirn. „Alter, glaubst du ich bin freiwillig hier?“ „Was? Nein“ Gary lachte tonlos. „Zumindest nicht allein, oder?“ „Keine Ahnung. Es ist ziemlich scheiße ohne meinen Bruder, aber ich weiß nicht, ob ich ihm den Tod wünschen sollte damit ich hier nicht alleine rumhocken muss. Und was wäre mit unserer Mum? Ich glaube, einen Sohn verloren zu haben reicht ihr fürs Erste.“ Er lächelte ein wenig gequält, als wäre ihm etwas Großes auf den Fuß gefallen. Ihre Blicke trafen sich und Gary merkte, wie er sich langsam beruhigte. „Lass uns gehen. Ich verspüre den immensen Drang, mich bei den Nachbarn durch unerhört laute Musik unbeliebt zu machen und dabei eine Packung Chips zu leeren.“ „Klingt nach anspruchsvoller Freizeitgestaltung“, bemerkte Gary und merkte, wie seine Mundwinkel ganz leicht nach oben zuckten. Mit Ted war es aber auch schwer, ein bockiger Teenager zu sein. Sie schlenderten zurück zu ihrem Wohnhaus, und Ted schlug vor, eine andere Route zu gehen, um mehr von der Stadt (denn sie gingen davon aus, dass auch das Jenseits in Städte und Länder unterteilt war) zu sehen. Und so kam es, dass sie irgendwann in einem turbulenten Einkaufsviertel standen und vollkommen die Orientierung verloren hatten. Um einfach einen Blick auf die Karte, die Gary mitgenommen hatte, zu werfen, waren aber beide zu stolz. „Ich brauch ‘ne Pause“, stöhnte Ted und wischte sich theatralisch über die Stirn. Auch Gary wurden langsam die Füße lahm und er schaute sich auf dem lauten, geräumigen Marktplatz um. Einzelne Jahrmarktbuden boten Zuckerware oder Bratwürste an, das Aroma der kandierten Äpfel verschmolz mit dem des gegrillten Fleischs und ließ den Jungen das Wasser im Mund zusammen laufen. Gary war drauf und dran, sich den fetttriefenden Köstlichkeiten hinzugeben, als Ted ihn am Arm packte und freudig rief: „Das gibt’s ja gar nicht, schau!“ Er folgte Teds ausgestrecktem Arm; der Zwilling deutete auf ein kleines, in hellorange gehaltenes Geschäft, dass sich zwischen einen Starbucks und eine große Bäckereifiliale quetschte. Ein erfreuter Ausruf entwich ihm. Dort war doch tatsächlich das kleine Café, das unter den Jugendlichen zwischen Whitehaven und Carlisle als absoluter Geheimtipp galt. „Was, du kennst The Cupcake-Shop? „Gegenfrage: Welcher britische Jugendliche kennt den Cupcake-Shop nicht?“ „Auch wieder wahr“, grinste Gary, und konnte selbst nicht glauben, wie flexibel seine Mundwinkel plötzlich waren. Eins seiner Lieblingscafés in der Welt zu sehen, in der er sich seither nur verloren und allein gefühlt hatte, nahm ihm eine Last von den Schultern; es gab auch außerhalb seiner Wohnung vertraute Dinge hier, und das war beruhigend. Voller Vorfreude schritten die beiden über das Kopfsteinpflaster auf die verglaste Eingangstür zu. Das Innere von The Cupcake-Shop unterschied sich recht deutlich von herkömmlichen Bistros und Cafés. Trat man zur Tür herein in den hellrosa gestrichenen, niedrigen Schankraum, wurde man rechts von den Köstlichkeiten, die sich auf und in der verglasten Theke stapelten, dazu eingeladen, sich einen Cupcake selbst zusammenzustellen und seinem Zuckerschock mit einem seligen Lächeln entgegenzutreten. Links, direkt an der mit Fingerfarben bemalten Fensterfront, stand ein schnuckeliges kleines Kaffeetischchen, umringt