Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 14: Helfer in der Not ----------------------------- Der in der Luft hängende Zigarettenqualm ließ das ganze Etablissement erscheinen als würde es weder Fenster noch Türen oder sonstige Abzüge geben. Er konnte sich auch nicht erklären, wie der Rauch es schaffte, sich derart zu halten, aber es war bereits seit seinem ersten Besuch so. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er bestimmte Bereiche dieser Bar noch nie wirklich gesehen, da sie immer von Rauch verhüllt gewesen waren. Dafür kannte er den Aufbau besser als den seiner eigenen Wohnung. Vom Eingang aus waren es drei Schritte nach vorne, vier Stufen hinab und dann sechs Schritte nach rechts, um auf seinen Stammplatz am Bartresen zu kommen. Von dort waren es drei Schritte am Tresen entlang und dann zehn nach rechts, um auf die Toilette zu kommen, mit einer minimalen Abweichung zum Hinterausgang. Diesen Wissen erfüllte ihn mit einem Gefühl von Sicherheit, würde er so doch sogar bei einem Brand ganz schnell und einfach den Weg nach draußen finden können, selbst wenn er nichts sah. Glücklicherweise war er bislang aber noch nicht Zeuge eines solchen geworden und so konnte er nach wie vor jeden Abend in diese Bar kommen, trinken und darüber nachdenken, ob es nicht langsam doch Zeit wurde, so spießig wie all seine Freunde zu werden und eine Familie zu gründen. Doch jedes Mal entschied er sich wieder dagegen. Er führte vielleicht nicht das beste Leben, aber immerhin war er ungebunden, frei und – wie Alona nun sagen würde – unheimlich gut darin, sich alles schön zu reden, damit er diesen Zustand weiter genießen konnte, während alle anderen ihn heimlich bemitleideten. An diesem Abend aber war ihm das Schicksal nicht sonderlich gewogen, er wusste bereits, dass er nicht sonderlich viel Zeit in der Bar verbringen würde, es war eine Vorahnung – und als er plötzlich jemanden seinen Namen sagen hörte, fühlte er sich darin auch bestätigt: „Joel, hinten gibt es ein Problem.“ Er wollte fragen, was Probleme in dieser Bar – oder besser hinter ihr – mit ihm als einfachen Gast zu tun hätten, doch stattdessen blickte er seinen Gegenüber nur geduldig abwartend an, bis dieser es von selbst sagen würde, was gleich danach auch der Fall war: „In der Gasse liegt ein Junge, scheint ein Schüler der Akademie zu sein.“ „Trägt er eine Uniform?“, fragte Joel, um sicherzugehen. „Nein. Aber er ist im richtigen Alter und hat einen Schwertgürtel – ohne Schwert.“ Aus Erfahrung wusste Joel, dass solche Gürtel leicht zu erkennen waren. Sie waren breiter und robuster als die normalen ihrer Art – und außerdem wurden sie locker über der Kleidung getragen, so dass sie oftmals eher wie ein nettes Accessoire anmuteten als wie ein nützliches Kleidungsstück. In dieser Stadt trug man einen solchen allerdings nicht als Requisit, immerhin war es möglich, dass die Leute das durchaus falsch auffassen konnten. Wenn diesem Jungen also das Schwert fehlte, war er entweder ein Schüler, der an einige Monster oder Verbrecher geraten war und dadurch seine Waffe verloren hatte oder er war ein selten-dämlicher Tourist, der es cool fand, mit einem nutzlosen Schwertgürtel durch die Gegend zu laufen und damit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Egal, was von beiden, Joel ärgerte sich bereits darüber, dass man das als sein Problem abgestempelt hatte und ihm nun nichts anderes mehr übrig blieb als aufzustehen und selbst nach dem Rechten zu sehen. Trotz des schummrigen Lichts, das in der Gasse hinter der Bar herrschte, erkannte er den im Schatten sitzenden Jungen sofort. Zwar war er ihm bislang noch nicht selbst begegnet, aber ihm war die Akte auf Raymonds Schreibtisch aufgefallen. Dank seines fotografischen Gedächtnisses – das zugegeben nur alle Jubeljahre einmal funktionierte – erinnerte er sich auch sofort an den zugehörigen Namen. „Anthony, kannst du mich hören?“ Als keine Antwort erfolgte, kniete er sich neben den Jungen, um am Hals nach seinem Puls zu fühlen. Kaum berührten seine Finger die Haut, schnellte Anthonys Knopf in den Nacken, erschrocken sog er Luft ein als hätte er kurz vor dem Ertrinken gestanden und sah sich dann mit einem Blick um, den Joel nur als eine Mischung aus Verwirrung und Panik deuten konnte. „Ganz ruhig, Anthony, ich tue dir nichts.