Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Prolog: Die Nacht des Jägers ---------------------------- Dunkelheit legte sich wie ein undurchdringlicher Schleier über der Stadt. Erleichtert atmete er aus, als er das bemerkte. Den Abend hindurch hatte er befürchtet, dass der aufgehende Vollmond seinen Plan zunichte machen würde. Es war ein unglücklicher Zufall gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass ihm nur diese eine Nacht blieb, um alles Geplante in die Tat umzusetzen. Seinem übernatürlichen Glück war es zu verdanken, dass sich nun Wolken daran machten, das helle Licht des Mondes zu verdecken. Mit Sicherheit würde es anhalten, bis er sein Opfer gefunden und die gewünschte Antwort erhalten hatte. Er stülpte die Kapuze seines Umhangs über, um sein grünes Haar zu verdecken, dann setzte er sich langsam in Bewegung, den bewusstlosen Mann in der Ecke zurücklassend. Der vereinbarte Treffpunkt lag recht weit abseits, weswegen er sich beeilen sollte, wenn er es noch rechtzeitig schaffen wollte. Zwielichtige Kontaktmänner waren nicht sonderlich bekannt dafür, lange zu warten, wenn ihre Geschäftspartner nicht auftauchten. Weißer Rauch stieg aus den Kanalschächten, an denen er auf seinem Weg zum Hafen vorbeikam, von irgendwoher konnte er den Geruch von frisch gekochtem Kohl wahrnehmen, der dafür sorgte, dass sich sein Magen schmerzhaft verkrampfte. Er verabscheute dieses Gemüse – oder was auch immer es war – abgrundtief, allein beim Gedanken daran wurde ihm schon übel. So schnell wie möglich verdrängte er diese Überlegungen. Um auch den Geruch erfolgreich ignorieren zu können, ging er innerlich noch einmal den Plan durch. Dem Kerl vorspielen, ich sei sein Kontaktmann; ihm die Information entlocken; abhauen – Kinderspiel. Falls das nicht funktioniert... improvisieren. Doch sein unerschütterlicher Glaube, dass alles wie geplant verlaufen würde, ließ nicht eine einzige Sekunde nach. Einmal hatte er vielleicht versagt, weil ihm zu spät klar geworden war, was der Feind plante, aber dieses Mal würde er ihm einen Schritt voraus sein, noch einmal würde er sich nicht so vorführen lassen. Ein wenig überraschte ihn die Tatsache, dass niemand außer ihm unterwegs zu sein schien. Natürlich war es ganz normal, dass man sich für zwielichtige Geschäfte an abgelegenen Orten traf, doch er hätte dennoch zumindest ein paar Arbeiter oder Betrunkene aus der nahegelegenen Kneipe erwartet – oder zumindest ein paar Banditen, die auf leichte Beute warteten. Er erreichte den Treffpunkt als erstes und stellte mit einem genervten Zungenschnalzen fest, dass genau dort eine Straßenlampe brannte. Das gelbliche Licht brannte unbarmherzig in seinen Augen und schien ihm sagen zu wollen, dass das ganze Planen vergebens gewesen war. Aber sofort fiel ihm wieder ein, dass Improvisation ebenfalls auf der Liste stand – damit könnte er gleich anfangen. Leise pfeifend öffnete er mit einem mitgebrachten Schraubenschlüssel die Abdeckung der Stromversorgung. Ein ganzes Bündel an Kabeln wurde sichtbar. Bah! Wozu braucht diese dumme Lampe so viele von diesen Teilen? Sie soll doch nur Licht spenden – und genau darauf kann ich verzichten. Der Schraubenschlüssel wurde gegen eine Zange eingetauscht, mit einem Abzählreim suchte er sich ein einziges Kabel aus, das er direkt durchtrennte. Als Ergebnis gab die Lampe ein leises Zischen von sich, ehe sie erlosch und die Seitengasse in Dunkelheit tauchte. Na bitte. Lampe 0, Russel 1. Während er die Abdeckung wieder anbrachte, schmunzelte er, als ihm bewusst wurde, mit welchem Namen er an sich selbst dachte. Ich werde wirklich zu menschlich, das ist langsam unheimlich. Schließlich steckte er den Schraubenschlüssel wieder ein und blickte sich aufmerksam in der Dunkelheit um. Das Wasser schwappte gegen die Kaimauer, ein beruhigendes Geräusch bei dem er sich am Liebsten hingelegen und geschlafen hätte. Schlafen? Oh nein, ich werde wirklich immer menschlicher. Doch seine Bedenken über seine schleichend einsetzende Menschlichkeit, wurden alsbald von dem Mann zerstreut, den er hatte treffen wollen. Leicht gebückt bewegte er sich auf den Treffpunkt zu, Russel rollte mit den Augen. Noch auffallender geht es wohl nicht mehr, oder? Misstrauisch hielt der Mann inne, als er bemerkte, dass die Lampe nicht brannte. Ungeduldig wartete Russel einen Moment, doch der Mann bewegte sich kein Stück mehr, starrte stattdessen nur die erloschene Straßenlampe an als könne er nicht begreifen, was er da sah. „He, Idiot!“, fauchte der Wartende, als ihm der Geduldsfaden riss. Der Mann zuckte zusammen, Russel winkte ihn zu sich. „Komm endlich rüber, ich hab nicht ewig Zeit!“ Da sich der andere immer noch bewegte, fürchtete der Wartende, dass seine Ungeduld ihn verraten hatte, doch da kam der andere bereits auf ihn zu. Der Geruch, den er mit sich brachte, war eine Mischung aus Alkohol und Erbrochenem, Russel rümpfte die Nase. Da die Gasse aber dunkel war und er außerdem immer noch die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte, konnte der andere das nicht sehen. „Tschuldige“, nuschelte er. „Aber man kann hier nie sicher genug sein. In letzter Zeit treiben sich hier ein paar fragwürdige Kerle herum und stecken ihre Nasen überall rein.“ Fragwürdig, huh? Na ja, ich wurde schon als Schlimmeres bezeichnet. „Hast du alles?“, fragte Russel, ohne näher darauf einzugehen. Der andere suchte bereits in seinen Taschen nach den Papieren, Russel sah sich bereits am Ziel – doch plötzlich hob der andere wieder den Blick und musterte seinen Gegenüber. „Moment mal...“ Russel wollte sich mit einem verzweifelten Seufzen an die Stirn greifen, kämpfte den Drang aber nieder und tat so als wäre nichts. „Was ist los?“ Der Mann kam ein wenig näher, instinktiv trat Russel zurück, um der Geruchswolke zu entgehen, bevor er sich doch noch übergeben würde. Schockiert stellte er fest, dass der andere an ihm zu schnüffeln begonnen hatte, direkt danach folgte ein leises Knurren. „Du bist einer von denen...!“ Russel trat erneut einen Schritt zurück, er wusste, dass es bereits zu spät war, noch etwas zu verleugnen oder zu fliehen, weswegen er sich auf einen Kampf vorbereitete. Die Person vor ihm stieß ein abgehacktes Bellen aus – doch statt Russel anzugreifen, fuhr er herum und rannte davon. Er fluchte heftig und folgte ihm sofort. Der andere war überraschend schnell, doch Russel ließ sich davon nicht abhalten. Auch wenn seine Zuversicht, was den Plan anging, nicht eingetroffen war, so verließ sie ihn bei dieser Verfolgungsjagd dennoch nicht. Heftige, plötzliche Windstöße warfen den fliehenden aus der Bahn, doch er richtete sich immer wieder auf, um weiterzurennen. Offenbar fürchtete er wirklich um sein Leben und begriff dabei nicht, dass jede weitere Sekunde, die diese Verfolgung anhielt, nur dazu beitrug, Russels Wut zu steigern. Ich kriege dich so oder so – und wenn ich dich habe, kriegst du eine Abreibung! Tatsächlich blieb der Fliehende schließlich erschöpft liegen, wohl aber nur, weil er am Ende der Kaimauer angekommen war und ihm kein Fluchtweg mehr blieb. Er richtete sich ein wenig auf und kroch rückwärts, bis er mit dem Rücken am Geländer angekommen war, das verhindern sollte, dass man einfach ins Hafenbecken stürzte. In einigen Schritten Entfernung blieb Russel wieder stehen. Er zog sein Schwert hervor und deutete mit der Spitze direkt auf das Herz des anderen. Die angstvoll geweiteten Augen schielten auf die Klinge. Aufgrund seines Verhaltens hätte Russel diese Person als eine Art Hundemensch eingestuft, doch er sah aus wie ein vollkommen normaler Mensch, keinerlei Fell, nicht einmal Schlappohren oder zumindest eine derart charakterliche Nase. Doch sein Geruchssinn schien dennoch ausgeprägt genug, um ihn selbst in der Dunkelheit erkennen zu können – möglicherweise befanden sich Hundemenschen in der Verwandtschaft. Hastig verwarf er die Überlegungen. „Wirst du mir jetzt zuhören?“ Die Person winselte erschrocken, was Russel einfach mal als Ja nahm, weswegen er fortfuhr: „Gut, ich werde dich das nur einmal fragen: Wo ist der Göttliche?“ Sofort verengten sich die Augen des anderen, misstrauisch blickte er ihn an. „Du bist einer von denen, du solltest das doch wissen, oder?“ Russel erwiderte darauf nichts, sondern hob stattdessen das Schwert. „Raus mit der Sprache! Ich habe gehört, es lebt sich ziemlich schlecht mit einem gespaltenen Schädel.“ Beide lieferten sich ein Blickduell, sie zeigten sich gleichermaßen entschlossen, der eine zu schweigen, Russel, dies zu bestrafen. Die Hand des Schwertkämpfers begann zu zittern. „Sag schon!“ Der andere bemerkte das leichte Zittern sofort und grinste selbstgefällig. „Du wirst mir ohnehin nichts tun, das kannst du nicht.“ Russel hätte ihm zu gern zugestimmt, aber noch mehr Schwäche konnte er sich nicht erlauben. „Ich kann eine ganze Menge tun, glaub mir.“ Er hob das Schwert noch ein wenig höher. „Deine letzte Chance.“ Der andere grinste unvermindert, er zeigte nicht den kleinsten Hauch von Furcht. Okay, das war's. Mit einem wütenden Schrei ließ Russel die Klinge herunterfahren bis sie auf Widerstand stieß – und er sie augenblicklich losließ. Kapitel 1: Abgeschoben ---------------------- Das helle Sonnenlicht blendete ihn, als der Zug aus dem Tunnel fuhr. Genervt kniff er die Augen zusammen, während er gleichzeitig versuchte, dennoch etwas zu erkennen. Der See, viele Meter weit unter den Schienen, warf das Licht tausendfach zurück und glitzerte dabei als ob unzählige Juwelen unter der Wasseroberfläche ruhen würden. So schön der Anblick auch war, der Grund für seine Reise blieb in seinen Augen dennoch deprimierend. Er hatte noch nie zuvor von jemandem gehört, der vor seiner Volljährigkeit aus einem Pflegeheim geworfen wurde – zumindest nicht, wenn derjenige nie etwas getan hatte. Allerdings waren die Aufsichtspersonen und auch der Direktor davon überzeugt, dass er für so manchen Vorfall verantwortlich war, also hatte er trotz aller Beteuerungen und emotionaler Ausbrüche gehen müssen. Er konnte von Glück sagen, dass man einen 15-jährigen nicht einfach vor die Tür setzen durfte – aber ihn ans andere Ende des Landes zu schicken, an einen Ort, von dem er bislang noch nicht einmal gehört hatte, das empfand er doch als ein wenig übertrieben. Zumindest in diesem Augenblick war er aber erleichtert, dass er im Heim nie Freunde gefunden hatte. Allein beim Gedanken, dass er sie alle hätte zurücklassen müssen, wurde er ganz trübselig. Eine Lautsprecherdurchsage riss ihn aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück, aufmerksam lauschte er dem Gesagten: „In wenigen Minuten erreichen wir unser Ziel, den Hauptbahnhof von Lanchest. Bitte denken Sie daran, Ihr Gepäck und Ihre Wertsachen mit sich zu nehmen. Vielen Dank, dass Sie mit Ven-Rail gereist sind.“ Der Lautsprecher verstummte wieder. Sofort begannen alle Anwesenden im Abteil, aufzustehen und ihr Gepäck an sich zu nehmen, was ein lautes Rascheln zur Folge hatte. Während er sich dem anschloss, bemerkte er, dass er der einzige Mensch im Abteil war. Zwei junge Frauen, die sich angeregt miteinander unterhielten waren offensichtlich Katzenmenschen und sogar Schwestern, wie an dem rötlichen Fell mit den ähnlichen Mustern, so wie den zuckenden Ohren leicht zu erkennen war. Der unter dem Mantel hervorstehende wedelnde Schwanz eines anderen Reisenden und seine Schlappohren, die selbst durch den Hut nicht verdeckt wurden, verriet, dass ein älterer Herr zu der Gattung der Hundemenschen gezählt wurde. Der Letzte schließlich war schon allein durch seine Größe bei den Echsenmenschen einzuordnen, das schuppige Gesicht und die Hände taten ihr Übriges dazu. Er wusste, dass ein solcher Anblick etwas völlig Normales war und doch fühlte er sich unwohl. Es kam ihm vor als würde das Kichern der beiden Frauen ihm gelten, genau wie die abschätzenden Blicke des älteren Mannes – lediglich die Echse schien sich nicht im Mindesten um ihn zu kümmern. Als er seine Reisetasche und den Schwertkoffer auf den Sitz gestellt hatte, um beides einfacher greifen zu können, sobald der Zug hielt, zog er eine Mütze hervor und setzte diese auf. Zwar konnte sie nicht sein komplettes Haar verbergen, aber doch ein wenig die Blicke ablenken. Man sollte meinen, dass die Leute an rosa Haar gewöhnt wären, doch das galt offenbar nur, wenn es zu Mädchen gehörte. Bei Jungen sorgte es zu seinem Unglück immer noch für einen unangenehmen Oh-Effekt. Sein Blick ging wieder zum Fenster hinaus. Die Stadt, der sie sich näherten, erschien ihm recht imposant, wenngleich ihm das als jemand, der in einem Pflegeheim auf dem Land aufgewachsen war, möglicherweise nur so vorkam. Riesige Wohnhäuser reichten bis in den Himmel und ließen ihn staunen; das Bahnhofsgebäude, in das der Zug langsam einfuhr, wirkte im Vergleich dazu alt, aber auch erhaben. Wow! Das ist echt... cool! Er war sich ziemlich sicher, dass er im Inneren der Stadt noch mehr staunen würde, wenn er erst einmal dazu kommen würde, sich umzusehen. Falls er dazu kommen würde. Bislang hatte er noch keine Ahnung, wie sein Alltag in dieser Stadt aussehen sollte oder wie er leben würde. Er wusste nicht einmal genau, was für eine Einrichtung das nun sein würde, in die man ihn schickte. Seine Erzieher hatten etwas von einer untraditionellen Militärakademie erzählt, aber was er sich darunter vorzustellen hatte, wusste er auch nicht. Da blieb ihm wohl nur, die Person auszufragen, die ihn vom Bahnhof abholen sollte – auch wenn ihm das