Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 6: Heathers Warnung --------------------------- Kaum hatte Anthony das Schulgebäude verlassen, fiel ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, was er nun tun sollte, weswegen er innehielt, um darüber nachzudenken. Er konnte nach Hause gehen, seine neue Wohnung noch ein wenig auskosten und den Computer suchen, von dem Heather gesprochen hatte – oder die Stadt ein wenig erkunden. Letzteres erschien ihm durchaus angebracht, wenn er sich schon das erste Mal in seinem Leben in einer Großstadt befand. Zwar machte ihm der Gedanke Angst, sich verlaufen zu können, doch er rechnete damit, selbst aus so einer Situation wieder herauszukommen, irgendwie... Langsam muss ich lernen, tatsächlich mit solchen Kleinigkeiten zurechtzukommen, wenn ich auf dieser Schule bleiben will. Und das entsprach tatsächlich seinem Wunsch. Auch wenn er die anderen Schüler, besonders Heather und Leen noch nicht so wirklich verstand und auch die Lehrer gewöhnungsbedürftig waren. Er wollte nicht wieder fort, er wollte bleiben und mehr über all diese Leute erfahren, hinter ihre Fassade blicken und sie in sein Herz schließen... oder so ähnlich. Er war es nicht gewohnt, dass ihm Leute sympathisch genug waren, dass er sie mögen wollte, auch wenn er sie am Anfang eher als seltsam empfand. Ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen – da er sich ohnehin nicht auskannte – lief er los. Er hatte seine Schulsachen in seinem Spind zurückgelassen, so dass ihn nichts störte, während er durch die Straßen lief. Nichts, außer sein knurrender Magen, der ihn daran erinnerte, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und es um die Mittagszeit im Heim immer Essen gegeben hatte. Gegen seinen Willen drifteten seine Gedanken ab. Er fragte sich, was es dort wohl im Moment geben würde. Es war nur zwei Tage seit seiner letzten Mahlzeit dort her und doch vermisste er es ein wenig. Gut, die geschmacklosen Suppen, die wässrigen Soßen und die Pampe, die dort als Gemüse bezeichnet worden war, vermisste er keineswegs – aber er wusste ja auch nicht, wie das Essen außerhalb schmeckte, abgesehen von den Sandwiches von denen er sich am Vortag und am Morgen ernährt hatte. Vielleicht war ekelerregend noch steigerungsfähig. Ehe er sich's versah, fand er sich plötzlich vor einem großen Gebäude wieder, in dem Leute geschäftig ein- und ausgingen. Er musste, tief in seine Gedanken versunken, dem allgemeinen Strom der Schüler gefolgt sein, die das Gebäude fröhlich plaudernd durch die sich automatisch öffnenden Glastüren betraten. Unwillkürlich dachte er wieder an Alonas Worte vom Vortag, als sie ihm von dem Einkaufszentrum erzählt hatte. Dies musste es sein, aber er hätte nicht gedacht, es so schnell selbst zu Gesicht zu bekommen. Mit zögernden Schritten ging er auf den Eingang zu. Die Masse an Menschen sagte ihm zwar, dass er lieber weitergehen sollte, doch die Neugierde übernahm die Oberhand. Als er das Einkaufszentrum betrat, spürte er augenblicklich eine angenehme Kühle, die sich auf seine Haut legte. Es war nicht sonderlich heiß draußen, aber dennoch war dieses Gefühl erfrischend. Im Sommer würde er auf jeden Fall noch um einiges mehr Zeit dort verbringen. Obwohl er draußen noch geglaubt hatte, dass im Inneren Lärm herrschen würde, war es sogar recht leise. Die Stimmen der anderen schienen zu einem Flüstern zu werden, das alles andere als ohrenbetäubend war. Neugierig ließ er den Blick schweifen, auch wenn er schon nach wenigen Sekunden glaubte, dass sein Gehirn keine weiteren Eindrücke und Informationen mehr verarbeiten könnte. Der Brunnen in der Mitte des Kaufhauses schien ihn geradezu zu sich zu rufen, Wasser sprudelte in das edel aussehende weiße Marmorbecken. Während er noch damit beschäftigt war, den Brunnen zu beobachten, spürte er, wie jemand nicht weit entfernt von ihm, ihn abschätzend musterte. Sein Blick suchte diese Person und blieb alsbald an Marc hängen, der wie üblich mit verschränkten Armen dastand und zu ihm hinübersah. Als er bemerkte, dass Anthony ihn ansah, neigte der Blonde lächelnd den Kopf und winkte ihm zu. Für einen Moment haderte er mit sich. Sollte er hinübergehen? Oder sollte er nett zurückwinken und dann weitergehen? Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als Marc schließlich die Distanz zwischen ihnen überwand. Er grinste breit, als er direkt vor ihm stand. „Ich habe also doch richtig gesehen. Anthony, stimmt's?“ Der Angesprochene nickte. „Das ist korrekt.“ „So formell? Komm schon, das muss doch nicht sein. Ich bin Marc.“ Er hielt Anthony die Hand hin, dieser ergriff sie sofort, um sie zu schütteln. „Freut mich.“ Kaum ließ er diese wieder los, verschränkte Marc sofort erneut die Arme vor der Brust. Anthony erinnerte sich, dass man ihnen im Heim beigebracht hatte, dass diese Haltung Distanz ausdrücken sollte. Jemand, der so vor einem stand, wollte nicht, dass man ihm zu nah kam. Dabei machte Marc einen vollkommen anderen Eindruck. „Wie gefällt dir Lanchest bislang?“, fragte der Blonde und lenkte Anthony von seinen Überlegungen ab. „Richtig antworten kann ich darauf noch nicht. Ich bin ja erst seit gestern hier und habe noch nicht so viel gesehen.“ „Und wie gefällt dir die Schule?“ „Die ist der Wahnsinn!“, entfuhr es Anthony, ehe er noch darüber hatte nachdenken können. „Ich war noch nie in so einem tollen Gebäude!“ Schon im selben Moment schämte er sich direkt wieder für seinen Ausbruch, doch Marc lachte amüsiert. „Du kannst also doch Begeisterung zeigen, schön. Ich hab schon befürchtet, dass du so trocken wärst wie all die Absolventen dieses Heims.“ Also kannte er offenbar einige von ihnen, was wohl nicht weiter verwunderlich war, wenn sie ebenfalls Söldner waren. Möglicherweise trafen sie sich öfter bei Missionen, bei denen sie von verschiedenen Seiten angeheuert wurden. „Und du hast ja den ganzen Morgen nur auf deinen Tisch gesehen“, führte Marc seine Ausführungen fort. Anthonys Mundwinkel zuckten, doch er wusste nicht, ob er wirklich die Frage stellen sollte, die ihm in diesem Moment auf der Zunge brannte. Selbst er wusste, dass sie über alle Maßen unhöflich war – doch zum Glück nahm Marc ihm das direkt ab: „Oh ja, mit Sicherheit fragst du dich, warum ich dich überhaupt anspreche.“ „Schon... irgendwie“, gab Anthony zu. Zwar hatte er den Blonden selbst ansprechen wollen, bei Gelegenheit, doch dass es nun umgekehrt geschah, verwunderte ihn doch ein wenig. Vermutlich war das aber nur aufgrund der Tatsache, dass er der Neue und damit noch aufregend war. Oder vielleicht... „Du hast nicht zufällig Lust, mich zum Essen einzuladen?“, fragte Marc grinsend. Jeder andere wäre in diesem Moment darauf gekommen, dass der Junge einen nur ausnutzen wollte, Anthony hingegen, wollte tatsächlich bejahen, als Rena das Gespräch der beiden unterbrach, indem sie dem Blonden eine Kopfnuss verpasste. „Hör auf damit, andere Schüler auszunutzen!“ Während Marc seinen schmerzenden Kopf rieb, wandte Rena sich Anthony zu. „Tut mir Leid, am Monatsende wird er immer so. Bei allen anderen beißt er nur auf Granit, da versucht er es jetzt bei dir als Neuem. Geb ihm besser nie was aus, sonst wirst du ihn nicht mehr los.“ „Owww, mach mich doch nicht so schlecht bei ihm“, jammerte Marc. Anthony bekam plötzlich das Gefühl, sich ungewollt, in die Beziehung der beiden einzumischen – wenn es da mehr als eine freundschaftliche Verbindung gab. In seinem Heim hatte es keine Mädchen gegeben und selbst wenn, wären Beziehungen verboten gewesen, daher besaß er keinerlei Erfahrungen, wie eine normale Liebesbeziehung auszusehen hatte. Er wich einen Schritt zurück, um anzuzeigen, dass er sich aus dieser Sache zurückziehen würde, so dass die beiden sich nicht miteinander streiten müssten. Marc sah sofort zu ihm hinüber. „Schau, jetzt hast du ihn verschreckt.“ „Behandel ihn doch nicht wie ein Tier“, wies Rena ihn zurecht. Da er merkte, dass beide im Begriff waren, deswegen gleich lautstark zu diskutieren, verabschiedete er sich hastig, ehe er herumfuhr und dann eilig wieder das Einkaufszentrum verließ. Hier wohnen wirklich sehr seltsame Leute... Eine sanfte Hand griff nach seiner Schulter und ließ ihn zusammenzucken. Als er herumfuhr, entdeckte er Heather, die leicht lächelte. „Gut, dass du noch mal angehalten hast.“ „Gibt es noch etwas?“ Da sie ohne sich zu verabschieden, aus dem Klassenzimmer verschwunden war, hatte er erwartet, dass sie sich nicht weiter für ihn interessierte, weswegen es für ihn nun selbstverständlich war, dass sie ihm nur etwas sagen wollte. „Nicht unbedingt. Bist du auf dem Heimweg?