Zwischen den Fronten von Seira-sempai ================================================================================ Prolog: Schatten der Vergangenheit ---------------------------------- Das ist die Fortsetzung von: Vertrauen und Verrat http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/248615/ http://www.fanfiktion.de/s/4bae641700011fb60c90138c Es war vier Uhr nachmittags. Ich saß gerade an meinen Mathehausaufgaben und versuchte verzweifelt, zu verstehen was ich überhaupt tun sollte. Sie waren so wirr formuliert, dass ich nicht einmal die Aufgabenstellung verstand. So langsam zweifelte ich an meinen Fähigkeiten. Eigentlich war es mein Wunsch, später einmal Arzt zu werden. Aber so wie es im Moment aussah, konnte ich das wohl vergessen. Wenn ich in der Prüfung nicht gut abschneiden würde, konnte ich mein Abitur vergessen. Und ohne Abitur gab es auch kein Studium. Langsam aber sicher sollte ich mich nach einem Alternativjob umsehen. Ich seufzte. Seit Kian nicht mehr bei mir als Schmarotzer lebte, kam ich wirklich auf seltsame Gedanken. Dabei war er doch erst vor knapp einem Monat zu seiner Tante und seinen Onkel, Olivias Eltern, gezogen. Außerdem kam er mich regelmäßig besuchen und im Rudel schien alles klar zu laufen. Allerdings hatte er trotzdem sehr viel zu tun, weshalb er sich immer seltener bei mir meldete. Meistens rief er mich nur jeden Abend an und wir telefonierten, aber nur selten länger als eine halbe Stunde. Livi sah ich öfter. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie keine führende Position im Rudel hatte und meine feste Freundin war. Ab und zu schlief sie sogar bei mir. Ihren Eltern hatte sie noch nichts von ihrer Beziehung zu einem Menschen gesagt, aus Angst vor deren Reaktion. Und Kian hatte diesbezüglich auch geschwiegen, wofür wir ihm wirklich dankbar waren. Mein Telefon klingelte. Erleichtert über diese erwünschte Störung, die mich aus meinen Gedanken riss und wieder an meine Hausaufgaben erinnerte, schlenderte ich in den Vorsaal und hob ab. „Hallo?“ „Alec?“, hörte ich Olivias völlig panisch klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ja...?“ Mehr brachte ich nicht heraus. Dazu war ich viel zu erschrocken. So panisch hatte ich meine Freundin noch nie reden hören. „Kian ist verschwunden.“ Livis Stimme war nur noch ein flüstern. „W- was? Bist du sicher?“, fragte ich geschockt. „Hör mir zu.“, sprach sie weiter, „Du verlässt auf keinen fall deine Wohnung und öffnest niemandem die Tür. Einige von uns sind auf den Weg in die Stadt. Ruf sofort deine Freunde an und sage es ihnen. Und bitte tue nichts unüberlegtes. Dein Leben steht auf dem Spiel. Ich will dich nicht verlieren.“ „Livi, was...“ Ich brach ab, als ich ein regelmäßiges Tuten hörte. Sie hatte aufgelegt. Wütend knallte ich den Hörer in seine Halterung, bevor ich zurück zu meinen Mathehausaufgaben spazierte. Was war das eben gewesen? Es dauerte einige Sekunden, bis mein Gehirn die aufgenommenen Informationen verarbeitet hatte, weshalb ich erst nach einigen Sekunden begriff, was vor sich ging. Erschrocken sprang ich auf und rannte zurück zum Telefon, wo ich auch sofort Deans Nummer wählte. Zum Glück war mein Klassenkamerad zu hause und nahm schnall ab. „Was gibt’s, Alec?“ Ich schluckte noch einmal kurz, bevor ich ihm von meinem Telefonat eben berichtete. „Livi hat mich angerufen. Es scheint irgendwelche Schwierigkeiten zu geben. Außerdem ist Kian verschwunden. Jedenfalls... Stell sicher, dass du und Alice im Haus bleiben und keine Haustüren oder Fenster öffnen. Richte das bitte auch George aus.“ „Was...?“ Dean klang geschockt. „Bitte.“, redete ich auf ihn ein, „Tut einfach, was ich sage.“ „Okay.“, murmelte mein Gesprächspartner, „Ruf mich an, sobald es Entwarnung gibt.“ „Das werde ich.“ Mit diesen Worten legte ich auf. Noch immer verstand ich nicht, was gerade vor sich ging. Die Gefahr war doch vorbei. Keiner der Mannaro durfte mehr einen Menschen anfallen. Aber wieso dann diese Warnung? Es gab nur eine Möglichkeit: Einige von ihnen mussten gegen die Regeln verstoßen und sich hier einen schönen Nachmittag machen. Wie diese aussah, konnte ich mir denken. Sie würden sich irgendwo ein paar Menschen schnappen und als Zwischenmahlzeit vertilgen. Mir wurde unwohl bei dem Gedanke. Langsam ging ich zur Wohnungstür und verriegelte diese, bevor ich durch die anderen Zimmer lief und sämtliche Fenster schloss. Wäre Kian hier gewesen, hätte ich das nicht getan, aber ohne ihn fühlte ich mich den Mannaro schutzlos ausgeliefert. Hatte ich mich schon so sehr an die Gegenwart meines besten Freundes gewöhnt, dass ich in Angst verfiel, wenn er mal nicht da war? Ich schlenderte durch die Wohnung, ohne wirklich etwas von ihr wahrzunehmen. Ab und zu setzte ich mich auf mein Bett oder einen der Küchenstühle, konnte aber keine Ruhe finden. Mein Blick fiel auf das Telefon. Dean hatte die anderen sicher bereits benachrichtigt. Warum hatte ich dann dieses beunruhigende Gefühl? Es fühlte ich an, als hätte ich etwas vergessen, etwas wichtiges. Ohne nachzudenken, was ich tat, griff ich erneut nach dem Hörer und wählte eine mir bekannte Nummer. Wen ich anrief, erkannte ich erst, als ich eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung hörte. „Stone hier.“ Erschrocken hielt ich meine Luft an. Ich hatte meinen Vater angerufen und das auch noch auf dem Handy, wie mir ein Blick auf das Display verriet. Warum? So etwas war mir bis jetzt noch nie passiert. Gerade wollte ich wieder auflegen, als ich erneut seine Stimme hörte. „Hallo? Mit wem spreche ich da?“ Ich schluckte, bevor ich ihm antwortete. „Ich bin es, Alec.“, murmelte ich schüchtern und schämte mich gleichzeitig dafür, dass ich nicht den nötigen Mut aufbringen konnte, normal mit ihm zu sprechen. „Das ist aber eine Überraschung. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.“ Mein Vater klang erfreut. „Wie geht es dir denn so? Was macht die Schule? Hast du-“ Ich unterbrach ihn. „Wo bist du gerade?“ „Zu Hause.“, entgegnete er, „ Ich bin gerade von der Arbeit gekommen und wollte einkaufen gehen. Aber das kann ich auch verschieben.“ Erleichtert atmete ich aus. „Gut, dann tue jetzt genau das, was ich sage. Verriegele die Haustür und schließ alle Fenster, egal in welchem Stockwerk.“ „Alec, was...?“ Mein Vater klang verwirrt. „Bitte.“, flüsterte ich, „Es sind Mannaro in der Stadt unterwegs.“ Ich hörte, wie mein Vater durch sein Haus lief. Er tat also, was ich sagte. Das beruhigte mich. Nach einer Weile verstummten sie Schritte am anderen Ende der Leitung und ich hörte, wie mein Vater seufzte. „So, das wäre geschafft. Woher weißt du eigentlich davon? Von deinem Mannaro? Wie hieß er gleich noch mal? Es war irgendetwas mit K...“ „Kian ist nicht hier.“, warf ich wütend ein, „Seine Cousine hat mich vorhin angerufen. Er ist verschwunden. Ich weiß auch nicht, wo er gerade ist.“ „Wie...? Aber dann...“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang verunsichert. „Woher weißt du dann, dass sie hier sind?“ „Er ist nicht meine einzige Verbindung zum Rudel. Neben ihm gibt es noch Olivia und Scar, wobei ich mit Scar nicht besonders gut auskomme.“, erklärte ich ruhig. „Verstehe...“, murmelte mein Vater, „So ist das also.“ „Sobald die Lage sich wieder entschärft hat, rufe ich dich an.“, fuhr ich fort, „Kian wird sich früher oder später bei mir melden und dann erfahre ich auch mehr.“ „Wieso sollte er? Er hat doch gar keinen Grund mehr dazu. Jetzt wo er sein Ziel erreicht hat, ist er nicht mehr auf dich angewiesen.“ Die Stimme meines Vaters wurde von Wort zu Wort wütender und lauter. Er verachtete Kian, das konnte ich hören. „So stimmt das nicht. Und das weißt du auch“, warf ich ein, bemüht ruhig zu sprechen, „Meinetwegen hat er sich gegen seine Familie gestellt. Hätte er das nicht getan, wäre ich schon lange tot. Er hat nicht aus Machtgier gehandelt, sondern weil er keine andere Wahl hatte. Was war ihm denn auch anderes übrig geblieben?!“ „Schon gut.“ Es klang als hätte sich mein Vater wieder etwas beruhigt. „Ich sage nichts mehr gegen deinen Freund. Er hat mehrfach bewiesen, dass er keine Gefahr für dich darstellt. Auch wenn es mir trotzdem nicht besonders gefällt, dass du ihm so blind vertraust...“ Jetzt fing er schon wieder damit an. Ich seufzte. „Kian ist und bleibt mein bester Freund. Ich vertraue ihm nur so viel, wie er mir. Hör endlich auf, so schlecht von ihm zu denken.“ Auf der anderen Seite der Leitung war es eine Weile still. Erst nach über einer Minute antwortete mir mein Vater. „Ich weiß... Und ich werde mich auch nicht mehr in euere Freundschaft einmischen oder versuchen, sie zu zerstören.“ Ein schwaches Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht. Irgendwie machte mich diese Aussage glücklich. Er hatte meine zu Kian endlich akzeptiert und auch wenn er nicht damit einverstanden war, duldete er es. Das war mehr als ich erwartet hatte. In diesem Moment klopfte es an meiner Wohnungstür. Ich zuckte erschrocken zusammen. Langsam entfernte ich den Hörer etwas von meinem Kopf und bedeckte die Seite, in die ich hineinsprach, mit meiner Handfläche. „Wer ist da?“, fragte ich unsicher in Richtung Tür. Mein Vater gab einen erschrockenen Laut von sich. „Alec, was...?“ Ich reagierte nicht darauf, sondern starrte auf die Tür. Darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen legte ich den Hörer auf den Schrank und näherte mich der verschlossenen Tür. „Hallo? Ist da wer?“ Nichts tat sich. Gerade wollte ich aufgeben und mir einreden, meine Fantasie ginge mal wieder mit mir durch, als mir schwach eine sehr bekannte Stimme antwortete: „Ich bin es, Kian. Bitte lass mich rein.“ Kapitel 1: Unter Freunden ------------------------- „Ich bin es, Kian. Bitte lass mich rein.“ Erschrocken riss ich meine Augen auf. Hatte ich gerade richtig gehört? Kian war hier? Auch nach einigen Minuten stand ich noch bewegungslos da und starrte auf die Tür. Es dauerte, bis ich mich wieder gefangen hatte und dazu durchringen konnte, sie leise zu öffnen. Mein bester Freund stand mir gegenüber und sah mich ausdruckslos an, bevor er sich an mir vorbeischob, und die Wohnung betrat, ohne ein Wort zu verlieren. Ich sah ihm hinterher. Er war verletzt, das fiel mir sofort auf. Eine Menge kleiner Schnittwunden bedeckten sein Gesicht und seine Hände. Doch ich sprach ihn nicht darauf an. Statt dessen ging ich zurück zum Telefon. Immerhin konnte ich meinen Vater nicht ewig warten lassen und er hatte sicher auch einiges mitgehört. Bevor er sich unnötigerweise Sorgen machte, erklärte ich es ihm lieber. Vorsichtig, als könnte er jeden Augenblick zerbrechen, griff ich nach dem Hörer. Kaum hatte ich ihn in der Nähe meines Ohres, hörte ich auch schon die besorgt klingende Stimme meines Vaters. „Alec? Hallo? Bist du noch da?“ „Sorry.“, nuschelte ich, „Ich habe nur kurz Kian reingelassen.“ Am anderen Ende der Leitung atmete mein Vater erleichtert aus. „Du hast mich vielleicht erschreckt. Nächstes Mal warne mich bitte.“ „Tut mir Leid. Daran habe ich nicht gedacht.“, murmelte ich leicht schuldbewusst. Auch wenn ich meinem Vater noch nicht vollständig verziehen hatte, wollte ich trotzdem nicht, dass er an einem Herzinfarkt starb, weil er sich zu sehr um mich sorgte. In Zukunft würde ich besser darauf achten, zumindest in nächster Zeit. Der Schock von meiner letzten Selbstmordaktion saß noch zu tief. Verständlich, immerhin war ich in seinen Armen zusammengebrochen. Und auch wenn ich es nur ungern zugab: Wäre Kian mir nur einen Augenblick später zu Hilfe gekommen, läge ich jetzt unter der Erde. Mein Blick wanderte zu meinem besten Freund, der mich schon eine Weile beobachtete, bis jetzt aber außer seiner Bitte um Einlass noch nichts gesagt hatte. Irgendwas stimmte nicht mit ihm, das wusste ich. Normalerweise verhielt sich Kian völlig anders. Wäre es nur das, hätte ich es auf eine Laune von ihm geschoben. Doch als ich ihm ins Gesicht sah, wurde mir klar, dass es das auf keinen Fall sein konnte. Seine Augen hatten sämtlichen Glanz verloren und sahen mich teilnahmslos an. „Kian, was ist?“, fragte ich ihn besorgt, ohne wirklich zu bemerken, dass mein Vater alles, was ich sagte, mithören konnte. Er antwortete nicht, sondern senkte seinen Blick uns starrte auf den Boden. Ich gab nicht nach. „Was ist passiert?“, fragte ich, diesmal mit Nachdruck. „Nichts.“, murmelte Kian während er den linken Arm hinter seinem Rücken verbarg. „Lüg mich nicht an!“, schrie ich wütend, „Ich bin nicht blöd! Mit dir stimmt etwas nicht. Du hast, seit du hier bist, noch kein Wort gesagt. Dein Gesicht sieht aus, als hättest du einen Dornenstrauch geknutscht und du versteckst deinen Arm nicht grundlos hinter deinem Rücken! Also: Was ist passiert?“ Kian zuckte erschrocken zusammen, wich einige Schritte zurück und sah mich erschrocken an, bevor er mir nur wenige Sekunden später der Rücken zuwandte. Aber meine Frage beantwortete er immer noch nicht. Er blieb stumm. Ich seufzte. „Kian, sieh mich an. Was genau ist passiert?“ „Es ist nichts.“, sagte Kian bestimmt. Ich legte den Hörer zur Seite und ging auf meinen besten Freund zu. Vorsichtig, um ihn nicht zu verletzen, legte ich meine Hände auf seine Schultern. „Kian, bitte...“ Endlich hob er seinen Kopf, drehte sich in meine Richtung und sah mir in die Augen. Mein Blick fiel sofort auf die vielen kleinen Schnittwunden in seinem Gesicht und irgendetwas sagte mir, dass der Rest seines Körpers sicher nicht besser aussah. „Autsch...“ Ich versuchte, die Situation zu verharmlosen, „Das hat sicher weh getan...“ Kian nickte zögerlich. „Könnte man so sagen.“ Mehr wollte ich nicht wissen, zumindest nicht über den Ursprung der vielen Kratzer. Jedoch hatte etwas anderes meine Aufmerksamkeit geweckt. Kians linker Arm hing schlaff an seinem Körper herunter. Vorhin war es mir nicht aufgefallen, da er ihn vor mir verborgen hatte. Täuschte ich mich, oder war er ernsthaft verwundet? „Zieh dein Oberteil aus, damit ich mir deine Verletzungen ansehen kann.“, verlangte ich. Zu meiner Verwunderung kam mein Gegenüber der Forderung sofort nach. Er entfernte sich einige Schritte von mir, schälte sich zuerst aus seiner Jacke und zerrte dann den Pullover über den Kopf, jedoch ohne seinen linken Arm zu benutzen. Zum Vorschein kamen die gleichen Schnittwunden wie im Gesicht. Also hatte ich Recht gehabt, mit meiner Vermutung eben. Doch etwas anderes war im Augenblick wichtiger. „Dein Arm.“, sprach ich meinen besten Freund auf seine Verletzung an, „Was ist mit ihm? Wieso benutzt du ihn nicht?“ „Ich-“ Kian brach ab und senkte seinen Blick. „Lass mich mal sehen.“ Ohne die Reaktion meines Gegenübers abzuwarten, ging ich auf ihn zu und sah mir den Arm an. „Wo genau tut es weh?“, fragte ich. Er zeigte auf seinen Unterarm und als ich mir diesen daraufhin genauer ansah, entdeckte ich eine geschwollene Stelle. Nur vom Sehen konnte ich nicht sagen, ob es gebrochen war, immerhin war ich kein Arzt. Demzufolge konnte ich eine solche Verletzung auch nicht behandeln. Letztes Mal hatte Kian fast ausschließlich Schnitt- und Platzwunden gehabt, die sich für jemanden wie mich, ohne das Fachwissen eines Arztes, leichter behandeln ließen. Es war ja nicht so, dass ich überhaupt keine Ahnung davon hatte, immerhin wollte ich später vielleicht mal Arzt werden und hatte mir privat einige Sachen beigebracht. Doch das ging mir zu weit. Das konnte ich wirklich nicht behandeln. Kurz warf ich Kian noch einen strengen Blick zu, bevor ich zum Schrank lief, nach meinem Handy griff und Deans Handynummer wählte, die ich dank ihrer häufigen Nutzung auswendig kannte. Am anderen Ende der Leitung tutete es einige Sekunden, bis mein Klassenkamerad irgendwann abhob und etwas unverständliches murmelte. Ich musste grinsen, verkniff mir aber dumme Kommentare. „Dean, ich brauche deine Hilfe.“ Mit einem Mal war mein Gesprächspartner hellwach. Wütend schrie er mich an. „Bist du noch ganz dicht! Hast du eine Ahnung, wie spät es gerade ist? Ein Uhr nachts!“ Irritiert war ich einen Blick auf die Wand Uhr mir gegenüber, welche die Aussage meines besten Freundes bestätigte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es schon so spät geworden war. Doch das war momentan auch nicht wichtig. „Dean, bitte. Es ist dringend.“ „Das will ich auch hoffen!“, schimpfte er gereizt, „Also was ist so wichtiges passiert, dass du mich mitten in der Nacht wecken musst? Kann es nicht bis morgen warten?“ „Kian ist wieder da-“, setzte ich an, wurde aber von Dean unterbrochen. „Heißt das, es gibt Entwarnung?“, fragte er. Ich schüttelte meinen Kopf, wissend dass er es nicht sehen konnte. „Kian ist verwundet.“, murmelte ich, „Kannst du deinen Bruder fragen, ob er sich die Verletzung ansieht?“ „Das ist jetzt nicht dein Ernst. Mike bringt mich um!“ Am anderen Ende der Leitung schnaubte es, danach wurde es ruhig. Erst nach einigen Sekunden antwortete mir mein Klassenkamerad. „Warte einen Augenblick. Ich rufe ihn an.“ „Danke. Du hast mich gerettet.“, nuschelte ich, während ich nach dem Hörer des Telefons griff um meinem Vater kurz zu erklären, was passiert war. „Kian geht es nicht so gut. Er ist verletzt. Er muss zu einem Arzt.