so gar nicht gefiel. Er war nicht gut darin, mit fremden Leuten zu sprechen. Als der Zug schließlich hielt, nahm er Tasche und Schwertkoffer an sich und folgte den anderen Passagieren hinaus. Auf seinem Weg zur Tür kam er an anderen Reisenden vorbei, die wissende Blicke auf den Koffer warfen. Anfangs hatte er befürchtet, damit nur unnötig aufzufallen, aber offenbar war es zumindest in dieser Stadt vollkommen normal, Leute mit Waffen herumlaufen zu sehen. Dennoch hatte er es für absolut unnötig befunden, sich diese Klinge aufdrücken zu lassen, er wusste nicht einmal wirklich, wie man damit umging. Er trat auf den Bahnsteig. Aufgeregte Stimmen von Reisenden, die von ihren Lieben empfangen wurden, umfingen ihn sofort. Er suchte in der Menge nicht einmal nach jemandem, der auf ihn warten könnte, sondern betrat direkt die Bahnhofshalle, in der sämtliches Gerede zu einem einzigen, lauten Summen verschmolz. Niemand schien ihn zu beachten, weswegen er stehenblieb, um sich umzusehen. Mehrere Bänke waren in der Halle für die Wartenden aufgebaut, Schnellrestaurants und Bäckereien verbreiteten einen angenehmen Duft, weit weg von seinem Standort konnte er das Schild eines Info-Standes ausmachen. Letzteres schien ihm wie der perfekte Ort, um auf jemanden zu warten, doch bevor er dorthin ging, zog sein knurrender Magen ihn in eine gänzlich andere Richtung. Vor einer Theke, in der köstlich aussehende Sandwiches auslagen, hielt er wieder inne. Im Zug hatte sein Magen sich im Angesicht der kommenden Dinge verkrampft, aber der köstliche Duft in dieser Halle hatte ihn wieder daran erinnert, dass er auch nur ein Lebewesen war, das Nahrung zum Überleben brauchte und so langsam überkam ihn das Gefühl, umzufallen, sollte er nicht bald etwas zwischen die Zähne bekommen. Ein wenig beklommen tauschte er sein letztes Geld gegen ein in Plastik verpacktes Sandwich aus, dann setzte er sich damit auf einen der Sitze, um in Ruhe zu essen, während er seinen Blick schweifen ließ, um die Reisenden zu beobachten. Zu seiner Erleichterung schien sich keiner um ihn zu kümmern, jeder schien es eilig zu haben, irgendwo hinzukommen. Auch wenn er ihre Geschichten nicht kannte, so beneidete er sie ein wenig. Seit er zurückdenken konnte, hatte es für ihn nie einen Ort gegeben, zu dem er eilig zurückwollte. Prinzipiell war er froh, aus dem Pflegeheim raus zu sein – aber was würde ihn nun erwarten? Dieses Ungewisse machte ihn nervös, weswegen er im selben Moment schon wieder froh war, das Sandwich beendet zu haben. Wie es sich für einen guten Bürger gehörte, stand er auf, um die nun nutzlose Verpackung in den etwas weiter entfernten Mülleimer zu werfen. Während er noch etwas gedankenverloren neben dem Behälter stand, hörte er plötzlich wie ein lauter Schrei durch die Halle fuhr. Fragend sah er sich nach dem Ursprung um und erkannte bald den Grund dafür: Ein Mann rannte gerade mit einer offensichtlich gestohlenen Tasche durch die Halle, den echten Besitzer direkt hinter sich. Geistesgegenwärtig traten die anderen Reisenden einen Schritt zur Seite, um dem Fliehenden Platz zu machen und nicht von ihm verletzt zu werden. Lediglich ihm selbst fiel nichts Besseres ein als ein Bein auszustrecken, um den Dieb zu Fall zu bringen – was überraschenderweise sogar gelang. Fast schon ein wenig verdutzt blickte er auf den Gefallenen hinunter, der noch versuchte, sich aufzurichten, um weiterzulaufen, allerdings schon im nächsten Moment von einem uniformierten Mann – offenbar Teil eines Sicherheitsteams für den Bahnhof – gepackt wurde. Lächelnd übergab ein zweiter Wachmann die Tasche wieder seinem Besitzer, während der erste den Dieb abführte und ihm – dem Neuankömmling – dankbar zunickte. Er sah ihm für einen kurzen Moment hinterher, ehe der ältere Besitzer der Tasche seine Aufmerksamkeit auf ihn zog. „Vielen Dank, junger Mann. Solche Leute wie Sie geben mir den Glauben an die Menschheit zurück, der von solchen Leuten wie diesem Nichtsnutz zerstört wird.“ Wutschnaubend nickte er in die Richtung, in die der Dieb geführt worden war. Er winkte allerdings nur ab. „Keine Ursache, wirklich. Ich... stand nur zufällig hier.“ Das war immerhin auch die Wahrheit. Wäre das Sandwich nicht gewesen, hätte er gar nicht an diesem Fleck gestanden. Der Mann klopfte ihm auf die Schulter und ging dann zufrieden lächelnd davon. Ein wenig verlegen sah er ihm einen kurzen Moment hinterher, dann ging er, die Blicke aller anderen ignorierend, wieder zu seinem Platz zurück. Seine Sachen standen immer noch dort, wo er sie zurückgelassen hatte – was wohl aber auch nicht zuletzt an der Person lag, die daneben stand. Ein Wachmann sah ihm abwartend entgegen, er lächelte. „Sie haben uns ziemlich gut ausgeholfen, vielen Dank.“ Die Leute hier scheinen sich echt gern zu bedanken... Dass er von diesem Mann gesiezt wurde, verstärkte das unangenehme Gefühl in seinem Inneren. Gesiezt zu werden, war für ihn ein Zeichen, dass er erwachsen – und damit für sich selbst verantwortlich – wurde. Der Gedanke ängstigte ihn ein wenig, aber er schob ihn hastig von sich. „Es war wirklich nur ein Zufall“, betonte er noch einmal. „Da gibt es nichts zu danken.“ Sein Blick huschte durch die Halle zum Info-Stand hinüber. Langsam sollte er vielleicht doch hinübergehen – aber der Wachmann schien noch mehr sagen zu wollen. „Eigentlich haben wir nicht so viele Probleme mit der Kriminalität. Aber in letzter Zeit scheint sich das ein wenig zu ändern.“ „Aha...“ Was sollte er darauf sagen? Die Kriminalitätsrate dieser Stadt interessierte ihn kein bisschen, aber der andere schien zu glauben, dass es ihn interessieren sollte. Der Wachmann deutete auf den Schwertkoffer. „Ich nehme an, Sie sind ein neuer Rekrut an der Militärakademie?“ „Ähm... ja, ich schätze schon.“ Vielleicht würde der Mann dann endlich verstehen, dass er im Moment keine Zeit hatte oder er würde ihm helfen, die Person zu suchen, mit der er sich hier treffen sollte. Der Wachmann salutierte sofort. „Ich war ebenfalls Rekrut an der Akademie.“ Auch das noch. Doch er sprach den Gedanken nicht aus und lächelte stattdessen ein wenig. „Oh, wirklich?“ „Ja, vor zwei Jahren habe ich meinen Abschluss gemacht. Ich werde dem Direktor diese Tat heute zukommen lassen, das dürfte sich positiv auswirken.“ Positiv? Auf was? Er wagte nicht zu fragen, besonders nicht, da der Mann soeben einen Notizblock hervorzog. „Ich bräuchte dann nur Ihren Namen und die Schülernummer.“ Aufmerksam sah der Mann ihn an. Er suchte nach Worten, um ihm seinen Namen mitzuteilen und zu erklären, dass er nicht einmal wusste, was eine Schülernummer war. Doch eine eingängige Tonfolge, die eine Lautsprecheransage ankündigte, unterbrach seine Gedanken. „Anthony Branch wird am Informationsschalter erwartet. Anthony Branch.“ Er deutete nach oben, um zu zeigen, dass er die Durchsage meinte. „Das bin ich.“ „Oh, Anthony also. Gut, ich werde Sie zum Schalter begleiten und dem dort Anwesenden direkt sagen, was sie getan haben.“ Er verzichtete darauf, erneut zu erwähnen, dass er doch nichts getan hatte und nickte stattdessen nur. Nachdem er Tasche und Koffer ergriffen hatte, folgte er dem Wachmann in Richtung des Informationsschalters. Die Blicke, die ihm zugeworfen wurden, veränderten sich deutlich. Es schien ihm, dass alle glaubten, er wäre verhaftet und nun abschätzten, was er wohl getan hätte. Aber möglicherweise interpretierte er nur zuviel in all das hinein. Am Schalter angekommen, wanderte sein Blick direkt zu einem Mann, der mit verschränkten Armen daneben stand. Sein Anzug und die kühl blickenden Augen hinter den Brillengläsern ließen ihn älter wirken als er zu sein schien, aber sein rostrotes Haar relativierte das wieder ein wenig. Der Blick des Mannes richtete sich auf ihn, sein Gesicht hellte sich ein wenig auf. Er kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Anthony Branch, nehme ich an? Ich bin der Direktor der Lanchest-Militärakademie, mein Name ist Raymond Lionheart. Es freut mich, dich kennenzulernen.“ Kapitel 2: Ein neues Leben -------------------------- Ein wenig perplex schüttelte Anthony die Hand des Direktors. „Mich freut es auch.“ Er hätte nicht erwartet, dass der oberste Kopf der Akademie selbst ihn vom Bahnhof abholen würde. Schickte man normalerweise nicht einen... Handlanger für so etwas? Der Direktor wirkte nicht wie jemand, der aus Spaß an der Freude neue Schüler vom Bahnhof abholte. Eigentlich machte er mehr den Eindruck eines spießigen Büromenschen, der sich selbst überall als fehl am Platz einstufte, solange es nicht hinter einem riesigen Schreibtisch war. Raymonds Mundwinkel hoben sich leicht als ob er ahnen würde, was sein Gegenüber dachte. Doch sofort wurde sein Blick wieder ernst, er sah zu dem Wachmann. „Ist irgendetwas vorgefallen?“ „Oh, nichts Schlimmes, keine Sorge, Mr. Lionheart. Anthony hat einen Dieb zu Fall gebracht, das wollte ich Ihnen sagen.“ Raymond hob eine Augenbraue, dann nickte er. „Ich verstehe, vielen Dank.“ Der Wachmann salutierte noch einmal und ging davon. Raymond bedeutete Anthony, ihm zu folgen und lief in Richtung des Ausgangs. Der Jüngere folgte ihm sofort. Kaum dass sie aus der Bahnhofshalle traten, atmete er erleichtert aus. Die Verkehrsgeräusche waren erholsam leise im Vergleich zu dem Lärmpegel im Inneren des Bahnhofs. Raymond schien das ebenfalls als wesentlich angenehmer zu empfinden. „Gut, ich bringe dich zu deiner Wohnung. Sie ist nicht weit von hier.“ „Wohnung?“, hakte er perplex nach. Er nickte. „Ja. Alle internen Schüler leben ab ihrem vierzehnten Lebensjahr in einer eigenen, von der Schule gestellten, Wohnung. Das soll ihre Selbstständigkeit erhöhen. Also komm.“ Als er weiterlief, folgte Anthony ihm sofort, bis er gleichauf neben ihm herging. „Wie war die Reise?“, fragte Raymond, offensichtlich nur der Höflichkeit halber. „A-angenehm, danke.“ Interessanterweise fühlte Anthony sich in der Gegenwart des Direktors wesentlich wohler als in der aller anderen Personen, die er bislang getroffen hatte. Der Mann strahlte etwas ungemein Beruhigendes aus, was dafür sorgte, dass Anthony ihm auf Anhieb vertraute. „Ich weiß nicht, wieviel das Pflegeheim dir bislang von uns erzählt hat...“ „Um genau zu sein, gar nichts“, antwortete Anthony sofort, der endlich die Gelegenheit gekommen sah, seine Neugier über sein neues Leben zu stillen. Raymond seufzte leise. „Das dachte ich mir schon. Ich glaube, die wussten selbst nicht sonderlich viel über uns.“ Er räusperte sich, ehe er fortfuhr: „Du weißt, dass eine normale Militärakademie ihre Rekruten für den Einsatz im Militär ausbildet, oder? Daher auch der Name. In einer herkömmlichen Einrichtung erlernst du also hauptsächlich den Umgang mit Fernwaffen und das richtige Verhalten im Kriegsfall. Die Lanchest Akademie dagegen... nun, wir gehen sehr individuell auf die einzelnen Rekruten ein, jeder erlernt bei uns den Umgang mit der Waffe oder Kampftechnik, die ihm liegt – und nebenbei gibt es auch noch normalen Unterricht. Das Ziel unserer Einrichtung ist es, eine umfassende Ausbildung zu bieten, die unseren Absolventen jeden Weg offenhält.“ Es klang in Anthonys Ohren wie ein einstudierter Text einer Werbebroschüre, Raymond schien ihn recht häufig herunterzurattern – oder er hatte ihn einfach nur sehr oft gehört. „Vorrangig wollen wir aber Söldner ausbilden, die im Namen unserer Akademie dann auf verschiedene Missionen geschickt werden.“ „Söldner?“ Seine Zuversicht schwand für einen kurzen Moment – doch als ihm die Möglichkeiten bewusst wurden, kehrte sie schlagartig wieder. Söldner zu sein war mit Sicherheit keine schlechte Idee, wenn man sonst keinerlei Perspektive in seinem Leben sah. Zwar war jede Mission mit Sicherheit etwas Unbekanntes und Neues, doch er musste sich dann im Vorfeld keine Gedanken darüber machen, welchen Beruf er ausüben sollte. Im Gegensatz zu allen anderen im Pflegeheim hatte er nie irgendwelche Träume oder Wunschvorstellungen gehabt – ihm war es immer nur wichtig gewesen, Geld zu verdienen, um sein Leben zu unterhalten. Also war das vielleicht die beste Methode, aber ob er überhaupt dafür geeignet war? „Nun, wir zwingen natürlich niemanden, nach dem Abschluss als Söldner bei uns zu bleiben“, erklärte Raymond sofort. „Die Ausbildung und die Arbeit ist hart – aber der Verdienst auch dementsprechend hoch. Nach bestandenem Abschluss hast du auch in anderen Branchen beste Zukunftsaussichten; besonders in Lanchest reißen sich die Firmen um unsere Absolventen, da sie für ihre hohe Belastbarkeit bekannt sind.“ Das klang in Anthonys Ohren nicht schlecht. Langsam wurde ihm diese Akademie tatsächlich schmackhaft. „Klingt ja fast zu gut, um wahr zu sein“, bemerkte er gedankenverloren. Raymond schmunzelte. „Oh, das sagst du jetzt noch. Du hast den Unterricht noch nicht erlebt.“ Er zögerte einen Moment, gab sich dann aber einen sichtlichen Ruck und fuhr fort: „Andererseits haben wir eine erstaunlich niedrige Durchfall-Quote. Ich habe deinen Notenschnitt gesehen, du dürftest das mit ein wenig Anstrengung auch schaffen.“ Daran zweifelte Anthony keine Sekunde. Er war nicht der beste Schüler, aber immerhin ein gesunder Durchschnitt und zu lernen war ihm noch nie wirklich schwer gefallen. Nein, er würde mit Sicherheit seinen Schnitt halten können, auch wenn der Unterricht hier anders war. „Die Kommunikation mit dem Heim war recht unangenehm“, bemerkte Raymond plötzlich, als Versuch, das Thema zu wechseln. Anthony war recht erleichtert, dass er nicht der einzige war, der mit den Leuten in dem Heim nicht zurechtkam. So wie der Direktor das Gesicht verzog, schienen ihm die Verantwortlichen dort auch nicht gefallen zu haben. „Aber ich kann dich auch persönlich fragen: Wie kommt es, dass du ins Heim gekommen bist?