“ Er sah Joel an und zumindest die Panik schwand langsam, die Verwirrung blieb dafür einsam zurück, darauf wartend, dass sich bald noch ein anderes Gefühl zu ihr gesellen würde oder sie ebenfalls gehen dürfte. „Na, wie kommst du denn hierher?“ Eigentlich war es nicht sonderlich üblich, dass sich Schüler in diesen Teil der Stadt verirrten und noch weniger, dass sie in einer der hinteren Gassen zusammenbrachen. Langsam normalisierte sich die Atmung des Jungen wieder, aber er schien nicht darauf erpicht, einem für ihn Fremden einfach so eine Antwort zu geben. „Wer sind Sie?“ Die Stimme klang brüchig als wäre sein Hals viel zu trocken, um überhaupt einen vernünftigen Ton hervorbringen zu können. Joel lächelte ihm aufmunternd zu. „Ich bin Joel, ein Freund von Mr. Lionheart. Du kannst mir vertrauen.“ Er zweifelte daran, dass der Junge ihm zugehört hatte. Zu fixiert war sein Blick auf das weinrote, in alle Richtungen abstehende Haar und abwechselnd die goldgelben Augen. Joel seufzte leise. „Hör mal, du kannst hier nicht liegen bleiben. Wo wohnst du? Ich bringe dich heim.“ Anthony antwortete nicht, aber das störte ihn nun auch nicht weiter. „Gut, wenn du es mir nicht sagen willst, bringe ich dich einfach zu Ray nach Hause. Einverstanden?“ Auf einen Schlag verabschiedete sich auch die Verwirrung, dafür trat Erleichterung leichtfüßig an ihre Stelle. Die Augen des Jungen leuchteten für einen Moment regelrecht auf, als er die Aussicht auf Sicherheit und Schutz bekam. „Na bitte, wir verstehen uns. Dann komm.“ Joel half ihm nach oben und hielt ihn weiterhin am Arm fest, als er gemeinsam mit ihm die Gasse entlanglief, um zu seinem Auto zu kommen. „Wo kommst du eigentlich gerade hier? Du siehst nicht gerade gesund aus.“ Es dauerte einen kurzen Augenblick, doch dann antwortete Anthony tatsächlich, wenn auch nur leise: „Aus dem Krankenhaus.“ „Soll ich dich nicht lieber dorthin zurückbringen?“ Der Junge versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch Joel verstärkte ihn sofort. „Ich hab verstanden, ich bring dich lieber zu Ray.“ Anthony beruhigte sich direkt wieder und schien durchzuatmen. Sein Helfer dagegen war bereits leicht genervt von ihm. Wenn er sich recht erinnerte, war dieser Junge aus dem Peligro-Waisenhaus, jeder bisherige Schüler von dort war problematisch gewesen und dieser bildete offenbar keine Ausnahme. Aber immerhin schien er Vertrauen zu Raymond gefasst zu haben, das war im Gegensatz zu allen anderen schon ein Fortschritt. Alle anderen Schüler waren stets distanziert geblieben und irgendwann auch für untauglich für den Dienst an der Waffe befunden wurden – alle bis auf Raymond. Ich vergesse immer beinahe, dass er auch von dort kommt. An der Straße angekommen setzte Joel den Jungen in sein Auto. Er gab dabei keinen Ton von sich, wehrte sich nicht und schien nicht einmal im Mindesten misstrauisch zu sein. Joel hätte am Liebsten missbilligend den Kopf geschüttelt und ihm in lehrerhafter Manie erklärt, dass es nicht gut war, sich entführen zu lassen, auch nicht, wenn der vermeintliche Täter behauptete, Raymond zu kennen. Doch Anthony wirkte so müde wie er da auf dem Beifahrersitz saß, dass Joel es sich ihm und sich selbst ersparte und sich lieber auf den Fahrersitz setzte. „Schnall dich bitte an“, forderte Joel routiniert; es war nicht das erste Mal, dass er jemanden herumfuhr, der noch nie zuvor in einem Auto gesessen hatte. Demonstrativ schnallte er sich selbst an und schenkte Anthony einen Blick, der diesem mitteilte, dass er dies damit meinte. Der Junge begriff glücklicherweise sofort und tat es ihm nach. Ohne weiteres Zögern fuhr er los. Je schneller er ihn wieder loswurde desto besser. Das Schweigen lastete schwer auf Joels Ohren, doch ein Seitenblick zu Anthony sagte ihm, dass dieser es nicht von sich aus brechen würde. Er war zu konzentriert darauf, aus dem Fenster zu starren. „Warum bist du aus dem Krankenhaus abgehauen?