Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 42: Blau wie das Meer im Sonnenschein --------------------------------------------- Am nächsten Morgen fand Joel sich mit allen anderen im Frühstücksraum wieder. Obwohl es gerade einmal neun Uhr war (normalerweise schlief er an freien Tagen bis Mittag), war der große Raum, der eher an einen Saal erinnerte, bereits mit einer Unzahl an Menschen gefüllt, die sich am aufgestellten Büfett bedienten. Die dabei geführten Unterhaltungen kamen nur als ein Durcheinander von Stimmen bei ihm an. Also konzentrierte er sich lieber auf den eigenen Tisch, an dem er mit all seinen Reisebegleitern saß. Die Schüler unterhielten sich miteinander, Leon verspeiste seine Brötchen, Rühreier und Speck; nichts deutete mehr darauf hin, dass in der Nacht zuvor noch Angst vor einem Geist geherrscht hatte. Die Mädchen schienen sich nun wesentlich besser zu verstehen. Waren sie zuvor noch distanziert miteinander umgegangen – jedenfalls was die Zwillinge und Rena jeweils gegenüber anging – so waren sie an diesem Morgen in ein anregendes Gespräch darüber vertieft, welche Läden in der nahen Stadt wohl vorhanden wären. Die drei Jungs warteten mit demselben Thema auf, allerdings schien es ihnen um ganz andere Läden zu gehen. Die Mädchen interessierten sich für die Antiquitäten-Läden, die Jungs eher für Schwimmkleidung. Joel wurde aus den heutigen Jugendlichen einfach nicht schlau. Er sehnte sich vielmehr nach seiner eigenen Jugend zurück. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu Christine, der dieser Urlaub mit Sicherheit gefallen hätte. Aber kaum dachte er an sie, sah er auch wieder ihren toten Körper vor sich, aufgespießt von ihren eigenen Ketten, mit denen sie ihn und Ray hatte beschützen wollen. Er verscheuchte den Gedanken, nahm einen Schluck Kaffee. Zu schade, dass die Hotelbar erst am Nachmittag öffnete. So schwebte das Bild immer wieder vor seinem geistigen Auge umher, so sehr er es auch zu ignorieren versuchte. Um sich abzulenken, sah er zur Seite. Eine der Wände bestand komplett aus Glastüren, die auf eine Terrasse hinausführten, allerdings war diese nur für besondere Events geöffnet. Dahinter erstreckte sich der Strand, dann das Meer, das sich am Horizont mit dem Himmel traf, und mit diesem verschmolz. Erst als Leon seinen ganzen Teller geleert hatte, fand er seine Stimme wieder. Dabei hatte Joel sich gerade daran gewöhnt, ihn nicht sprechen zu hören. „Hast du heute auch außergewöhnliche Pläne?“ „Klingt als hättest du welche“, erwiderte Joel. „Woraus bestehen die?“ Leon strahlte sofort. „Ich werde alle Restaurants im Ort probieren – und danach wieder schwimmen gehen.“ „Hast du keine Angst, dass du einen Krampf bekommst?“ „Nö. Ich bin der geborene Schwimmer, mir wird schon nichts passieren.“ Bei jeder anderen Person wäre dieses Selbstvertrauen Versicherung genug gewesen, dass wirklich nichts geschehen könnte. Bei Leon erreichte es jedoch genau das Gegenteil. Zumindest in Joel. „Ich werd dann wahrscheinlich auch meine Zeit am Strand verbringen. Mich interessieren die Läden hier nicht, also habe ich sonst nichts zu tun.“ Jedenfalls bis die Bar aufmachte. Vielleicht sollte er auch schwimmen gehen, es könnte sicher nicht schaden. Sicher würden keine skorpion-artigen Wesen aus den Tiefen auftauchen, wie in diesem Märchen. Falls doch .. wäre es auch nicht so schlimm. „Vielleicht trifft man sich später dann ja dort. Ich glaube, die anderen gehen da später auch hin.“ Die Schüler hatte ihre Gespräche inzwischen beendet, genau wie ihr Frühstück, und erhoben sich von ihren Plätzen. Während der Großteil von ihnen bereits dem Ausgang zustrebte, kam Rena zu ihnen herüber. „Wir gehen jetzt alle in die Stadt. Ist das okay?“ Er war sich im Klaren, dass sie die Frage eigentlich nur noch aus Höflichkeit stellte, weil die Antwort schon längst feststand. Da er nicht der Spielverderber sein wollte, nickte er. „Sicher. Seht nur zu, dass ihr heute Abend wieder zurück seid. Ich will euch nirgendwo aufsammeln müssen. Und haltet euch vom Alkohol fern.