“ Die Frage, so sehr Anthony sie auch hasste, hatte er bereits erwartet. „Als ich vier Jahre alt war, wurden meine Eltern in einen Unfall verwickelt. Dabei starben sie beide und ich kam eben ins Heim.“ Normalerweise bekundeten sofort alle ihr Beileid, weswegen er sich berufen fühlte, direkt im Vorfeld abzuwehren: „Aber ich erinnere mich ohnehin nicht an meine Eltern oder mein Leben mit ihnen, von daher vermisse ich auch nichts davon.“ Das leise Lachen des Direktors überraschte Anthony. Fragend sah er wieder zu ihm hinüber. Raymond entschuldigte sich sofort. „Ich wollte nicht lachen, aber dein Verhalten erinnert mich an mich früher. Die Leute bekundeten immer, wie sehr ich ihnen Leid tue, sobald sie erfuhren, dass ich ohne Eltern aufwachse; irgendwann habe ich dann immer so etwas Ähnliches gesagt wie du, weil mir dieses falsche Mitleid auf die Nerven ging.“ Anthonys Miene hellte sich merklich auf. Womöglich spürte er deswegen diese Verbundenheit mit dem Direktor, sie teilten immerhin dasselbe Schicksal – so würde man es zumindest in einem kitschigen Groschenroman erklären. Anthony dagegen dachte sich, dass ihm dieser Mann von Anfang an so sympathisch gewesen war, weil er sich eben nicht gezwungen fühlte, Mitleid zu heucheln. Selbst die Erzieher im Pflegeheim hatten vor ihren Schützlingen immer so getan als wären sie besonders fürsorglich und an ihnen interessiert, nur um sich hinter ihren Rücken darüber zu beschweren, dass die Blagen ihnen die Freizeit stehlen würden und all die Arbeit nicht angemessen entlohnt werden würde. „Vermutlich wird es dir dann gefallen, allein zu leben.“ Anthony zuckte mit den Schultern. „Bislang macht es mir eher... Respekt.“ Er wollte nicht sagen, dass er sich vor dem Ungewissen fürchtete, besonders nicht bei diesem Mann. Aber er schien es dennoch zu wissen, er schmunzelte leicht. „Es wird eine gewisse Umstellung mit sich bringen, aber bislang hat das noch jeder Schüler geschafft. Ich zweifle nicht daran, dass du das auch kannst.“ Die Worte beruhigten Anthony ein wenig. Raymonds nächste Frage verwunderte ihn allerdings: „Warum wollte dein Heim dich eigentlich unbedingt loswerden?“ Mit geneigtem Kopf sah er den Direktor an. Hatte etwa keiner etwas davon erzählt? Wahrscheinlich hatte man befürchtet, ihn doch nicht loszuwerden, wenn man erzählte, was er angeblich alles anstellen sollte. „Im Pflegeheim sind einige seltsame Dinge geschehen, die man mir untergeschoben hat.“ „Seltsame Dinge? Kannst du das näher definieren?“ Anthony versuchte, sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, was alles geschehen und mit ihm in Verbindung gebracht worden war. Es waren in den elf Jahren, die er dort verbracht hatte, doch einige Dinge gewesen, die ihm zur Last gelegt worden waren. Schließlich erzählte er Raymond von Einbrüchen ins Sekretariat, Lärmbelästigungen in der Nacht, dem Zerstören fremden Eigentums – und dem gleichzeitigen Klingeln aller Telefone im Gebäude. Es waren noch wesentlich mehr Dinge geschehen, aber diese behielt er wohlweislich für sich. An einiges davon wollte er nicht einmal mehr denken. „Warum machen sie dich für all das verantwortlich?“, hakte Raymond mit gerunzelter Stirn nach. „Wenn ich das wüsste... Vermutlich war ich immer zur falschen Zeit am falschen Ort.“ „Sagt man das so?“ Dieses Mal neigte der Direktor nachdenklich den Kopf. Anthony hob eine Augenbraue. Denkt er jetzt wirklich darüber nach, ob man das Sprichwort so sagt? „Na ja, wie auch immer“, meinte Raymond schließlich. „Nun bist du hier und wirst hoffentlich für keinen Ärger sorgen.“ Ich werde mich hüten. Noch einmal konnte er auf einen Umzug verzichten, so viel war sicher – außerdem war ihm der Direktor bislang sympathisch. Er führte Anthony in eine Hochhaussiedlung, dass dem Jungen ganz schwindelig wurde, als er den Kopf in den Nacken legte und versuchte, die Gebäude näher zu betrachten. Es waren nicht nur graue Betonklötze, wie jene in den Filmen, die sie im Heim gesehen hatten, stattdessen bestanden sie aus edlem Chrom und Glas, was sie schön anzusehen machte und sie schienen tatsächlich bis in den Himmel zu reichen. Es fiel Anthony schwer, den Blick wieder abzuwenden, um die Grünanlage und die Bänke zu bemerken. Alles wirkte teuer und gepflegt als ob es jemandem sehr wichtig war, dass alles perfekt aussah. Möglicherweise sogar Raymond selbst. So sehr er auch mit Staunen beschäftigt war, etwas störte Anthony doch an dem Anblick: „Wo sind denn alle?“ Eine beunruhigende Stille herrschte in der Siedlung, außer ihnen lief niemand auf den hellen Wegen, die alle Häuser miteinander verbanden. Fast schon bekam er den Eindruck, dass dies nur eine Mustersiedlung war, in der niemand lebte und auch die Pflanzen nur künstlich waren. „Heute ist Sonntag“, antwortete Raymond nachdenklich. „Vermutlich sind alle zu Hause oder auf dem Trainingsgelände... oder in der Bibliothek. Wie sagt man so schön? Der fleißige Vogel bekommt den Preis.“ Ich glaube nicht, dass man das so sagt. Doch Anthony widersprach ihm nicht, sondern folgte ihm stattdessen wortlos zu einem bestimmten Haus, vor dem sie wieder stehenblieben. Während Raymond etwas in seiner Tasche suchte, ließ Anthony seinen Blick über die unzählig erscheinenden Klingelschilder schweifen. Er versuchte, sich einige der Namen einzuprägen, doch da er keinen davon mit einem Gesicht in Verbindung bringen konnte, blieb keiner haften. Lediglich sein eigener Name stach ihm ins Auge, er schien fast schon glühend hervorzustehen, als ob jemand nur diesen einen Namen mit Leuchtmarker geschrieben hätte. Triumphierend zog Raymond eine Karte aus seiner Tasche hervor, mit der er die Tür öffnete. „Das ist ein schuleigener Universalschlüssel, damit ich bei Bedarf jederzeit in die Wohnungen kann.“ „War schon oft Bedarf daran?“, fragte Anthony neugierig. Je länger er mit dem Direktor verbrachte desto leichter fiel es ihm, seinen eigenen Schatten zu überspringen und Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge brannten. Zuvor hatte er diese eher hinuntergeschluckt, aus Angst, dass der Gesprächspartner genervt reagieren würde, doch bei Raymond schien ihm die Gefahr um einiges geringer. „Hin und wieder, ja. Aber nichts Schlimmes, meist ging es nur darum, die Ordnung zu überprüfen. Wir wollen unsere Schüler nämlich auch dazu anhalten, sauber zu leben.“ Gut, damit habe ich kein Problem. Es fiel ihm nicht sonderlich schwer, für Ordnung zu sorgen, mit Sicherheit würde er das auch in einer eigenen Wohnung schaffen. Der scharfe Geruch eines Putzmittels biss ihm in die Nase, als er gemeinsam mit Raymond das Treppenhaus aus dunklem Marmor betrat. Der Direktor erklärte ihm, dass regelmäßig eine Putzkolonne für die Sauberkeit im Flur sorgte, so dass jeder Schüler nur für seine eigenen vier Wände verantwortlich war. Mit einem Aufzug fuhren sie in den siebten Stock hinauf. „In deiner Wohnung lebte bis vor kurzem ein anderer Absolvent“, erklärte Raymond auf dem Weg nach oben. „Die meisten der Möbel stammen noch von ihm, behandle sie also gut, wir kaufen dir keine neuen.“ Anthony nickte verstehend. Langsam irritierte es ihn, dass der Direktor immer von wir sprach. Gab es vielleicht doch noch mehr Leute in der Kopfposition der Schule? Oder sprach er im Namen anderer? Er fragte nicht danach, sondern tat es schließlich einfach als Eigenart oder Tradition ab. Im siebten Stock angekommen durchquerten sie den Flur und kamen dabei an vielen Türen vorbei, hinter denen nichts zu hören war. Möglicherweise war wirklich niemand da. Anthony überlegte, ob er sich seinen Nachbarn zumindest auf dieser Etage vorstellen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. War es nicht schon genug, wenn er von seinen Mitschülern eventuell als Freak abgestempelt werden würde? Da konnte er es sich sparen, dass seine Nachbarn das auch tun würden. Am Besten war es wohl, wenn keiner von ihnen ihn kennenlernen würde. Raymond öffnete die Tür, an der Anthonys Name stand und bat ihn betont höflich hinein. Fast schon ehrfürchtig trat er in die Wohnung, die nun seine werden sollte. Allein schon der dunkelblaue Teppich – es war das erste Mal, dass er einen Teppich in einem Wohnzimmer sah – ließ ihn staunen. Am Liebsten hätte er sich auf den Boden gelegt, um festzustellen, ob er wirklich so weich war, wie er aussah. Rechts vom Eingang ging es direkt in die Küche, die groß genug war, um einer Kochzeile, einem Kühlschrank, einer Spülmaschine und einer Arbeitsplatte Platz zu bieten. Raymond öffnete den Kühlschrank und warf einen prüfenden Blick hinein. Noch ein wenig zurückhaltend strich Anthony über die Arbeitsplatte, so ganz konnte er noch nicht fassen, dass dies nun ihm gehören sollte. „Gut, sie haben den Strom angestellt, als sie die Lebensmittel gebracht haben.“ Anthony sah ebenfalls in den Kühlschrank. Abgepackte Wurst und Käse fielen ihm direkt ins Auge, genau wie eine Packung Milch – ansonsten war das Gerät leer. „Du kannst dir jederzeit selbst was kaufen“, erklärte Raymond, als er den Kühlschrank wieder schloss. „Monatlich bekommst du eine gewisse Summe überwiesen, von der erwartet wird, dass du sie dir einteilst – mehr bekommst du nicht.“ Er winkte Anthony mit sich ins Wohnzimmer, wo der Junge endlich seine Tasche und den Schwertkoffer ablegte. Auf einem Esstisch lag ein Umschlag auf einem Blatt Papier. Raymond hob beides hoch und machte sich an dem Umschlag zu schaffen. „Bevor du dich genauer umsiehst, erkläre ich dir hier noch einige Dinge. Das hier“ – er zog eine Karte hervor – „ist dein Schlüssel für das Haus und die Wohnung. Vergiss sie besser nicht. Sollte das doch mal passieren, kannst du einen Lehrer oder den Hausmeister bitten, dich wieder reinzulassen – aber mach das besser nicht zu oft, das wird alles vermerkt. Wenn du sie verlierst, kommst du zu mir, ich gebe dir eine Ersatzkarte und bestelle dir eine neue – das kostet dich dann aber eine gewisse Summe.“ Er reichte Anthony die Karte. Der Junge schluckte, als er sich das Plastik, auf dem sein Name und eine Nummer aufgedruckt war, ansah. Hoffentlich verliere ich sie wirklich nie, bislang hatte ich so etwas noch nicht. Raymond zog eine weitere Karte aus dem Umschlag. „Das hier wiederum ist deine Geldkarte. Damit kannst du in jedem Laden in Lanchest einkaufen und auch in Restaurants und Cafés bezahlen. Verlier sie besser nicht, diese Karte ist wesentlich teurer und es gibt keinen Ersatz, bis die neue Karte da ist – der einzige Schüler, dem das bislang geschehen ist, musste sich wochenlang bei seinen Mitschülern durchschnorren.“ Bei der Erinnerung daran rollte Raymond mit den Augen. Er übergab Anthony die Karte, wieder konnte der Junge sie nur ungläubig ansehen. Erneut fand er hier seinen Namen und diese Nummer vor, offenbar war es die Schülernummer von der dieser Wachmann gesprochen hatte. Es war eine absurd lange Zahlenfolge – wer sollte sich so etwas merken können? Als er merkte, dass Raymond darauf wartete, fortfahren zu können, steckte er die Karten hastig in sein Portmonee – sein erstes und einziges Geschenk seines Pflegeheims. Raymond gab ihm das Blatt Papier, das er noch in der Hand gehalten hatte. „Dies ist dein Stundenplan, halte dich so gut es geht daran. Solltest du einmal krank sein oder aus sonstigen Gründen nicht erscheinen können, ruf bitte im Sekretariat an und sag Bescheid. Die Nummer steht unter dem Plan – genau wie die Nummer deines Spinds in der Schule, so wie die Kombination dafür. Du findest deine Unterrichtsmaterialien in diesem Spind.“ Anthony nickte verstehend, Raymond wirkte darüber äußerst zufrieden. „Gut, dann mal weiter...“ Er machte eine ausholende Handbewegung, die das Wohnzimmer einschloss und dafür sorgte, dass der Junge sich weiter umsah. Vor einem Fernseher stand ein gemütlich aussehendes Sofa mit dunklem Polster, ein Schrank, ein Regal und ein Vorhang verbargen den direkten Blick auf ein Bett. Erleichtert stellte Anthony fest, dass dies kein billiges Bett aus Spanholz war wie im Pflegeheim, sondern tatsächlich aus teuer aussehendem und belastbaren Holz bestand. Als er sich wieder umdrehte, fiel sein Blick direkt auf eine Glastür, die auf einen kleinen Balkon hinausführte. Erstaunlicherweise konnte er direkt auf den Bahnhof sehen. Zuletzt machte Raymond ihn noch auf eine Tür aufmerksam, die in das kleine Bad führte – gut, es war eine kleine Nasszelle mit einem Waschbecken, einer Toilette und einer Dusche, aber für Anthony erschien es bereits wie ein Stück Himmel. Im Pflegeheim hatte es nur Gemeinschaftsduschen gegeben und selbst die Toiletten waren in einem großen Raum gewesen, nur durch Holzwände voneinander getrennt – man war nie wirklich allein gewesen. „Du siehst begeistert aus“, stellte Raymond zufrieden fest. „Bin ich, Sir“, bestätigte Anthony. Der Direktor lachte leise und amüsiert, als er wieder mit ihm zur Wohnungstür zurückging. Der Junge erkannte erst in dem Moment, dass ein weiteres Blatt an dieser hing. „Das ist die Hausordnung“, erklärte Raymond sofort. „Halte dich an sie, wenn du keinen Ärger bekommen willst. Die Hausmeister hier achten sehr genau auf die Einhaltung.“ Er verzog das Gesicht als erinnerte er sich daran, wie genau diese Hausmeister darauf achteten. Doch hastig schüttelte er den Kopf wieder. „Nicht so wichtig. Mhm, bevor ich gehe...