von Stühlen und Sesseln, die abgewetzt und bunt zusammengewürfelt waren, mit den selbstgenähten Patchworkkissen aber gemütlicher waren als jedes teure Lederarrangement. Im hinteren Teil des Schankraumes fanden sich ähnlich multikulturelle Sitzgelegenheiten, vom riesigen Samtkissen bis zum barocken Königsstuhl. Die Wanddekoration reichte von der bemalten Wand bis zur hauseigenen Fanartikelecke; aber Schmuckstück des ganzen Raumes war die riesige Pinnwand mit Fotos von Kunden und ihren kulinarischen Meisterwerken, und direkt davor stand, die Arme begrüßend ausgebreitet – „Frank!“ „Frank! Sag, bist du tot? Wie das?“ „Hello! Gary, long time no see! Und Ted!”, dröhnte der Besitzer des Ladens mit breitem australischem Akzent und schloss jeden von ihnen in die Arme, und Gary wurde es warm ums Herz. Gleichzeitig fragte er sich genau wie Ted, ob Frank tatsächlich tot war, aber dieser Gedanke wurde schnell von der Tatsache verdrängt, dass hier jemand war, den er kannte. „Ihr seid hungrig? Kommt, ich hab frische Cakes im Ofen, und Peppermint-Icing ist auch da, Ted!“ „Du weißt, wie ich meinen Cupcake mag“, grinste Ted und trat an die Theke, während Frank nach Topflappen, die natürlich die Form kleiner Törtchen hatten, langte und ein Blech dampfenden Gebäcks auf die Arbeitsplatte stellte. Die Kuchen sahen eigentlich aus wie normale Muffins, nur hatten sie in der Mitte ein großes Loch. Frank nahm ein Törtchen, füllte das Loch mit eingelegten Sauerkirschen und Schokoraspeln und klatschte dann eine ordentliche Portion mintfarbener Creme auf den Cupcake. Zur Krönung drückte er ein Toffee in die Creme und überreichte sein Meisterwerk dann strahlend an Ted. „And you, Gary? Willst du mal was Neues testen?“ „Äh- klar“, antwortete Gary, der sich dem Enthusiasmus des Ladenbesitzers einfach nicht entziehen konnte. Frank grinste, als hätte er im Lotto gewonnen, und bevor Gary sich versah, hatte er ein Törtchen in der Hand, von dem nur Frank wusste, was seine Zutaten waren. Er setzte sich zu Ted, der sowohl in seinem Essen als auch in dem riesigen Beanbag förmlich versank, und biss in den süßen Dinkelteig. Das Icing musste eine neue Kreation von Frank sein, er konnte den Geschmack nicht recht einordnen, es war ihm aber auch egal. Das Erdbeermousse im Inneren des kleinen Kuchens füllte seinen Mund mit seinem köstlichen Geschmack und seinen Kopf mit bittersüßen Gedanken an Leute, mit denen er hier so manchen entspannten Nachmittag verbracht hatte. Nein, nicht hier. In der Welt, in die er gehörte. „Ted?“ „Mmmph?“ Gary versicherte sich, dass Frank in der kleinen Wohnung über seinem Laden beschäftigt war, und wandte sich an seine Begleitung: „Woher kennen du und Frank euch so gut?“ Ted kaute zu Ende, schluckte und betrachtete dann den letzten Bissen, den er noch in der Hand hielt. Schließlich zuckte er mit den Schultern und verleibte sich auch diesen ein, bevor er sich die Finger leckte und antwortete: „Ich komme aus Carlisle, hab aber kurz in Brayton gejobbt und mir dann gerne mal einen Feierabend-Muffin gegönnt.“ Grinsend beendete er die Grundreinigung seines Ringfingers und lehnte sich zurück. „Und du?“ „Zufall, purer Zufall. Irgendwer hat mir mal einen Flyer zukommen lassen, ich war neugierig, bin hergefahren und na ja“, Gary hob die Hand zu einer ausschweifenden Geste, „der Sucht verfallen.