Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 39: Ab in den Urlaub ---------------------------- Es war eigenartig. Zwischen ihm und Kai hatte es nie einen sonderlich großen Dialog gegeben, keine innige Bindung, die gemeinsame Zeit war kurz gewesen. Dennoch kam es Anthony vor als fehle ein wichtiger Teil seiner selbst. Erst nun fiel ihm auf, dass absolute Stille in den Gedanken eines Menschen herrschte, wenn dieser allein war. Früher hatte er stets etwas gehört, selbst bevor Kai ihm ins Bewusstsein gekommen war. Ein leises Summen, ein Atmen, da war immer die Ahnung gewesen, dass noch jemand da war, ein tröstendes Gefühl, wenn man ganz allein war. Nun war es fort, in der Stille war nur noch ein leises Rauschen, ausgelöst durch die Atmosphäre. Es flößte ihm Furcht ein, schon der Gedanke, allein zu sein, wurde unerträglich. Als er im Krankenhaus gewesen war, hatte er nichts davon bemerkt, denn dort war er ja nicht wirklich allein gewesen. Irgendwo war immer noch jemand gewesen, stets hatte er Schritte oder Stimmen hören können. Aber als er dann schlussendlich nach Hause gekommen war, hatte es nichts mehr gegeben, das ihn von der Einsamkeit ablenken könnte. Umso zufriedener war er darüber, dass er nun mit einer großen, lauten Gruppe im Zug saß. Es waren Sommerferien, und Rena hatte beschlossen, nach all dem Stress der letzten Zeit an den Strand zu fahren. Ursprünglich waren von ihr nur Marc und Anthony als Begleitung angedacht gewesen, aber er hatte – mit Renas Erlaubnis – Heather eingeladen, dann waren plötzlich auch Leen und Alexander dabei gewesen und schlussendlich hatten sich auf Raymonds Anweisung auch Joel und Leon angeschlossen. Sie waren als Wachhunde abgestellt worden, wie Marc lachend gesagt hatte. Anthony verstand es immer noch nicht, ungeachtet eines schwammigen Erklärungsversuchs seines Freundes. Genauer hatte er nicht werden können, da Leon sich bereits auf den freien Platz der Vierer-Sitze hatte fallen lassen. Heather, Leen und Alexander saßen auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, gemeinsam mit Joel, der in einer Zeitschrift blätterte. Leon wiederum, der neben Anthony saß, sprach fast ohne Pause, seit er sich hingesetzt hatte. „Es ist ewig her, seit ich zuletzt am Meer war. Da kommen mir die Ferien wie gerufen. Ich wollte schon ewig wieder schwimmen gehen. Früher war ich ja dauernd schwimmen, aber seit ich Lehrer bin habe ich kaum noch Zeit dafür und in Lanchest ist es auch-“ Rena lächelte leicht angesäuert über seine Worte, hielt sich mit den eigenen aber wohlweislich zurück. Marc, der neben ihr saß, nickte in regelmäßigen Abständen mit abwesendem Blick. Lediglich Anthony schien aufmerksam zuzuhören, schon allein deswegen, um sich von der inneren Stille und den Gedanken über die von Raymond vorgelegten Akten abzulenken. Deswegen begann er dann auch, sich in den Monolog einzuklinken, um einen Dialog daraus zu machen: „Warum sind Sie dann nicht einmal gegangen? Sie haben doch sicher öfter Ferien.“ „Schon, aber ich wollte nicht allein gehen. Das macht dann doch keinen Spaß.“ Also ging es ihm nicht nur um das Schwimmen an sich, sondern auch um den Spaß. Da fragte Anthony sich, ob das wirklich eine derart unterhaltsame Tätigkeit war. Er müsste sich vielleicht auch einmal darin versuchen, wenn sie dort waren – dabei konnte er gar nicht schwimmen. Vielleicht sollte er einen der anderen bitten, es ihm beizubringen. Oder könnte man das als seltsam erachten? Leon verfiel wieder in seinen Monolog, diesmal über seine letzten Ferien, die er an einem See verbracht hatte – in Ermangelung seiner Zeit, ans Meer zu fahren – weswegen Anthony es diesmal für sicher genug hielt, den Blick abzuwenden und die andere Gruppe zu beobachten. Dort herrschte Schweigen. Joel las noch immer sein