“ Anthony seufzte innerlich, als er daran dachte, dass er gleich das erste Mal vollkommen allein sein würde, obwohl er sich gerade an die Anwesenheit des Mannes gewöhnt hatte. Die folgenden Worte schienen ihm allerdings extrem schwer zu fallen. „Im Namen meiner Frau... möchte ich dich heute bei uns zum Abendessen einladen. Sie möchte... dich unbedingt... kennenlernen.“ „Weswegen?“, fragte Anthony perplex. Er empfand sich selbst nicht unbedingt als unangenehmen Zeitgenossen, aber auch nicht als Person, die man unbedingt kennenlernen musste, weswegen es ihn brennend interessierte, wieso gerade die Frau des Direktors das wollte. Raymond schien nach den passenden Worten zu suchen. Je länger er mit der Antwort zögerte desto größer wurde der Verdacht in Anthony, dass der Direktor ihn nicht sonderlich mochte und ziemlich verärgert darüber war, dass seine Frau ihn zu so etwas drängte. „Ist schon okay, Mr. Lionheart“, sagte Anthony schließlich, um das zu beenden. „Sagen Sie Ihrer Frau doch einfach, es ginge mir nicht gut.“ Doch hatte er erwartet, dass Raymond davon erleichtert sein würde, wurde er davon enttäuscht: Der Direktor wurde lediglich blass um die Nase und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das ist schon in Ordnung, es stört mich nicht. Es könnte vielleicht eher dich stören, wenn du meine Töchter triffst.“ Er lächelte ein wenig verlegen, als Anthony den Kopf neigte. Er hat... Töchter? Gut, es überrascht mich schon, dass er eine Frau hat, aber auch noch Töchter? Sich räuspernd schob Raymond seine Brille zurück. „Jedenfalls will meine Frau dich kennenlernen, weil sie quasi jeden Schüler kennt. Sie ist Erzieherin bei den Kindergartenkindern – und nun von dem Gedanken besessen, dass sie auch jeden nachträglich dazugekommenen Schüler kennen müsste.“ Er lachte spöttisch, wobei Anthony das Gefühl überkam, dass es nur gespielt war. Aber möglicherweise redete er immer so über seine Familie, weil es ihm unangenehm war oder vielleicht mochte er sie auch nicht... Er konnte den Direktor schwer einschätzen. „Ähm, gut, unter den Umständen komme ich gern.“ Schon allein weil es sich nach einer guten Mahlzeit anhörte und genau das konnte er an seinem ersten Abend in dieser Stadt brauchen. Raymond lächelte deutlich erleichtert. „Gut, da wird sie sich freuen.“ Er reichte dem Jungen seine Visitenkarte und erklärte ihm, wie er am besten zu der angegebenen Adresse kommen würde, bevor er ihm die entsprechende Uhrzeit nannte. „Wenn du dann heute Abend kommst, erkläre ich dir, wie du morgen zur Schule kommst.“ „Vielen Dank, Sir.“ Der Direktor lächelte wieder amüsiert, offenbar gefiel es ihm, so respektvoll angesprochen zu werden. „Dann gewöhne dich ein wenig an deine neue Wohnung. Bis später.“ Als sich die Tür hinter ihm schloss, legte sich Stille auf Anthonys Ohren. Vollkommene, ungetrübte Stille, was ein Lächeln auf sein Gesicht zauberte. Er fuhr herum und schwebte geradezu ins Wohnzimmer hinüber. In einer Ecke konnte er zwei Kartons entdecken, in denen sich seine wenigen Habseligkeiten aus dem Heim befanden – sie waren immerhin bereits vor wenigen Tagen vorgeschickt worden und offenbar gut angekommen. Doch mehr als einen flüchtigen Blick warf er nicht darauf. Stattdessen ließ er sich auf das Sofa fallen und lehnte sich höchst zufrieden zurück. Dies war nun seine Wohnung – und das signalisierte den Beginn seines neuen Lebens. Kapitel 3: Familie Lionheart ---------------------------- Es erschien ihm fast schon unwirklich, als er seine Wohnung wenige Stunden später wieder verließ. Seine Wohnung... der Gedanke, so viel Furcht er ihm noch vor wenigen Stunden bereitet hatte, so glücklich machte er ihn nun. Eine eigene Wohnung bedeutete Freiheit und Ruhe, Dinge, die er zuvor nie wirklich gekannt hatte. Doch nun war er entschieden, es auszukosten solange es ging. Aber zuerst würde er das erste Familienabendessen genießen, an das er sich erinnerte. Während er durch die Straßen lief, betrachtete er interessiert, was es zu sehen gab. An der Straße reihten sich mehrere Läden und Lokale mit riesigen Schaufenstern. In jedem einzelnen gab es andere interessante Dinge, die Anthonys Blick auf sich zogen, doch er lief weiter, um rechtzeitig anzukommen. Aber er nahm sich vor, auf dem Rückweg stehenzubleiben. Die Leute, die vor den Geschäften standen, ignorierten ihn entweder und schenkten ihm nur hin und wieder einen flüchtigen, schmunzelnden Blick, ehe sie sich wieder auf etwas anderes konzentrierten. Vermutlich war man einen so außergewöhnlichen Anblick schon gewöhnt, immerhin war es eine große Stadt. Schließlich endete die Einkaufsstraße an einer Brücke, die über einen klaren Fluss führte. Während Anthony darüber lief, sah er zum Ufer des Gewässers – und blieb plötzlich stehen. Gras wurde von einer Schicht Kies abgelöst, die schließlich ins Wasser mündete. An einer Stelle lagen mehrere Felsen – und auf diesen befand sich das, was Anthonys Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein recht dünner, blonder Junge, der mit einer Angel auf den Felsen saß und stetig ins Wasser starrte. Er schien in seinem Alter zu sein, was auch der Grund für Anthonys Interesse war. Möglicherweise sah er dort gerade einen seiner neuen Mitschüler sitzen. Sollte er etwas zu ihm hinüberrufen? Nein, möglicherweise würde das seine Fische verscheuchen und ihn nur unnötig verärgern. Doch noch bevor er eine Entscheidung getroffen hatte, wandte der Blonde ihm den Blick zu. Den Gesichtsausdruck konnte er zwar nicht genau erkennen, aber scheinbar amüsiert lächelnd winkte er zu ihm hinüber. Nur zögernd erwiderte er das Winken. Schließlich wandte der Fremde sich wieder ab und starrte erneut aufs Wasser. Anthony beobachtete ihn noch einen Moment, bevor er sich daran erinnerte, dass er noch einen Termin hatte und seinen Weg fortsetzte. Direkt nach der Brücke begann das Wohngebiet, das überraschend still dalag, während er hindurchschlenderte. Er stellte sich vor, wie die Familien, die in diesen Häusern und Wohnungen lebten, gerade zusammensaßen und sich über die Woche unterhielten – taten Familien so etwas überhaupt? Er wusste es nicht und vermutlich würde er es auch nie erfahren. Um von den trüben Gedanken abzukommen, fragte er sich, wie die Frau des Direktors wohl war. Da sie Erzieherin war, bestand die Chance, dass sie eine äußerst strenge Person war – zumindest eine der beiden Erzieherinnen im Heim war es gewesen. Er erinnerte sich gern an die freundliche Erzieherin zurück, zu schade, dass sie in Rente gegangen war. Wenn die Frau des Direktors nur halb so nett war wie diese Erzieherin von damals, würde Anthony sie mögen – es kam nur noch darauf an, dass sie ihn auch mochte. Er schüttelte den Gedanken wieder ab. Sie würde nichts mit ihm zu tun haben, also kam es auch nicht darauf an, ob sie ihn mochte oder nicht. Viel interessanter war da doch: Wie waren seine Töchter? Und wie alt waren sie? Natürlich hatte Anthony nicht gefragt, aber er würde zu gerne mehr über sie wissen. Es schien dem Direktor unangenehm zu sein, dass er sie kennenlernen könnte, also mussten sie seltsam sein. Vielleicht waren sie... krank oder sonst etwas in der Art. Oder – Anthony musste grinsen, als er daran dachte – der Direktor fürchtete sich, dass sich eine seiner Töchter in ihn verlieben könnte, weswegen er ein solches Treffen verhindern wollte. Nein, das ist es bestimmt nicht. Aber der Gedanke ist lustig. Seine Neugier wuchs mit jedem Schritt weiter an und verdrängte seine Nervosität. Vor einem kleinen Haus blieb er schließlich wieder stehen. Er betrachtete den aus weißen Steinen bestehenden Weg, der zur Tür führte. Das Gebäude und der Vorgarten wirkten genauso spießig, wie man es von dem Direktor erwartete, doch Anthony gefiel es äußerst gut. Wie im Traum lief er auf die Tür zu. Nach einem kurzen Blick auf den Briefkasten – um sich zu vergewissern, dass es sich auch um das richtige Haus handelte – betätigte er die Klingel. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sich die Tür öffnete. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er in die warmherzigen braunen Augen der Frau sah, die ihm geöffnet hatte. Sie lächelte. „Guten Abend. Du musst Anthony sein.“ Ihre Ausstrahlung und ihre leicht dunkle Stimme ließen in ihm den Eindruck entstehen, dass sie eine junge Version seiner beliebten Erzieherin von damals war. Er nickte hastig. „Ja, genau.“ „Komm doch herein.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, damit er hineingehen konnte. Er folgte der Aufforderung ein wenig aufgeregt. Aus der Küche war das leise Brodeln von Wasser zu hören, ansonsten schien aber niemand da zu sein. „Tut mir Leid, Ray und die Mädchen sind noch etwas einkaufen gegangen.“ Ray? Oh ja, er sagte ja, sein Name wäre Raymond Lionheart. „Also sind wir erst einmal allein.“ Sie lächelte herzlich, was sämtliches Misstrauen, das noch nicht wurzeln konnte, direkt hinwegfegte. Er erwiderte dieses Lächeln sofort und folgte ihr, als sie ihn mit sich in die Küche winkte, wo sie ihn bat, an einer Theke Platz zu nehmen. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich weiterkoche?“ Sie deutete auf die Töpfe, in denen es immer noch lautstark brodelte. „Aber nein, nicht doch. Lassen Sie sich von mir nicht stören.“ Doch ehe sie sich dem Herd zuwandte, schlug sie sich gegen die Stirn. „Wo bleiben nur meine Manieren?“ Höflich reichte sie ihm ihre Hand. „Mein Name ist Alona Lionheart. Wie du inzwischen weißt, bin ich die Ehefrau des Direktors.“ Es kam ihm vor als müsste sie ein verlegenes Lachen unterdrücken, als sie das letzte Wort sagte. Offenbar fiel es ihr schwer, ihn in dieser Rolle zu sehen – oder sich selbst in der Rolle seiner Frau. Er schüttelte ihre dargebotene Hand und stellte sich überflüssigerweise selbst vor. Ob der Direktor schon etwas über mich erzählt hat? Schließlich wandte sie sich wieder dem Herd zu. Neugierig hob sie den Deckel eines Topfes und schnupperte. „Huh... ich bin ziemlich sicher, dass...“ Sie verstummte, als ihr bewusst wurde, dass ihr jemand zuhörte und machte sich sofort daran, den Inhalt zu würzen und umzurühren. Anthony wurde von plötzlichem Zweifel beseelt, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, hier zu essen. Offenbar konnte die Köchin nämlich gar nicht kochen. Nun gut... der Direktor wirkte nicht sonderlich krank... aber vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er nicht wollte, dass ich zum Abendessen komme. Alona räusperte sich vernehmlich. „Wie gefällt es dir bislang in Lanchest?“ „Ich habe noch nicht viel gesehen, aber bisher finde ich es gut. Ich war noch nie vorher in so einer großen Stadt, dementsprechend ist es auch aufregend.“ „Und dabei hast du bislang nur einen Teil davon gesehen. Von den Wohnheimen bis hierher wirst du wohl durch die alte Einkaufsstraße gegangen sein, hm? Die Stadt bietet aber noch einiges mehr. Vor allem ein ziemlich großes Kaufhaus und... nun, noch einige andere Dinge. Am besten findest du das alles mit ein paar Freunden heraus.“ Freunde, ja... aber die muss man erst einmal finden. Wenn er daran zurückdachte, hatte es in dem Heim, in dem er gewesen war, eigentlich keine Freunde gegeben. Jeder schien gegen jeden gewesen zu sein. Sie wandte sich wieder ihm zu, als sie wieder mit allem zufrieden war. „Ah, du hattest bislang noch keine Freunde, oder?“ Fragend hob er eine Augenbraue. Kann sie meine Gedanken lesen? „Oh, schau nicht so. Ich verrate dir mal etwas, aber das darfst du nicht meinem Mann sagen. Bei ihm bin ich mir nie sicher, was er geheim halten will und was nicht.“ Um seine Neugier wortlos zum Ausdruck zu bringen, stützte Anthony sich mit den Ellenbogen auf die Theke und beugte sich vor. Alonas schelmisches Lächeln nach zu urteilen, schien ihr das zu gefallen. „Ray ist ebenfalls ein Waisenkind, seine Eltern starben bei einem Brand. Er kam daraufhin in dasselbe Heim wie du.“ „Wirklich?“, fragte Anthony überrascht. „Er war allerdings nicht so lange dort wie du“, fuhr sie direkt fort. „Man stellte recht schnell fest, dass er überdurchschnittlich begabt ist und wurde deswegen vom Direktor der Lanchest-Akademie hierher geholt, wo er zum Söldner ausgebildet wurde. Im Heim war man anscheinend recht froh gewesen, ihn so schnell wie möglich loszuwerden.“ Darum empfand er die Kommunikation mit dem Heim also als unangenehm, er kannte einen Teil der Leute dort. „Aber darum geht es ja nicht. Ray erzählte mir jedenfalls, dass dieses Heim dafür bekannt ist, soziale Kontakte zwischen den Kindern zu unterbinden und zu torpedieren. Das ging vom Wegschicken von Kindern bis zur Gehirnwäsche.“ „Klingt... grausam...“ Er wollte sich gar nicht vorstellen, dass Menschen so etwas tatsächlich tun könnten. Andererseits waren die Leute in diesem Heim so kaltherzig gewesen, dass es gut möglich gewesen sein könnte. „Aber warum haben sie das getan?“ Ratlos hob Alona die Schultern. „Ich weiß es nicht... und Ray auch nicht.“ Gab es überhaupt einen tieferen Grund dafür? Möglicherweise hatte man nur verhindern wollen, dass sie sich gegen die Heimleitung verbündeten. Besser, er kümmerte sich nicht mehr darum, das alles lag hinter ihm, in seiner Vergangenheit. Alona lächelte wieder. „Übrigens hat Ray alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit du nach Lanchest kommen kannst, nachdem die Anfrage gekommen war – und er wollte dich sogar unbedingt selbst vom Bahnhof abholen. Ist er nicht ein ungemein feinfühliger Mann?