“ Ted lächelte ihn schweigend an, und Gary aß weiter. „Möchtest du mal meinen Bruder sehen?“ Bevor Gary antworten konnte, stand Ted auf und ging hinüber zur Fotowand, die Frank im Laufe der Jahre angelegt hatte. Er suchte eine Weile, nahm dann eines der Fotos ab und kam zu ihrem Tisch zurück. Mit einem undefinierbaren Ausdruck reichte er Gary das Polaroid-Foto. Es war draußen, vor dem bemalten Schaufenster. Damals gab es keinen Lieferservice, sondern das neu erfundene Bananensplit-Icing wurde in bunten Farben angepriesen. Vor dem Schriftzug, auf genau der hellblauen Bank, die an der Kellertreppe hochkant an der Wand lehnte, saßen Ted und noch ein Ted. Man hätte meinen können, jemand hätte das Foto am Computer gespiegelt, wenn es keine Polaroid mit einem Eselsohr gewesen wäre. Beide Teds hatten ein blaues Polohemd an, beide hielten einen Cupcake mit safrangelber Creme in den Händen, und beide hatten einen Klecks safrangelber Creme auf der Nase; beide lächelten identisch in die Kamera. „Bananensplit?“ „Nein, Gregory, aber alle nennen ihn Greg“, antwortete Ted mit einem spitzbübischen Grinsen. Unwillkürlich lachte Gary auf. „Er ist sechzehn Minuten älter als ich. An dem Tag hatte ich früh Feierabend und er hat mich abgeholt. Wir sind hierher gefahren und er hat mich eingeladen. Frank hatte nie Zwillinge zu Gast gehabt und kroch förmlich auf den Knien, als er uns um ein Foto bat.“ Schweigend betrachtete Gary das Foto, dann legte er es auf den Tisch und schob es zu Ted hinüber. Ted sah es nicht an. In diesem Moment kam Frank wieder hinunter. Er blickte zu seinen beiden Gästen, dann fiel sein Blick auf das Foto. „Oh, it’s you and your twin! Geht es ihm gut? Wo ist er?“ „Nicht hier Frank“, antwortete Gary an Teds Stelle, der mit einem gepressten Lächeln da saß. „Sag, kannst du uns zwei Cupcakes einpacken? Denk dir ruhig was aus.“ Der Ladenbesitzer machte sich an die Arbeit und Gary schnappte sich das Foto und ließ es in seine Hosentasche gleiten, während Ted zum Tresen schlenderte. „Sag mal, Frank…“ „Yes?“ „Du bist doch nicht gestorben, oder?“ Das letzte Wort klang in Garys Ohren fast schon hoffnungsvoll. „Oh nein, nein, nein“ Er reichte dem Rotschopf eine quietschbunte Papierbox, in der zwei kleine Kuchen gerade so Platz fanden. „Ich bin hier nur, weil ihr hier seid.“ Ted und Gary blickten gleichermaßen verwirrt. „Du bist nicht tot?“ „Nein, nur ein Gedanke. Have a nice day!“ Und er verschwand wieder im Obergeschoss. Gary wollte seine Zeche einfach auf den Tresen legen, da fiel ihm wieder ein, dass er sowieso kein Geld hatte und niemand im Jenseits bezahlte. Er winkte Ted und hielt ihm die Ladentür auf. Ein wenig konsterniert trat der Zwilling ins Freie. Keiner von ihnen hatte groß Lust, eine weitere irreführende Tour durch fremde Welten zu machen, also benutzten sie für den Heimweg die Karte, die Sophie ihm gegeben hatte. Gary nahm sich vor, seine Mentorin die nächsten Tage einmal anzurufen und sie über das Rätsel zu befragen, dass ihm Franks Antwort auferlegt hatte. Als sie vor dem blauen Gebäude ankamen, hatte sich auch Ted wieder gefangen. „Noch Lust auf laute Beschallung und ungesundes Essen?