Magazin, Alexander hatte sich derweil in ein kompliziert aussehendes Buch – allein der Titel Neue Alkalioxometallate über die Azid-Nitrat-Route sagte Anthony gar nichts – vertieft, die Zwillinge spielten derweil mit einem roten Faden, den sich Leen um die Finger gewickelt hatte, um daraus ein kompliziertes Muster zu bilden. Heather übernahm den Faden mit ihren eigenen Fingern, und formte dann ein neues Muster daraus. Dabei zog sie die Brauen ein wenig zusammen als erfordere es unglaublich viel Konzentration für dieses Spiel. Anthony ertappte sich selbst dabei, wie er ihre Finger nicht nur genau beobachtete, sondern auch feststellte, wie ungeheuer zierlich sie waren. Eigentlich unvorstellbar, dass sie eine ausgebildete Kämpferin war, die sich problemlos zur Wehr setzen konnte. Sie bemerkte wohl seinen Blick, da sie plötzlich ihren vom Faden abwandte, um ihn anzusehen. Er zuckte zusammen, als habe er gerade etwas Verbotenes getan, dann sah er rasch wieder zu Marc, der ihn wissend anlächelte, aber nichts sagte. Das verwirrte Anthony dann nur noch mehr, deswegen sah er lieber aus dem Fenster. Dort fand immerhin nichts Außergewöhnliches statt, dort gab es nur Leben. Weite Felder mit saftigem grünen Gras und Moos, das sich nicht nur auf dem Boden zu wachsen bequemte, sondern auch ganze Ruinen einnahm. Städte, die einst der Stolz der Architekten gewesen waren, zerstört von Soldaten und besiegt von der Natur, weil man nie die Zeit fand, die Trümmer zu beseitigen. Welch deprimierender Kreislauf. „Sieht cool aus, oder?“, fragte Marc. „Früher sind Schatzsucher gern in den Ruinen unterwegs gewesen. Aber inzwischen gibt es wohl nichts mehr zu entdecken.“ „Das sehe ich anders“, widersprach Rena. „Es gibt bestimmt schöne Anblicke dort unten, von denen es noch keine Bilder in Foto-Büchern gibt. Die würde ich gern auch mal sehen.“ „Riecht das nach einem Berufswunsch?“ Marc schmunzelte amüsiert. „Das klingt dir gar nicht ähnlich, weißt du?“ Rena seufzte. „Ach komm. Als würde ich mit einer Kamera da herumklettern wollen. Außerdem ist es illegal.“ „Wie kann es dann Fotobücher davon geben?“, fragte Anthony. „Man wird nur verhaftet, wenn man in flagranti ertappt wird“, erklärte Marc. „Ansonsten geht man straffrei aus, solange man nicht zu sehr damit prahlt, wie man dorthin gelangt ist.“ „Und manche Leute“, ergänzte Rena, „sind auch richtig gut darin, einfach nur etwaige Motive mittels Technik nachzustellen. Die kann man ja nicht verhaften.“ Das ergab durchaus Sinn, auch für ihn. „Schade, dass eure anderen Freunde nicht mitkommen wollten“, sagte Leon. „Mit mehr Leuten wäre es noch lustiger geworden~.“ Vor allem hätten sie dann sicher wesentlich mehr Lärm im Zug verursacht. „Die anderen mussten arbeiten“, klärte Rena ihn auf. Im Sommer brauchten Ryu und Seline sicher jede Hand im Café. Jedenfalls schienen Maryl und Russel bei ihrem letzten Besucht dort ebenfalls gearbeitet zu haben. Vincent wiederum machte aus seinen Tätigkeiten ein großes Geheimnis, aber er hatte wohl ebenfalls keine Zeit. Immer mehr dieser Ruinen, die einmal zu einer großen Stadt gehört haben mussten, waren überflutet. Die hohen Gebäude, wie Wolkenkratzer, ragten noch empor, die gläsernen Fassaden reflektierten das Sonnenlicht wie blank polierte Spiegel; von kleineren Häusern waren nur noch die Ziegeldächer zu sehen. Teilweise hatten Vögel sich darauf oder darin ihre Nester gebaut, ungetrübt von dem Lärm des vorbeirauschenden Zuges. Wenn er sich richtig an seinen Unterricht zurückerinnerte, bedeutete dies alles die Bildung eines neuen Biotops – und er hoffte, dass sich die dortigen Tiere wohler fühlten als die Menschen zu ihren Lebzeiten. „Jetzt dauert es nicht mehr lange“, sagte Rena, nachdem er einige hundert Meter lang das Wasser bewundert hatte. „Wir sind bald da.