“ Zu meiner Überraschung blieb es auf der anderen Seite der Leitung ruhig. Mein Vater seufzte nur. „Das habe ich gehört. So wie du ihn eben angeschrieen hast.“ „’tschuldige…“, murmelte ich, „Da habe ich wohl etwas überreagiert.“ Das konnte man so sagen. Als ich zu Kian sah, bemerkte ich, dass er ich immer noch leicht eingeschüchtert anblickte. Ich nickte. „Ich muss jetzt Schluss machen, Vater. Es ist schon spät.. Ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt. Tschüss.“ Ohne die Antwort meines Vaters abzuwarten, legte ich auf und warf einen kurzen Blick auf mein Handy Dean hatte seinen Bruder inzwischen sicher schon erreicht. „Mike sagt, er kommt gleich vorbei. Wie geht es Kian, ist er schwer verletzt? Was hat er überhaupt gemacht?“, hörte ich ihn sagen. Ich seufzte. „Frag ihn das am besten selbst. Ich weiß auch nicht mehr. Er stand mitten in der Nacht in diesem Zustand vor der Tür und antwortet auf keine meiner Fragen.“ Mein Klassenkamerad lachte. „Das passt zu ihm. Weißt du was? Ich komme einfach mit.“ „Tu das.“, antwortete ich leise, bevor ich mich von ihm verabschiedete. „Bis gleich.“ Ich legte auf und sah wieder zurück zu Kian. Mein bester Freund starrte mich mit einem wütenden Gesichtsausdruck an. „Alec, bist du verrückt?! Du kannst doch nicht einfach-“ Ich unterbrach ihn lautstark. „Du siehst doch, dass ich kann! Was soll ich denn sonst tun? Du bist verletzt und gehörst eigentlich ins Krankenhaus. Dein Arm könnte gebrochen sein! Wenn du schon nicht dahin gehst, dann lass dich wenigstens von einem Arzt behandeln. Ansonsten könnte es sein, dass dein Arm nie wieder richtig verheilt! Willst du das?“ Kian blickte mich schuldbewusst an. „Aber letztes Mal hast du die Verletzungen auch selbst behandelt.“, murmelte er. „Da warst du auch nicht so schwer verletzt! Kian, ich bin kein Arzt. Es mag sein, dass ich ein paar kleinere Schnittwunden, Bisswunden oder ähnliches behandeln kann, aber doch keine Knochenbrüche. Versteh das bitte. Es liegt über meinen Möglichkeiten.“ Zögerlich nickte mein bester Freund. Ich holte eine Decke aus dem Schrank neben dem Telefon und legte sie ihm um die Schultern. „Hier, sonst erkältest du dich noch. Möchtest du lieber einen Tee oder Kaffee um dich wieder aufzuwärmen?“ „Tee.“, antwortete mein bester Freund und setzte sich an den Küchentisch. Ich nickte kurz, bevor ich einen Topf Wasser aufsetzte, einen Wasserkocher besaß ich nicht, und zwei Tassen auf den Tisch stellte. Dann durchsuchte ich meine Schränke nach dem Teepulver, das ich nach einigen Minuten auch gefunden hatte. Inzwischen kochte auch das Wasser. Ich nahm den Topf vom Herd, kippte ein wenig von dem Pulver hinein und verteilte seinen Inhalt auf die beiden Tassen. Kian sah mich dankbar an, als er nach einer der beiden Tassen griff und vorsichtig einen Schluck aus ihr trank. „Ohne dich wäre ich manchmal echt aufgeschmissen.“ Ich lachte, setzte ich mich zu meinem besten Freund an den Tisch und nahm ebenfalls einen Schluck von dem Tee. „Bemerkst du das jetzt erst? Wie aufmerksam. Und so etwas schimpft sich mein bester Freund.“ „Alec!“ Kian sah mich beleidigt an. „Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe.“ „Und du weißt, dass das eben nur ein Scherz war.“, konterte ich. In diesem Augenblick klopfte es an meiner Tür. Keine Sekunde später hörte ich Deans Stimme. „Alec, wenn du und nicht sofort reinlässt, mach ich dich fertig.“ Ich seufzte, bevor ich mich zur Tür bequemte und ihn und seinen Bruder hereinließ. „Danke dass ihr so schnell kommen konntet.“ Dean schob seinen Bruder in die Wohnung. Mike trug Zivilkleidung und hatte einen Koffer dabei. „Wo ist denn mein Patient?“, fragte er gespielt ernst. Im Augenwinkel sah ich, wie Kian zur Tür huschte, wahrscheinlich um abzuhauen. Ich rannte ihm hinterher und griff nach seinem rechten Handgelenk. „Wo willst du hin?“ Mein bester Freund zuckte zusammen, bevor er ich unschuldig ansah. „Raus?“ „Vergiss es!“, rief ich, zerrte ihn zu den anderen und nahm ihm die Decke von den Schultern. Dabei ignorierte ich sein Protestieren gekonnt. „Ich dachte, wir hätten das schon besprochen! Jetzt benimm dich endlich!“ Neben mir deutete Dean auf Kians Gesicht und fing an zu lachen. „Was hast du denn gemacht? Mit einem Dornenbusch gekuschelt?“ „Das habe ich ihn auch schon gefragt.“, murmelte ich und hatte Mühe, mir ein Grinsen zu verkneifen. Aber ich wusste, dass es im Moment unangebracht war und Kian es mir sicher übel nehmen würde. Es grenzte schon an ein Wunder, dass er noch keinen weiteren Fluchtversuch gestartet und es bei dem einen belassen hatte. Mike sah uns mit einem abwartenden Blick an. „Also, weswegen habt ihr mich zu dieser Uhrzeit herbestellt?“, fragte er, bevor er sich an Kian wandte. „Wie es aussieht, soll ich mich um dich kümmern. Wo genau bist du verletzt?“ Dean lachte. „Sieht man doch!“ Sein Bruder warf ihm einen gereizten Blick zu. „Wegen den paar Kratzern ruft man nicht mitten in der Nacht einen Arzt an. Es muss also noch schlimmere Verletzungen haben.“ „Kannst du bitte einen Blick auf seinen linken Arm werfen?“, unterbrach ich den Streit der beiden Brüder. Der Arzt nickte und sah sich die verletzte Stelle genauer an. Nach einigen Sekunden seufzte er. „Das sieht nicht gut aus. Der ist gebrochen. Das muss ich röntgen. Er muss sofort ins Krankenhaus, sonst-“ Noch bevor Mike zu Ende sprechen konnte, hatte Kian ihm seinen Arm entrissen und war bis an die nächste Wand zurückgewichen. „Ich gehe nicht ins Krankenhaus!“ Langsam wurde es mir zu viel. Wütend stampfte ich auf meinen besten Freund zu und fuhr ihn an. „Kian, es reicht! Reiß dich endlich zusammen! Wie lange gedenkst du noch, dich wie ein Kleinkind aufzuführen? Mike ist Arzt und wenn er sagt, du sollst ins Krankenhaus, dann hast du dich gefälligst auch daran zu halten!“ Die Brüder starrten mich geschockt an, während Kian nur eingeschüchtert nickte und sich von mir mitziehen ließ, was ihn aber nicht daran hinderte, mir verletzte Blicke zuzuwerfen. Mike schaute Kian eindringlich an, bevor er ihm freundlich erklärte, was ich ihm vorhin schon einmal gesagt hatte. „Dein Arm muss behandelt werden, versteh das doch. Wenn ich das nicht tue, kannst du bleibende Schäden davontragen und ihn im schlimmsten Fall nie wieder richtig bewegen. Willst du das?“ Zögerlich schüttelte Kian seinen Kopf. „Nein, ich- Aber-“ „Aber was?“, fragte der Arzt weiter nach. Kian senkte seinen Blick. „Ich- Ich weiß, dass das wichtig ist, aber trotzdem... Ich kann nicht. Es ist zu unsicher. Selbst wenn Sie alle Daten vertraulich behandeln und sie an niemanden weiterleiten. Das Risiko ist einfach zu groß.“ „Was meinst du damit?“, fragte Mike hörbar verwundert, während ich verstanden hatte, wovon mein bester Freund sprach, und Dean sicher auch... Aber ich schwieg, um keine unnötigen Schwierigkeiten zu bereiten, für beide Seiten. „Sämtliche Werte, die Sie ermitteln, werden weit von denen abweichen, die Sie gewohnt sind.“, fuhr Kian mit leiser Stimme fort. „Wie-“ Jetzt war der Arzt endgültig verwirrt. „Aber das kann gar nicht sein...“ „Soll ich es beweisen?“, fragte Kian, bevor er seinen Kopf hob und dem jungen Mann direkt in die Augen sah, „Dass ich anders bin? Dass ich kein Mensch bin?“ Kapitel 2: Eine große Hilfe --------------------------- „Soll ich es beweisen?“, fragte Kian, als er seinen Kopf hob und dem jungen Mann direkt in die Augen sah, „Dass ich anders bin? Dass ich kein Mensch bin?“ In meiner Wohnung war es still. Dean und ich hielten unserem Atem an. Keiner von und wagte es, auch nur ein Wort zu sagen. Wir starrten Kian einfach nur fassungslos an, zu Recht. Es war lebensmüde von ihm, sein Geheimnis einfach so auszuplaudern, auch wenn es bei Mike sicher in Guten Händen war und er ihm nicht schaden würde. Aber das rechtfertigte es noch lange nicht. So ziemlich jeder andere hätte ihn für diese Worte entweder in die Klapse gesteckt oder ihn in einem Labor eingesperrt. Doch Mike tat das nicht. Er lächelte Kian weiterhin freundlich an. „Kannst du das denn?“ Ohne ein Wort zu sagen, entfernte sich mein bester Freund von uns. Er zog die Gardinen an den Fenstern zu, bevor er das Licht dimmte und sich in den am weitesten entfernten Winkel des Raumes stellte. Deans Bruder beobachtete das sichtbar verwundert, sagte aber nichts. Schweigend sah er Kian zu, abwartend was er als nächstes tun würde. Die Umrisse von Kians Körper verloren ihre Form und nahmen die eines großen Wolfes mit braunem Fell und goldbraunen Augen an. Regungslos stand er an der Wand und beobachtete unsere Reaktionen. Sein verletztes Bein setzte er nicht ab. Dean war einige Schritte zurückgewichen und schaute ihn leicht ängstlich an, während in Mikes Augen die blanke Panik stand. Das Gesicht des Arztes hatte sämtliche Farbe gewichen und er war zu einer Salzsäure erstarrt. Ich seufzte, bevor ich Kian streng in die Augen sah. „Das hast du nun davon...“ Zur Antwort bekam ich ein wütendes Knurren, doch ich ignorierte es und ging auf ihn zu. Ich brauchte keine Angst zu haben, das wusste ich. Kian würde mir nie etwas tun oder mich gar verletzen, wenn man von dem Schlag letzten Monat für meine versuchte Selbstmordaktion absah. Aber den hatte ich auch verdient gehabt... Direkt vor Kian blieb ich stehen und fuhr ihm mit der Hand über die Stirn, sein Fell war warm und weich, wie immer. Mit einem schwachen Lächeln im Gesicht wandte ich mich an die beiden Brüder, bevor ich Dean zu mir winkte. Zögerlich kam er meiner Aufforderung nach und näherte sich Schritt für Schritt mir und meinem besten Freund. „Und er ist wirklich nicht gefährlich?“, fragte er unsicher. Ich schüttelte meinen Kopf. „Kian wird dir nichts tun. Er hat überhaupt keinen Grund dazu. Das heißt aber nicht, dass du ihn nach Lust und Laune ärgern kannst. Wenn es ihm zu viel wird, dann wehrt er sich auch.“ „Und was passiert dann?“, kam es prompt von meinem Klassenkameraden. Obwohl er versuchte, es zu verbergen, hörte man seiner Stimme noch etwas von seiner Furcht an. Ich grinste, bevor ich Kian packte und knuddelte. Es folgte ein wütendes Knurren von seiner Seite und er fletschte die Zähne, mehr aber nicht. Er versuchte weder sich mit Gewalt aus meinem Griff zu befreien, noch unternahm er etwas anderes dagegen. Da ich ihn nicht unnötig ärgern wollte, brach ich nach etwas über einer Minute wieder ab. Sofort verstummte auch das Knurren und Kian legte sich vor mir auf den Boden. Er sah mich noch ein Mal genervt an, bevor er mich keines Blickes mehr würdigte. „Jetzt ist er beleidigt.“, murmelte ich und wandte mich wieder an Dean und Mike. Mein Klassenkamerad griff sich an den Kopf. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist lebensmüde. Oder durchgeknallt, je nachdem wie man es nimmt. Jedenfalls laufen normale Menschen vor Werwölfen weg und streicheln sie nicht noch!“ Bei dem Wort 'Werwolf' entwich der Kehle meines besten Freundes ein wütendes Knurren. Zuerst sah ich ihn einige Sekunden lang verwirrt an, bis ich begriff, warum er eben so reagiert hatte. Nur mit Mühe konnte ich ein Lachen verkneifen als ich Dean mit gespielt ernstem Blick ansah. „Was habe ich dir zu dem Wort 'Werwolf' gesagt?“ Mein Klassenkamerad schaute mich zuerst fragend an, bis er nach einer Weile seine Schultern hob. „Keine Ahnung. Hast du dazu überhaupt etwas gesagt?“ Ich seufzte und griff mir an den Kopf. „Gib mir nicht die Schuld, falls es dir ein Mannaro übel nimmt, wenn du ihn so nennst, und dich anschließend in einer dunklen Ecke einen Kopf kürzer macht. Was glaubst du, weshalb ich gesagt habe, du sollst das Wort nicht benutzen, wenn einer von ihnen es hören kann. Für sie ist das eine Art Schimpfwort und sie werden es dir wahrscheinlich sehr übel nehmen, so genannt zu werden.“ Mike und Dean nickten etwas eingeschüchtert, bevor der ältere von beiden sich langsam mir und Kian näherte und uns abwechselnd ansah. „Ihr wusstet es, oder?“ Seine Stimme klang seltsam streng, als er uns diese Frage stellte. „Ja, eine Weile.“, antwortete ihm Dean und senkte seinen Blick. „Alice und ich haben vor ein paar Wochen aus versehen beobachtet, wie Kian sich in einen Wolf verwandelt hat. Alec weiß es schon ziemlich lange davon.“ „Wie lange?“, fragte Mike und schaute mich eindringlich an. „Seit über sechs Jahren.“, entgegnete ich, während ich mit den Schultern zuckte, „Warum fragst du?“ Der Arzt hockte sich neben Kian auf den Boden. Zu meiner Überraschung schien er keine Angst vor ihm zu haben, oder er verbarg sie sehr gut. „Vor einer Weile habe ich ein Buch darüber gelesen. Aber um ehrlich zu sein, bin ich nicht davon ausgegangen, dass sie wirklich existieren würden.“ „Buch?“, fragte ich verwundert. Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Neben mir nahm Kian wieder die Gestalt eines Menschen an und sah mich gereizt an. „Was habe ich dir zum Thema persönliches Kuscheltier gesagt?“, kam es wütend von ihm. „Und was habe ich darauf geantwortet?“, konterte ich. Mein bester Freund seufzte - wie es schien, gab er auf - und beantwortete meine Frage. „Es gibt einige Bücher über uns. In den meisten stehen alte Legenden über die verschiedenen Rudel. Aber der Großteil von ihnen ist frei erfunden.“ „Ach so. Das erklärt einiges...“, murmelte ich und schaute Mike bittend an. „Könntest du bitte Kian untersuchen und dich um seine Verletzungen kümmern. „Also eigentlich...“, Der Arzt griff sich verlegen an den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich ihn ordentlich behandeln kann. Wenn es bei dem Knochenbruch und dem zerkratzten Oberkörper bleibt, sollte ich in der Lage sein, ihm zu helfen. Aber ich fürchte, wenn sich herausstellt, dass er schwerer verletzt ist, muss ich einen Spezialisten um Hilfe bitten. Weißt du, ich bin kein Veterinärmediziner…“ Zögerlich schüttelte Kian seinen Kopf. „Ich habe keine weiteren Verletzungen.“ Dann sah er mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. „Was ist ein Veterinärmediziner?“ „Ein Tierarzt.“, entgegnete Dean lachend und auch ich musste leicht grinsen. Mein bester Freund warf uns einen schmollenden Blick zu. „Sagt das doch gleich. Ihr wisst, dass ich solche Fachbegriffe nicht kenne!“ „Wie auch immer.“ Mike unterbrach uns. „Ich würde euch bitten, mit in die Praxis zu kommen. Ich habe hier nicht die nötigen Mittel, um den Knochenbruch zu behandeln. Er muss geröntgt und wenn du Pech hast, auch noch operiert werden. Dann müsste ich dich ins Krankenhaus überweisen.“ Die Augen meines besten Freundes wurden von Wort zu Wort größer und er sah den Arzt erschrocken an. „D- das geht nicht. Das-“ Deans Bruder seufzte. „Ich weiß. Aber wenn ich das nicht tue, wirst du deinen Arm nie wieder richtig benutzen können. Außerdem ist es noch gar nicht sicher. Vielleicht, mit ein wenig Glück, ist es ein sauberer Bruch und ich kann ihn behandeln.“ Damit schien Kian sich erst einmal zufrieden zu geben, jedenfalls nickte er zögerlich. Mike wandte sich in Richtung Wohnungstür. „Wenn ihr jetzt bitte mitkommen würdet…“ Wir taten, was er von uns verlangte und folgten dem Arzt zu seinem Auto, bevor wir in dieses einstiegen und er uns zu seiner Praxis fuhr. Den ganzen Weg über schwieg Kian und sah verunsichert aus dem Fenster oder starrte Löcher in die Luft. Ich sah deutlich, dass er etwas vor mir verbarg, aber ich fragte ihn nicht danach. Er würde es mir schon noch irgendwann sagen, das wusste ich. Es bestand kein Grund zur Hektik. Außerdem war er schon fertig genug, da musste ich die Situation nicht noch verschlimmern. Nach etwa einer halben Stunde verließen wir das Fahrzeug wieder und betraten gemeinsam mit Mike die Arztpraxis, wo er Kian gleich in das Behandlungszimmer schob. Dean und ich wollten den beiden folgen, da ich meinen besten Freund jetzt nicht allein lassen sollte. Er hatte Angst, das wusste ich. Man konnte es ihm ansehen. Doch gerade als ich das Behandlungszimmer betreten hatte, wurde ich von Kian wieder rausgeworfen. Er sah mich dankerfüllt an, bevor er seinen Kopf schüttelte. „Lass nur. Du brauchst nicht… Ich komme schon klar.“ Ich nickte. „Wenn du meinst… Sag Bescheid, falls du deine Meinung änderst. Ich bin mit Dean drüben im Wartezimmer.“ Zur Verstärkung deutete ich auf die Tür von diesem. „Geht klar.“, meinte Kian als ich das Zimmer verließ und mich auf einen der Stühle im besagten Zimmer setzte. Kurz warf ich Dean, der es mir gleichtat, noch einen dankbaren Blick zu, bevor ich mich anlehnte und meine Augen schloss. „Pennst du jetzt?“, rief mein Klassenkamerad laut und lachte. Ich gähnte. „Was denn sonst? Wirf mal einen Blick auf die Uhr! Es ist kurz vor Zwei.“ Eine Weile war es still, dann seufzte Dean. „Und wer hat mich zu dieser Uhrzeit aus dem Bett geholt? Wenn es nach mir gegangen wäre, läge ich da jetzt noch und würde schlafen.“ „Hätte ich Kian vor verschlossener Tür stehen lassen sollen?“, fragte ich leicht gereizt. Das kam nicht in Frage, überhaupt nicht. Wenn ein Freund meine Hilfe brauchte, würde ich ihn nicht einfach im Stich lassen, egal zu welcher Uhrzeit. „Schon gut, beruhige dich.“, redete Dean auf mich ein, „So hab ich das nicht gemeint.