“ So war er ihm zwar nicht vorgekommen, aber vielleicht schlummerte unter der Oberfläche des Direktors tatsächlich eine solche Person. Sehr lange geredet hatten sie immerhin nicht miteinander. Wieder schien es als ob sie seine Gedanken erraten hätte, sie lachte leise. „Ich weiß, er sieht nicht wirklich danach aus und ich habe mir sagen lassen, dass er bei der Arbeit sogar noch kühler wirkt, aber eigentlich ist er ziemlich emotional...“ Nachdenklich hielt sie wieder inne. „Sag ihm nicht, dass ich dir das gesagt habe.“ „Keine Sorge.“ Es kam ihm seltsam vor, mit dieser Frau, die er erst an diesem Tag kennengelernt hatte, so persönlich über einen Mann zu sprechen, für den dasselbe galt. Früher wäre ihm so etwas nie in den Sinn gekommen. Ob Alona allgemein so offen über ihren Mann sprach? Jedenfalls wusste er nun, warum er ausgerechnet in Lanchest gelandet war, obwohl das Heim mehrere Anträge versendet hatte und so manch andere Einrichtung ihn wohl auch nehmen wollte. Raymond musste einige Räder geschmiert haben, wie auch immer das gelaufen war. Für ihn selbst schien das alles viel zu kompliziert. Die Haustür wurde geöffnet, Raymonds Stimme erklang im Flur: „Ihr bekommt überragend viel Taschengeld, so wie freie Kost und Logis, warum sollte ich euch dann noch etwas kaufen?“ „Aber Dad!“, kam sofort der lautstarke Protest. „Kein Aber“, wehrte er direkt ab. „Lernt endlich, wie man...“ Er unterbrach sich abrupt, als er in die Küche trat und Anthony erblickte. Sofort kehrte er in die neutrale Professionalität von vorhin zurück – auch wenn es seinem Gast schwerfiel, ihm diese nach dem Kleidungswechsel zu glauben. Zwar wirkten der dunkle Pullover und die dazu passende Hose zwar immer noch spießig, aber weitaus weniger als der Anzug von vorhin. „Du bist pünktlich“, sagte der Direktor leicht lächelnd. „Gut für dich.“ Anthony stand sofort auf. „Guten Abend.“ Raymond nickte ihm nur zu und ging um die Theke herum, um Alona eine Tasche zu geben. Anthony blickte derweil zur Tür. Im ersten Moment glaubte er, doppelt zu sehen, doch bei genauerem Hinsehen erkannte er die Unterschiede zwischen den beiden Mädchen, die tatsächlich in seinem Alter zu sein schienen. Ihre schwarzen Haare hatten nicht ganz dieselbe Länge und auch ihre Augen unterschieden sich voneinander. Die blauen Iriden der einen blickten so kühl wie die von Raymond, die neugierigen braunen der anderen dagegen eiferten ihrer Mutter nach. Ansonsten waren Gesichtsform, Körperbau und im Moment sogar die Haltung der beiden genau dieselbe – und sie beide blickten ihm entgegen. Das Schweigen zwischen ihnen hielt solange an, bis Raymond wieder dazukam. „Anthony, das sind meine Töchter. Heather“ – er deutete auf die Braunäugige – „und Leen“ – er deutete auf die Blauäugige – „sie sind beide in deinem Alter und sogar in deiner Klasse. Mädchen, das ist Anthony.“ Beide sahen wortlos von ihrem Vater wieder zu dem Jungen, dem kalte Schauer über den Rücken liefen, als sie so synchron den Blick wandten. Da immer noch keine der beiden etwas sagte, hob er schließlich die Hand. „He...“ Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete er, dass er nun endgültig unten durch wäre bei den beiden, doch da begann Heather plötzlich zu lächeln. „Willkommen.“ Leen schnaubte leise und wandte den Blick zur Seite. „Hallo...“ Ihre Stimmen klangen ebenfalls ungeheuer ähnlich, doch auch abseits der Tatsache, dass die eine ihn herzlich begrüßte und die andere nicht, konnte er bereits sagen, dass Heathers Stimme ein wenig dunkler war, was sie etwas älter wirken ließ als ihre Schwester. „Mädchen, geht ihr mal den Tisch decken?“, bat Raymond. „Und nehmt Anthony mit.“ Beide nickten einstimmig, bedeuteten dem Jungen, ihnen zu folgen und gingen dann durch einen Durchgang in ein Esszimmer hinüber. Raymond sah ihnen mit gerunzelter Stirn hinterher. Als er sich sicher war, dass sie sich außer Hörweite befanden und noch dazu das Klappern von Geschirr vernehmbar wurde, wandte er sich Alona zu. „Und? Was denkst du?“ Ihr Lächeln hatte einem sorgenvollen Blick Platz gemacht, den er aber nicht sehen konnte, da sie mit dem Rücken zu ihm stand, um erneut im Essen zu rühren. „Ich hasse es, das sagen zu müssen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er es ist.“ Mit Erstaunen stellte er fest, dass ihre Stimme kaum merkbar zu zittern begonnen hatte. „Du kennst ihn kaum... und doch magst du ihn schon?“ „Ich kann mir nicht helfen... er wirkt so nett und naiv... und eigentlich genau wie du damals.“ Sein Gesicht nahm augenblicklich einen leicht rosa Schimmer an. „S-sag doch nicht so etwas. Das macht es mir nicht leichter...“ Erneut legte sie alles wieder auf seinen Platz, dann wandte sie sich ihm zu. „Du weiß ja noch nicht, was sie mit ihm vorhaben, oder?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Ich werde erst nachher zu ihnen gehen und mit ihnen reden. Mir war wichtig, dass du ihn dir vorher ansiehst. Als Hexe konntest du eher einschätzen, ob er der Richtige ist.“ „Ich wünschte nur, er wäre es nicht“, seufzte sie. Aufmunternd strich er ihr über den Arm. „Du hast doch gerade selbst gesagt, dass wir nicht wissen, was sie mit ihm tun wollen. Also lass uns abwarten und nicht den Teufel in den Wind malen.“ Trotz der bedrückten Stimmung in der Küche, begann sie zu lachen. „Man malt den Teufel an die Wand und nicht in den Wind.“ „Bist du sicher?“, fragte er mit gerunzelter Stirn. Sie nickte lachend und wandte sich wieder den Töpfen zu. „Kannst du nachsehen, wie weit die Kinder sind? Das Essen ist gleich fertig.“ Der Raum war gerade groß genug, um einem Tisch, mehreren Stühlen und einem Geschirrschrank Platz zu bieten. Ein Fenster zeigte in den Garten hinaus, doch Anthony hatte im Moment keinen Blick dafür. Er beobachtete stattdessen die beiden Zwillinge, die erstaunlich routiniert den Tisch deckten, offenbar machten sie das öfters. Ob sie wirklich jeden Abend miteinander aßen? In Büchern taten Familien das, war das im echten Leben auch so? Ein lautes Klirren lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Einer der Teller war zu Boden gefallen und dort zerbrochen. Beide Mädchen sahen für einen kurzen Augenblick irritiert darauf hinunter, dann kniete sich Leen hin und hielt eine Hand über die Scherben. „Ähm, soll ich... die Scherben wegräumen?“, fragte Anthony, nachdem er seinen Mut zusammengetrommelt hatte; da Leen nichts weiter tat, schien es ihm als würden die Mädchen die Scherben nicht anfassen wollen. Heather winkte ab. „Nein, nein. Sieh zu.“ Ein helles Leuchten ging von Leens Hand aus und hüllte die Scherben ein, die sich vor Anthonys erstaunten Augen wieder zu einem vollständigen Teller zusammensetzten. „W-wie hast du das gemacht?“ Leen nahm den Teller hoch und stellte ihn auf den Tisch, ehe sie sich Anthony zuwandte. „Das war ganz einfach, noch einfacher geht es eigentlich gar nicht mehr.“ Sie machte einen äußerst selbstgefälligen Eindruck, weswegen er gar nicht weiterfragen wollte – aber glücklicherweise sprang Heather direkt ein: „Unsere Mutter ist eine Hexe, wir haben daher einige der Fähigkeiten geerbt.“ Er wusste nicht viel über Hexen, gerade genug, um sich daran zu erinnern, dass sie die einzigen normalen Menschen waren, die Magie im Blut trugen und diese somit wirken konnten. Dass er einmal echten Hexen begegnen und sie nicht einmal als solche erkennen würde, hätte er zuvor nie gedacht. „Das ist... cool“, bekundete er ehrlich begeistert. Die Zwillinge lächelten leicht und beendeten das Tischdecken gerade als Raymond hereinkam. „Ah, ihr seid fertig“, stellte er zufrieden fest. „Das Essen ist auch gleich soweit. Alles okay, Anthony?“ Der Junge zuckte zusammen und wandte sich ihm sofort zu. „Ja, natürlich, Sir!“ Die Antwort kam schneller als er denken konnte, weswegen ihm das Sir, das von den Erziehern früher stets gefordert worden war, direkt mit herausrutschte. Raymond runzelte seine Stirn, sagte aber nichts dazu. Stattdessen ging er wieder hinaus. Leen schmunzelte. „Sir, huh? Papa mag es gar nicht, wenn man ihn so respektvoll anspricht.“ „Oh, wirklich nicht?“ Beim ersten Mal an diesem Nachmittag hatte er eher amüsiert gewirkt, statt genervt. „Das erinnert ihn wohl an irgend etwas“, stimmte Heather zu. „Also lass das in Zukunft besser.“ Anthony nickte sofort. Weiter sagen musste er nichts, denn Raymond und Alona kamen bereits mit dem Essen herein und stellten dieses auf den Tisch. „Setzt euch“, forderte die Erzieherin die anderen auf. „Und lasst es euch schmecken.“ Drei Stunden, viel Essen und belanglose Gesprächsthemen später, verabschiedete Anthony sich von den Lionhearts, bekam noch die Anweisung, vorsichtig zu sein mit und begab sich wieder auf den Weg zurück in seine Wohnung. Der Geschmack der Suppe, des Entenfleischs, der Soße, der Klöße und des Rotkohls lag ihm noch auf der Zunge und bildete eine interessante neue Geschmacksrichtung. Alona schien also trotz ihres Verhaltens in der Küche zuvor eine durchaus sehr gute Köchin zu sein. Raymond hatte ihm noch gesagt, dass sie so etwas nicht jeden Abend aßen, aber dass sie das Abendessen tatsächlich immer gemeinsam einnahmen. Ein wenig beneidete er die Familie darum, aber was sollte er machen? Er hatte immerhin keine eigene Familie und er konnte schlecht jeden Abend bei den Lionhearts essen, wobei ihm das durchaus gefallen würde. Mit verstreichender Zeit war sein Wohlbefinden gewachsen, am Liebsten wäre er gar nicht gegangen. Selbst Leen schien mit der Zeit ein wenig aufgetaut zu sein, bei genauerem Hinsehen war sie gar nicht so unterkühlt wie sie sich gab. Aber je mehr Zeit vergangen war desto unwohler schien es Raymond und Alona zu werden. Wenn ich nur wüsste, weswegen... vielleicht mögen sie mich ja gar nicht... Nein, sie schienen ein wenig traurig zu sein, als ich wieder gegangen bin. Es war noch nicht ganz dunkel, aber dennoch brannten die Straßenlampen, was ein seltsames, traumgleiches Ambiente in Anthonys Augen schaffte und es ihm erlaubte, seine aufgestellten Nackenhärchen zu ignorieren. Vergnügt folgte er der Straße, bis er wieder zur Brücke kam. Automatisch ging sein Blick wieder zum Fluss, doch der Junge von vorhin war weg. Ob sein Angelversuch erfolgreich gewesen war? Warum frage ich mich so etwas überhaupt? Mir kann es ja egal sein. Bei den Quartieren angekommen, dauerte es einige Minuten, bis er das richtige Haus gefunden hatte, da er sich zuvor die Nummer nicht eingeprägt hatte. Doch schließlich betrat er seine Wohnung wieder, die ihn mit ihrem Geruch nach Neuem begrüßte. Sein Blick fiel auf den Stundenplan, der immer noch auf seinem Esstisch lag. Heather hatte sich zuvor bereit erklärt, ihn am nächsten Morgen zur Schule zu begleiten, so dass er sich zumindest darum keine Gedanken machen musste. Dafür kam schlagartig die Angst wieder, die sein Inneres mit Eiswasser füllte, so dass sein Magen sich augenblicklich zusammenzog. Er würde ganz neu auf dieser Schule sein, er würde außer Heather und Leen niemanden in seiner Klasse kennen. Wie würden die anderen auf ihn reagieren? Er hoffte, dass sie ihn zumindest ignorieren würden, wenn sie ihn schon nicht mochten. Doch schließlich schob er all diese Bedenken beiseite und beschloss, ins Bett zu gehen, um am nächsten Morgen auch ausgeschlafen zu sein, wenn er denn schon abgeholt wurde. Die Erschöpfung machte sich langsam bemerkbar, als er sich umgezogen und die Zähne geputzt hatte. Schließlich ließ er sich ins Bett sinken und war innerhalb kurzer Zeit eingeschlafen. Hätte Anthony geahnt, dass er in diesem Moment von drei Personen auf einem Monitor beobachtet wurde, wäre sein Schlaf mit Sicherheit nicht so tief und friedlich ausgefallen. Der Raum war in Dunkelheit getaucht, lediglich der Monitor der kompliziert aussehenden elektrischen Anlage tauchte alles in ein geisterhaftes Licht. Auf einen Knopfdruck der blonden Frau, die als einzige der Anwesenden saß, sprang ein weiterer Monitor an, auf dem kryptische Zeichen erschienen. „Kein Zweifel“, sagte der jung aussehende Mann, der wie gebannt auf das Gerät starrte. „Er ist es.“ Raymond schluckte schwer. „Und wie geht es nun weiter?“ Die Situation behagte ihm nicht und dass er den arglos schlafenden Anthony beobachten konnte, half ihm nicht weiter, sondern ließ die Stimme seines schlechten Gewissens lauter werden. Der andere löste den Blick vom Monitor und sah zu Raymond. Das sanfte Lächeln auf seinem Gesicht, das seine Augen nicht erreichte, konnte den Direktor auch nicht beruhigen. „Erst einmal werden wir ihn beobachten“, antwortete der Mann. „Du sagtest, er zeigt keine Anzeichen für Aggressivität, also ist es besser, wenn wir abwarten, statt überstürzt zu handeln.“ Raymond verkniff sich das erleichterte Ausatmen, nahm sich aber vor, zu Hause Alona davon zu erzählen, damit sie auch erleichtert sein konnte. „Wie lange werdet ihr ihn beobachten?“ Die Frau drehte ihren Stuhl zu ihnen, amüsiert legte sie die Fingerspitzen aneinander als ob sie das alles nur für ein Spiel halten würde. Selbst ihre blauen Augen glitzerten vergnügt. „So lange wie nötig. Sobald er Anzeichen für Aggressivität zeigt, werden wir ihn in Gewahrsam nehmen und dann entscheiden, wie es weitergeht.“ Ihre Worte beruhigten Raymond ein wenig. Es war also noch nicht hoffnungslos für Anthony, irgendwie würde er den Jungen da durchlotsen können, da war er sich sicher. Er galt nicht umsonst als intelligent, er würde sich etwas einfallen lassen, um ihm zu helfen. „Ich weiß, dass dir das alles unangenehm ist“, fuhr der andere Mann fort. „Aber ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet, dass du dich dennoch darauf eingelassen hast, Raymond.