“, fragte er, den Schlüssel in der Hand. „Ich könnte mich an keinen Tag erinnern, an dem ich das nicht hatte“, grinste Gary. Sie traten ins kühle Treppenhaus, und ohne sich abgesprochen zu haben, gingen sie beide ins Obergeschoss; etwas sagte Gary, dass seine Wohnung die klügere Wahl war. Er schloss auf und ließ den Rotschopf eintreten. Ted pfiff anerkennend durch die Zähne. „Der Flur ist schon mal ganz schick. Jedenfalls geschmackvoller als der in meinem Studentenwohnheim.“ Er grinste. Gary lächelte zurück und freute sich, wie leicht es ihm fiel, nicht in Selbstmitleid zu versinken. Er lotste seinen Gast ins Wohnzimmer und öffnete die Balkontür. „Hast du eigentlich eine Terrasse?“ „Hatte. Jetzt habe ich eine Unkrautplantage.“ „Die Nachbarn werden entzückt sein. Und apropos Nachbarn – ich hoffe, Sokrates hat dicke Wände.“ Mit diesen Worten legte er eine seiner Lieblings-CDs in die Stereoanlage seines Vaters. „Auf welchen Virtuosen fiel die nervenaufreibende Wahl?“, feixte Ted vom Sofa her. „Mund zu und hinhören“, gab Gary zurück, „ist eine meiner Lieblingsbands.“ Entgegen ihrer halbherzigen Drohungen drehte Gary die Lautstärke nicht voll auf; während er in der Küche seine plötzlich vorhandenen Süßigkeitenvorräte plünderte, schallte der erste Track der CD aus dem Wohnzimmer herüber. Als er mit seiner Beute zurückkehrte, wippte Ted schon mit den Zehen im Takt. „Gut, oder?“ „Viel besser würden sie klingen, wenn du mir widerstandslos die Tüte Weingummis überlässt.“ „Es ist ja nicht so, dass du dir vor einer halben Stunde eine Kalorienbombe sondergleichen reingezogen hast“, murmelte Gary, warf ihm aber die knisternde Packung zu. Ted riss sie noch im Fangen auf. „Genau, vor ‘ner halben Stunde. Mittlerweile hat sich mein Magen fast selbst verdaut!“ Gary erwiderte nichts, sondern schwang die Beine über die breite Lehne des Sessels und gab sich Geschmacksverstärkern und E-Gitarren hin. * Als er Ted an diesem Abend verabschiedete, lud ihn der halbe Zwilling ein, am nächsten Tag die nähere Nachbarschaft zu erkunden. Gary sagte zu, weniger, weil ihn die Nachbarschaft interessierte, sondern mehr, weil er gern Zeit mit Ted verbrachte. Das mittelschwere Chaos im Wohnzimmer ließ er unberührt, er hüpfte unter die Dusche und putzte sich die Zähne. Bevor er seine Klamotten in den Wäschekorb schmiss (und bemerkte, dass dieser nicht leer war), fischte er noch das Bild aus seiner Hosentasche. Sich die Haare trockenrubbelnd tappte er in sein Zimmer, ließ die Jalousien herunter und legte sich mit dem Bild aufs Bett. Er fühlte sich ein wenig schuldig, weil er es ohne zu fragen eingesteckt hatte. Aber als er es auf den Nachttisch legte und unter die Decke kroch, war er trotzdem froh, es an sich genommen zu haben. Er verbrachte gern Zeit mit Ted. Er war lustig, etwas kindisch, aber auf jeden Fall eine Persönlichkeit. Ted kam aus dem gleichen Teil Englands, kannte und mochte ähnliche Dinge wie Gary. Im Diesseits wären sie bestimmt Freunde geworden. Hier aber, das musste sich Gary eingestehen, mochte er Ted vor allem deswegen, weil er ihn daran erinnerte, dass er zwar tot war, aber nicht die Hälfte eines Ganzen, die nicht einmal in den Spiegel schauen konnte, ohne an das erinnert zu werden, was sie zurücklassen musste. 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