“ Genervt öffnete ich meine Augen. „Tu mir einen Gefallen und halt deine Klappe, damit ich jetzt endlich schlafen kann. In reichlich fünf Stunden müssen wir in die Schule!“ Mein Klassenkamerad seufzte gequält. „Ich frage Mike, ob er uns krankschreibt. Irgendwer muss ja schließlich auf Kian aufpassen und nur dich von der Schule zu befreien ist unfair.“ „Gute Idee.“ Ich machte es mit auf meinem Stuhl bequem. „Wenn du das wirklich hinbekommst, hast du was gut bei mir.“ Dean lachte. „Nächsten Freitag Abend, bei mir. Ich gebe eine Party. Du hilfst mir beim Aufbauen. Bring von mir aus Kian und Olivia mit.“ Ich musste leicht schmunzeln. „Falls er mich nicht vorher umgebracht hat. Du weißt, was er von Partys hält. Letztes Mal wäre er fast nicht mitgekommen.“ „Das habe ich gesehen. Hast du ihn eigentlich den ganzen Weg hinter dir hergezogen?“ „So in etwa.“, antwortete ich, „Dieses Mal werde ich das wahrscheinlich auch tun müssen. Jetzt wo er weiß, was wir vorhaben.“ „Wie?“ Dean klang verwirrt. „Er kann uns hören. Seine Ohren sind besser als unsere.“, erklärte ich. „Sag das doch gleich!“, rief mein Klassenkamerad erschrocken. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. „Du hättest ja auch fragen können.“ Noch bevor mir Dean etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür zum Behandlungszimmer und Kian trat heraus, gefolgt von dem Bruder meines Klassenkameraden. Der Oberkörper meines besten Freundes war in weiße Verbände eingewickelt und er hatte einige Pflaster im Gesicht. Um seinen linken Arm trug er einen Gips, woraufhin ich schlussfolgerte, dass Mike den Bruch hatte behandeln können. Langsam stand ich auf und ging auf die beiden zu. „Und?“ „Dein Freund hatte eine Mengte Glück.“, sagte der Arzt, „Es war ein sauberer Bruch und ich konnte ihn behandeln. Außerdem habe ich mich noch um die Schnittwunden gekümmert. Wenn keine Komplikationen auftreten, schaue ich mir den Arm in einer Woche noch einmal an. Dazu kommt ihr am Besten nach meinem Dienstschluss her.“ Ich nickte. „Geht klar. Danke, dass du dir Kian angeschaut hast.“ Mike winkte ab. „Keine Ursache. Ich helfe, wo ich kann. Es wäre nur nett, wenn ihr es nicht herumerzählen würdet, sonst bekomme ich Ärger mit meinem Chef. Genau genommen darf ich das nämlich nicht.“ „Keine Sorge.“ Sagte Dean zu seinem Bruder, „Wir schweigen wie ein Grab. Aber könntest du uns noch eine Freistellung für Heute schreiben?“ Zuerst schaute der Arzt ihn irritiert an, dann seufzte er. „Okay, okay. Wenn ihr so dringend die Schule schwänzen wollt. Mein Problem ist es nicht. Wenn es nach mir ginge, könnte ich euch auch die nächsten Wochen krankschreiben, aber das nimmt man euch dann sicher übel.“ Wir sahen den Mann verwundert an, dann lachten wir los. „Das ist normal bei Schülern.“ Kapitel 3: Heitere Aussichten ----------------------------- Mike setzte Kian und mich in der Nähe meiner Wohnung ab. Den restlichen Weg mussten wir laufen, doch das störte mich nicht weiter. Ein Bisschen frische Luft hatte noch keinem geschadet. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Erst als wir in meiner Wohnung angekommen waren und die Tür hinter uns geschlossen hatten, brach Kian die Stille. „Jetzt habe ich mich dir schon wieder aufgedrängt.“ „Kann man so sagen…“, murmelte ich und betrachtete Kians Verletzungen näher, konnte aber keine Anzeichen darauf finden, wie er sie sich zugezogen haben könnte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als ihn direkt zu fragen. „Was ist passiert?“ Zuerst sah mich Kian verwirrt an, dann schien er zu begreifen, was ich von ihm wollte. Er senkte seinen Blick. Mehr als ein Wort brachte er nicht heraus. „Großvater...“ Überrascht sah ich meinen besten Freund an. „Wie meinst du das? Ist er nicht...?“ Kian ballte seine Hände zu Fäusten. „Sie haben ihn vor einigen Tagen freigesprochen. Er hat sein Haus samt Grundstück verkauft und das Geld einem guten Anwalt gezahlt. Gestern Nachmittag stand er plötzlich vor der Tür. Meine Tante hat ihm angeboten, dass er für einige Zeit bei ihr wohnen könnte. Ich habe ihr Gespräch mitgehört. Als er kurz darauf in mein Zimmer kam und auf mich losgehen wollte, bin ich aus dem Fenster gesprungen und einfach weggerannt.“ Ich brachte kein Wort mehr heraus. Das durfte nicht wahr sein! Alle unsere Anstrengungen waren vergebens gewesen. Und nicht nur das. Kians Großvater würde sich sicher an uns rächen, dafür dass er wegen uns fast hinter Gittern gelandet wäre. Das ließ er sich sicher nicht gefallen. Wenn es darauf ankam, plante er sogar schon, wie er Kian und mich unauffällig aus dem Weg räumen konnte. „Was wirst du jetzt tun?“, fragte ich Kian nach einer Weile. Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ich weiß nicht… Das ging alles so schnell. Bis jetzt habe ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Ich habe mich nur darauf konzentriert, keinem über den Weg zu laufen.“ „Verstehe…“, murmelte ich. Das waren ja heitere Aussichten. „Es tut mir Leid.“ Kian sah mich niedergeschlagen an. „Dann müssen wir deinen Großvater ebne wegen einer anderen Sache anklagen.“, munterte ich ihn auf, „Wenn ihnen die Beweise für den Mord nicht reichen, müssen wir eben etwas finden, wofür es genügend Beweise gibt. Das dürfte doch nicht so schwer sein. Ich bin mir sicher, dass das machbar ist. Es würde mich doch sehr wundern, wenn er nicht noch irgendwo Dreck am Stecken hätte.“ „Danke…“, nuschelte mein bester Freund und ich sah ihm an, dass er es auch so meinte. Um ihn nicht länger mit diesem unangenehmen Dingen zu quälen, wechselte ich das Thema. Ich hielt mir die Hand vor den Mund und gähnte. „Also wenn es nach mir ginge, könnte ich erst einmal eine ordentliche Portion Schlaf gebrauchen.“ Ohne Kian weiter zu beachten, schleppte ich mich in das Schlafzimmer und stellte sein Klappbett auf, das wegen Platzmangels die letzten Wochen an der Wand gelehnt hatte. Ich gähnte erneut, bevor ich meine Schlafsachen wieder anzog und mich in mein Bett fallen ließ und kurz darauf einschlief. Als ich am nächsten Tag aufwachte, war es schon hell. Zuerst warf ich einen verwunderten Blick zum Fenster, durch welches gerade die Sonne in mein Schlafzimmer schien. Danach sah ich auf die Uhr. Es war kurz nach Zwölf Uhr. Genüsslich streckte ich mich und dachte daran, wie schön es war, heute nicht in die Schule zu müssen. Im Klappbett an der anderen Wand des Zimmers, schien auch Kian langsam aufzuwachen. Seine Augenlider zuckten und wenig später öffnete er seine Augen und blickte an die Decke. Zuerst war sein Blick noch verschlafen, dann wurde dieser zu einem verwirrten. Erst nach einigen Sekunden sah er in meine Richtung. „Morgen.“, murmelte ich, „Wie hast du geschlafen?“ „Ganz gut.“, antwortete mir mein bester Freund und streckte sich genüsslich. „Was macht dein Arm?“, fragte ich, während ich mich aus meinem Bett bequemte und langsam in Richtung Bad spazierte. „Tut er noch sehr weh?“ Kian schüttelte seinen Kopf. „Fast gar nicht mehr.“ Das erleichterte mich. Mit einem schwachen Lächeln im Gesicht verließ ich das Schlafzimmer. Nachdem ich alles, was morgens so anfiel, erledigt hatte, deckte ich den Tisch. Viel hatte ich nicht, wie immer eigentlich, aber das war Kian schon gewohnt. Aus der letzten Ecke des Kühlschranks kramte ich meine letzte Packung Wurst hervor. Kaum hatte ich diese auf den Tisch gelegt, war Kian auch schon in der Küche. „Du machst Fortschritte.“, scherzte er, „Letztes Mal hattest du nichts Essbares im Haus und jetzt hast du immerhin Toast, Nutella und Wurst.“ „Alles deine Schuld.“, entgegnete ich während ich mich an den Tisch setzte und mir ein Toast nahm Nutella auf es schmierte. „Du bist einfach bei mir eingezogen und wolltest auch noch versorgt werden. Und da du danach nicht mehr gegangen bist, habe ich mir angewöhnt, regelmäßig einkaufen zu gehen. Kian lachte. „Ich weiß. Das war eine ganz blöde Idee. Aber sieh es mal so: Früher oder später wirst du einen Haushalt führen müssen. Da ist es ganz gut, wenn du jetzt schon einmal übst.“ „Du auch.“, entgegnete ich und biss genüsslich in mein Frühstückstoast. „Was hältst du von Arbeitsteilung? Ich kümmere mich um das Essen und du erledigst den Rest.“ Mein bester Freund schnitt eine Grimasse. „Besonders gerecht ist das aber nicht…“ „Im Gegensatz zu dir muss ich auch in die Schule! Da ist es nur fair, wenn du mehr zu tun hast.“ Meine Stimme klang leicht empört, doch ich meinte es nicht wirklich so. „Wenn du meinst…“ Kian kapitulierte. In diesem Augenblick klingelte es. Verwundert sah ich zur Tür. Kian tat es mir gleich. Nur langsam erhob ich mich von meinem Stuhl und ging auf sie zu. Ich erwartete keinen Besuch und müsste eigentlich auch in der Schule sein. Das hieß, der Besucher war wahrscheinlich nicht meinetwegen hier. Aber weswegen dann? Kian konnte nicht der Grund sein. Die einzigen, die wussten wo er momentan war, waren Dean und Mike. Keiner der beiden hatte einen Grund hier vorbeizuschauen. Vorsichtig drückte ich die Klinke hinunter und lugte durch den Kleinen Spalt, der entstand als ich die Tür wenige Zentimeter öffnete, nur um die Tür gleich wieder erschrocken zu schließen als ich sah, wer auf der anderen Seite stand. „Hallo?“, drang eine mir bekannte Stimme durch sie hindurch, „Ist da wer?“ Die Stimme meines Vaters! Ich lehnte mich mit den Rücken gegen das Stück Holz, meine Hände zu Fäusten geballt. Was wollte mein Vater hier? Nur langsam erinnerte ich mich an das Telefongespräch, dass ich gestern mit ihm geführt hatte. Noch immer wusste ich nicht, warum ich ihn überhaupt angerufen hatte. Er war mir gleichgültig. Außerdem hatten wir schon lange keinen Kontakt mehr. Aber warum hatte ich ihn dann vor den Mannaro gewarnt? Er hatte sich verändert, hatte gesagt, dass er meine Freundschaft mit Kian akzeptieren und ihm nichts mehr tun würde. Doch konnte ich ihm glauben? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. „Alec?“, hörte ich plötzlich Kians besorgte Stimme direkt neben mir. Erschrocken fuhr ich zusammen. Ich hatte ihn nicht bemerkt, so sehr war ich in Gedanken gewesen. „Ach du bist es nur...“, murmelte ich hörbar erleichtert. „Was ist mit dir? Du verhältst dich seltsam.“, fragte mein bester Freund, während er mich vorsichtig von der Tür wegzog, um diese zu öffnen und meinen Vater hereinzulassen. Kraftlos schüttelte ich meinen Kopf. „Es ist nichts...“, log ich, wissend dass ich Kian nichts vormachen konnte. Er hatte mich längst durchschaut. Meinen Vater betrat die Wohnung. Kurz warf er mir einen verwunderten Blick zu, bevor er die Tür hinter sich schloss und seine Jacke auszog. Doch das nahm ich nur hintergründig wahr, wie durch einen Schleier. „Alec!“, Kians Stimme duldete keinen Widerspruch. Er hatte meine Lüge sofort erkannt, wie erwartet. „Was ist passiert?“ „...später, okay?“ Ich warf meinem besten Freund einen bittenden Blick zu. Kian nickte. Ich sah ihm an, dass er damit nicht einverstanden war, doch er sagte nichts. Ein schwaches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er gab tatsächlich nach. Ich wandte mich an meinen Vater. „Weshalb bist du hier?“ Meine Stimme klang härter als beabsichtigt, doch das interessierte mich nicht. „Brauche ich einen Grund um meinen Sohn zu besuchen?“, fragte er, während er sich zu einem Lächeln zwang. Seufzend deutete ich auf die Uhr, die über ihm an der Wand hing. „Heute ist Dienstag. Es ist kurz vor Ein Uhr nachmittags. Ich müsste noch in der Schule sein und die wäre erst in knapp zwei Stunde zu Ende. Warum bist du wirklich hier?“ Mein Vater griff sich leicht verlegen an den Kopf. „Bin ich so leicht zu durchschauen?“ „Was willst du?“ Kühl und distanziert sah ich ihn an. „Mit Kian sprechen.“, antwortete mein Vater. Mein bester Freund sah ihn überrascht an. Er schien nicht damit gerechnet zu haben. „Worüber möchten Sie mit mir sprechen?“ Zu meiner Überraschung war der Blick meines Vaters als er ihn ansah nicht voller Zorn, ich konnte sogar etwas Besorgnis in ihm erkennen. „Woher hast du diese Verletzungen?“ Kian senkte seinen Blick. „Ich habe sie mir zugezogen als ich gestern vor meinem Großvater geflohen bin.“ Er hielt kurz inne, sprach dann aber weiter. „Sie wissen sicher schon, dass er freigesprochen wurde. Wie es aussieht wohnt er jetzt bei meiner Tante.“ Mein Vater sah ihn erschrocken an. „Das ist nicht dein Ernst!“ „Leider doch.“, sagte Kian mit leiser Stimme, „Er ist zurück und er wird sich an uns rächen, dafür dass wir ihn fast in das Gefängnis gebracht hätten. Sie sollten sich für die nächste Zeit vom Wald fern halten und nach Möglichkeit nicht allein irgendwo hingehen. Er wird sich wahrscheinlich nicht auf Sie konzentrieren. Sein Ziel ist jemand anderes.“ „Was ist mit Alec?“, fragte er hörbar besorgt. „Keine Sorgen ihm wird nichts geschehen.“, versicherte mein bester Freund, „Ich werde in seiner Nähe bleiben. Ich werde nicht zulassen, dass sie ihm etwas tun!“ „H- heißt das, Alec ist-“ Mein Vater brach ab. Kian nickte. „Großvater wird nicht eher von ihm ablassen, bis er sicher sein kann, dass er tot ist. Er wird alles tun, um sein Ziel zu erreichen und vor nichts zurückschrecken.“ Ich lehnte mich gegen die Wand und bedeckte die Augen mit meiner Hand. Ein trockenes Lachen verließ meinen Mund. „Das sind ja heitere Aussichten.“ „Alec...“ Kian legte mir seine Hände auf die Schultern. „Er wird dich nicht bekommen, das verspreche ich. Ich werde dich beschützen, koste es, was es wolle. Lieber sterbe ich, als dich noch einmal so zu sehen wie letzten Monat. Vielleicht hört er dann auf...“ Meine Hand glitt nach unten. Schockiert und mit weit aufgerissenen Augen starrte ich meinen besten Freund an. „Nimm das zurück.“, flüsterte ich mit schwacher Stimme, bevor ich mich losriss und Kian erzürnt über den leichtfertigen Umgang mit seinem Leben anschrie. „Nimm es zurück! Wage es ja nicht noch einmal so leichtfertig über deinen Tod zu sprechen! Du wirst dein Leben nicht einfach wegwerfen, und erst recht nicht meinetwegen! Verstanden?!“ Erschrocken über meinen plötzlichen Wutausbruch wich Kian einige Schritte zurück. „Alec, das- ich...“ „Sag so etwas nie wieder!“, verlangte ich immer noch zornig. Kian wandte sich ab und blickt auf den Boden. „Es tut mir leid.“ Kapitel 4: Ungeplante Wendung ----------------------------- Seit dem überraschenden Besuch meines Vaters waren drei Woche vergangen, in denen mir Kian nicht von der Seite gewichen war. Seine Verletzungen waren inzwischen fast wieder verheilt. Von den Kratzern im Gesicht sah man gar nichts mehr und den Gips um den Arm hatte er letzte Woche auch ablegen können. Noch hatten wir keine Mannaro getroffen und es schien auch nicht so, als hätten sie es noch auf mich abgesehen, doch mein bester Freund ließ sich davon nicht beeindrucken. Er brachte mich sogar früh in die Schule und holte mich nachmittags wieder ab. Und wenn ich ehrlich war, konnte ich damit sehr gut leben. Aber den Grund, weshalb mein Vater überhaupt bei Kian und mir aufgetaucht war, wusste ich nicht. Er hatte irgendetwas mit Kian besprechen wollen, das hatte er gesagt. Aber wie es schien, hatte er es sich anders überlegt, als er mich in der Wohnung angetroffen und von unserer derzeitigen Situation erfahren hatte. Ich seufzte. Im Moment saß ich in der Schule und ließ den Matheunterricht, die letzte Stunde des Tages, über mich ergehen. Seit meinem Streit mit Ryan war es mit meinen Zensuren in diesem Fach nur bergab gegangen. Ich verstand nicht einmal mehr, wovon der Lehrer überhaupt redete. Dass es Dean und George nicht anders ging, beruhigte mich kein Bisschen. „Mister Stone.“, sprach der Lehrer, Herr Müller, mich zu allem Überfluss auch noch an, „Ich glaube ein wenig mehr Aufmerksamkeit würde Ihnen nicht schaden.“ Mit dem Gedanken längst wieder bei dem Apfelbaum neben der Schule nickte ich. Ich würde ja aufpassen, wenn ich könnte. Wenn ich den Sinn dieses Faches verstehen würde und nicht gerade ein ganzes Rudel Werwölfe hinter mir her wäre. Der Lehrer schrieb einige Aufgaben an die Tafel. Wortlos kopierte jeder aus der Klasse sie in sein Heft, ich auch. Doch als es dann galt, sie zu lösen, musste ich kapitulieren. Egal wie sehr ich mich bemühte, ich konnte es einfach nicht. Und als wäre das nicht schon Demütigung genug gewesen, musste der Lehrer auch noch durch die Klasse gehen und uns beim Rechnen zusehen. Hatte er nichts besseres zu tun? War sein Job so schlecht bezahlt, dass er das an uns auslassen musste? Er hätte einen anderen lernen können! Zu Allem Überfluss blieb er direkt hinter mir stehen und warf einen Blick in meinen Hefter. „Sie haben noch nicht eine Aufgabe gelöst. Meinen Sie nicht, es wäre angebracht, etwas mehr für den Unterricht zu lernen.“ Am liebsten hätte ich den Hefter samt Mathebuch nach dem Mann geworfen. Was bildete er sich eigentlich ein? Gut, es war wichtig, wenigstens ab und zu etwas für die Schule zu tun, aber momentan konnte ich das wirklich nicht! Ich hob meinen Blick von der Bank und sah den Lehrer wütend an. „Ich habe im Moment wirklich andere Probleme.