“ Rena salutierte vor ihm, er ließ ihr durchgehen, dass die Geste ein wenig spöttisch aussah. Er wünschte ihnen viel Spaß, worauf sie herumfuhr und den anderen hinausfolgte. Ihm blieb nur zu hoffen, dass keiner von ihnen irgendwelchen Ärger machte. Aber sie hatten Alexander bei sich, der normalerweise immer sehr verantwortungsvoll war. Es würde schon alles gutgehen. Leon trank einen Schluck Kaffee und sah dabei auf seine Uhr. „Ich werde demnächst auch aufbrechen. Werde mir wieder Hunger anlaufen müssen, nachdem das Frühstück so üppig ausfiel.“ „Warum hast du überhaupt so viel gefrühstückt, wenn du doch schon wusstest, was du vorhast?“ Der darauf folgende Blick konnte nur als ernsthafte Frage interpretiert werden, wo er da einen Zusammenhang sähe. Aber Leon ließ sich mittels anhaltendem Schweigen auch zu einer richtigen Antwort bewegen: „Das Essen hier ist gratis und köstlich. Darauf verzichte ich doch nicht. Auch nicht, wenn meine Pläne dann noch mehr Essen beinhalten.“ Joel bemühte sich, verständnisvoll zu lächeln. „Okay. Dann sehen wir uns später am Strand. Falls ich eingeschlafen sein sollte, weck mich nur, wenn ich dabei bin, mir einen Sonnenbrand zu holen.“ Leon versicherte ihm, dass er genau das tun würde, dann verabschiedete er sich ebenfalls und verließ den Saal. Joel blieb zwischen all den fremden Menschen zurück. Keiner von ihnen beachtete ihn, sie machten einen großen Bogen um ihn als sei er ein Felsen im Wasser, den es zu umschiffen galt. Wie ein solcher fühlte er sich im Moment auch, allerdings wurde er von der Brandung ausgehöhlt, schon seit vielen Jahren, so dass seine äußere Erscheinung nur noch Leere verbarg. Bevor er selbst aus dem Saal hinausging, lief er an dem Tisch vorbei, auf dem allerlei aufgeschnittene oder auch vollständige Früchte nur darauf warteten, verspeist zu werden. Ohne stehenzubleiben nahm er sich einen Apfel. Gedanklich abwesend rieb er diesen an seinem Hemd, während er durch die Eingangshalle schritt. Unwillkürlich wanderte sein Blick die Treppen hinauf zu dem Gemälde. Es sah noch aus wie am Tag zuvor, jedenfalls soweit er sich erinnerte. Sprach das für oder gegen einen Geist darin? Dann dachte er aber wieder an die Frau zurück, die ihm bekannt vorgekommen war und das Hotel verlassen hatte. War sie noch hier oder war sie ausgecheckt? Wenn er einen besseren Blick auf sie bekäme, könnte er vielleicht erkennen, wer sie war oder an wen sie ihn erinnerte. Vielleicht wäre das aber auch zu unheimlich. Deswegen beschloss er, nicht den ganzen Tag im Foyer zu warten und verließ stattdessen das Hotel. Eine der hinteren Türen führte zu einer flachen Treppe, die wiederum bis zum Strand verlief. Es war eine bequeme Art, diesen zu erreichen, während er seinen Apfel aß. Die Sonne brannte noch nicht so heiß herunter, so konnte der vom Meer kommende Wind eine angenehme Temperatur schaffen. Um diese Zeit waren auch noch nicht viele Leute am Strand. Die wenigen Personen waren zwischen den Liegen und Korbsesseln verteilt, so konnte er dem Eindruck erliegen, er hätte das Gebiet vollkommen für sich. Seine Schuhe sanken in den Sand, was die Schritte erschwerte, aber er betrachtete das lediglich als Training. Die Brandung bot die passende akustische Untermalung. Diese Perfektion ließ ihn wieder an Christine denken. Daran, wie sie darüber gesprochen hatten, einmal gemeinsam ans Meer zu fahren. Nur sie, er und Ray. Aber es war nie dazu gekommen. Warum war es so schwer, Dinge zu vergessen, die man hinter sich lassen wollte? Nach mehreren hundert Metern wurde der Strand nicht nur leerer, sondern er verwilderte auch zusehends. Aus dem Sand wuchsen ihm unbekannte grüne Pflanzen, sie wiegten sich sanft im Wind. Sein schweifender Blick entdeckte schließlich einen Steg, der weiter ins Meer hineinreichte. Möglicherweise war er für kleinere Boote gedacht, aber darüber dachte er gar nicht erst nach, als ihm bewusst wurde, dass