“ „So ziemlich.“ Er konnte sich das Einkaufszentrum auch ein andermal ansehen. Nach der kurzen Begegnung mit Marc und Rena war ihm zumindest am heutigen Tag nicht mehr danach. „Wenn es dir nichts ausmacht, begleite ich dich.“ Da er sich noch gut an den Vormittag erinnerte, wo es ihr nicht sonderlich gut gefallen hatte, dass er sich so offen über ihre Worte freute, neigte er diesmal mit neutraler Miene den Kopf. „Nein, das passt schon.“ Er wusste nicht warum, aber sie schmunzelte, als sie das hörte. „Dann komm.“ Gemeinsam liefen sie nebeneinander her die Straße entlang, wobei Anthony auffiel, dass ihnen im Gegensatz zum frühen Morgen erstaunlich viele Blicke zugeworfen wurden. Nein, wenn er genauer aufpasste, galten sie hauptsächlich ihr, doch Heather schien das nicht zu kümmern. „Du hast da drinnen mit Marc und Rena gesprochen“, sagte sie plötzlich und lenkte seine Aufmerksamkeit von den anderen Passanten ab. „Ich will mich ja nicht in deine sozialen Belange einmischen, aber ich würde dir raten, dich von den beiden fernzuhalten.“ „Warum? Sie erschienen mir ziemlich nett.“ „Nur weil jemand nett erscheint, heißt das nicht, dass er es auch ist.“ Zwar machten ihre Worte durchaus Sinn, aber dennoch konnte er das nicht so recht glauben. Es war nur sein Bauchgefühl oder sein Wunsch, Freunde zu haben, aber er wollte zumindest Marc vertrauen – selbst wenn er ihm bislang seltsam vorgekommen war. Da er schwieg, fuhr sie fort: „Du tust gut daran, nicht jedem zu vertrauen.“ „Beinhaltet dich das auch?“, fragte er lauernd. Für einen Moment schien sie verblüfft über seine Frage, aber dann schmunzelte sie. „Mich am Allermeisten, würde so mancher sagen. Als Einwohner dieses seltsamen Heims fehlen dir die Erfahrungen, die andere in deinem Alter bereits gemacht haben und das macht es anderen einfach, dich auszunutzen – auch mir.“ „Und... würdest du das tun?“ Tatsächlich musste er zugeben, dass er sich in all den Jahren keine Menschenkenntnis angeeignet hatte. Bislang waren seine Entschlüsse, den Leuten zu vertrauen nur auf seinem Bauchgefühl begründet und er war noch nicht lange genug unter normalen Menschen, um sagen zu können, ob dieses Gefühl verlässlich war oder nicht. „Vielleicht“, antwortete sie ausweichend. „Du solltest jedenfalls nicht jedem sofort vertrauen, nicht einmal meinen Eltern. Du weißt nie, welche Hintergedanken andere dabei hegen könnten.“ „Warum sagst du mir so etwas?“ Nachdenklich legte sie einen Finger an ihr Kinn. „Oh, gute Frage. Ich nehme mal an, das liegt daran, weil du mich an meinen Vater erinnerst. Du würdest nicht glauben, wie naiv er in manchen Situationen noch ist.“ Tadelnd schüttelte sie ihren Kopf, lächelte dabei aber, als sie an Raymond dachte. Ein wenig neidvoll blickte er zu ihr hinüber. Selbst wenn sie ihren Vater tadelte, musste sie dabei lächeln, mit Sicherheit spürte sie dabei ein warmes Gefühl in ihrem Inneren – zumindest stellte Anthony es sich so vor. Erneut setzte sie ihr neutrales Gesicht auf. „Meinem Vater liegt aus irgendeinem Grund viel an dir, daher dachte ich mir, dass dir jemand sagen sollte, wie das Leben so läuft.“ „Ähm, danke...“ Was soll das bedeuten, ihm liegt viel an mir? Er spürte, dass es sinnlos wäre, sie zu fragen, deswegen schwieg er. Wortlos legten sie den Weg bis zu dem Haus zurück, in dem er wohnte. „Soll ich dich morgen früh wieder zur Schule begleiten?“, fragte sie, ehe er hineinging. Zwar wollte er, dass sie das tat, aber erneut fiel ihm ein, dass sie davon wahrscheinlich eher nicht begeistert wäre, weswegen er mit dem Kopf schüttelte. „Nein, ich schaffe das morgen schon allein, danke.“ Lächelnd verabschiedete sie sich von ihm und ging davon. Er sah ihr eine Weile hinterher, während er über ihre Warnung nachdachte. Wenn sie ihm schon riet, vorsichtig zu sein, sollte er das vielleicht wirklich tun – aber warum sollte er sich gerade vor Rena und Marc fernhalten? Das hatte sie ihm nicht gesagt. Doch sein knurrender Magen sagte ihm, dass er darüber ein andermal nachdenken und nun erst einmal etwas in seiner Wohnung essen sollte. Also betrat er das Haus, in der Hoffnung, dass er noch genug zu essen in seiner Wohnung hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)