“ Höflich verbeugte er sich vor dem Direktor, der peinlich berührt abwinkte. „Lass gut sein, bitte. Ich schuldete dir etwas und das alles ist außerdem sehr wichtig, ich weiß. Aber bitte... versucht zu vermeiden, ihm etwas anzutun.“ Der Andere nickte. „Selbstverständlich. Es liegt mir fern, ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Solange es einen anderen Weg gibt, werde ich diesen beschreiten.“ Die höflichen Worte des anderen, die Raymond inzwischen so vertraut waren, legten sich wie Balsam auf seine Seele und ließen die Stimme seines schlechten Gewissens leiser werden. „Gut“, sagte die Frau schließlich. „Wenn wir das jetzt abgehakt haben, können wir das alles ja besiegeln, nicht wahr?“ Sie stand auf und stellte nach einem letzten Blick auf die Monitore eben diese beiden ab. Lächelnd wandte sie sich wieder den beiden Besuchern zu, ihr langes blondes Haar wirbelte dabei herum. „Lasst uns etwas trinken, Observationen machen mich immer ziemlich durstig.“ Raymond seufzte, lächelte dann aber. „In Ordnung, aber nicht zu lange, ja? Ich muss morgen wieder in die Schule.“ „Du bist der Direktor, mein Bester – ist doch egal, ob du zu spät kommst. Das ist doch der Vorteil, der Chef zu sein.“ Der Andere verzog sein Gesicht. „Ist das der Grund, warum du in deinem eigenen Café nie auftauchst?“ „Ich war erst letzte Woche dort“, verteidigte sie sich. Raymond hob hastig die Hände. „Ganz ruhig, ganz ruhig. Können wir dann? Ich muss meinen Job ernstnehmen – besonders da meine Vertretung aktuell krank ist.“ Die Frau schnitt den beiden eine Grimasse und ging dann gemeinsam mit ihnen davon. Als der Raum verlassen war, wurde keiner mehr Zeuge davon, wie die Anlage sich scheinbar selbst noch einmal in Gang setzte – nur um ein statisches Rauschen anzuzeigen und dann urplötzlich wieder auszufallen. Kapitel 4: Am Morgen -------------------- Vor lauter Aufregung über das Kommende, war Anthony am nächsten Morgen bereits eine Stunde zu früh aufgewacht. Diese zusätzliche Zeit war allerdings auch dringend nötig, denn es dauerte, bis er in seiner neuen Küche das Brot und die Messer gefunden hatte, um sich etwas zu essen zu machen. Auf eine Tasse verzichtete er allerdings, da ihm die Nerven fehlten, diese auch noch zu suchen. Stattdessen trank er die Milch direkt aus der Flasche, in der er sie im Kühlschrank gefunden hatte. Er vermied es tunlichst, daran zu denken, wie der Tag wohl ablaufen würde, sondern stellte sich lieber vor, was er gerade tun würde, wenn er noch im Heim wäre. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sie höchstwahrscheinlich gerade alle damit beschäftigt wären, ihre Betten zu machen, eine der angenehmsten Dinge am Tag. Er blickte auf sein neues Bett, das immer noch so dalag, wie er es verlassen hatte. Allein das stellte schon ein aufregendes Stück Freiheit dar, die er bislang nie hatte kennenlernen dürfen. Kaum hatte er das Brot aufgegessen, machte er sich daran, sich anzuziehen und dann schließlich doch noch das Bett zu machen. Nach all den Jahren machte es ihn doch zunehmend nervös, wenn Decke und Kissen zerknüllt dalagen. Das Gefühl, dass seine Erzieher ihm im Nacken saßen, war immer noch allgegenwärtig – außerdem gab es auch die Möglichkeit, dass jemand von der Akademie vorbeikommen würde, während er nicht da war und ihm stand nicht der Sinn danach, sich in einem schlechten Licht zu präsentieren. Als er dabei an seinem Schrank vorbeikam, überlegte er, sich die Schuljacke anzuziehen, die sich darin befand. Doch ein kurzer Ausflug auf seinen Balkon riet ihm dagegen. Der warme Wind reichte vollkommen aus, alles Weitere wäre zu viel gewesen. Nervös blickte er auf die Uhr. Es war noch zu früh, loszugehen, aber wenn er die Treppe nehmen würde, wäre das mit Sicherheit in Ordnung – und außerdem war es besser, zu früh unten zu warten als zu spät zum Treffpunkt zu kommen. Mit seiner Schultasche in der Hand, in der sich allerlei Schreibuntensilien befanden, begab er sich schließlich auf den Weg nach unten. Im Gegensatz zum vorigen Tag waren an diesem Morgen überraschend viele Stimmen im Haus zu hören. Einige schienen aufgeregt, andere eher missmutig, aber bei allen drehte sich das Gesprächsthema um den heutigen Schultag. Selbst als er durch die Tür nach draußen trat, riss die Geräuschkulisse nicht ab. Freunde trafen sich offenbar auf dem Weg zur Schule, die meisten plauderten dabei vergnügt, selbst wenn es darum ging, dass man die Hausaufgaben vergessen hatte und mit Sicherheit wieder zum stellvertretenden Direktor geschickt werden würde deswegen. Ist er so beliebt, dass alle... Schülerinnen... zu ihm wollen? Tatsächlich waren es hauptsächlich Mädchen, die einem solchen Treffen äußerst positiv gegenüberstanden. Allerdings wurden sie allesamt negativ überrascht, sobald einer ihrer Freunde sie daran erinnerte, dass Mr. Chandler aktuell krank und deswegen nicht bei der Arbeit wäre. Unter all diesen Schülern erkannte Anthony den Jungen wieder, den er am Tag zuvor beim Angeln beobachtet hatte. Er lief mit vor der Brust verschränkten Armen neben einem braunhaarigen Mädchen her, beide wirkten ziemlich übel gelaunt, weswegen Anthony der Versuchung widerstand, die Hand zum Gruß zu heben, als der Junge zu ihm herübersah. Der Blonde sagte etwas zu dem Mädchen neben sich, worauf sie ebenfalls einen kurzen Blick zu ihm warf, sich aber sofort wieder abwandte. Unbewusst griff Anthony sich an sein Haar, seine Augen huschten zwischen den anderen Schülern umher, denen er aufgefallen war. Allerdings schien sich keiner von denen wirklich mit seinem Haar aufzuhalten. Von den Gesprächsfetzen, die er mitbekam, interessierte es alle wohl vielmehr, in welche Klasse er kommen würde. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er Heather erst bemerkte, als sie ihm vorsichtig auf die Schulter tippte. Überrascht zuckte er zusammen, atmete jedoch erleichtert aus, als er sie erkannte. „Ah, du bist es. Guten Morgen.“ „Guten Morgen“, grüßte sie zurück. „Gut zu sehen, dass du schon hier bist – ich warte nur ungern.“ Das dachte ich mir. „Also komm.“ Sie winkte ihn mit sich. Der Schulweg führte durch ein Viertel mit allerlei kleineren Restaurants, Cafés, Snackbars, Bäckereien und auch dem ein oder anderen Kiosk. Da die Schüler viel Geld besaßen, wollte man diese wohl in die Geschäfte locken – und zumindest bei Anthony funktionierte es sogar. In der ein oder anderen Bäckerei wurde gerade gebacken, der herrliche Duft von Zimtbrötchen erfüllte die Luft in einigen Metern Umkreis. Am Liebsten hätte Anthony direkt innegehalten, um eines zu kaufen, doch Heather lief unbeeindruckt immer weiter und er traute sich nicht, sie darum zu bitten. Außerdem wusste er nicht, wie das mit der Geldkarte funktionierte und er wollte weder sich noch einer Verkäuferin am frühen Morgen schon so viel Stress aussetzen. Dass die Verkäufer in der Gegend Erfahrung im Umgang damit hatten, vergaß er in dem Moment völlig. Am Ende des Viertels erblickte er schließlich die Akademie, so wie sie auch auf dem Deckblatt der Broschüre zu sehen gewesen war. Jenseits einer hohen Mauer erstreckte sich ein riesiges Grundstück, auf dem ein burgähnliches Gebäude in die Höhe ragte. So alt wie es wirkte, passte das neue Haus direkt daneben so wie die Mauer davor absolut nicht ins Bild. Aus der Broschüre wusste Anthony, dass das neue Gebäude ein Wohnheim war – das musste für die jüngeren Schüler sein. Direkt gegenüber davon befand sich ein riesiges Gewächshaus, dessen Wände aus undurchsichtigem Milchglas bestanden, was Anthony ein wenig seltsam vorkam. Am Liebsten hätte er Heather danach gefragt, doch sein Mut reichte nicht aus, um sie anzusprechen und seine Neugier war noch lange nicht groß genug dafür, um die Differenz auszugleichen. Kaum betrat man die Burg durch den Haupteingang, kam man in eine Halle, von der aus zwei Gänge nach rechts und links abgingen, während eine breite Treppe nach oben führte. Helles Sonnenlicht fiel durch ein kunstvoll gestaltetes riesiges Fenster und erzeugte ein beeindruckendes Muster auf dem Boden. An den Wänden hingen die blauen Banner der Schule gemeinsam mit denen der Stadt Lanchest – in einer Ecke entdeckte Anthony sogar die gestreifte Flagge, die vor einigen hundert Jahren noch für das ganze Land genutzt worden war. Das Stück Stoff wirkte schwer mitgenommen, die Ränder waren ausgefranst, die Farben schwer verblasst, aber immerhin hatte sich jemand die Mühe gemacht, sie fein säuberlich mit einem Rahmen zu versehen und in der Halle aufzuhängen. Heather ergriff Anthonys Ärmel. „Deine Schranknummer...“ Sein irritierter Blick traf ihren leicht gleichgültigen. Wären ihre braunen Augen nicht gewesen, hätte er in diesem Moment geglaubt, Leen vor sich zu haben. Aber vielleicht hatte sie nur schlecht geschlafen oder es störte sie, dass er den ganzen Weg über keinen Ton gesagt hatte. Er sagte ihr die Nummer, worauf sie wieder zu lächeln begann. „Das ist genau neben meinem.“ „Oh, wirklich?“, fragte er erfreut, wofür er sich am Liebsten direkt eine verpasst hätte. Was war das denn für eine Frage? Sie schmunzelte deutlich amüsiert, ehe sie wieder vorausging. Im Laufen erklärte sie ihm knapp wo sich die wichtigsten Orte in der Schule befanden, während sie gleichzeitig damit beschäftigt war, die Begrüßungen der anderen Schüler zu erwidern. Sie schien es ganz und gar nicht zu kümmern, dass einige von ihnen ihren Begleiter neugierig musterten – diesen irritierte es allerdings. Mit so viel realer Aufmerksamkeit war er bislang noch nie konfrontiert gewesen, wenn man von dem kurzen Moment im Bahnhof am Vortag absah, aber das war wesentlich schneller wieder abgeklungen. Eintönig graue Spinde reihten sich an der Wand entlang. Einige waren geöffnet, so dass Anthony sehen konnte, dass der entsprechende Schüler das Innere recht farbenfroh dekoriert hatte, während andere Bilder oder Zeitungsausschnitte angebracht hatten. Das ist so... individuell... vielleicht sollte ich das auch tun. Wobei Individualität bislang nie seine große Stärke gewesen war. An einem bestimmten Spind blieben sie wieder stehen. Heather klopfte auf die blecherne Tür. „Das hier ist deiner. Merk dir das gut, manchmal hast du nicht viel Zeit, um erst danach zu suchen.“ „Danke, Heather.“ Mit einem Lächeln machte sie sich an ihrem eigenen Spind zu schaffen, während Anthony zum ersten Mal seinen öffnete. Das Innere war steril und leer, genau wie sein bisheriges Leben. In einem der zwei Fächer lagen die von Raymond angekündigten Unterrichtsmaterialien; sechs Bücher, für sieben Unterrichtsfächer. Das siebte erforderte kein Buch, sondern nur das Schwert, das im Moment noch bei ihm zu Hause lag. „Oh ja“, sagte Heather plötzlich. „Diese Woche wird dein Stundenplan noch nicht so vollgepackt sein. Der Praxisunterricht fällt aus, weil Mr. Chandler krank ist.“ Er konnte das Augenrollen quasi aus ihren Worten heraushören, sie war wohl nicht sehr überzeugt von dieser Krankheit. „Aber vielleicht ist das auch ganz gut so. Hast du Erfahrung mit dem Kämpfen? Nein? Dann solltest du dir vielleicht von jemandem die Grundlagen beibringen lassen, bevor Mr. Chandler wiederkommt. Er kann manchmal ziemlich fies sein. Aber, mhm, wer wäre dafür geeignet?“ Nachdenklich neigte sie den Kopf, ihre Hände sortierten derweil automatisch die erforderlichen Dinge für den Unterricht, um diese in ihre Tasche zu packen. „Schwertkämpfer sind nicht unbedingt an der Tagesordnung, wir haben eher ausgefallene Waffen. Aber... meine kommt dem ziemlich nahe.“ Er sah sie fragend an, was sie wieder zum Lächeln brachte, als sie es bemerkte. „Ich kämpfe mit einem Schiavona, ein zweischneidiges Schwert, das eher an einen Degen erinnert.“ Da er sich nichts darunter vorstellen konnte, blieb sein Blick fragend. „Schon gut. Du wirst es sehen, wenn ich versuche, dir etwas beizubringen.“ „Du willst das wirklich tun?“, fragte er erfreut. Seine aufkommende Euphorie schien sie wieder abzuschrecken, ihr Gesicht verfinsterte sich, aber sie nickte dennoch. „Irgendjemand muss dir ja zeigen, wie das alles geht, wenn du es schon nicht selbst kannst.“ Ihr abwertender Ton ließ ihn seine Entscheidung bereits bereuen, aber er würde auch nicht mehr zurücktreten. Irritiert war er von ihren Stimmungsschwankungen dennoch – vielleicht hatte er aber auch nur zu wenig Erfahrung mit Mädchen, möglicherweise war das vollkommen normal bei ihnen. „Gut, dann gehen wir jetzt ins Klassenzimmer.“ Eilig schnappte er sich seine eigenen Bücher, ehe er den Spind wieder schloss und gemeinsam mit Heather weiterging. Sie führte ihn zu einer weiteren Treppe, die in den ersten Stock führte. An den Wänden waren Bilder angebracht, die ganz offensichtlich alte Absolventen der Akademie zeigten. Wie lange gibt es diese Akademie eigentlich schon? Das kann ich mir nie merken... Nach dem eher altertümlichen Ambiente der Schule, war er vom Anblick des Klassenzimmers durchaus überrascht. Die Pulte wirkten erstaunlich wuchtig, was – wie Anthony nach kurzem Umsehen herausfand – daran lag, dass man jeden einzelnen aufklappen konnte, so dass ein Monitor und eine Tastatur zum Vorschein kamen. „Wofür braucht man so etwas?“ Heather brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, was er meinte. „Das ist ein Computer. Im Idealfall hilft er einem bei der Arbeit. Du solltest auch einen zu Hause haben... irgendwo... Papa legt viel Wert darauf, dass die Schüler damit umgehen können.