“, zischte ich. Einige Sekunden lang war es still. Dean und George schauten mich leicht erschrocken an, während der Lehrer um seine Fassung rang. „Alec Stone!“, schimpfte er hörbar empört, „Sie melden sich nach der Stunde bei mir!“ Nur langsam begriff ich, was ich mir durch meine etwas unangebrachten Worte eben eingehandelt hatte. Eine Menge Ärger. Wenn es gut ausging, würde der Lehrer nur meinen Vater anrufen und mit etwas Glück sagte dieser nichts dazu. Hatte ich allerdings Pech, müsste ich wahrscheinlich ein paar Tage nachsitzen. Ich seufzte. Da hatte ich mir ja etwas schönes eingebrockt. Hoffentlich durfte ich heute nach ein paar Minuten gehen und Kian musste nicht zu lange auf mich warten. Er machte sich schon genug Sorgen. Das Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Schnell stopfte ich meine Sachen in meinen Rucksack. Der Lehrer ging zurück an seinen Platz, er sah nicht in meine Richtung und beobachtete auch nicht meine Klassenkameraden, die gerade das Zimmer verließen. Für einem Moment spielte ich mit dem Gedanken, jetzt einfach zu verschwinden, verwarf ihn aber schnell wieder. Damit würde ich wahrscheinlich nicht durchkommen. Ich quälte mich zum Lehrertisch und schaute Herrn Müller abwartend an. Er blätterte in seinen Unterlagen, ignorierte mich einige Sekunden. Ich räusperte mich, bereute es aber schon einen Augenblick später, als er mir einen tadelnden Blick zuwarf. „Was ist nur mit Ihnen los, Alec? Sie waren immer ein vorbildlicher Schüler. Seit Herbst letzten Jahres lassen Ihre Leistungen kontinuierlich nach. Mathe war noch nie Ihr stärkstes Fach und ich erwarte auch keine Spitzenleistungen, aber so wie es im Moment aussieht, werden Sie die Prüfung in diesem Fach nicht bestehen. Wenn Sie das nicht schleunigst ändern, sehe ich mich gezwungen, Ihren Vater zu informieren.“ Ich nickte. Sollte er das tun, wenn er es für nötig hielt. So eng würde mein Vater das schon nicht sehen, hoffte ich zumindest. „Das ist nicht Alecs Schuld.“, hörte ich eine mir bekannte Stimme direkt hinter mir, die von Ryan, „Das liegt nur an seinem Freund von früher, diesem Kian.“ „Er hat nichts damit zu tun.“, fuhr ich meinen Klassenkameraden an, „Hör endlich auf, ihm ständig die Schuld in die Schuhe zu schieben.“ „So ist das also.“ Herr Müller griff sich seufzend an den Kopf. „Es wäre besser für Sie, sich Ihre Freunde besser aussuchen, Alec.“ Hatte er mir nicht zugehört? Kian traf keine Schuld! Von Ryan hatte ich nichts anderes erwartet. Er hasste Kian, weil ich mich letztes Jahr für ihn entschieden hatte. Aber musste mein Lehrer jetzt auch noch damit anfangen. „Ohne ihn wärst du um einiges besser dran.“, meinte jetzt auch Ryan. „Nur um eine Sache klar zu stellen:“, zischte ich als ich ihn am Kragen packte, „Wäre Kian nicht gewesen, hätte ich die letzten sechs Jahre nicht überlebt. Die Mannaro machen keine halben Sachen. Ich wäre genauso geendet wie meine Mutter. Und selbst wenn ich das irgendwie überlebt hätte, sie löschen jeden gnadenlos aus, der von ihrer Existenz erfahren hat. Es wäre also nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie mir in irgendeiner dunklen Ecke aufgelauert hätten.“ Ich hatte absichtlich sehr leise gesprochen, damit der Lehrer meine Worte nicht hören konnte. Wütend stieß ich Ryan gegen die Wand. „Du solltest das wissen, immerhin geht es dir genau so!“ Ryan starrte mich aus angsterfüllten Augen heraus an. „Falls es dich beruhigt.“ Ich wandte mich von ihm und meinem Lehrer ab. „Im Moment haben sie es ausschließlich auf mich abgesehen. Folglich hast du für die nächste Zeit etwas Ruhe, solange du ihnen nicht in einer dunklen Seitengasse über den Weg läufst.“ Ich lief in Richtung Tür. Doch schon nach wenigen Schritten rannte mein Lehrer mir hinterher, packte mich an der Schulter und zwang mich somit, ihn anzusehen. „Wo wollen Sie hin? Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig.“ Ich riss mich los. Jetzt noch weiter zu reden war sinnlos, doch ich wollte nicht noch mehr Ärger bekommen, weshalb ich stehen blieb. „Ist das, was Ryan sagt, wahr?“, fragte mich der Mann, „Hat Ihre Veränderung etwas mit diesem neuen Freund zu tun?“ Hatte er Kian nicht eben noch wie selbstverständlich die Schuld daran gegeben? Warum fragte er mich dann noch? Ich nutzte die Chance, um etwas richtig zu stellen. „Kian war schon in der Grundschule mein bester Freund!“ Der Lehrer stockte. Er sah zwischen Ryan und mir hin und her. „Stimmt das?“ Ich deutete auf das Fenster und den dahinter liegenden Schulhof. „Warum fragen Sie ihn nicht einfach selbst? Er steht seit mindestens einer Viertelstunde draußen und wartet auf mich.“ Darauf sagte Herr Müller nichts mehr. Wortlos ging er an seinen Tisch zurück und deutete mir und Ryan an, ihm zu folgen. Sichtlich verwirrt kamen wir der Aufforderung nach. Ich wusste nicht, was das sollte. Das Thema Kian war beendet und einen anderen Grund, das Gespräch fortzuführen, gab es nicht. Oder war der Lehrer immer noch wütend wegen meiner Antwort in der letzten Stunde? „Ich habe letztens in der Zeitung etwas über eure Väter gelesen.“, begann der Mann ein mir unangenehmes Thema anzuschneiden, „Was halten Sie davon, wenn Sie uns nächste Woche etwas über ihre Arbeit erzählen? Was genau sie erforschen, welche Ergebnisse sie schon haben und so.“ „Ich will damit nichts zu tun haben.“, antwortete ich, ohne vorher über eventuelle Folgen meiner Aussage nachzudenken. Die blieben zum Glück aus. Ryan sah mich mit einem fragenden Blick an. „Warum nicht?“ „Weil die Forschungen der reinste Blödsinn sind.“ Ich log. Was anderes blieb mir nicht übrig. Sagte ich die Wahrheit, würden alle in diesem Raum in Schwierigkeiten geraten. Was mit Ryan passierte, war mir eigentlich egal, zumal es auf ihn keinen Einfluss hatte. Aber meinen Lehrer wollte ich dann doch nicht auf dem Gewissen haben, so schön es auch wäre, er würde seinen Beruf wechseln. „Sind sie nicht!“, sagte Ryan mit beleidigter Stimme, „Hör endlich auf, so schlecht über deinen Vater zu reden!“ „Was hat meine Meinung über ihre Forschungsziele mit der Beziehung zu meinem Vater zu tun?“, fragte ich ihn, lauter als beabsichtigt. „Stopp, das reicht!“ Der Lehrer ging dazwischen. „Ich sehe schon… Zu einem gemeinsamen Vortrag kann ich Sie nicht bewegen. Dennoch würde ich mir wünschen, dass einer von Ihnen das Thema bearbeitet und der Klasse vorstellt.“ In diesem Moment betraten Dean und Alice das Zimmer. Während das Mädchen schüchtern in der Tür stehen blieb, stürmte mein blondhaariger Klassenkamerad direkt auf mich zu. „Willst du nicht langsam mal raus gehen? Wenn du noch länger wartest, friert Kian noch am Boden an und ich habe keine Ahnung, wie wir ihn wieder davon los bekommen sollen.“ Als der Name meines besten Freundes fiel, zuckte Ryan zusammen. Er wich einige Schritte zurück. „Ich glaube das mit dem Vortrag lassen wir lieber. Alec scheint ihn nicht ausarbeiten zu wollen und ich habe im Moment keine Zeit dafür. In den nächsten Wochen schreiben wir viele Kontrollen, für die ich noch lernen muss.“ Dean formte seine Lippen zu einem stummen ‚Ausrede’. Zuerst sah ich ihn genervt an, doch schon einen Augenblick später konnte ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Dem Lehrer schien das zum Glück nicht aufzufallen. Er schaute uns nur leicht enttäuscht an, bevor er sein Buch schloss und in seine Tasche packte. „Gut, dass belassen wir es dabei. Sollten Sie Ihre Meinung ändern, können Sie gern auf mich zukommen. Sie dürfen jetzt gehen.“ Das waren die Wort, auf die ich schon seit gefühlten Stunden wartete. Sofort zog ich mir meine Winterjacke an, warf mir meinen Rucksack über die Schulter und verließ gemeinsam mit Dean und Alice das Zimmer, ohne mich vom Lehrer zu verabschieden. Kaum hatten wir den Raum verlassen, begann Dean auch schon, mich auszufragen. „Was wollte der Lehrer eigentlich von dir? Es ging doch sicher nicht um deinen kleinen Wutausbruch in der Stunde.“ „Am Anfang schon. Er hat mir eine Moralpredigt gehalten, ich solle mir meine Freunde besser aussuchen und mehr für die Schule lernen. Als er damit fertig war, wollte er Ryan und mir einen Vortrag aufbrummen. Über die Mannaro…“ „Wie kommt er denn darauf?“, wollte mein Klassenkamerad und guter Freund wissen. Dem Ton seiner Stimme entnahm ich, dass er befürchtete, unser Lehrer könnte etwas über sie wissen. „Als ob du so etwas machen könntest. Kian würde dir das sicher sehr übel nehmen.“ „Das wäre noch das kleinste Übel.“, entgegnete ich, „Du weißt, was die Mannaro mit Leuten machen, die von ihrer Existenz erfahren. Wenn ich ihnen die Forschungsergebnisse meines Vaters präsentiere, werden einige von ihnen anfangen, tatsächlich an ihr Vorhandensein zu glauben. Als Folge dessen würde unsere Klasse ein ganzes Stück schrumpfen…“ „So kann man das auch auslegen.“, murmelte Dean als wir das Schulgebäude verließen und über den verschneiten Pausenhof Richtung Schultor gingen. Alice mischte sich besorgt in unser Gespräch ein. „Du hältst den Vortrag doch nicht, oder?“ Ich schüttelte meinen Kopf. „Dazu hätte er mich nie bekommen. Und falls es dich beruhigt: Ryan wird auch nichts darüber sagen.“ Wir hatten noch nicht einmal die Hälfte des Schulhofes überquert, da kam Kian uns schon entgegengelaufen. Mit einer Mischung aus Empörung und Besorgnis sah er mich an. „Wo warst du so lange?“ Dean klopfte mir grinsend auf die Schulter. „Er hat den Lehrer angeschnauzt und musste sich deswegen eine Moralpredigt anhören.“ Kian seufzte. „Wenn es weiter nichts ist…“ Er klang erleichtert. „Das muss gefeiert werden.“, redete mein Klassenkamerad munter weiter, „Heute Abend bei mir machen wir richtig einen drauf. Kian und deine Freundin, deren Namen du mir noch immer nicht verraten hast, kannst du ruhig mitbringen. Dann wird es lustiger.“ Ich griff mir an den Kopf. Warum musste Dean so sehr darauf bestehen, dass ich ihm erzählte, mit wem ich zusammen war? Reichte es nicht aus, dass er wusste, dass es da irgendein Mädchen gab? Da es eher unwahrscheinlich war, dass er aufhörte, mich damit zu nerven, beschloss ich, dass ich Livi fragen würde ob sie gern mitkäme. Kapitel 5: Partie ----------------- Wie Kian es gelungen war, Olivis nicht nur zur ausgemachten Zeit in meine Wohnung zu bestellen, sondern auch noch dafür zu sorgen, dass sie ausnahmsweise Mädchenkleidung trug, war mir jetzt - wo ich gemeinsam mit den beiden vor Deans Tür stand - ein Rätsel. Er hatte weder lange mit ihr telefoniert, noch irgendetwas von unseren Plänen verraten. Es musste also andere Gründe haben. Jedoch war mir das relativ egal. Es störte mich nicht, dass meine Freundin sich die meiste Zeit über kleidete, als sei sie ein Junge. Es gab schlimmeres und außerdem fand ich sie in den Klamotte n süß. Ich drückte den Klingelknopf. Der Klingelton ertönte und wenig später hörte ich ihn durch die geschlossene Tür rufen: „Moment! Ich mach gleich auf.“ Ein Scheppern ertönte, gefolgt von einem Klirren und Deans fluchender Stimme. Danach war es einen Augenblick still. Aber schon nach wenigen Sekunden drang der nächste Lärm durch die Tür nach draußen. Diesmal klang es, als sei jemand die Treppe heruntergefallen. Als Dean und nach einigen Minuten endlich die Tür öffnete, sah er aus wie frisch aufgestanden. Seine blonden Locken waren zerzaust und die Klamotten hingen irgendwie an seinem Körper. Arme und Gesicht waren verziert von einigen Schrammen. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte ich, ohne mich zu bemühen, den belustigten Klang meiner Stimme zu verbergen. Mein Klassenkamerad deutete schnaubend auf den Flur hinter sich, der bis in die letzte Ecke mit Kisten zugestellt war. „Meine Tante besucht uns für ein paar Tage. Das ist ihr Gepäck. Ach ja: Sie hat ‚nur das Nötigste’ mitgebracht.“ „Autsch.“ Olivia grinste. „Und du bist sicher, dass sie das alles braucht?“ „Dean, hör auf so schlecht über deine Tante zu reden.“, erklang eine Frauenstimme aus dem Flur. Wenig später trat die Mutter des blonden Chaoten zwischen den vielen Kartons hervor. Ihr anfangs strenger Blick wandelte sich in ein Lächeln, als sie uns erblickte. Sich ihr langes, blondes Haar hinter das Ohr streichend kam sie auf uns zu. „Mum.“, beschwerte sich Dean, „Sie ist nicht normal. Kein normaler Mensch braucht so viel Gepäck, wenn er für ein paar Tage seine Verwandten besucht.“ Die Frau ignoriere seine Aussage und wandte sich stattdessen an mich. „Es ist schön, dich mal wieder zu treffen, Alec. Was macht die Schule denn so? Passt du auch immer auf? Oder bist du inzwischen genauso unaufmerksam wie mein dummer Sohn?“ „Mum!“, protestierte mein blondhaariger Klassenkamerad. Frau Myers seufzte. „Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du wenigstens ab und zu etwas für die Schule tun würdest.“ Nach diesen Worten schaute sie Kian und dessen Cousine musternd an. „Willst du mir deine Freunde nicht vorstellen.“ „Du hast mich doch nicht zu Wort kommen lassen!“, warf Dean gespielt verletzt ein, jedoch konnte er sich schon nach wenigen Sekunden ein Lachen nicht mehr verkneifen. Er deutete auf Kian. „Darf ich vorstellen: Das ist Kian, Alecs bester Freund. Die zwei haben die gleiche Grundschule besucht und er wohnt im Moment bei Alec.“ Danach wies er auf Livi. „Und das ist…“ Er stockte. „Wer war sie gleich noch mal?“ „Olivia.“, entgegnete ich belustigt, „Meine Freundin.“ „Ach ja!“ Mein Klassenkamerad griff sich an den Kopf. „Das hatte ich schon wieder vergessen. Du wolltest sie ja mitbringen…“ „Wollte?“, hakte ich nach, „Du hast nicht eher Ruhe gegeben, bis ich dir zugesagt hatte, dass ich sie heute mitbringe!“ „Ja und?“ Dean stellte sich beleidigt. „Ich muss doch wissen, mit wem du so zusammen bist.“ „Schon gut.“, meinte ich genervt, „Sag, was du willst.“ „Kian…“, murmelte Deans Mutter in einem überlegenden Ton, „Irgendwo habe ich den Namen schon einmal gehört.“ Mein Klassenkamerad hob feixend seine Schultern. „Vielleicht von Alice. Er ist derjenige, der ihr im Herbst einen Korb verpasst hat. Es hat ewig gedauert, bis sie sich wieder vertragen haben und wenn du mich fragst: ich glaube, dass sie trotzdem noch zusammenkommen.“ Die Frau musterte meinen besten Freund. „Ich weiß nicht, ich kann mir das nicht vorstellen.“ „Alice ist immer noch total in ihn verknallt.“, plapperte mein Klassenkamerad munter weiter, wofür er sich von seiner Mutter einen wütenden Blick zuzog. „Hör auf, deine Schwester zu ärgern.“, verlangte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Danach zog sie sich eine Jacke über, verabschiedete sich lächeln von uns und küsste ihren Sohn auf die Stirn. „Ich muss jetzt weg, die Arbeit wartet. Macht euch einen schönen Nachmittag. Übertreibt es nicht mit dem Feiern und passt auf meinen verrückten Sohn auf.“ Noch bevor wir etwas erwidern konnten, war sie auch schon durch die Tür verschwunden. „So ist sie eben.“, murmelte Dean und schob uns ich die Richtung seines Zimmers, ab den ganzen Kisten vorbei, die Treppe hinauf, „Vorsicht, fallt nicht. Das Zeug ist gefährlich.“ „Ich weiß. Es war nicht zu überhören, wie du drübenweggeflogen bist.“, provozierte ich ihn ein wenig, „Hast du dich dabei schwer verletzt?“ Dean ging nicht weiter auf die Anspielung ein. Nachdem er uns in seinem Zimmer platziert hatte, machte er sich auf die Suche nach Knabbersachen und etwas zu trinken, was er uns nur wenige Minuten später präsentierte. Nacheinander stellte er und einen Kasten Bier, einige Schnapssorten, Cola, Saft, Gläser, Gummibärchen und eine Tüte Chips vor die Nase. „Ich hoffe, es ist für alle etwas dabei.“ Stumm angelte ich mir eine Flasche Bier aus dem Kasten und deutete auf ihren Verschluss. „Etwas zum Aufmachen wäre nicht schlecht.“ „Moment!“ Dean durchwühlte seine Schreibtischschubladen und zauberte zu meinem Erstaunen nach einigen Minuten tatsächlich einen Flaschenöffner hervor. „Reicht dir der?“ Ich nahm den Gegenstand entgegen und öffnete meine Flasche. Kian und Livi bedienten sich inzwischen an der Cola, da sie Alkohol nicht so gut vertrugen. „Kommt George nicht?“, fragte ich nach einer Weile. Mein Klassenkamerad schüttelte seinen Kopf. „Ihr müsst heute leider mit mir Vorlieb nehmen. Seine Oma hat Geburtstag. Sie hat gedroht, ihn zu enterben, wenn er sie heute nicht besucht.“ „Ach so…“ Ich schaute aus dem Fenster. Seit wir das Haus betreten hatten, schneite es draußen große, weiße Flocken. „Und Alice? Ist sie auch nicht da?“ „Doch. Aber sie macht gerade Hausaufgaben, irgendeine Projektarbeit in Biologie, glaube ich. Wenn sie fertig ist, leistet sie uns Gesellschaft.“ „Und was machen wir jetzt?“, erkundigte ich mich gespielt gelangweilt. Dean hob seine Schultern. „Weiß nicht. Was hältst du davon, mir deine Freundin vorzustellen und etwas über sie zu erzählen? Bis jetzt weiß ich nichts außer ihren Namen.“ Ich stutzte. Eigentlich hatte ich geglaubt, mein Klassenkamerad würde sich an sie erinnern, jetzt wo er sie gesehen hatte, immerhin hatten sie sich schon mehrere Male getroffen. Ich hakte nach. „Schau dir Livi noch einmal genau an, vielleicht fällt dir etwas auf.“ Zwar kam Dean meiner Aufforderung nach, jedoch brachte es nicht viel. Nach einigen Sekunden schüttelte er seinen Kopf. „Sag, was du willst, ich habe sie noch nie gesehen.