“ Der Gefragte runzelte seine Stirn und griff sich an die Schläfe als hätte er Kopfschmerzen. „Ich weiß es nicht... ich... ich erinnere mich nur verschwommen, ein Schild gesehen zu haben, auf dem Krankenhaus stand. Dann war ich irgendwie... weg...“ „Dann weißt du wohl auch nicht, wie du in diese Gasse gekommen bist, was?“ „Ich habe nicht den Hauch einer Idee...“ Seine jahrelange Erfahrung mit Schülern sagte ihm, dass das gelogen war, aber gleichzeitig wusste er auch, dass weiteres Nachhaken unnötig war. Dieser Junge kannte ihn nicht, warum sollte er ihm vertrauen? „Tut mir Leid, dass ich Ihnen Ärger mache...“ Will ich aber auch hoffen, Junge. „Schon gut, mach dir da keine Gedanken. Ich hatte ohnehin nichts Besseres zu tun.“ Außer zu feiern und eigentlich wollte ich weder Ray noch Alona die nächsten Tage begegnen – wie soll ich so weiter krankfeiern? Plötzlich schmunzelte Anthony. „Sie denken das genaue Gegenteil von dem, was Sie sagen, oder?“ Anerkennend hob Joel eine Augenbraue, doch ehe er nachhaken konnte, wie der Junge darauf kam, antwortete dieser bereits: „Sie sind überraschend leicht zu durchschauen. Daran sollten Sie arbeiten.“ „Danke für den Hinweis.“ Bislang hatte ihm das keiner gesagt, weswegen es ihn umso mehr überraschte, dass dieser Junge, der ihn das allererste Mal sah, das offenbar sofort erkannte. In gewisser Weise verletzte es ihn aber auch, da er sich eigentlich als sehr guten Lügner sah. Dennoch ließ er sich davon nichts anmerken und versank wieder in Schweigen, selbst als Anthony bemerkte, dass es vielleicht doch keine gute Idee war, zu einem besseren Lügner zu werden. Erst am Haus der Lionhearts angekommen sagte Joel wieder etwas: „Wir sind da.“ Den Gang zur Tür brachten sie wieder schweigend hinter sich, was Joel äußerst recht war. Die Sekunden, die er warten musste, bis jemand kam, zogen sich endlos hin – doch schließlich erschien Alona in der geöffneten Tür. Sie musterte ihre unverhofften Gäste verwirrt. „Anthony, Joel, guten Abend. Was kann ich für euch tun?“ Joel klopfte ihm auf die Schulter. „Ich habe den Jungen hier in der Stadt aufgegriffen und wollte ihn vorbeibringen.“ „Was hast du da so spät gemacht?“, fragte Alona misstrauisch. Er zog die Augenbrauen zusammen. „Ich war... bei einer Behandlung.“ Sie glaubte ihm immer noch nicht, aber sie schien in Anthony ein interessanteres Thema gefunden zu haben und wandte sich diesem zu. „Und was machst du so spät in der Stadt?“ Anthony warf Joel einen Seitenblick zu, worauf dieser für ihn antwortete: „Er sagt, er ist aus dem Krankenhaus abgehauen. Weißt du schon, dass er dort war?“ Sie nickte mit besorgtem Gesichtsausdruck. „Danke, Joel. Ich übernehme Anthony ab jetzt.“ „Ist Ray nicht da?“ Joel beugte sich ein wenig vor, um in das unbeleuchtete Haus hineinzusehen, in Erwartung, dass Raymond gähnend die Treppe herunterkommen oder aus dem Wohnzimmer blicken würde, um herauszufinden, wer um diese Zeit noch störte und ihm dann eine Standpauke im Stil eines echten Arbeitgebers zu halten. Doch Alona schüttelte mit dem Kopf. „Er hatte noch eine wichtige Besprechung, sagte er. Deswegen kommt er später.“ „Glück gehabt.“ „Aber ich werde ihm erzählen, dass es dir offenbar schon viel besser geht.“ Joel schnaubte wütend. „Vielen Dank, das wollte ich unbedingt sicherstellen. Nicht, dass er am Montag überrascht ist, mich wieder bei der Arbeit zu sehen.“ Leise lachend bat Alona den wartenden Anthony herein, ehe sie sich noch einmal an Joel wandte, um sich von ihm zu verabschieden. „Danke, dass du ihn hergebracht hast.“ „Nichts zu danken“, wehrte er ab. „Sorg nur dafür, dass er das nicht noch einmal macht. Beim nächsten Mal hilft ihm möglicherweise niemand mehr.“ „Ich werde ihm das einbläuen.“ Zum Abschied hob er noch einmal die Hand, dann wandte er sich ab, ging davon und stieg wieder ins Auto. Er warf einen letzten Blick zur Tür, die gerade geschlossen wurde, dann startete er den Wagen und fuhr davon. In Gedanken bereits bei der Frage, wie viel Zeit er vergehen lassen musste, bis er sich wieder krankmelden könnte – und ob er diesen seltsamen Jungen wirklich unterrichten müsste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)