“ „Ah, verstehe...“ Im Heim war er nur selten mit Computern in Berührung gekommen, die Erzieher hatten es stets als überflüssig erachtet, dass ihre Schützlinge mit so etwas umgehen konnten. So viel, was ich lernen muss... Die anderen Schüler, die bereits da waren, blickten neugierig zu ihnen hinüber. Heather ignorierte das allerdings, ihr eigener Blick blieb auf ihn fixiert. „Normalerweise würde der Klassenlehrer dich bei Unterrichtsbeginn vorstellen, aber Mr. Chandler ist, wie ich erwähnte, nicht da. Mr. Oyuki übernimmt daher die erste Stunde, so dass wir nachher früher gehen können.“ „Das wäre... Geschichte, nicht wahr?“ Heather nickte zustimmend, sie seufzte. „Geschichte am frühen Morgen... was für ein Spaß... Jedenfalls...“ Prüfend blickte sie auf einige der noch unbesetzten Pulte, bis sie auf einen bestimmten zeigte. „Das hier ist dein Platz.“ Auf einer kleinen am Pult angebrachten Plakette stand tatsächlich sein Name. Er bedankte sich leise und setzte sich schließlich zum ersten Mal an diesen Platz. „Mein Pult ist weiter hinten“, sagte sie unaufgefordert. „Der Unterricht beginnt gleich, aber wenn es noch etwas gibt, kannst du mich fragen.“ Er nickte zustimmend, worauf sie davonging und ihn alleinließ, den neugierigen Blicken der anderen Schüler ausgesetzt. Inmitten all der anderen, die sich leise miteinander unterhielten, fühlte er sich plötzlich ungemein einsam, mehr als je zuvor. Würde er überhaupt je Anschluss finden? Vielleicht sollte er sich einfach zu einem der anderen setzen und mit ihnen sprechen, aber gleichzeitig fürchtete er sich über eine ablehnende Reaktion, gefolgt von der ewigen Isolation. Besser er blieb einfach sitzen und wartete darauf, dass der Unterricht anfing. Nach wenigen Minuten – die dem gelangweilten Anthony wie Stunden vorkamen – kam Leen gemeinsam mit einem Jungen herein. Er konnte nicht anders als diesen aufgrund seines Haars anzustarren. Es war vollkommen weiß, so wie Schnee, ohne jede graue oder andersfarbige Strähne, einfach... makellos, wie es ihm bislang noch nie untergekommen war. Missbilligend richteten sich die eisblauen Augen des Jungen auf ihn, er erwiderte Anthonys Blick über den Rand seiner Brillengläser – aber er sagte nichts, was die ganze Situation unwirklich erscheinen ließ. Anthony glaubte, etwas in den Augen des anderen sehen zu können, aber die Bilder verschwanden immer viel zu schnell als dass er seinen Verdacht erhärten konnte. Vielleicht waren es auch nur durch die Brillengläser erzeugte Spiegelungen. Als die Stille schwer auf Anthonys Ohren zu lasten begann, bemerkte er, dass alle anderen Anwesenden verstummt waren und gebannt das Blickduell der beiden beobachteten. Sofort senkte Anthony das Gesicht und sah wieder auf seinen Pult hinunter. Leen zischte dem Jungen etwas zu, worauf das Leben auch wieder in die anderen Schüler zurückkehrte und die Gespräche erneut einsetzten. Ohne sich umzusehen wusste er, dass sowohl Heather als auch Leen und dieser Junge, die alle hinter ihm saßen, ihn ansahen. Er konnte ihre Blicke in seinem Rücken brennen spüren, doch er widerstand dem Impuls, sich umzudrehen und zu fragen, was sie wollten. Sie würden wohl ohnehin nicht antworten. Er versuchte, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, doch seine Gedanken wandten sich nur trübseligen Themen zu, weswegen er umso erleichterter war, als eine Klingel zweimal wenige Minuten hintereinander erklang und sich das Klassenzimmer weiter füllte. Ein braunhaariges Mädchen, das kurz vor dem zweiten Klingeln hereinkam, erkannte er als jenes wieder, das vorher mit diesem blonden Jungen unterwegs gewesen war. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Das dringende Gefühl, sich für etwas Schlimmes entschuldigen zu müssen, überkam Anthony plötzlich. Er war sich sicher, sie an diesem Tag das erste Mal zu sehen, aber dennoch glaubte er, ihr etwas Schlimmes angetan zu haben. Doch bevor er das weiter erörtern konnte, wandte sie ihr Gesicht wieder ab, um sich zu setzen und das seltsame Gefühl verflog. Ging der blonde Junge nicht in diese Klasse? Der Gedanke enttäuschte ihn ein wenig, auch wenn er nicht genau wusste, weswegen. Er kannte den Jungen nicht einmal und möglicherweise war das gestrige Winken mehr eine spöttische denn eine freundliche Geste gewesen, aber Anthony hätte dennoch zumindest gern seinen Namen gewusst. Vielleicht sollte er irgendwann einfach dieses Mädchen fragen – sobald er wusste, wie sie hieß. Obwohl noch Plätze frei waren, kam kein Schüler mehr herein, dafür aber offenbar der Lehrer, ein verschlafen wirkender Mann mit blauem Haar, der wohl am Liebsten irgendwo anders gewesen wäre – nur nicht in diesem Klassenzimmer. Sofort verstummten alle Schüler. Als der Lehrer vorne an seinem eigenen Pult stand und einen Blick in die Runde warf, brachte er tatsächlich ein müdes Lächeln zustande. „Guten Morgen, meine Lieben. Herrlicher Tag, nicht wahr?“ Er sah müde umher, bis seine Augen sich auf Anthony hefteten. „Oh, du musst der Neue sein.“ Schlagartig wandten sich alle Blicke wieder ihm zu, worauf er ein wenig tiefer auf seinem Stuhl sank. „Ja, genau.“ Das Sprechen fiel ihm schwer, sein Mund war plötzlich ungewöhnlich trocken, am Liebsten hätte er etwas zu trinken gehabt, Brennnesseltee wenn es sein musste, Hauptsache, es reichte, um seine Kehle wieder zu befeuchten. „Hilf mir auf die Sprünge“, meinte der Lehrer. „Wie war dein Name nochmal?“ „Anthony Branch.“ Das Gesicht des Lehrers hellte sich schlagartig auf. „Ah, genau. Aus dem Peligro Waisenheim, nicht wahr?“ Ein erstauntes Raunen ging durch die Reihen der Schüler. Zwischen den gemurmelten Wörtern, die darauf folgten, konnte Anthony lediglich „Wie hart“ und „Armer Kerl“ heraushören. War das Heim hier etwa so berüchtigt? „Dann wirst du mit Sicherheit keine Probleme mit dem Unterricht hier haben – bei uns ist das alles viel leichter und die Lehrer sind auch um einiges netter.“ Anthony verspürte den Impuls, den Lehrer zu fragen, woher er das wissen wollte, aber erstens wäre das unhöflich gewesen und zweitens gab es mit Sicherheit einen Grund dafür. „Mein Name ist übrigens Mr. Oyuki – ich bin Geschichtslehrer.“ Plötzlich lachte er. „Natürlich ist mein Vorname nicht Mister, sondern Leon... aber das tut ja nichts zur Sache, nicht wahr?“ Warum erwähnst du es dann überhaupt? Anthony stellte die Frage nicht laut, die anderen Schüler seufzten leise und rollten mit den Augen – offenbar machte er solche Scherze öfter, so oft, dass die anderen inzwischen müde waren davon. Er konnte das nur allzugut nachvollziehen. „Gut, hätten wir die Vorstellung des Neuen abgehakt... und wo ist Marc?“ Leons Blick fiel auf den freien Platz direkt neben Anthony. „Er hat sich nicht krankgemeldet, oder?“ „Passiert vielleicht noch“, meinte das braunhaarige Mädchen, das am Morgen mit dem Blonden zur Schule gelaufen war. „Ich hab ihn auf die Krankenstation gebracht, weil er meinte, es geht ihm nicht gut.“ „Was ist es denn heute?“ Leons Seufzen und der resignierte Tonfall seiner Frage verrieten, dass so etwas wohl häufiger vorkam. Das Mädchen hob die Schultern, antwortete aber dennoch: „Wohl eine Magenverstimmung oder Lebensmittelvergiftung oder so was. Jedenfalls war ihm ziemlich übel.“ Der Lehrer schien etwas zu zählen. „Ist es schon wieder Monatsende?“ Anthony überlegte, was das damit zu tun haben könnte, dachte sich dann aber, dass es wohl mit dem Geld auf der Karte zusammenhing. Dieser Marc war wohl keiner von der sparsamen Sorte. „Na ja, dann fangen wir eben ohne ihn an.“ Leon zuckte mit den Schultern, dann griff er in seine Tasche und angelte zielsicher ein Buch hervor, das er direkt aufschlug. „Nun, beim letzten Mal blieben wir... bei der Gründung Drakanis stehen...“ Dra... was? Anthony hörte dieses Wort das erste Mal in seinem Leben. Der Geschichtsunterricht im Heim hatte an einer ganz anderen Stelle geendet... oder diese hier übersprungen... er wusste es nicht, da er das Wort nirgends einordnen konnte. Doch noch bevor er sich weiter damit beschäftigen musste oder gar von jemand erfahren konnte, wo es eingeordnet werden musste, öffnete sich erneut die Tür. Der blonde Junge kam herein, er wirkte blass und wenn man ihn aus der Nähe betrachtete, sah er sogar ein wenig zu mager aus, um als gesund durchzugehen. Allerdings war er auch recht groß, möglicherweise war das sein normaler Körperbau. Die Tasche, deren Gurt straff gespannt um seinen Hals hing, wirkte dadurch allerdings noch schwerer und wuchtiger, so dass Anthony sich spontan fragte, wie er damit sein Gleichgewicht halten konnte. „Tut mir Leid, dass ich zu spät bin“, sagte er mit einem angenehm humorvollen Ton in der Stimme, der verriet, dass er das alles nicht allzu ernst nahm. „Ich hab eine Bestätigung von Dr. Dumont, dass ich bei ihm war, falls-“ „Schon gut“, sagte Leon und winkte dabei ab. „Rena hat schon gesagt, dass du auf der Krankenstation warst. Setz dich endlich, Marc, damit wir anfangen können.“ Der Junge setzte sich neben Anthony, den er erst in diesem Moment wahrzunehmen schien. Er lächelte ihm freundlich entgegen, schwieg allerdings, da Leon bereits mit dem Unterricht fortfuhr. Doch Anthonys Gedanken waren ganz woanders, als er Marcs Lächeln erwiderte. Ihn überkam das Gefühl, endlich den notwendigen Mut aufbringen zu können, eine Freundschaft zu schließen – und das bei der erstbesten Gelegenheit. Kapitel 5: Master ----------------- Den ganzen Morgen über plagte Anthony sich mit Unterrichtsstoff, von dem er das erste Mal etwas hörte. Lediglich im Biologieunterricht konnte er sich vage daran erinnern, dass seine Lehrer diese Themen ebenfalls gestreift hatten. Neben den neuen Inhalten musste er sich außerdem an die neuen Lehrer gewöhnen und deren Namen lernen. Erleichtert stellte er schließlich fest, dass alle anderen Schüler sich nach einem letzten Klingeln aufbruchbereit machten, um nach Hause zu gehen oder Zeit mit Freunden zu verbringen. Anthony packte seine Tasche wesentlich weniger enthusiastisch. Es störte ihn nicht, wieder allein nach Hause zu gehen, mit Sicherheit gab es dort noch viel zu entdecken – aber ein wenig einsam fühlte er sich bei dem Gedanken schon. Heather, Leen und dieser weißhaarige Junge, der offenbar Alexander hieß, verließen als drei der ersten das Klassenzimmer. Sie unterhielten sich erstaunlich angeregt über das Thema der letzten Stunde, das sie schon während des Unterrichts offensichtlich beschäftigt hatte. Er hatte das Gefühl, nur zu stören, wenn er sich ungefragt dazugesellen würde, schon allein, weil Leen und Alexander ihm reichlich suspekt waren und blieb daher sitzen. Die anderen Schüler warfen ihm nur mitleidige Blicke zu, ehe sie sich entweder wieder mit ihren Freunden zu unterhalten begannen oder mit erleichterten Gesichtern ebenfalls hinausgingen. Marc schien damit beschäftigt zu sein, seine ganze Tasche nach etwas zu durchstöbern, das er offenbar nicht finden konnte. Rena kam schließlich herüber und begann in einem genervten Tonfall darüber zu lamentieren, dass er Ordnung halten solle, was er nur mit zustimmendem Brummen bedachte. Anthony hatte sich vorgenommen, Marc nach der Schule anzusprechen, doch mit Renas Anwesenheit schaffte er es nicht, den erforderlichen Mut dafür aufzubringen. Also packte er seine Tasche zu Ende und stand schließlich auf. Im selben Moment öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer, alle Blicke richteten sich automatisch auf denjenigen, der hereinkam, statt wie alle anderen hinauszugehen. Anthony atmete erleichtert auf, als er Raymond Lionheart erkannte. Der Direktor wirkte ein wenig müde, was der Job wohl zwangsweise mit sich brachte. Er bemühte sich, nicht enttäuscht zu sein, mit Sicherheit war der Mann nicht wegen ihm hier – doch er hielt tatsächlich direkt auf ihn zu. „Anthony, gut, dass du noch hier bist.“ Er beschloss, die fehlende Begrüßung zu übergehen und auch keine eigene vorzubringen. „Gibt es noch etwas?“ Raymond nickte. „Ja, ich möchte über etwas mit dir sprechen. In meinem Büro.“ Er warf einen misstrauischen Blick in die Runde, worauf alle Schüler sich sofort abwandten und sich wieder um ihre eigenen Dinge kümmerten – alle, außer Marc und Rena, die erst den Direktor und dann Anthony neugierig musterten. Allerdings nur bis Raymonds Blick auch die beiden traf und beide simultan beschlossen, dass es wohl Zeit wurde, zu gehen. Ein wenig wehmütig sah Anthony ihnen hinterher, doch schließlich stand er auf und folgte dem Direktor hinaus und quer durch die Gänge, bis zu einem Abschnitt, in dem feine Metallplaketten auf den Türen angebracht waren und den Zweck der Räume dahinter verkündeten. Lehrerzimmer, Sprechzimmer, Lehrmittelraum – und schlussendlich das Sekretariat, ein kleiner Raum, vollgestellt mit Aktenschränken, Regalen und einem Schreibtisch, auf dem allerlei Büroutensilien säuberlich angeordnet waren. Von der Sekretärin war allerdings keine Spur zu sehen, ein rotes Licht blinkte auf dem Telefon und verkündete im Sekundentakt, dass Anrufe verpasst worden waren. „Es ist Mittagspause“, erklärte Raymond auf Anthonys Nachfrage. „Alle gehen essen, außer ich. Ich habe keine Zeit dafür.