eine Person dort stand. Beim Näherkommen konnte er deren rotes Haar erkennen – und dann traf ihn die Erkenntnis, dass es sich um die Frau handelte, die er am Tag zuvor gesehen hatte. Sie stand einfach nur da, mit dem Rücken zum Strand, und starrte auf das Meer hinaus. Je weiter die Entfernung zwischen ihnen schrumpfte, desto deutlicher wurde ihm, warum sie ihm bekannt vorkam: Ihr Haar reichte bis zu ihren Schultern, sie war etwas kleiner als andere Frauen, aber Arme und Beine sahen durchtrainiert aus. Abgesehen von ihrer Haarfarbe sah sie, zumindest von hinten, ganz genau so aus wie Christine. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er wollte zurückweichen, nachdem er nun wusste, an wen die Fremde ihn erinnerte, wollte in sein Zimmer gehen und sich dort über die Vergangenheit ergehen, aber stattdessen ging er einfach weiter auf sie zu, als zöge sie ihn magisch an. Er trat auf eine knarrende Planke. Der Bann brach sofort, er blieb stehen. Die Frau wandte den Kopf ein wenig, so dass er noch nicht ihr Gesicht sehen konnte. Aber plötzlich wünschte er sich nur noch weit weg von hier, es war ihm unangenehm, sie gestört zu haben. „T-tut mir leid“, sagte er daher hastig. „Ich wollte nicht ...“ Er konnte den Satz nicht beenden. Die Frau fuhr zu ihm herum, und für einen kurzen Moment wollte er gleichzeitig lachen, in Tränen ausbrechen und sie umarmen. Nur mit aller Willenskraft konnte er sich davon abhalten. Sie sah Christine wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Das spitz zulaufende Kinn, die langen Wimpern, die feinen Lippen … sie waren genau wie bei ihr. Doch diese Frau vor ihm lächelte nicht, ihre Augen waren nicht eigenartig golden, sondern blau. So blau wie das Meer im Sonnenschein. Das war der Vergleich, der ihm sofort einfiel, da er den direkten Vergleich hinter ihr hatte. Sie sah ihn vollkommen ausdruckslos an, kein Funken von Wiedererkennen. Natürlich, sie war schließlich nicht Christine, sie war … er wusste es nicht. Er entschuldigte sich erneut. „Sie erinnern mich nur an jemanden. Ich wollte Sie nicht-“ „An wen erinnere ich dich?“ Sogar ihre Stimme, so emotionslos sie auch war, erinnerte ihn an Christine. Da sie ihm nun aber eine Frage gestellt hatte, wäre es unhöflich, einfach zu verschwinden. Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Oh, nur eine alte Freundin von mir. Sie ist aber schon lange nicht mehr da.“ „Wo ist sie hin?“ Verstand sie das wirklich nicht? Er seufzte. „Sie ist gestorben, schon vor einigen Jahren.“ Sie gab ein Geräusch von sich. Es klang nach einer Mischung von Aha und Uh-huh. Da es sich derart desinteressiert anhörte, wollte Joel wieder weggehen, aber da sprach sie plötzlich weiter: „Es ist traurig, wenn Freunde sterben.“ „Das ist es wirklich.“ Es sah nicht so aus als störte er, deswegen machte er noch einen Schritt auf sie zu. „Sie sehen ihr so ähnlich, nur Ihre Haare und Ihre Augen sind anders als bei Christine.“ Einen flüchtigen Moment lang kam es ihm vor als spannte sich ihr Körper an, aber da stand sie auch schon wieder vollkommen entspannt vor ihm. Ihre Arme hingen einfach nur an ihrem Körper herab. So sehr sie sich äußerlich auch glichen, dieser Frau fehlte Christines Dynamik. „Mein Name ist Skye.“ Ihre Stimme blieb monoton, aber das klarzustellen war ihr wohl ein Bedürfnis gewesen. Ihm kam in den Sinn, dass er nach Sky, dem Himmel, klang. Aber sicher war ihr das auch bewusst, deswegen erwähnte er es nicht. „Das ist ein sehr außergewöhnlicher Name. Ich bin Joel.“ Sie neigte nur leicht den Kopf. „Was machst du hier?“ „Urlaub.“ Die Antwort war aber vermutlich zu knapp. „Ich bin Lehrer und begleite einige meiner Schüler auf diesen Ausflug. Aber sie sind schon so alt, da muss ich sie nicht dauernd beaufsichtigen. Was machen Sie hier?“ „Ich gehöre zu einer kleinen Spezialeinheit. Wir sollen hier im Hotel in einer bestimmten Sache ermitteln.