“ „Mensch Dean.“, seufzte ich, „Jetzt streng dein Gehirn doch einmal an. Du hast sie jetzt schon so oft getroffen. Das kannst du doch nicht alles vergessen haben.“ Als der blondhaarige Chaot stumm blieb, fuhr ich fort. „Livi ist Kians Cousine. Sie war dabei, als wie Maria White besucht haben. Außerdem hast du mich schon oft besucht, während sie ebenfalls da war. Sie-“ Mein Klassenkamerad unterbrach mich. „Moment!“, schrie er, „Verstehe ich das gerade richtig? Du bist mit einem Mannaro zusammen?“ Ich nickte. „Wie man unschwer erkennen kann...“ Der blondhaarige Chaot griff sich an den Kopf. „Jetzt verstehe ich auch, warum du mich in letzter Zeit immer so dumm angeschaut hast, als ich dich über deine Freundin ausgefragt habe. Ich schätzte, ich habe nicht gecheckt, dass du diese Olivia gemeint hast. Aber jetzt wo du es sagst, sehen sich die Zwei wirklich sehr ähnlich.“ Er hielt kurz inne. „Aber geht das denn einfach so? Ich meine, hat Kian denn nichts dagegen?“ Ein schwaches Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht. „Doch... Ich habe so lange auf ihn eingeredet, bis er nachgegeben hat...“ „Ach so.“ Dean senkte seinen Blick, nur um mich und meinen besten Freund wenige Sekunden später wieder breit grinsend anzusehen, „Schluss mit den ernsten Sachen. Alec hat sich mit einem Lehrer angelegt. Das muss gefeiert werden!“ Mit diesen Worten griff er nach vier Plastikbechern und füllte sie mit einer Vielzahl alkoholischer Getränke. Als die Becher kurz davor waren, überzulaufen, reichte er jeden von uns einen.“ Kian betrachtete seinen Inhalt skeptisch. „Du erwartest doch jetzt nicht ernsthaft, dass ich das trinke...“ „Und ob ich das tue!“, schnaubte Dean beleidigt. Auf meiner anderen Seite nippte Livi zaghaft an dem Gemisch. „So schlecht schmeckt das gar nicht.“, murmelte sie, ehe sie einen größeren Schluck aus dem Becher nahm.“ „Livi!“, mahnte Kian, „Du weißt, was passiert, wenn du übertreibst.“ „Ach komm schon.“, sie sah ihn bettelnd an, „Nur diesen einen Trink.“ „Von mir aus.“, entgegnete mein bester Freund trocken, „Aber gewöhne dich nicht daran. Danach wirst du dich mit Saft begnügen.“ „Okay.“ Olivia grinste zufrieden, fast als hätte sie gerade einen großen Sieg errungen. Mein bester Freund stellte den Becher zurück auf den Boden. „Ich passe.“ Dean schaue ihn etwas enttäuscht an. „Nach der ganzen Mühe, die ich mir gegeben habe, dir dieses einzigartige Getränk zu mixen?“ „Du hast es frei nach Schnauze zusammengeschüttet!“, warf ich ein. „Tut mir leid.“ Kian stand langsam auf und ging in Richtung Tür. „Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe...“ Seine Körperhaltung hatte etwas Verletztes an sich und im gleichen Moment, wie ich das bemerkte, erinnerte ich mich, dass ich ihn schon einmal so gesehen hatte. An dem Tag, als ich ihn geohrfeigt hatte, weil er Livi gegenüber unfair gewesen war, hatte er einen ähnlichen Ausdruck in seinem Gesicht gehabt. Noch bevor Dean oder Livi etwas darauf erwidern konnten, war ich aufgesprungen und hatte meinen besten Freund am Arm gepackt. „Kian, warte!“ „Alec, lass mich los!“, verlangte er. Ein ungutes Gefühl breitete sich in mur aus und ich schüttelte meinen Kopf. „Das werde ich nicht.“ Kian drehte sich zögernd zu mir und sah mich aus geweiteten Augen heraus an. „Warum?“, fragte er schwach. „Letztes Mal bist du nicht zurückgekommen.“ Auch ich sprach leiser als normal. „Ich habe dich eine Woche lang verzweifelt gesucht, nur um feststellen zu müssen, dass mein Vater dich in seine Hände bekommen hatte.“ Auf Kians Gesicht bildete sich ein schwaches Lächeln als er zurück zu den anderen ging und sich wieder auf seien Platz setzte. „Entschuldige, ich wollte dich nicht so erschrecken.“ „Schon okay. Ich habe wohl etwas überreagiert.“ Ich zwang mich, das ungute Gefühl in meinem Inneren zu verdrängen als ich es meinem besten Freund gleichtat, hoffend dass ich dieses Mal falsch lag. „Bist du sicher, dass du mein Meisterwerk nicht willst?“, fragte Dean meinen besten Freund, „Du hast noch nicht einmal gekostet...“ „Ich würde es trinken, wenn ich könnte.“, antwortete Kian und ich hörte dem Kang seiner Stimme an, dass er die Wahrheit sagte. „Aber im Gegensatz zu Livi bin ich kein vollwertiger Mannaro und gerate schnell aus dem Gleichgewicht. Eine Menge an Alkohol oder Dosierungen von Wirkstoffen in Medikamenten, die ihr nichts ausmachen, können bei mir dazu sorgen, dass ich die Kontrolle über meinen Körper verliere und mich in ein Monster verwandle.“ „Sorry, das habe ich nicht gewusst.“ Dean griff sich verlegen an den Kopf, ehe er seinen Drink zurücknahm, „Ich werde in Zukunft besser darauf achten, versprochen.“ Ich ließ mich zurückfallen und starrte an die Decke. Kians Worte hatten mich nachdenklich gestimmt. Es passte nicht zu ihm, dass er mir irgendetwas verschwieg und ich verstand nicht, wieso er mir nichts davon erzählt hatte. Wie als hätte Kian meine Gedanken gelesen, wandte er sich in meine Richtung. „Ich hätte es dir sagen sollen, aber nachdem du mich so gesehen hast, habe ich es nicht mehr fertig gebracht, entschuldige.“ Zuerst sah ich ihn verwundert an, doch dann verstand ich, wovon er sprach. Er meinte den Abend, an dem ich ihn im Keller der Forschungsstation meines Vaters vorgefunden hatte. „Mach dir keine Gedanken.“, murmelte ich, „Du weißt, dass ich dir deswegen nicht böse bin.“ Hätte Alice nicht in diesem Moment das Zimmer betreten, hätten wir sicher noch ein tiefgründiges Gespräch geführt, doch es schien als wollte keiner sie mit den eben ans Tageslicht gekommenen Informationen konfrontieren. Dean hob seinen inzwischen ausgetrunkenen Becher in die Luft. „Wenn du dich nicht beeilst, haben wir alles allein ausgetrunken.“, grinste er, als sei nichts passiert. Alice schloss die Tür und streckte sich erst einmal. „Endlich geschafft. Diese Hausaugaben machen einen aber auch wahnsinnig.“ Sie erwiderte das grinsen ihres Bruders als sie sich zu uns auf den Boden setzte, zwischen ihn und Kian. Kapitel 6: Neue Probleme ------------------------ Am nächsten Morgen war wieder Schule. Da Livi nicht jedes Mal, wenn sie bei mir war, schwänzen konnte, war sie nach der Party bei Dean mit dem Bus nach Hause gefahren. Doch zu meiner Verwunderung störte mich das recht wenig. Klar, ich fand es bessert, wenn wir mehr Zeit miteinander erbrachten, aber wenn es nicht ging, ging es nicht. Schnell hatte ich mich fertig gemacht und lief gemeinsam mit Kian in die Richtung des Schulgebäudes. Er hatte noch immer nicht davon abgelassen, mich jeden Tag hinzubringen und danach wieder abzuholen. Doch ich konnte ihn wenigstens davon überzeugen, umzukehren als das Schulgelände in Sichtweite war. Zwar hatte ich nichts dagegen und es war mir auch nicht unangenehm, wenn wir von anderen gesehen wurden, doch ich wollte meinem besten Freund keine Umstände machen. Ich wusste, wie gern er morgens ausschlief. Dean winkte uns schon von weitem zu. „Alec, Kian, Guten Morgen!“, rief er so laut, dass es auf der gesamten Straße zu hören war. Sofort fragte ich mich, ob er wohl noch Restalkohol von gestern Abend intus hatte. Kopfschmerzen schien er jedoch keine zu haben, dazu war er viel zu gut gelaunt. Nun ja, vielleicht hatte er den Kater von gestern auch mit einem Konterbier bekämpft. Ich winkte zurück. „Morgen!“ Vor dem Schultor verabschiedete ich mich von Kian und betrat gemeinsam mit Dean das Schulgelände, wo Georg schon auf uns wartete. Zu dritt schlenderten wir den gepflasterten Weg entlang, auf dem Weg zum Gebäude. Im Flur warf ich einen Blick auf den Vertretungsplan und bereute schon im nächsten Augenblick, das getan zu haben. „Leute?“, murmelte ich, mit den Augen den Text vor mir fixierend, „Unser Religionslehrer ist krank. Wir haben jetzt Mathe.“ Dean blieb stehen. „Das ist ein schlechter Scherz, oder?“ Ich schüttelte meinen Kopf und deutete auf den Plan. „Leider Nein. Dort steht es.“ George schnitt eine Grimasse. „Ob es auffällt, wenn wir schwänzen?“ „Denkt nicht einmal daran.“, ertönte direkt hinter uns die Stimme unseres Mathelehrers, „In wenigen Monaten sind die Prüfungen und wenn Sie diese bestehen wollen, müssen Sie jede Chance nutzen, die Sie bekommen können.“ Während ich auf diese Aussage hin nichts weiter erwähnte, schaute Dean den Mann mit einem breiten Grinsen im Gesicht an. „Uns was ist, wenn wir die Prüfung gar nicht bestehen wollen?“, fragte er. Georg nickte zustimmend. „Genau!“ „Ich tu jetzt mal so, als hätte ich das nicht gehört.“, entgegnete Herr Müller, ehe er sich von uns abwandte und in Richtung des Lehrerzimmers spazierte. „Das zum Thema schwänzen…“, grummelte George und ließ seine Hände in den Hosentaschen verschwinden, „Hat jemand eine bessere Idee?“ Dean hob seine Schultern. „Nicht wirklich. Wir könnten die Tafel mit Schmierseife bestreichen, die Kreide waschen, die Schrauben aus dem Lehrerstuhl drehen, das Sitzkissen bewässern, eine verfaulte Banane in seinem Aktenkoffer verstecken…“ Ich schaute lachend auf die Uhr, die direkt über unseren Köpfen an der Wand angebracht war. „Dann müssen wir uns aber beeiden. In fünf Minuten klingelt es.“ „Worauf warten wir noch.“ Dean packte mich und Georg jeweils an einem Arm und zerrte uns den Flur entlang, bis in das Zimmer. Erst als wir vor der Tafel standen, ließ er uns wieder los. Einige Sekunden lang begutachtete er zuerst die Tafel, dann den leeren Lehrerstuhl und die nicht vorhandene Kreidebox. „Hat jemand Schmierseife oder einen Schraubenzieher?“ Synchron schüttelten Georg und ich die Köpfe. Der Lehrer betrat das Zimmer, jedoch bemerkten wir ihn diesmal. „Was planen Sie jetzt schon wieder?“, erkundigte er sich mit einem gezwungenen Lächeln. „Nichts.“, antwortete Dean gespielt unschuldig, „Wir haben nur gerade überlegt, was wir heute wohl machen werden.“ Ich nickte zustimmend, in der Hoffnung, dass uns diese Ausrede abgekauft wurde. Und tatsächlich. Herr Müller seufzte. „Lassen Sie sich überraschen.“ „Och Menno.“ Dean verschränkte feixend seine Arme hinter dem Kopf, während er sich von unserem Lehrer abwandte und zu seinem Platz lief. „Und ich hatte gehofft, mich in der Pause darauf vorbereiten zu können. Aber wie es scheint, muss ich das wohl weglassen.“ Stumm folgte Georg seinem besten Freund und ich tat es ihm gleich, wurde aber nach wenigen Schritten aufgehalten. „Alec?“, sprach mich Herr Müller an, „Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?“ Verwundert blieb ich stehen und drehte mich um. Was wollte der Mann jetzt schon wieder? Hatte er mich gestern nicht genug zugetextet? Ich zwang mich, mir nichts von meinem Verdruss anmerken zu lassen und stiefelte zurück zum Lehrertisch. Kaum war ich an diesem angekommen, wurde ich auch schon aus dem Zimmer gewunken. „Ich würde mich gern mit Ihnen unter vier Augen unterhalten, wenn es Sie nicht stört.“, erklärte der Lehrer sein Handeln. Stumm folgte ich ihm. Was blieb mir auch anderes übrig? Es war nicht so, dass ich in irgendeiner Weiße ein Mitspracherecht in dieser Sache hatte. Außerdem wollte ich keinen unnötigen Ärger, weshalb ich beschloss, die Sache einfach über mich ergehen zu lassen. So schlimm würde es nicht werden, hoffte ich, immerhin hatte ich nichts verbrochen. Im Flur blieb der Mann stehen und sah mich einen Moment lang abwartend an, ehe er das Wort ergriff. „Ich habe gehört, Ihr Vater hat seine Forschungen aufgegeben.“ Zuerst reagierte ich nicht auf diese Aussage hin. Als mein Lehrer allerdings nach einigen Sekunden noch nicht weitergesprochen hatte, verstand ich, dass er eine Antwort von mir erwartete. „Ich weiß…“, murmelte ich leise. „Gab es einen bestimmten Grund dafür?“, erkundigte er sich weiter. Ich stellte mich unwissend und hob meine Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht hatte er keine Lust mehr.“ Die Wahrheit sagen konnte ich schlecht. Erstens würde man mich für verrückt erklären, wenn ich behauptete, das Alphatier der Mannaro hätte ihn dazu gezwungen im Austausch gegen mein Laben. Dass Kian die Drohung niemals in die Tat umsetzen musste, ließ ich außer acht. „Verstehe.“ Irgendwie sah Herr Müller geknickt aus, als hätte ich etwas falsches gesagt. „Dann bringt es wohl nichts, wenn ich Sie danach frage.“ Ich wurde hellhörig. Verstand ich den Mann gerade richtig? Wenn ja, dann war das eben ein eindeutiger Hinweis dafür, dass er von der Existenz der Mannaro wusste. Aber woher sollte er von ihnen erfahren haben? Gut, einige Möglichkeiten gab es und Zufälle ließen sich ja bekanntlich schlecht vorhersagen. Theoretisch könnte er einem der Wölfe über den Weg gelaufen sein. Jedoch wollte ich nichts überstürzen und wusste auch, dass es fatale Folgen haben könnte, wenn ich die Andeutung des Mannes falsch verstand. Er konnte sich auch auf den Vortrag, den ich gemeinsam mit Ryan hätte halten sollen, beziehen. Und solange ich nicht genau wusste, wovon er sprach, würde ich nicht ein Wort über die Existenz der Mannaro verlieren. Trotzdem hatte er meine Neugier geweckt und ich konnte mich nicht zurückhalten, ihm eine Frage zu stellen. „Was meinen Sie?“ Herr Müller winkte ab. „Ist nicht so wichtig…“ Ich hob meine Augenbrauen. Glaubte der Mann ernsthaft, ich würde die Sache jetzt dabei belassen, nur weil er es sagte? Wahrscheinlich schon und da ich keinen Ärger wollte, ließ ich ihn vorerst in dem Glauben. Er würde es noch früh genug erfahren oder auch nicht. Auf einmal klingelte das Handy meines Mathelehrers. An sich war das eine relativ normale Situation, wenn man davon absah, dass jeden Augenblick die Glocke zum Unterrichtsbeginn läuten würde. Doch anstatt sofort abzuheben starrte der Mann erst einige Sekunden auf das Display seines Mobiltelefons. Dann rannte er in Richtung Treppe, immer noch ohne abzuheben. Mich ließ er einfach im Flur stehen. Gerade wollte ich ins Zimmer zurückgehen und vor Freude strahlend verkünden, dass der Unterricht heute wohl ein paar Minuten später beginnen würde, als ich die Stimme des Lehrers hörte. „Hallo?“ Wie es schien hatte er abgenommen. Jedoch irritierte mich der unsichere, ängstliche, fast schon panische Klang seiner Stimme und ich hatte das Gefühl, dass hier etwas nicht richtig lief. Mir kam seine Frage nach den Forschungen meines Vaters in den Sinn. Was, wenn beides miteinander zu tun hatte und er sich in irgendeiner Form Hilfe von meinem Vater erhofft hatte? Das würde seinen enttäuschten Blick vorhin erklären. Ich ignorierte das Klingeln, dass in diesem Augenblick ertönte, und lief dem Lehrer hinterher. Vor der Schultür holte ich ihn ein. Trotz dass er meine Schritte vernommen haben musste, drehte er sich nicht um, sondern öffnete wie in Trance die Tür und trat hinaus. Das Handy hielt er an sein Ohr gepresst. Langsam folgte ich ihm, achtete aber darauf, dass er mich nicht bemerkte. Warum ich das tat, wusste ich nicht, schließlich hatte ich nichts zu verbergen. Aber trotzdem hinderte mich etwas daran, mich offen zu zeigen. Vielleicht lag es an der komischen Situation, denn es kam nicht häufig vor, dass ich meinem Lehrer hinterherspionierte. So leise ich konnte, schlüpfte ich durch die Schultür. Doch wahrscheinlich hätte ich diese auch aufreißen und ins Schloss fallen lassen können, ohne dass Herr Müller mich bemerkt hätte. Er war inzwischen auf dem Weg zum Hinterhof. Trotz meines Unguten Gefühls bei der Sache folgte ich ihm weiter, achtete aber noch immer darauf, nicht entdeckt zu werden. Hinter dem Geräteschuppen blieb der Mann stehen. Schnell presste ich mich mit dem Rücken an die Wand von diesem, damit er mich nicht sah. Eine Weile geschah nichts. Weder telefonierte mein Lehrer weiter, noch hatte hier jemand auf ihn gewartet. Leise schlich ich mich näher an ihn heran, bis ich ihn sehen konnte. Aber noch immer passierte nichts ungewöhnliches. So langsam begann ich, daran zu zweifeln, dass hier wirklich etwas nicht richtig lief. Vielleicht hatte Herr Müller einfach nur an die frische Luft gewollt. Und auch der Anruf musste nichts zu bedeuten haben. Plötzlich trat eine Gestalt aus dem Schatten der Bäume, die hinter dem Schuppen am Ende des Schulgrundstückes standen und als ich genauer hinsah, erkannte ich diese. „Scar?“ Stumm formten meine Lippen den Namen dieser Person. Doch Scar war nicht allein. Zwei Männer, die ich auf sein Alter schätzte, folgten ihm. Der eine war groß und Schlank mit dunklem Haar und der andere das genaue Gegenteil: klein und etwas dicklich mit hellerem Haar. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen. Dazu war es noch zu dunkel und die Entfernung zwischen uns auch etwas zu groß. Scar ging auf meinen Mathelehrer zu. „Und? Haben wir die Kohle mitgebracht?“ Zögernd zog Herr Müller einen Umschlag aus seiner Jacke und reichte diesen dem Mannaro. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Atem schneller ging und meine Hände zitterten. Interpretierte ich die Situation richtig, wurde mein Mathelehrer von Scar erpresst. Aber welchen Grund hatte der Mannaro, das zu tun? Mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht reichte Scar das Kuvert an seinen dicklichen Anhang weiter. „Zähl nach.