“ Bislang war Anthony nicht sonderlich aufgeregt gewesen. Aber nachdem sie das nun gesagt hatte, spürte er doch Vorfreude in seinem Inneren. Zum ersten Mal in seinem Leben könnte er selbst das Meer sehen und den Sand eines Strandes fühlen. Mit Sicherheit würde es aufregend werden. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, selbst Leon schien nun eher in den Anblick der Ruinen vertieft zu sein. Erst wenige Kilometer vor ihrem Ziel gab es schließlich keine mehr zu sehen, stattdessen erstreckten sich jenseits der Fenster Felder soweit die Augen reichten. Anthony wusste nicht, welche Pflanzen da angebaut wurden, aber sie waren derart saftig gelb, dass er am liebsten geseufzt hätte, um seinem Wohlgefühl Ausdruck zu verleihen. Allerdings gab er keinen Ton sich, auch nicht als sie alle ihr Gepäck nahmen und sich zu einer der Türen begaben. Allgemein schien jeder von ihnen äußerst leise zu sein, was Anthony auf Joels Anwesenheit schob. Keiner von ihnen wollte wohl, dass Raymond davon erfuhr. Erst als sie alle auf dem Bahnsteig standen, atmete Leon tief durch und sagte wieder etwas: „Alles klar, wir sind endlich angekommen~. Wir sollten sofort an den Strand gehen!“ „Nein“, widersprach Joel. „Wir bringen unser Gepäck ins Hotel – und dann können wir an den Strand gehen. Oder willst du, dass deine Sachen schon wieder geklaut werden?“ Die anderen sahen interessiert zu Leon, der verlegen lachte. „Das war ja nur einmal – und ich hatte auch gar nichts Wichtiges bei mir.“ „Ich hoffe, das ist diesmal anders. Du bist jetzt Lehrer. Sicher gibt es irgendwelche Unterlagen, die du dir als Unterrichtsvorbereitung mitgebracht hast.“ Derart viel Verantwortungsbewusstsein hätte Anthony Joel nicht zugetraut. Aber zumindest in den Ferien nahm er das Unterrichten wohl ernst. Leon gab schließlich nach. „Okay, wir gehen zuerst ins Hotel, wenn dir das eher zusagt.“ Zufrieden über diese Antwort, wandte Joel sich an Rena. „Gut, zeig uns, wie wir hinkommen.“ Unter ihrer Führung nahmen sie einen Shuttle-Bus, der sie direkt vor dem Hotel absetzte. Aber es sah nicht so aus, wie Anthony sich eines vorgestellt hatte. Es wirkte vielmehr wie ein großes Anwesen mit blank polierten Fenstern, zwei geschwungene Treppen führten nach oben, so dass man wohl auch von außen den ersten Stock erreichen konnte. Eine drehende Glastür führte in eine Lobby, davor stand aber ein Mann in einer roten Pagenuniform mit goldenen Knöpfen. Es sah nicht so aus wie ein praktisches Gebäude, das nur einem Zweck dienen sollte. Leon tippte Rena auf die Schulter. „Hey, wir sind doch wirklich eingeladen, oder? Ich kann mir den Aufenthalt hier nämlich ganz sicher nicht leisten.“ „Ich habe euch zwar nicht eingeladen, aber ich übernehme das schon, keine Sorge.“ Mit selbstsicheren Schritten ging sie voraus, die anderen folgten ihr nur zaghaft. In der Lobby herrschte eine ehrfurchtsvolle Stille, die nur von dem Klingeln eines Telefons hinter dem dunklen Tresen unterbrochen wurde. Der Boden bestand aus cremefarbenem Marmor, den Anthony interessiert musterte, da er wesentlich wertvoller aussah als alle anderen Materialien, die er bislang kennen gelernt hatte. Rena strebte direkt auf den Tresen zu und begann einige Worte mit der Frau dahinter auszutauschen. Der Rest der Gruppe wartete in der Zwischenzeit, Leen setzte sich sogar auf ihren Koffer als wäre es eine furchtbare Anstrengung für sie, stehenzubleiben. Alex vertiefte sich stehend wieder in sein Buch. Die anderen warfen nur Blicke umher, wobei besonders Leon aufgeregt wirkte. Vielleicht wollte er aber auch nur immer noch unbedingt an den Strand gehen und wippte deswegen so ungeduldig auf seinen Füßen vor und zurück. Anthony hatte bislang angenommen, dass sie allein in der Lobby waren, aber während er seinen Blick schweifen ließ, entdeckte