“ Jedes Wort schmerzte wie Glassplitter in seinem Inneren, gleichzeitig war es aber auch so ungemein wohltuend, diese Stimme wieder zu hören, nachdem er sie vor langer Zeit für immer verstummt geglaubt hatte. Deswegen wollte er, dass sie weitersprach. „In was für einer Sache?“ Sie sah in Richtung des Hotels. Von hier aus sah das Gebäude nicht aus wie ein luxuriöses Urlaubsressort, sondern wie ein überwältigender Hort des Unbekannten. „Eigentlich sollte ich nicht darüber reden. Aber die meisten wissen ohnehin, dass es einen Geist hier gibt.“ Sie musterte ihn. „Wusstest du es?“ „Ich hielt es für eine urbane Legende. Etwas, das man sich erzählt, um irgendetwas spannender zu machen. Stimmt es denn?“ Sie legte die Hände hinter ihrem Rücken zusammen. „Ich denke schon. Aber wir konnten ihn noch nicht festsetzen. Wir haben uns bei der Zeit geirrt.“ Er wusste über die Geschichte nur das, was Leon in der Nacht zuvor erzählt hatte, und eigentlich interessierte ihn auch nicht viel mehr. Deswegen wechselte er das Thema, und ging dabei gleich zum Du über: „Was tust du, wenn du nicht hier bist?“ Darauf sah sie ihn nur ausdruckslos an. Keine Antwort. Aber es kam ihm nicht so vor, als wolle sie nicht antworten, sondern als könnte sie es einfach nicht. Fast als wäre sie ratlos. „Hast du Hobbys?“ „Nein. Bis vor kurzem habe ich noch geschlafen.“ „Du meinst, letzte Nacht?“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Für lange Zeit, in meinem Sarg.“ Er verstand immer weniger von dem, was sie sagte, was er ihr auch sofort mitteilte. Allerdings blieb sie auch daran desinteressiert, wenn man nur ihr Gesicht betrachtete. „Ich verstehe auch vieles nicht.“ Der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert, sie wirkte nun fast … traurig. „Aber ich finde immer mehr heraus, seit ich aufgewacht bin.“ Plötzlich fuhr sie herum und deutete mit ausgestrecktem Arm gegen den Horizont. „Zum Beispiel mag ich das Meer. Ich stehe schon eine Weile hier und sehe es nur an.“ Zum Teil konnte er das verstehen. Der Ozean besaß eine beruhigende Wirkung auf die meisten Menschen, auch auf ihn. Die Wellen, die Unendlichkeit, das Glitzern im Sonnenlicht, bei Tag betrachtet war es ein wunderbarer Anblick. Sie wandte sich wieder ihm zu. Sofort versank er in ihren blauen Augen, die eine Tiefe aufwiesen, die dem Marianengraben nahekommen musste. Ihn überkam der Wunsch, das Verlangen, ihre Hand zu ergreifen und ihr zu folgen, wohin auch immer sie gehen wollte. Ein derart starkes Gefühl hatte er noch nie in seinem Inneren gespürt – doch genau deswegen irritierte es ihn. Lag es an ihrer Ähnlichkeit zu Christine oder war da doch etwas anderes? „Außerdem“, fuhr sie fort, ahnungslos über seine Gedanken, „habe ich festgestellt, dass ich deine Stimme mag. Sie klingt schöner als die der anderen Personen, die ich kenne.“ Ein Kompliment von dieser Frau zu bekommen war eigenartig. Aber gleichzeitig war es auch schön. Vielleicht weil er schon lange keines mehr von einer Frau bekommen hatte. Wann war er zuletzt überhaupt von einer solchen wirklich beachtet worden? „Kann ich mich dir eine Weile anschließen?“ Die Frage war aus seinem Mund, bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte. Doch er bereute sie nicht. „Ich würde mir das Meer auch gern eine Weile ansehen. Aber nicht allein.“ Sie bedeutete ihm, sich neben sie zu stellen. Er folgte dem auch, sofort fühlte er sich wie ein Teil ihrer Welt, ihres Bekanntenkreises. Aber er schaffte es immer noch, nicht ihre Hand zu nehmen. Sie war nicht Christine, es gab keinen Grund, sie zu berühren. Das Geräusch der Wellen, die unablässig an den Strand brandeten, legte sich beruhigend auf seine Seele, deren Narben durch die Erinnerungen wieder aufgerissen worden waren. Eine Möwe über ihnen stieß einen Schrei aus. In diesem Moment war alles gut. Es war nie etwas Schlimmes geschehen, niemals. Gerade als er sich vollkommen eins mit der Welt fühlte, griff Skye nach seiner Hand – und sein gesamtes Leben schien sich vor seinen Augen aufzulösen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)