“, befahl er. Stumm tat der Mann, was von ihm verlangt wurde. Er öffnete den Briefumschlag und überprüfte dessen Inhalt. Nachdem er zweimal nachgezählt hatte, nickte er. „Es ist alles drin.“ „Schön.“, murmelte Scar, der sich seiner Überlegenheit gegenüber meines Mathelehrers scheinbar bewusst war, „Ich freue mich schon auf weitere Geschäfte.“ Der dünne seiner Begleiter lachte, sagte aber nichts. „Aber vergessen Sie eine Kleinigkeit nicht.“, fuhr Scar fort, „Sollten Sie irgendwem davon erzählen, machen wir Ihnen das Leben zur Hölle. Glauben Sie mir, wir schrecken nicht davor zurück, jeden, der hiervon erfährt, aus dem Weg zu räumen.“ Ich schluckte. Mit immer noch zitternden Händen zog ich mein Handy aus der Hosentasche, deaktivierte die Tastensperre und öffnete eine leere Kurzmitteilung. Als Absender gab ich mein Festnetztelefon zu Hause ein, in der Hoffnung, Kian war momentan in meiner Wohnung. Dann begann ich, einen Text zu verfassen: ‚Komm bitte schnell zur Schule. Ich glaube, ich brauche deine Hilfe. Alec.’ Ohne mein Geschriebenes noch einmal durchzulesen, versendete ich die Sms. Schon im nächsten Augenblick war ich froh, das getan zu haben, denn der Scars dünnerer Anhang kam zielstrebig auf mich zu. „Wen haben wir denn da?“, fragte er während er seine Augenbraue hob und die Arme vor der Brust verschränkte. Sein Blick fiel auf mein Handy. „Gib das her!“ Schnell ließ ich das Mobiltelefon wieder in meiner Hosentasche verschwinden und erwiderte trotzig seinen Blick. Jedoch bereute ich sofort, das getan zu haben, denn ich schaute in ein paar stechend gelber Augen. Inzwischen waren auch die anderen auf mich aufmerksam geworden. Herr Müller stolperte ein paar Schritte zurück und starrte mich geschockt an. „Alec, was? Wie?“ Auf Scars Gesicht erschien ein wütender Ausdruck, als er auf mich zustapfte. „Du lebst ja immer noch!“ Kapitel 7: Eine neue Gefahr --------------------------- Auf Scars Gesicht erschien ein zorniger Ausdruck, als er auf mich zustapfte. „Du lebst ja immer noch!“ Ich erwiderte seinen Blick, nicht weniger gereizt. „Gleichfalls!“ Der Mannaro mit der Narbe im Gesicht sah mich mit einem finsteren Grinsen an. „Wenn ich du wäre, würde ich mich ganz unauffällig verhalten. Wir wollen ja nicht, dass dir etwas zustößt, nicht wahr?“ Er zog ein Taschenmesser aus seiner Jacke und spielte damit. Hätte ich nicht gewusst, das er mir nichts tun konnte, ohne mächtigen Ärger mit meinem besten Freund zu bekommen, hätte ich mich der Situation gefügt und versucht, keinen unnötigen Ärger zu bekommen. Jedoch hatte mich Kian unmissverständlich darüber informiert, was mit Scar passierte, wenn er mich noch einmal verletzte. Einen Augenblick betrachtete ich den silbern glänzenden Gegenstand, ehe ich meine Hände in den Hosentaschen verschwinden ließ und mich gegen die Mauer des Geräteschuppens lehnte. „Worauf wartest du noch? Na los, stich zu!“ Einige Sekunden war es still. Scars Begleiter und mein Lehrer starrten mich fassungslos an. Der dünnere der Mannaro baute sich vor mir auf. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, brüllte er mich an, „Rede gefälligst nicht so respektlos mit uns, Mensch!“ „Wer spricht hier respektlos mit wem, Mannaro?“, fragte ich ihn mit gespielt abfälliger Stimme. Wenn ich eines gelernt hatte, dann war das, dass ich mir von ihnen nichts sagen lassen musste. Ich kannte meine Position, die ich aufgrund von Kians Stellung im Rudel hatte, und auch wenn es mir anfangs seltsam vorkam, begann ich langsam mit den ganzen Strukturen vertraut zu werden. Laut der Rangordnung, die mir mein bester Freund schon mehrfach erklärt hatte, stand ich über Scar und brauchte mir nichts von ihm sagen zu lassen. Dem Handeln der beiden anderen Mannaro entnahm ich, das sie nicht sonderlich viel zu melden hatten. Vor Wut schnaubend schlug Scar mit der Faust einige Zentimeter neben meinem Kopf gegen die Wand des Schuppens. Trotz dass ich durch diese ruckartige Bewegung erschrak, blieb ich weiterhin ruhig stehen und sah ihn abwartend an. „War das alles?“ Ich beobachtete, wie Scars Hände sich zu Fäusten ballten und er sich auf die Zunge biss, um sich irgendeinen dummen Kommentar zu verkneifen. Er wandte sich an seine beiden Anhängsel. „Tom, Marco, wir gehen!“, befahl er fast schon und nahm dem dickeren von ihnen den Umschlag wieder weg. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, warf er diesen meinem Lehrer zu und lief langsam in die Richtung des Schultores. Sein schlankerer Begleiter blieb nach einigen Schritten stehen. Er starrte mich wütend an, ehe er sich mir näherte. „Ich bin damit nicht einverstanden. Warum lässt du dir von einem Menschen sagen, was du zu tun hast?“ „Tom!“, knurrte Scar, „Hast du mich nicht richtig verstanden? Ich sagte, wir gehen!“ „Warum gibst du nach? Vor noch nicht einmal einem Jahr hättest du ihn umgebracht, ohne mit der Wimper zu zucken!“ Der dünnere Mannaro, dessen Namen ich jetzt kannte, schnaubte abfällig, bevor er mich am Kragen meines Pullovers packte. „Wer bist du?“ „Alec Stone.“, antwortete Scar ohne mich überhaupt zu Wort kommen zu lassen, „Und jetzt lass ihn los! Der Anführer des hier herrschenden Rudels wird es dir sehr übel nehmen, wenn du ihm etwas antust.“ „Das interessiert mich einen Scheißdreck. Wir gehören keinem Rudel an, also müssen wir uns von ihm auch nichts sagen lassen.“, schrie Tom und stieß mich gegen den Schuppen. Ich spürte, wie ich mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Jedoch befand sich auch ein Fenster hinter mir, gegen das ich mit meinem linken Arm stieß. Die Scheibe gab unter einem klirrenden Geräusch nach und das Glas schnitt sich in meinen Arm. Es fehlte nicht viel und ich hätte vor Schmerz laut aufgeschrien. Gerade noch so konnte ich es mir verkneifen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog ich meinen Arm wieder aus dem Fenster und betrachtete die Verletzung durch den jetzt zerrissenen Ärmel meines Pullovers hindurch. Das Glas hatte ein paar schöne große Schnittwunden hinterlassen, die stark bluteten. Innerhalb weniger Sekunden lief ein Teil der dunkelroten Flüssigkeit meinen Arm hinunter, über die Hand und tropfte auf den Boden. Der Mannaro vor mir beugte sich etwas nach vorn und sein Körper begann, die Umrisse zu verlieren. Keine zehn Sekunden später stand ich einem großen, dunkelgrauen Wolf mit leuchtend gelben Augen gegenüber, der mich bedrohlich anknurrte und langsam auf mich zukam. Im nächsten Augenblick sah ich, wie ein bräunlicher Schatten auf den Mannaro zusprang und ihn zu Boden riss. Der graue Wolf heulte vor Schmerz auf und lief mit eingezogenem Schwanz einige Schritte zurück. Die Gestalt, die ihn daran gehindert hatte, mich weiter zu verletzen stellte sich zwischen ihn und mich. Einige Male musste ich blinzeln, eh ich erkannte, dass es sich bei ihr um meinen besten Freund handelte. Bis jetzt hatte ich ihn nur tagsüber und meist bei Sonnenschein in seiner Wolfsgestalt gesehen. Aber jetzt, wo es erst allmählich begann zu dämmern, erschien mir sein sonst golden glänzendes Fell wie eines in dunkelbrauner Farbe. Als Kian in meine Richtung sah, bemerkte ich, dass seine Augen auch dunkler schienen als ich sie in Erinnerung hatte. Der mir unbekannte Mannaro wich weiter vor meinem besten Freund zurück, aber auch Scar und dessen dicklicher Begleiter, den er vorhin Marco genannt hatte, brachten mehr Abstand zwischen sich und Kian. Tom nahm wieder die Gestalt eines Menschen an und schaute mit einem fast schon panischen Gesichtsausdruck zwischen mir und meinem besten Freund hin und her. Kian tat es ihm gleich. Jedoch wandte er sich sofort an mich, ohne seine Artgenossen weiter zu beachten. „Ich glaube, ich brauche deine Hilfe?!“, warf er mir lautstark an dem Kopf, was ich ihm vorhin geschrieben hatte, „Geht es dir noch ganz gut?! Wage es ja nicht, noch einmal so zu untertreiben, wenn du in solchen Schwierigkeiten bist!“ Für den Bruchteil einer Sekunde starrte ich ihn erschrocken an, dann bildete ein schwaches Lächeln auf meinem Gesicht. „Entschuldige, ich habe die Situation etwas unterschätzt.“ „Etwas?!“ Kian schrie mich immer noch an. Aber nach einer Weile schien er sich zu beruhigen. Seine Gesichtszüge entspannten sich wieder ein wenig und er griff sich seufzend an die Stirn. „Ich hätte es wissen müssen, immerhin hast du es noch kein Mal geschafft, dich nicht irgendwie in Gefahr zu bringen.“ Sowohl die Mannaro und mein Mathelehrer schauten verwirrt zwischen mir und meinem besten Freund hin und her. Scar hatte sich als erstes wieder gefasst. Er wandte sich an seinen dünneren Begleiter. „Ich habe dir gesagt, dass es so enden würde.“ Tom wich weiter vor meinem besten Freund zurück, sagte aber nichts. „Um euch kümmere ich mich später.“, zischte Kian leise, dennoch verständlich, Scar und Marco an, ehe er sich Tom näherte, „Und nun zu dir. Du weißt, wie es endet, wenn du im Revier anderer wilderst!“ Der Mannaro fiel wimmernd auf die Knie. „Es tut mir leid. Bitte verschone mich. Ich tue so etwas auch nie wieder.“ „Verschwinde!“, befahl Kian und seine Stimme hatte den gleichen majestätischen Klang, wie ich ihn schon einige Male sprechen gehört hatte, „Wenn du mein Revier auch nur noch einmal betrittst, bring ich dich um!“ Die Augen meines besten Freundes blitzten und seinen Gesichtszügen konnte man ablesen, dass er keinerlei Widerspruch duldete. So schnell er konnte, sprang Tom auf und hetzte davon, ohne noch einmal zurückzusehen. „Weg ist er…“, murmelte ich, bevor ich mich mit dem Rücken gegen den Schuppen lehnte. Als hätte Kian mich nicht gehört, ging er langsam auf Scar zu. Den dicklichen Begleiter ignorierte er dabei. „Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen.“ „Ich bin nicht dafür verantwortlich, auf deinen kleinen Freund aufzupassen! Wenn er meint, er müsse sich mit uns anlegen, ist das sein Problem.“ Der Mannaro mit der Narbe erwiderte Kians Blick. „Habe ich mich letztes Mal nicht klar genug ausgedrückt?“, fragte Kian hörbar gereizt, „Es war einer deiner Leute, der Alec verletzt hat, und du bist für sie verantwortlich! Außerdem habt ihr hier nichts zu suchen! Sieh zu, dass du verschwindest, und nimm deinen Anhang mit. Wage es nicht, dich noch einmal blicken hier zu lassen. Du bist aus meinem Gebiet verbannt!“ Scars Augen weiteten sich und er starrte meinen besten Freund geschockt an. „Das ist nicht dein Ernst. Du kannst doch nicht…“ „Und ob ich das kann.“ Kian war wütend, das konnte man hören. „Seit vier Monaten ärgere ich mich mit dir herum, ohne dass du auch nur ansatzweise versuchst, mir in irgendeiner Weise entgegenzukommen. Ich habe dich mehrfach gewarnt, es nicht zu weit zu treiben. Du warst derjenige, der sich an nichts gehalten hat. Ich habe bis jetzt nur noch nicht gehandelt, weil du der beste Freund meines Vaters warst. Aber wenn du es nicht für nötig hältst, dich anzupassen, und mir ständig in den Rücken fällst, bin ich nicht verpflichtet, dich noch länger in meinem Rudel zu dulden!“ Es war still. Erschrocken starrte ich meinen besten Freund an. So streng hatte ich ihn noch nie sprechen hören. Scar schien es nicht anders zu ergehen, denn er hatte einen ähnlichen Ausdruck in seinem Gesicht, jedoch wandelte sich dieser in einen verletzten und er kehrte Kian den Rücken zu. „Wir gehen.“, meinte er an seinen Begleiter gerichtet. Ich beobachtete, wie die beiden langsam an mir, meinem besten Freund und meinem Mathelehrer vorbeiliefen, bevor sie das Schulgelände verließen. Eine Weile sah Kian ihnen hinterher, dann galt seine Aufmerksamkeit wieder mir. Besorgt begutachtete er die Verletzung an meinem linken Arm. „Tut es sehr weh?“ Ich schüttelte meinen Kopf. „Es geht. Ich hatte schon schlimmeres als diese paar Kratzer.“ Mein bester Freund warf mir einen vielsagenden Blick zu, erwiderte aber nichts auf meine Untertreibung, sondern lehnte sich seufzend neben mir gegen die Wand des Schuppens. Herr Müller, der seit Kians Auftauchen kein Wort mehr gesprochen hatte, kam auf mich zu. „Sagten Sie nicht, Sie würden die Forschungen Ihres Vaters für Blödsinn halten? Wenn dem wirklich so wäre, wieso haben Sie sich dann eingemischt?“ Ich schnitt eine Grimasse. „Warum können Sie nicht einfach so tun, als wüssten sie von nichts, und uns damit eine Menge Ärger ersparen? Was soll ich sonst zu den Forschungen sagen? Unterstützen kann ich sie schlecht, außer ich möchte frühzeitig das Jenseitige segnen.“ Zuerst schaute mich der Mann verdutzt an, dann bildete sich ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht. „Verstehe ich Sie gerade richtig? Sie haben nur so getan, als würden sie die Forschungen für Blödsinn halten?“ Ich nickte. „Was glauben Sie, machen die Mannaro mit mir, wenn ich zugebe, dass ich seit Jahren von ihrer Existenz weiß? Ihnen ist sicherlich bekannt, was sie mit Menschen tun, die aus Versehen von ihnen erfahren. Auch wenn Kian es anders handhabt, als seine Vorgänger, ist das kein Freifahrtsticket, jedem von ihnen erzählen zu dürfen. Ich hatte also quasi keine andere Wahl als zu lügen.“ „Selbst wenn es wahr ist, was sie sagen“, warf mein Klassenleiter ein, „verstehe ich nicht, warum einer der Mannaro dich beschützt hat. Sehen sie uns Menschen nicht als Nahrungsquelle?“ „Kian ist mein bester Freund.“, antwortete ich auf die Frage. Darauf erwiderte der Mann nichts mehr. Stattdessen schaute er sich nun ebenfalls die Verletzung an meinem Arm an. „Meinen Sie nicht, es wäre besser, wenn wir einen Arzt rufen? So können Sie unmöglich am Unterricht teilnehmen.“ Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern zog ein Handy aus seiner Hosentasche und wählte die Nummer des Notarztes. Ich warf ihm einen beleidigten Blick zu, beschwerte mich aber nicht, da ich wusste, dass es nichts brachte. Wie schon vorhin entschied Herr Müller allein, ohne dass ich in irgendeiner Form ein Mitspracherecht hatte. Zwar könnte ich etwas dagegen sagen, aber dadurch würde ich die ganze Sache eher noch verschlimmern. Kian beugte sich grinsend vor mich. „Das kommt davon, wenn du immer so überstürzt handelst und nie darüber nachdenkst, was für Folgen dein Handeln haben könnte.“ „Als ob du über das, was du tust, nachdenken würdest.“, widersprach ich ihm leise. „Ich weiß.“ Zu meiner Überraschung lächelte mein bester Freund, jedoch wirkte es gezwungen. „Du hältst dich die nächste Zeit lieber fern von Scar und dessen Leuten. Solltest du ihm trotzdem über den Weg laufen, ist es besser, wenn du ihn nicht provozierst. Macht er auch nur die kleinste Andeutung, dass er dir etwas antun würde, rufst du mich sofort an!“ „Kian, was...“ Ich wusste nicht, wie darauf reagieren sollte. „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er versucht, sich an dir zu rächen, dafür dass ich ihn verbannt habe.“ Kapitel 8: Die Lage spitzt sich zu ---------------------------------- Nach etwa einer Viertelstunde sah ich, wie das Auto des Notarztes auf das Schulgelände fuhr. Mein Lehrer hatte mich gemeinsam mit Kian in sein Vorbereitungszimmer gebracht, wo wir aus dem Fenster sahen und auf ihn warteten. Die Blutung hatten sie mithilfe des Sanikastens provisorisch gestillt. Ein junger Mann stieg aus dem Fahrzeug. Zielstrebig kam er auf das Schulgebäude zu. Je weiter er sich näherte, desto bekannter kam er mir vor. Als er nur noch wenige Meter vom Fenster entfernt war, erkannte ich ihn. Es war kein anderer als Deans älterer Bruder. Herr Müller verließ den Vorbereitungsraum, nur um wenig später mit Mike zurückzukommen. Gespielt ernst sah der Arzt sich in dem Zimmer um. „Und, wo ist mein Patient?“ Sein Blick fiel auf mich und meinen vom Blut verfärbten Ärmel. Zielstrebig kam er auf mich zu und hockte sich vor mich, um die Verletzung besser sehen zu können. „Wie ist das denn passiert.“ Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. „Nichts weiter. Ich bin nur mit dem Arm gegen ein Fenster geflogen und das Fenster hat eben nachgegeben.“ „Alec…“ Deans Bruder seufzte. „Kannst du deine Verletzung nicht wenigstens ein Bisschen ernster nehmen?“ „’tschuldige…“, erwiderte ich beleidigt. „Zieh deinen Pullover aus, damit ich mir deine Verletzung ansehen kann.“, verlangte. Wortlos kam ich der Aufforderung nach. Mike nahm den notdürftigen Verband ab und begann, meine Schnittwunden zu reinigen. Zuerst spürte ich nichts, doch schon nach wenigen Sekunden begann es zu brennen. Ich biss meine Zähne zusammen, zwang mich, mir nichts anmerken zu lassen. Langsam kam zwischen den sauberen Schnitten die Narbe der Bisswunde, die mir Kian letztes Jahr zugefügt hatte, zum Vorschein. Jedoch sprach mich Deans Bruder nicht darauf an, sondern tat, als würde er sie nicht bemerken, wofür ich wirklich dankbar war. Eine Frage, wie ich sie mir zugezogen hatte, konnte ich nicht beantworten. Zumindest nicht, ohne zu vermeiden, dass mein bester Freund wieder ein schlechtes Gewissen bekam. „Du hast Glück gehabt.“, meinte der Arzt nach einer Weile, „Es muss nicht genäht werden. Ich werde dir noch einen straffen Verband anlegen und dir für die nächsten Tage eine Sportbefreiung schreiben. Besser du belastest deinen Arm nicht zu sehr, verstanden?