er eine Sitzgruppe nicht weit von der Drehtür entfernt, direkt gegenüber eines großen Panoramafensters, das den Ausblick auf die Straße ermöglichte. Auf dem mit grünem Leder bezogenen Sofa saßen zwei Personen, von denen Anthony sich automatisch angezogen fühlte, weswegen er – ohne es wirklich zu wollen – plötzlich neben ihnen stand. Es waren zwei junge Männer, wie er dann erkannte; der eine mit braunem Haar und gütigen grünen Augen, auch wenn sein Lächeln eher traurig wirkte; der andere mit weißem Haar, das er unter einer schwarzen Wollmütze zu verbergen versuchte, seine goldenen Augen wirkten kühl und distanziert, außerdem kaute er gerade einen Kaugummi, wie Anthony bemerkte. Was ihn aber am meisten irritierte war die Tatsache, dass er das Gefühl hatte, er müsste die beiden kennen. Die Namen lagen ihm bereits auf der Zunge, aber es gelang ihm nicht, sie sich wieder ins Gedächtnis zurückzurufen oder sie gar auszusprechen. Der Braunhaarige wandte seinen Blick von dem Fenster und sah Anthony an, er lächelte immer noch. „Hallo. Alles in Ordnung?“ Die Stimme sprach etwas in seinem Inneren an, wie eine lange verschüttete Erinnerung, aber noch immer war sie unerreichbar für ihn. „Uhm …“ Anthony wich zurück. „Tut mir leid, ich wollte euch nicht stören. Ich war nur neugierig.“ Der Weißhaarige schmatzte missbilligend und warf ihm einen ebensolchen Blick zu. „Fein. Dann kannst du jetzt ja wieder verschwinden.“ „Sei nicht so unfreundlich, Lloyd“, wies der Braunhaarige ihn zurecht, ehe er sich wieder an Anthony wandte: „Wir warten gerade auf jemanden. Und du?“ Er deutete hinter sich, in Richtung des Tresens. „Ich warte darauf, dass wir, äh, eingecheckt haben.“ So hatten die Personen im Fernsehen es jedenfalls genannt, und ausgehend von dem verständnisvollen Nicken des Braunhaarigen dürfte es auch tatsächlich das richtige Wort gewesen sein. Anthony wollte es nicht sagen, aber die beiden sahen nicht aus wie Urlauber. Vor allem wirkten sie viel zu warm angezogen für einen Strandurlaub. Sie beide trugen Jacken und auch fest aussehende Hosen als wären sie eigentlich unterwegs, um zu arbeiten. Und plötzlich glaubte er, auch zu wissen, woher sie kamen: „Seid ihr aus Peligro?“ Selbst Lloyd widmete ihm nun seine ganze Aufmerksamkeit. „Du kennst es?“ „Ich war dort“, sagte Anthony, danach sah er ein hoffnungsvolles Glitzern in den goldenen Augen, doch direkt nach seinen folgenden Worten erlosch es wieder: „Ich erinnere mich aber nicht so wirklich daran. Und vor einer Weile wurde ich auch weggeschickt.“ Das war noch gar nicht so lange her, aber inzwischen schien es für Anthony wie aus einem gänzlich anderen Leben zu stammen, dass er erst einmal in Lanchest hatte ankommen müssen. Wieder desinteressiert, wandte Lloyd sich von ihm ab, sah lieber aus dem Fenster auf die Straße hinaus, obwohl dort gerade nichts zu sehen war. „Wir waren einmal dort“, sagte der Braunhaarige. „Aber das war vermutlich bevor du dort warst. Also kümmer dich einfach nicht um uns und genieße lieber deinen Urlaub. Wir sind auch bald wieder weg.“ Anthony wollte noch mehr wissen, ein paar Details erfragen, auch wenn selbst der Braunhaarige sich inzwischen von ihm abgewendet hatte. Aber in dem Moment, in dem er seinen Mund öffnete, wurde er von Marc gerufen. Die anderen warteten scheinbar nur noch auf ihn und er wollte das nicht zu sehr ausreizen. Also verabschiedete er sich knapp von den beiden, was keiner von ihnen mehr wirklich zu bemerken schien, denn keiner von ihnen wandte sich ihm noch einmal zu. Darum wandte er sich von ihnen ab und kehrte zu seiner eigenen Gruppe zurück – doch das nagende Gefühl, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte, konnte er nicht bei diesen beiden Fremden zurücklassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)