“ Ich nickte, wissend dass ich mich wahrscheinlich nicht vollständig daran halten würde. Mike fuhr fort. „Für heute werde ich dich vom Schulunterricht befreien. Geh nach Hause und zieh dir neue Klamotten an.“ Herr Müller, der diese Aussage als indirekte Aufforderung meine Sachen zu holen auffasste, verließ das Zimmer. Deans Bruder schaute ihm hinterher, bevor er auf meine Narbe deutete. „Gibt es etwas, was du mir verheimlichst? Was genau hat dich dort gebissen.“ Ich schwieg, da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Neben mir senkte Kian seinen Blick und sah schuldbewusst zu Boden. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt. „Ich war das.“ Mike schnappte erschrocken nach Luft. Seine Augen weiteten sich und er starrte meinen besten Freund fassungslos an. „Du?“ Mein bester Freund nickte. „Ich-“ Wütend schlug ich mit meiner unverletzten Hand auf den Tisch. „Es reicht. Hör endlich auf, dich deswegen so fertig zu machen. Es ist nicht deine Schuld, dass das passiert ist, und das weißt du auch. Außerdem hast du dich schon oft genug entschuldigt.“ „Wie meinst du das?“, fragte Deans Bruder irritiert. „Kian ist nur zur Hälfte ein Mannaro. Seine Mutter war ein Mensch. Das bedeutet, dass es für ihn schwieriger ist, seinen Körper unter Kontrolle zu halten. Alkohol, Drogen und auch Medikamente wirken bei ihm um ein vielfaches stärker und es kann schnell passieren, dass er eine zu hohe Dosis zu sich nimmt. Dann verwandelt er sich in eine wilde Bestie, die sich nicht mehr stoppen lässt. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten. Das ist dabei rausgekommen.“, erklärte ich leise. Mein bester Freund warf mir einen warnenden Blick zu, den ich aber nicht weiter beachtete. Mike wusste von den Mannaro, also war es nicht weiter gefährlich, ihm auch diese Informationen zu geben. Außerdem konnte es passieren, dass er es früher oder später einmal wissen musste. Spätestens wenn er Kian das nächste Mal behandelte und dieser gerade nicht ansprechbar war. Der Arzt sah zwischen und hin und her. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber einen Augenblick später wieder, ohne dass ein Wort ihn verließ. Wie es schien hatte er es sich anders überlegt. Wortlos durchwühlte er seinen Koffer, bis er einen Verband darin fand, den er mir dann anlegte. Als Herr Müller zurückkam, war er gerade damit fertig. Der Lehrer begutachtete kurz meine inzwischen behandelte Verletzung. „Geht es? Wenn Sie möchten, fahre ich Sie nach Hause.“ Ich schüttelte meinen Kopf. „Das ist nicht nötig. Mir geht es gut. Die paar Kratzer sind der Rede wert. In zwei, drei Wochen sieht man nichts mehr davon.“ „Alec!“ Kian schaute mich mit einer Mischung aus Besorgnis und Resignation, aber auch mahnend an, „Spiel die Sache nicht so herunter. Du weißt, was passiert wäre, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Ich bezweifle, dass sie es bei den paar Schnitten belassen hätten. Du wärst also sehr wahrscheinlich im Krankenhaus gelandet und sehr lange dort geblieben, wenn du es überhaupt überlebt hättest.“ Mein Klassenleiter schnappte erschrocken nach Luft und starrte Kian leicht eingeschüchtert an. Man bemerkte sofort, dass er sich unwohl fühlte, einem Mannaro so nah zu sein. Doch sprach er es nicht aus, sondern versuchte, es zu überspielen. Aber seine schauspielerischen Fähigkeiten ließen zu wünschen übrig und er wirkte dadurch nur noch angsterfüllter, als er es ohnehin schon war. Da ich mich nicht länger mit ihm unterhalten wollte, griff ich nach meinem Pullover, der im Müll landen würde, sobald ich zurück in meiner Wohnung war. „Weiß Ihr Vater davon?“, erkundigte sich der Lehrer. Zuerst verstand ich nicht, was er meinte, doch innerhalb weniger Sekunden wurde mir dann klar, dass er nur von meiner Freundschaft mit Kian sprechen konnte. Ein schwaches Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht, als ich an die Reaktion meines Vaters dachte, als er es erfahren hatte. „Sonderlich begeistert war er nicht, aber wir konnten uns nach einigem hin und her darauf einigen, dass er sich nicht einmischt.“, antwortete ich. „A- aber-“, warf Herr Müller ein, „Wirkt sich das nicht negativ auf seine Forschungen aus? Ich meine, da hat man schon einmal einen lebenden Beweis und dann kann man ihn nicht nutzen. Mit ihm hätten sie nachweisen können, dass die Mannaro wirklich existieren.“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten, zwang mich, meine Fassung nicht zu verlieren. Gleichzeitig machte ich mir aber keine Mühe, meine Wut über diese Äußerung zu verbergen. „Zu welchem Preis?“, fragte ich trocken, „Kian ist mein bester Freund und ich werde nicht zulassen, dass sie ihn für irgendwelche dämlichen Versuche nutzen. Sie wissen, was mit ihm passiert, wenn die falschen davon erfahren! Die Mannaro werden dann entweder als Bedrohung angesehen und ausgelöscht oder als neue Tierart in einen Zoo gesperrt.“ Mein Klassenleiter starrte mich erschrocken an. Es schien als hätte er nicht mit so einer Antwort gerechnet. Doch er hatte sich erstaunlich schnell wieder gefasst. „Sie stellen Ihren Freund also über Ihre Familie?“ Am liebsten hätte ich den Mann geschlagen, nach ihm getreten oder ihn mit Gegenständen beworfen. „Was bilden Sie sich eigentlich ein?“, schrie ich, ohne mir Gedanken darüber zu machen, dass man mich sicher bis in den Flur und in einigen Unterrichtsräumen hören konnte. Ich zog mir meine Jacke über, packte mit einer Hand meine Schultasche und mit der anderen die meines besten Freundes. „Wir gehen!“ „Moment mal!“, rief mir Herr Müller hinterher, „Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig!“ „Ich habe aber keine Lust, mich noch länger mit Ihnen herumzustreiten.“, zischte ich, „Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt und wenn sie Ihnen nicht ansteht, ist das nicht mein Problem. Sollten Sie allerdings versuchen, Kian etwas anzutun, kann ich nicht mehr für Ihre Sicherheit garantieren. Dann ist es mir auch egal, ob sie auf der Speisekarte der Mannaro landen! Einen schönen Tag noch.“ Eingeschüchtert von meinem Wutausbruch wich der Mann vor mir zurück, wodurch der Weg zur Tür wieder frei wurde. Diese Chance nutzte ich. Zügig ging ich auf die Tür zu, meinen besten Freund noch immer hinter mir herziehend, und verließ gemeinsam mit ihm den Raum. Die wütenden Rufe meines Lehrers ignorierte ich. Auf dem Weg zum Ausgang liefen wir an meinem Klassenzimmer vorbei. Die anderen, sie hatten wegen des fehlenden Mathelehrers eine Freistunde, hatten sich zu kleinen Grüppchen zusammengeschlossen und unterhielten sich über irgendwelche unwichtigen Sachen. Einige waren auch wieder nach Hause gegangen. Mein Blick fiel auf Dean und Georg, die gerade heftig mit Ryan diskutierten. Als sie mich und Kian jedoch bemerkten, rannten sie sofort auf uns zu. „Was ist passiert?“, fragte Georg, noch bevor die anderen überhaupt die Chance hatten, irgendwas zu sagen. Als ich ihre besorgten Gesichter sah, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Nichts weiter. Ich bin nur Scar und zwei von seinen Anhängseln über den Weg gelaufen.“ Neben mir schnitt Kian eine Grimasse, die verriet, dass er nicht besonders viel von dieser Antwort hielt. Seufzend nahm er mir meine Schultasche ab. Dean, der schon vorher Mühe hatte, sich das Lachen zu verkneifen, prustete los. Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab, mit der anderen deutete er auf Kians Miene. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du dir eine ziemlich lange Moralpredigt anhören musst.“ „Ich werde es überleben.“, scherzte ich. „Das will ich auch hoffen!“ Georg schaute mich aufgebracht an. „Du weißt nicht, was wir für einen Schreck bekommen haben, als der Müller auf einmal reingekommen ist, deine Sachen geholt hat und meinte, du würdest gerade vom Notarzt behandelt werden!“ „Sorry.“, nuschelte ich, „Mir geht es gut. Ich hab mir nur den Arm an einem zerbrochenen Fenster zerschnitten. Mehr ist nicht passiert.“ Meine Freunde atmeten erleichtert aus. In einiger Entfernung hörte ich, wie sich mein Mathelehrer und Mike unterhielten. Ihre Stimmen wurden immer deutlicher, woraus ich schloss, dass sie in unsere Richtung liefen. Schnell hob ich zum Abschied meine Hand. „Ich gehe jetzt lieber. Herr Müller ist nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen. Wenn er sieht, dass ich noch hier bin, lässt er mich noch nachsitzen.“ „Dann beeil dich.“ Dean grinste und deutete auf das Treppenhaus, „Wir sehen und morgen in der Schule. Du kommst doch wieder?“ „Klar.“, antwortete ich, während ich gemeinsam mit Kian zielstrebig auf den Ausgang zuging, „Bis morgen.“ Was meine Freunde darauf antworteten, hörte ich nicht mehr, denn sie wurden von der ins Schloss fallenden Schultür übertönt. Aber es handelte wahrscheinlich eh um nichts Wichtiges. Mit dem Gedanken, dass ich heute noch vor Zehn Uhr zu Hause sein würde, machte ich mich auf den Weg. „Du schuldest mir noch eine Erklärung.“ Kians ernste Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Was hast du dir dabei gedacht? Du kannst dich doch nicht einfach mit Scar anlegen! Er hasst dich. Er wird keine Gelegenheit ungenutzt lassen, dich unauffällig aus dem Weg zu räumen und das weißt du auch.“ „Entschuldige.“, flüsterte ich leise, „Ich wollte dir keinen Ärger bereiten.“ „Alec.“ Mein bester Freund blieb stehen und sah mich mit ausdrucksloser Miene an. „Wie oft soll ich es noch sagen? Mein Großvater und ein großer Teil des Rudels sind hinter dir her. Sie wollen dich umbringen. Und du hast nichts besseres zu tun, als dich auch noch mit ihnen anzulegen? Denk doch einmal nach, bevor du etwas tust. Bitte. Ich will dich nicht verlieren.“ Erst wollte ich widersprechen und sagen, er solle sich gefälligst nicht so anstellen. Doch als ich den letzten Satz hörte, konnte ich es nicht mehr. Unbewusst versetzte ich mich in Kians Situation und überlegte, wie ich gehandelt hätte, hätte er sich in solche Gefahr gebracht. Mit Sicherheit wäre ich genauso wütend gewesen und hätte ihn zur Rede gestellt. Mein Gewissen meldete sich und es fiel mir immer schwerer, Kians Blick zu erwidern. „Es tut mir leid. Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein.“ „Du weißt, dass ich das nicht sage, um dich zu ärgern.“, versuchte mein bester Freund zu erklären, „Ich wünschte, ich könnte dir das ersparen, aber es geht nicht anders. Dein Leben steht auf dem Spiel.“ „Mach dir keine Gedanken.“, murmelte ich und setzte langsam meinen Heimweg fort, „Komm, lass uns gehen. Oder willst du den ganzen Tag auf der Straße stehen bleiben?“ Für einen Augenblick schaute Kian mich verwirrt an, doch dann lächelte er und rannte mir hinterher. Kapitel 9: Eine ungewöhnliche Bitte ----------------------------------- Als wir in meiner Wohnung ankamen, staunte ich nicht schlecht, als ich Olivia in ihr erblickte. Doch noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, war sie mir schon um den Hals gefallen. „Ich habe mir Sorgen gemacht!“, rief sie, „Was ist passiert.“ „Er hat sich mit Scar und zwei von seinen Begleitern angelegt.“, antwortete Kian für mich, „Du kannst von Glück reden, dass nichts weiter passiert ist.“ Einen Augenblick später löste sich Livi wieder von mir und warf einen besorgten Blick auf meinen Arm. „Ich geh mich kurz umziehen.“, erklärte ich und verschwand in mein Zimmer, wo ich den zerrissenen und blutverschmierten Pullover gegen einen neuen Aus dem Schrank ersetzte. Danach ging ich zurück in die Küche ünd warf das ruinierte Kleidungsstück in den Müll. Livi beobachtete mich dabei, doch sie fragte nicht, was passiert war, sondern packte mich vorsichtig an meinem unverletzten Handgelenk und zog mich an den Küchentisch. Kian folgte uns. „Ich habe mich mit Livi gerade über die Zustände in unserem Rudel unterhalten.“, erklärte er, „Als deine Nachricht eingetroffen ist.“ Erst jetzt bemerkte ich, dass etwas an der Situation hier seltsam war. „Müsstest du nicht eigentlich in der Schule sein? Sag bloß, du schwänzt schon wieder!“, fragte ich meine Freundin. Olivia grinste mich frech an. „Wir haben Wandertag, weil sich unsere Klasse ein Theaterstück ansieht. Und da das Theater erst abends geöffnet hat, haben wir Vormittag frei. Wir treffen und um Vier an der Schule und fahren dann mit dem Bus hin.“ „Ach so.“, seufzte ich erleichtert, „Dann ist ja alles gut...“ Ich stockte. „Moment Mal: sagtest du nicht noch gestern, du müsstest früh in die Schule?“ Kian schnitt eine Grimasse. „Sorry deswegen, aber wir waren der Meinung, dass es besser wäre, wenn wir es dir nicht sagen, noch nicht.“ „Was sagen?“, fragte ich alarmiert, „Was wird hier gespielt? Ihr verheimlich doch etwas, oder?“ „Alec...“, mein bester Freund warf mich einen flehenden Blick zu. „Dein ‚Alec‘ kannst du dir sparen! Ich will wissen, was hier los ist und zwar sofort!“ „Okay...“, flüsterte Kian nach einer Weile, „Aber nur unter einer Bedingung: Du wirst weder versuchen, mich umzustimmen, noch mich davon abzuhalten!“ Unsicher, ob ich das richtige tat, nickte ich. Wenig später begann Kian zu sprechen: „Seit ich wieder hier bin, bringt mir Livi regelmäßig Informationen über das Rudel. Mein Großvater versucht, es auf seine Seite zu ziehen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Wenn ich nichts unternehme, werden sie ihm irgendwann nachgeben. Im Moment haben sich nur wenige von mir abgewandt und ich kann es noch aufhalten, aber dazu muss ich mich mit ihnen treffen. Das ist nicht einfach, denn das Rudel ist zerstreut. Mein Großvater hat viele von ihnen verbannt. Sie leben jetzt unter den Menschen, haben einen Job und eine Familie, und es wird schwierig, sie alle ausfindig zu machen. Während du in der Schule warst, habe ich einen nach den anderen aufgesucht und über mein Vorhaben informiert: Ich will mein eigenes Rudel gründen, eines dem ich auch vertrauen kann, und anschließend das meines Großvaters bekämpfen und aus meinem Gebiet vertreiben.“ Mit immer größer werdendem Erstaunen hörte ich ihm zu. Irgendwie klang das alles irreal und unwirklich. So richtig begreifen konnte ich es nicht. Zwar kannte ich Kians Status und wusste, welche Position er inne hatte. Aber dass er auch zu so etwas fähig war... „Ich habe ein Treffen verlangt, bei dem ich ihnen noch einmal alles in Ruhe erklären kann. Es findet in einer Woche statt.“, führ Kian fort. Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte, weshalb ich einfach nickte. „Aber ich kann dich nicht allein lassen. Mein Großvater hat sicher schon von meinem Plan erfahren. Er würde die Gelegenheit nutzen um dir etwas anzutun. Deshalb will ich, dass du mitkommst. Nur so kann ich sicher sein, dass dir nichts zustößt.“ Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus. Ich wollte das nicht. Das letzte Mal als ich dem Rudel begegnet war, hätten sie mich und meine Freunde beinahe umgebracht. Zwar sagte mir mein Verstand, dass ich sicher war, dass Kian nicht zulassen würde, dass es noch einmal dazu kam. Aber trotzdem konnte ich nicht vergessen, was passiert war. Zwei Wochen hatte ich im Krankenhaus gelegen, nachdem ich in den Armen meines Vaters zusammengebrochen war, bis ich endlich hatte gehen dürfen. Von Weihnachten hatte ich so gut wie nichts mitbekommen! Und jetzt erwartete Kian allen Ernstes von mir, dass ich dort noch einmal hinging? Am liebsten hätte ich ihm widersprochen, ihn angeschrien, dass ich mich weigerte, aber ich tat es nicht. „Das ist nicht der eigentliche Grund. Wenn es nur darum ginge, hätte ich Livi damit beauftragen können, den einen Abend auf dich aufzupassen. Ich brauche deine Hilfe, Alec.“ Kian klang verzweifelt. „Ohne dich schaffe ich das nicht. Ohne dich kann ich sie nicht davon überzeugen, dass die Menschen nicht etwas sind, was man mit allen Mitteln bekämpfen muss. Viele von uns glauben, dass die Menschen uns aus Angst nicht akzeptieren und so lange bekämpfen werden, bis wir ausgerottet sind. Deshalb brauche ich dich. Du musst ihnen beweisen, dass das nicht stimmt. Du musst ihnen die Augen öffnen, damit sie endlich begreifen, dass mein Großvater unrecht hat.“ Darum ging es ihm also. Irgendwie fühlte ich mich verletzt als ich Kian so berechnend über unsere Freundschaft und das Vertrauen, dass wir uns entgegenbrachten, sprechen hörte. Für mich fühlte es sich falsch an, es zu nutzen um die Mannaro umzustimmen. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass Kian recht hatte. Es war nun einmal der einfachste und sicherste Weg, ob es mir nun gefiel oder nicht. Für mich würde es sicher nicht angenehm werden. Auch wenn mir die Mannaro wahrscheinlich keine körperlichen Verletzungen zufügen würden, ich konnte mich nur noch zu gut an ihre stechenden Blicke erinnern. „Du weißt, was du gerade von mir verlangst...“, murmelte ich nach einer Weile. Kian nickte. Man sah ihm an, dass er sich mehr als unwohl fühlte in seiner Situation. „Keine Angst, sie werden dir nichts tun, dafür sorge ich. Außerdem ist Livi ja auch noch da.“ „Ich vertraue dir und das weißt du auch.“, antwortete ich ihm leise, ehe ich mich zu einem Lächeln zwang und dem Ganzen, wenn auch widerwillig, zustimmte. „Von mir aus. Aber nicht, dass es zur Gewohnheit wird. Ich tue das nur, weil du mich darum gebeten hast, also komm nicht auf falsche Gedanken.“ „Danke, Alec!“, rief Kian und sah mich mit einem Ausdruck in Gesicht an, der verriet, dass er mir am liebsten um den Hals gefallen wäre. Ich ging nicht weiter darauf ein, sondern stellte ihm die Frage, die mir schon eine Weile durch den Kopf ging. „Du sagtest, ihr hättet nicht vorgehabt, mir davon zu erzählen. Was genau hattet ihr für dieses Treffen geplant?“ Kian, der bis jetzt gestanden hatte, setzte sich mir gegenüber an den Tisch. „Freiwillig wärst du nicht mitgekommen.“, murmelte er, „Deshalb dachte ich, wenn wir dir nichts sagen und dich dann einfach fragen, ob du irgendwo mit hinkommen möchtest, würdest du es wahrscheinlich tun.“ Ich warf ihm und Livi einen wütenden Blick zu. „Ja, aber ich hätte es euch sehr übel genommen, wenn ihr mich so hintergangen hättet.“ „Es tut mir leid. Nächstes Mal sage ich es dir sofort. Versprochen“, versuchte Kian, mich wieder etwas zu beruhigen. Doch anstatt sofort darauf einzugehen, ließ ich mich in dem Stuhl nach hinten fallen und streckte mich. Ich hatte keinen Grund mehr, noch länger auf ihn wütend zu sein. Sorgen brauchte ich mir auch keine zu machen. Er würde sein Wort halten, das wusste ich. Sollte es noch mal zu so etwas ähnlichem kommen, würde er mich sofort darüber informieren. Livi warf einen abschätzenden Blick auf die Uhr, ehe sie sich vom Tisch erhob und nach ihrer Winterjacke, Schal und Mütze griff. „Ich muss langsam wieder gehen.“, meinte sie, „Ich habe meine Mutter versprochen, ihr noch etwas im Haushalt zu helfen, bevor ich heute Nachmittag weggehe.“ Ohne wirklich mitzubekommen, was ich tat, sprang ich auf. „Wir begleiten dich noch ein Stück.“, bot ich ihr an, „Etwas besseres haben wir im Moment eh nicht zu tun.“ Kian schaute mich leicht beleidigt an, sagte aber nichts, sondern zog sich stumm seinen Anorak über. Ich tat es ihm gleich. Als wir gingen, ließ ich noch schnell den Wohnungsschlüssel in meiner Hosentasche verschwinden, ohne würde es schwierig werden, wieder hereinzukommen. Zu dritt verließen wir die Wohnung und liefen den Flur entlang. Nach einigen Metern kamen wir an der Nachbarwohnung vorbei, die Tür war geöffnet und eine Menge Umzugskartons standen in der kleinen Gerdarobe. Ihr bisheriger Einwohner, ein junger Mann, den ich nur vom Sehen her kannte, hatte letztens geheiratet und zog jetzt gemeinsam mit seiner Frau in eine Größere. Aber lange würde sie nicht leer stehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie jemand anderes belegte. Die Wohnungen in diesem Haus waren recht beliebt, da sie erst vor zwei oder drei Jahren saniert worden sind. Außerdem lagen sie recht zentral und bis zum Bahnhof brauchte man zu Fuß nicht einmal zehn Minuten. Als wir das Gebäude verlassen hatten, schlugen wir den Weg zu diesem ein und warteten bis Livia Zug eintraf, was etwa eine Viertelstunde später der Fall war. Wegen des Schnees hatte das Schienenfahrzeug etwas Verspätung, aber das schien die Fahrgäste nicht weiter zu stören. „Bis nächste Woche.“, rief Livi, bevor sie auf den Zug zurannte und uns z noch einmal zuwinkte, „Vielleicht rufe ich auch vorher noch einmal an.“ „Geht klar.“, erwiderte Kian in gleicher Lautstärke, „Und Danke für deine Hilfe.“ Ich wollte noch etwas sagen, aber da war sie schonverschwunden. Mein bester Freund schaute mich leicht belustigt an. „Sie hat dich ja nicht einmal ‚tschüss’ sagen lassen.“ „Kann man so sagen.“, erwiderte ich leise. Kian ließ seine Hände in den Taschen des Anoraks verschwinden. „Und was machen wir jetzt?“ „Keine Ahnung.“ Ich hob meine Schultern. „Hast du eine Idee?“ „Du könntest mir ein paar Aufgaben aus Alices Büchern erklären, die ich nicht verstehe.“, meinte Kian nach einer Weile. Ich nickte. „Wenn du willst… Aber nicht, dass du dich dann den ganzen Tag hinter ihren Büchern versteckst…“ Wenn ich schon einmal einen Tag nicht in die Schule musste, wollte ich ihn nicht irgendwo allein absitzen. Zwar freute es mich, dass Kian sich langsam im Selbststudium wieder das Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte und ich half ihm auch gern, aber ein freier Tag würde ihm sicher ganz gut tun. „Keine Sorge.“ Mein bester Freund grinste. „Es dauert nur ein oder zwei Stunden. Versprochen.“ „Aber nicht länger!“ Ein lächeln bildete sich auf meinem Gesicht. Der Tag war gerettet. „Was hast du schon wieder hier zu suchen?“, erklang eine wütende Männerstimme nur wenige Meter von uns entfernt. Alarmiert schaute Kian und ich in die Richtung, aus der wir sie vernommen hatten. Eine Gruppe aus drei jungen Männern hatte sich vor einem Mädchen, das ich auf das Grundschulalter schätzte, aufgebaut und schienen es zu bedrohen. Einer ging auf das Mädchen zu und packte es an seinen braunen, langen Haaren. „Weißt du, was ich am liebsten mit die machen würde, du Abschaum?!“ Das Mädchen wich vor ihm zurück, bis es an einer Wand ankam. Irgendwoher kam es mir bekannt vor, allerdings konnte ich mich nicht mehr erinnern, wo ich es schon einmal getroffen hatte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus und ich bekam das Gefühl, dass es sich bei den Männern nicht um Menschen handelte, sprach meiner Vermutung aber nicht aus. Kians Gesichtsausdruck verfinsterte sich als den Mann auf ihn zuging. Doch zeugte er es nicht offen, sondern sprach ihn mit gleichgültiger Stimme an. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“ Die drei Männer schauten ihn zuerst aus ihren leuchtend gelben Augen – ich hatte recht, es waren wirklich keine Menschen – gereizt an, da er sie unterbrochen hatte, aber schon im nächsten Augenblick weiteten sich diese. Mit einer kurzen Geste deutete Kian mir an, zu bleiben wo ich war, ehe er auf die Gruppe zuschlenderte und sich vor das Mädchen stellte. „Euch ist sicher klar, dass ihr die Konsequenzen hierfür tragen müsst, nicht wahr?“, fragte er kalter und herablassend, „Und jetzt verschwindet von hier, bevor ich mich vergesse.“ Das ließen sie drei sich zwei Mal sagen. So schnell sie konnten, rannten sie vom Bahnhofgelände, über die Straße dahinter, bis man sie nicht mehr sehen konnte. Kian wandte sich an das Mädchen. „Geh nach Hause.“, verlangte er. Eingeschüchtert blickte das Mädchen ihn an und rührte sich nicht einen Millimeter von der Stelle. Nach ein paar Sekunden entschloss ich mich, einzugreifen. „Du hast doch jetzt nicht allen Ernstes vor, sie in diesem Zustand allein durch die Stand laufen zu lassen.“, fragte ich meinen besten Freund, während ich die Reaktion des Mädchens abwartete. Jetzt erinnerte ich mich auch wieder, woher ich es kannte. Es war das Mädchen, das Olivia und ich im Herbst vor einer Gruppe Mannaro gerettet und anschließend nach Hause gebracht hatten. „Du heißt Christine, richtig?“ Zuerst blickte das Mädchen mich ängstlich an, doch dann schien es sich zu erinnern. „Du bist doch der, der-“ Es brach ab. „Ihr kennt euch?“ Kian schaute mich verwundert an. „Nicht wirklich.“ Ich schnitt eine Grimasse. „Olivia und ich haben sie im Herbst mal in der Stadt aufgeklaubt, als sie Ärger mit ein paar Mannaro hatte, und nach Hause gebracht.“ „Ach so…“ Wie es schien gab er sich mit dieser Erklärung dazwischen. Ich hockte mich vor Christine, richtete ihr von dem Mannaro zerzaustes Haar wieder und lächelte sie freundlich an. „Sollen wir dich nach Hause bringen?“ Das Mädchen schüttelte seinen Kopf. „Ich hole meinen Vater von der Arbeit ab.“, erzählte sie. „Gut.“, beschloss ich, Kians genervten Blick konsequent ignorierend, „Dann bringen wir dich eben dort hin.“ Kapitel 10: Klärende Gespräche ------------------------------ Wir schwiegen, während wir Christin zur Arbeitsstelle ihres Vaters brachten, die zu Fuß nur etwa zwanzig Minuten vom Bahnhof entfernt war, wie mir ein Blick auf mein Handy verriet. Schnell hatten wir unser Ziel, ein Bürogebäude in dessen Nachbarschaft eine große Fabrikhalle stand, erreicht. „Hier arbeitet also dein Vater.“, meinte ich an Christine gewandt, um ein Gespräch zu beginnen. Die Kleine nickte. „Ihm gehört die Firma.“ Ich nickte, um zu zeigen, dass ich ihr zuhörte. „Weiß er, dass du ihn abholst?“ „Ja.“, antwortete Christine, „Er hat versprochen, mit mir in den Zoo zu gehen, sobald er mit der Arbeit fertig ist. Deswegen hört er heute auch eher auf. Er geht nur zu einem Vorstellungsgespräch, weil sie einen neuen Abteilungsleiter suchen.“ „Ach so.“ Von der Redefreudigkeit des Mädchens verwundert wandte ich meinen Blick kurz ab und sah zu Kian, der meinen Blick genervt erwiderte. Er nahm es mir immer noch übel, dass ich ihn quasi genötigt hatte, mit hier her zu kommen. Mit einem Schnauben drehte er sich von mir weg. Ohne groß über eventuelle Folgen nachzudenken, bückte ich mich und verlud eine Portion Schnee auf meine Hände. Ich ging einige Schritte auf ihn zu, bis ich direkt hinter ihm stand, ehe ich ihm das kalte, nasse Weiß ins Gesicht und in den Nacken drückte. Kian zuckte erschrocken zusammen, sprang einen Meter zur Seite und schaute mich nur einen Augenblick später aus seinen goldbraunen Augen heraus wütend an. „Alec, sag mal spinnst du?!“ Zuerst versuchte ich, seinen Blick zu erwidern, doch das hielt ich keine zehn Sekunden durch. Meine Mundwinkel begannen zu zucken und schon im nächsten Moment lachte ich laut los. „Du hättest dich sehen müssen.“ „Herzlichen Dank auch.“, erwiderte Kian beleidigt. Jetzt hielt ich mir schon den Bauch vor Lachen. „Sei doch nicht gleich eingeschnappt. Das war doch nur Spaß.“ „Ich zeige dir gleich, was Spaß ist.“ Im nächsten Moment hatte er einen großen Schneeball auf mich geworfen, der sein Ziel nicht verfehlte und mich an der Stirn traf. „Na warte!“ Ich wischte mir den Schnee aus dem Gesicht, klaubte mir neuen vom Boden und formte diesen zu einem kleinen Ball, den ich nach meinem besten Freund warf. Lachend wich Kian dem Angriff aus. „Übernimm dich nicht. Dein Arm könnte dir das sehr übel nehmen.“ „Ich weiß.“, erwiderte ich leicht gereizt, während ich neue Schneebälle auf ihn warf, von denen etwa die Hälfte ihr Ziel trafen. Um ehrlich zu sein, hatte ich vergessen, dass mein Arm verletzt war, aber das würde ich vor Kian niemals zugeben. Täte ich es, würde er sich nur wieder unnötige Sorgen machen. Das wollte ich nicht. Der nächste Schneeball traf mein Gesicht, diesmal genau in der Mitte. Ich schnaubte kurz, ehe ich ihn wieder entfernte. „Wer ist jetzt eingeschnappt?“, fragte mein bester Freund mit einem siegessicheren Grinsen im Gesicht. Auch wenn ich es nur ungern zugab, konnte er um ein Vielfaches besser Zielen und war auch sportlicher als ich. Eine faire Schneeballschlacht würde ich nicht gewinnen, weshalb ich einen kleinen Trick verwenden musste. Nur leider kam ich nicht dazu, meinen Plan in die Tat umzusetzen, denn schon im nächsten Augenblick rutschte Kian aus und fiel der Länge nach vornüber in den Schnee. „Bist du okay?“, rief ich besorgt, als er sich nach seinem Sturz nicht mehr rührte, und rannte auf ihn zu. „Nichts passiert.“ Kian richtete sich langsam wieder auf, wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und klopfte ihn anschließend auch von Hose und Anorak. Mit einem Grinsen im Gesicht fuhr ich ihm durch sein goldbraunes Haar, um den Schnee daraus zu entfernen. „Na so etwas.“, vernahm ich die erstaunte Stimme meines Vaters hinter mir, „Was machst du denn hier, Kian?“ Verwundert drehte ich mich um und schaute ihn an. Er kam gerade mit einem anderen Mann aus dem Bürogebäude und schien sich auch mit ihm unterhalten zu haben. Die Augen meines Vaters weiteten sich als er mich erblickte. „Alec?“ Ich schnitt eine Grimasse. „Hallo.“, nuschelte ich. „Warum bist du nicht in der Schule? Du schwänzt doch nicht etwa?“, fragte mein Vater. „Mike hat mich für heute freigestellt.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Christine sah eine Weile zwischen mir und meinem Vater hin und her, bevor sie auf den anderen Mann zurannte. „Papa.“, rief sie erfreut und fiel ihm um den Hals. „Das ist ja eine Überraschung.“, meinte dieser als er seine Tochter flüchtig begrüßte. Er verneigte sich kurz vor Kian. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“ Mein bester Freund schüttelte seinen Kopf. „Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen.“ „Wer ist das?“ Christine blickte ihren Vater neugierig an. „Unser Anführer.“, antwortete dieser leise, ehe er sich an meinen Vater und Kian wandte. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie sich kennen?“ Mein Vater nickte, hatte allerdings einen seltsamen Ausdruck in seinem Gesicht. Wie es schien, hatte er erst jetzt bemerkt, dass es sich bei der Person neben ihn um einen Mannaro handelte. „Das könnte man so sagen…“ Er deutete auf mich. „Kian ist der beste Freund meines Sohnes. Die beiden sind sozusagen zusammen aufgewachsen.“ Christines Vater hob überrascht die Augenbraue. „So? Und Sie nehmen das einfach hin?“ „Was soll ich sonst tun?“, kam prompt die Gegenfrage, „Alec verbieten, sich mit ihm zu treffen? Er wird sich nicht daran halten. An Kian komme ich nicht heran. Alec überwacht jeden meiner Schritte, wenn ich in ihrer Nähe bin.“ Mein Vater seufzte. „Ich will meinen Sohn nicht verlieren, aber genau das würde ich. Sie wissen nicht, wie froh ich bin, nach über einem Jahr endlich wieder Kontakt zu Alec zu haben. Deshalb bin ich auf seine Bedingungen eingegangen. Meine Forschungen waren es, die ihn mir beinahe genommen hätten und wenn ich sie für ihn aufgeben muss, ist das ein Preis, den ich bereit bin zu zahlen. Wenn Alec so viel an seiner Freundschaft zu Kian liegt, dass er sich seinetwegen gegen mich stellt, bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zumindest zu dulden.“ Sein Blick war auf Kian und mich gerichtet. Allerdings konnte ich nicht den bekannten Hass in ihm erkennen, mit dem er meinen besten Freund sonst immer angesehen hatte, sondern nur noch etwas Distanz. Er deutete auf meine mit einem dicken Verband umwickelte Hand. „Woher hast du diese Verletzung?“ „Ein Fenster hat nachgegeben. Ich hab mich am Glas geschnitten.“ Den Rest erwiderte ich nicht, aus Angst vor seiner Reaktion, wenn er erfuhr, unter welchen Umständen ich mich geschnitten hatte. Allerdings hatte ich meine Rechnung ohne Kian gemacht. Er warf mir einen genervten Blick zu, bevor er seufzend seine Hände in den Hosentaschen verschwinden ließ. „Kannst du die Sache auch ein Mal nicht herunterspielen?“ Mein Vater schnappte erschrocken nach Luft. „Was meinst du damit? Was genau ist passiert?“ Zu meiner Verwunderung stellte er diese Frage nicht mir, sondern Kian. Er wusste also bereits, von wem er eine Antwort bekam und von wem nicht. „Alec ist auf dem Schulgelände ein paar Mannaro begegnet. Wie es aussieht hat ihnen das nicht gepasst und es ist zu einem Konflikt gekommen, bei dem er sich den Arm irgendwie am Fenster des Geräteschuppens verletzt hat. Es hat nicht viel gefehlt und er wäre im Krankenhaus gelandet. Wenn er es überhaupt überlebt hätte…“ Meinem Vater klappte der Mund auf und er starrte mich geschockt an. „Ist das war?“ Es jetzt abzustreiten machte keinen Sinn mehr, weshalb ich nicht weiter darauf einging. „Mir ist nichts passiert.“ „Trotzdem!“, widersprach mir Kian, „Du weißt, wie es hätte enden können.“ Darauf erwiderte ich nichts mehr. Er hatte recht, das wusste ich. Außerdem wollte ich ihn nicht verletzen, doch das würde ich, wenn ich weitermachte. Ich beschloss, dass es besser wäre, das Thema zu wechseln. „Hast du gestern oder heute zufällig einen Anruf von der Schule bekommen?“, fragte ich meinen Vater. Sofort änderte sich dessen Laune und er schaute mich mit einem enttäuschten, aber auch besorgten Gesichtsausdruck an. „Ja, das habe ich. Darüber möchte ich mich mit dir aber unter vier Augen unterhalten.“ Ich hob meine Schultern. „Jetzt? Oder möchtest du noch auf den zweiten Anruf warten, der heute irgendwann im Laufe des Tages kommt?“ „Alec!“, mahnte mein Vater, „Nimm die Sache gefälligst etwas ernster. Dein Lehrer hat mir gesagt, wie du in Mathe stehst. Wenn du nicht langsam mal anfängst, zu lernen, wirst du die Prüfung nicht bestehen.“ „Hat er nur das gesagt oder war da noch mehr?“, fragte ich. Mein Vater seufzte. „Er meinte, du hättest ihn grundlos angefahren und dich anschließend nicht einmal deswegen entschuldigt.“ Wusste ich es doch. Herr Müller hatte alles brühwarm weitererzählt, jedoch nicht ohne es vorher so abzuändern, dass es aussah als sei ich an allem schuld. Ich wandte mich von meinem Vater ab und starrte auf den Boden. „Es war weder grundlos, noch habe ich ihn angefahren. Ich habe lediglich in einem vielleicht etwas unangemessenen Ton gesagt, dass ich momentan ganz andere Sorgen habe und mich nicht noch mit irgendwelchen dämlichen Matheaufgaben rumärgern kann! Und was heute betrifft: Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass er besser tut, als wüsste er nichts und es bereuen wird, sollte er auch nur versuchen, Kian etwas anzutun.“ Darauf erwiderte mein Vater nichts mehr. Er starrte lediglich etwas geknickt auf den Boden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)