“ Bitterkeit war keine in seiner Stimme wahrzunehmen, eigentlich wirkte es eher als wäre er ganz froh darüber, allein zu sein. Eine weitere Tür im Sekretariat führte sie beide in Raymonds Büro, das erstaunlich geräumig war, wie Anthony fand. Der große Schreibtisch mitten im Raum wirkte sehr sperrig, schien aber nötig zu sein, so vollgestellt wie er mit technischer Ausrüstung war und wie sich der Papierkram darauf stapelte. Ein weiterer Tisch, der fast vollkommen rund war, lud mit den vielen Stühlen rund herum dazu ein, dass mehrere Personen sich hinsetzten, möglicherweise um Konflikte zu klären. Doch Anthonys Blick galt hauptsächlich einem Gegenstand, der an der Wand hing, umringt von Klassenbildern, Urkunden und anderen Dingen, die er nicht auf Anhieb erkannte. Er war vollkommen auf das konzentriert, was mittendrin angebracht war als ob es selbst es darauf anlegte, im Mittelpunkt zu stehen und sich in der Bewunderung der Besucher zu sonnen. Anthony hatte keine Ahnung von Schwertern, weswegen er nicht sagen konnte, ob dieses zu einer besonders schönen Sorte gehörte, er konnte sich auch nicht erklären, was seinen Blick daran so sehr auf sich zog. Im einfallenden Sonnenlicht glitzerte die scheinbar frisch polierte Klinge, die Parierstange war ein Abbild von Flügeln, die denen eines Drachen nachempfunden schienen. Das Gefühl, es schon einmal gesehen zu haben, überkam Anthony und ließ ihn erst wieder los, als Raymond neben ihn trat. „Die meisten Leute blicken zuerst auf das Schwert, wenn sie hier hereinkommen.“ „Wem gehört es?“ Lächelnd schob der Direktor seine Brille zurecht. „Mir. Ich habe es geschenkt bekommen, als ich in diese Akademie kam.“ „Es sieht wertvoll aus...“ Die gedankenverlorene Bemerkung ließ den Mann die Stirn runzeln. „Du weißt also nicht, wie man dieses Schwert nennt?“ Anthony riss seinen Blick endlich von der Klinge los und wandte sich wieder Raymond zu, ehe er mit dem Kopf schüttelte. „Müsste ich das denn?“ Sofort lächelte der Mann wieder. „Nein, natürlich nicht. Komm, setz dich.“ Es schien Anthony als wolle der andere von etwas ablenken, aber er beschloss, mitzuspielen, zumindest für den Anfang, statt weiter nachzubohren. Als neuer Schüler, darüber war er sich im Klaren, sollte er lieber nicht zu auffällig werden, wenn er nicht direkt wieder weggeschickt werden wollte. Raymond setzte sich ihm gegenüber am runden Tisch und blickte ihn prüfend an. „Wie war deine erste Nacht in deiner Wohnung?“ „Angenehm, danke.“ Wieder schien er diese Frage nur aus Höflichkeit heraus zu stellen, um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Oder führte er möglicherweise mit jedem neuen Schüler dieses Gespräch? „Keine besonderen Vorkommnisse?“ „Nicht, dass ich wüsste.“ Er schlief nachts ziemlich tief, weswegen ihm nächtliche Vorfälle gar nicht auffallen würden, aber am Morgen war alles wie zuvor gewesen und auch von den anderen Schülern auf dem Stockwerk war nichts zu hören gewesen, also war nichts passiert. Raymond nickte, scheinbar zufrieden mit etwas. „Gut. Stört es dich, wenn ich dir ein paar Fragen zum Heim stelle? Gestern hatten wir nicht sonderlich viel Zeit zum Reden.“ Das ist es also. „Nein, ich habe damit kein Problem. Ich weiß nur nicht, ob ich viel sagen kann.“ Manche Tage, nein, ganze Wochen und Monate sogar, waren komplett aus seinem Gedächtnis verschwunden, was aber keineswegs neu war. Eigentlich war das immer schon so gewesen als ob er diese entsprechende Zeit geschlafen hätte und dann aufgewacht wäre, nur um festzustellen, dass er vor mehreren Wochen zu Bett gegangen war. Der Arzt im Pflegeheim hatte ihm aber versichert, dass das vollkommen normal wäre, doch die medizinischen Erklärungen waren von ihm nie verstanden worden. „Das ist okay. Erzähl mir einfach, was du weißt, ja?“ Anthony nickte zustimmend und neigte den Kopf in Erwartung der Frage. „Alona hat mir bereits die Angabe des Heims bestätigt, dass du keinerlei soziale Kontakte hattest. Woran lag das?“ Da er mit seiner Antwort zögerte, setzte Raymond noch eine Erklärung nach: „Versteh mich nicht falsch, ich zwinge hier niemanden dazu, gegen seinen Willen Freundschaften zu schließen. Ich kann nur niemanden brauchen, der das Prinzip von Teamwork nicht versteht und einen auf Ein-Mann-Armee macht. Auf alle Missionen werden Teams mit mindestens drei Leuten geschickt, die sich im Notfall aufeinander verlassen müssen.“ Anthony nickte wieder. „Keine Sorge, das war nicht das Problem. Es war eigentlich mehr so, dass niemand im Heim an sozialen Kontakten, äh, interessiert war. Wir haben alle quasi... gegeneinander gearbeitet. Wir wurden sogar belohnt, wenn wir es schafften, andere Personen beim Erfüllen des Klassenziels zu behindern.“ Er erinnerte sich an Schüler, die von anderen in irgendwelche Abstellkammern eingesperrt worden waren, damit sie nicht rechtzeitig zu Klausuren kamen; an gestohlene Hausaufgaben, die verbrannt wurden und auch an manipulierte Klausurbögen. Er selbst wurde von alldem nur verschont, weil... Wenn er genau darüber nachdachte, war er sich nicht einmal sicher, warum das so war, aber es stimmte, er hatte all das nur bei anderen gesehen, nie am eigenen Leib erlebt. Raymond seufzte. „Verstehe, dann ist das immer noch so. Ich bin sicher, dass Alona es dir schon erzählt hat, ich habe einige Jahre ebenfalls in diesem Heim verbracht.“ Er war so perplex über dieses Geständnis, dass er vollkommen das Versprechen vergaß, ihm nichts davon zu erzählen, dass er das bereits von Alona erfahren hatte und deswegen sofort nickte. „Als ich noch dort lebte, war es der Heimleitung sehr wichtig gewesen, dass keine Freundschaften entstanden. Sobald man bemerkte, dass zwei oder mehr der Kinder sich anzufreunden begannen, wurden sie weggebracht – und wenn sie wiederkamen, war von der Freundschaft nichts mehr zu sehen.“ Anthony erschauerte unwillkürlich, als er das hörte. Auf eine seltsame Art und Weise kam ihm das bekannt vor, aber während seiner Zeit waren ihm keine Freunde untergekommen. „Wohin hat man sie gebracht?“ Raymond hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, niemand von uns wusste es, aber wir waren uns darüber im Klaren, dass wir es nicht aus erster Hand erfahren wollten. Manche kamen auch nie wieder.“ Er machte eine Handbewegung, die bedeuten sollte, dass etwas verschwand, wie vom Winde verweht. „Bei uns war das nicht so – aber wir waren auch alle Feinde oder kümmerten uns nur um uns selbst, da gab es keine Freundschaften.“ „Ich verstehe.“ Raymond lehnte sich ein wenig zurück, Anthony konnte sehen, wie angespannt der Mann und wie unangenehm ihm das Gespräch war. Offenbar wühlte es Erinnerungen in ihm auf, die er lieber ruhen gelassen hätte. „Gut, du hast also keine Probleme damit, dich mit anderen auseinanderzusetzen?“ „Ich hatte bislang nicht viel Gelegenheit dazu“, gab Anthony zu. „Aber ich schätze mich nicht als sonderlich anstrengend ein, also dürfte das gehen.“ Probleme waren bislang immerhin auch keine aufgetaucht, bislang schaffte er es nur nicht, die anderen anzusprechen – aber er war auch erst einen Tag hier. Mit Sicherheit würde sich das noch geben, wenn er mehr Zeit in Lanchest verbrachte. Erleichtert atmete Raymond auf und warf lächelnd einen kurzen Blick zum Fenster. Doch sofort wurde er wieder ernst und sah erneut Anthony an. „Gut, die nächste Frage... Sagt dir der Name Master etwas?“ Der Körper des Jungen versteifte sich augenblicklich, der Begriff sprach etwas in seinem Inneren an, das sich ansonsten nicht regte, wofür er äußerst dankbar war. Der Direktor zog die Stirn kraus, als er diese Reaktion bemerkte. „Der Headmaster?“, hakte Anthony nach. „Ja, das wäre der komplette Name“, stimmte Raymond zu. „Wir nannten ihn meist nur Master und er selbst bezeichnete sich auch oft nur damit.“ Der Junge dachte nach. Der Leiter des Pflegeheims war selten einmal anwesend gewesen und wenn, dann hatten alle Kinder um seine Aufmerksamkeit gebuhlt, immerhin konnte man mit allerlei Vergünstigungen rechnen, wenn man zu seinem Kreis der Lieblinge gezählt hatte. Aber egal wie sehr Anthony darüber brütete, er konnte sich an keine eigene Begegnung mit diesem Mann erinnern. Offenbar waren alle Besuche in den Zeitraum seiner Gedächtnislücken gefallen. Das ist echt seltsam... „Ich kenne den Namen“, antwortete er schließlich. „Aber ich kenne ihn nicht persönlich.“ Raymond lachte leise. „Geht mir genauso. In der Zeit, in der ich dort war, habe ich ihn nie gesehen, ich habe immer nur gehört, wie die anderen über ihn sprechen.“ „Aber was ist das für ein Name?“, fragte Anthony gedankenverloren. Der Direktor zuckte mit den Schultern. „Ich denke, es war nicht sein echter Name. Den hält er möglicherweise aus guten Gründen geheim.“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Leiter eines Pflegeheims einen Grund haben könnte, seinen echten Namen zu verbergen. Aber er konnte ihn auch schlecht selbst fragen. „Warum fragen Sie mich nach ihm?“ Raymond hatte sicherlich mit dieser Frage gerechnet, deswegen wirkte er nicht sonderlich überrascht, als sie schließlich gestellt wurde. „Oh, ich wollte nur wissen, ob du ihn vielleicht kennst, ich war neugierig.“ Es kam Anthony wie eine Ausrede vor, doch er ging nicht weiter darauf ein. Mit Sicherheit gab es einen guten Grund für ihn, es nicht sagen zu wollen. „Meine Fragen sind durch. Hast du noch welche?“ Der Junge nickte hastig. „Mr. Oyuki erwähnte in der Klasse, aus welchem Heim ich komme... und danach wurde ich von den anderen Schülern bemitleidet. Weswegen?“ „Die Frage müsstest du dir eigentlich bereits selbst beantwortet haben. Du hattest nie Freunde, hast nie Kameradschaft oder Liebe erfahren... das ist doch ein wenig Mitleid wert, findest du nicht?“ So gesehen war die Frage wirklich überflüssig. Raymond lächelte mild, was ihn dazu anspornte, noch mehr Fragen zu stellen: „Gibt es denn außer mir noch jemanden, der aus diesem Heim kommt?“ Doch diesmal erfolgte eine negative Antwort. „Normalerweise wollen sie keine Kinder loswerden und schicken sie daher nicht an andere Schulen. Es ist wohl auch rentabler sie selbst auszubilden.“ „Was wird denn aus den dortigen Absolventen?“ „Dasselbe wie aus unseren, nur ein wenig gnadenloser. Wir nehmen selten Attentats-Missionen an.“ Anthonys Nackenhaare stellten sich auf. „Davon wusste ich gar nichts.“ „Ich habe es auch erst bei eigenen Missionen erfahren, als ich hier war. Du warst länger dort, du hast also auch keine Kampfausbildung dort bekommen?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Genau wie ich“, sagte Raymond lächelnd. Anthony konnte nichts anders als das Lächeln zu erwidern. Er hatte das Gefühl, dass er und Raymond ziemlich viel gemein hatten, zumindest in ihrer Vergangenheit und das gefiel ihm äußerst gut. „Mhm, sonst habe ich keine Fragen mehr.“ „Gut, danke für deine Zeit.“ Der Direktor deutete eine Verbeugung an und stand auf. Anthony tat es ihm nach. Gemeinsam traten sie zur Tür, wo Raymond wieder innehielt. „Mhm, Anthony... wenn etwas Seltsames passiert und dir etwas unklar ist, dann zögere bitte nicht und komm zu mir oder Alona, verstanden?“ Der Junge überlegte, ihn zu fragen, was er unter Seltsames verstand, doch er verwarf den Gedanken hastig wieder und nickte stattdessen. „Verstanden.“ Die Art wie der Mann sprach, sagte ihm bereits, dass er die Seltsamkeiten selbst erkennen würde. Erleichtert öffnete er schließlich die Tür. „Gut, dann kannst du nun gehen. Wir sehen uns mit Sicherheit bald wieder.“ Mit einer knappen Verabschiedung huschte Anthony zur Tür hinaus, die sich hinter ihm wieder schloss. Für einen kurzen Augenblick blieb er unschlüssig im Sekretariat stehen, während er sich das Gespräch von eben noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Warum hatte der Direktor ihm all diese Fragen gestellt? Und hatte ihn das wirklich in irgendeiner Art und Weise weitergebracht? Doch schließlich gab er das Überlegen auf und verließ den Raum, um endlich nach Hause zu gehen. Raymond stand mit verschränkten Armen vor dem Schwert, das an der Wand hing. Der blaue Schimmer, der die Klinge umgab, sobald er sich in der Nähe davon befand, war durch das helle Sonnenlicht kaum zu sehen. Er konnte ihn auch nur noch erahnen, weil er diesen noch sehr gut im Gedächtnis hatte. Das Gespräch mit Anthony hatte ihm etwas bestätigt, das er auch bei sich hatte beobachten können und dafür war es nicht einmal nötig gewesen, das auszusprechen. Der Junge hatte den Master nie gesehen, zumindest konnte er sich an keine Begegnung erinnern, genau wie Raymond, obwohl dieser den Leiter des Pflegeheims mindestens einmal hätte treffen müssen. Aber dieses Treffen war aus seinem Gedächtnis verschwunden, hatte nur eine Lücke zurückgelassen, die nie wieder hatte gefüllt werden können. Er hatte es nicht einfach nur vergessen, die Erinnerung war gewaltsam aus seinem Gedächtnis gerissen worden, damit sie auch ja nie wieder hergestellt werden könnte. Was der Master damit bezweckt hatte, war Raymond nie klar geworden, egal wie oft und wie lange er darüber nachdachte oder sich mit anderen darüber unterhielt. Das einzige, was ihm einleuchtete, war, dass dieser Mann nicht wollte, dass man ihn irgendwo wiedererkennen könnte, warum auch immer. Bei Anthony war es mit Sicherheit genau dasselbe mit seinem Gedächtnis. Raymond war fast schon froh darüber, dass Seline versprochen hatte, Anthony weiter zu beobachten. Egal, weswegen der Junge wirklich weggeschickt worden war – Raymond hätte alles darauf gewettet, dass dies nur Teil eines Komplotts war, so wie bei ihm damals – Seline würde verhindern, dass er es ausführen und damit ins Fadenkreuz von Feinden geraten würde. Mit dieser Überzeugung behaftet, atmete er tief ein und aus, ehe er sich hinter seinen Schreibtisch setzte, um seine Arbeit fortzusetzen. Dass das blaue Schimmern der Klinge sich für einen kurzen Moment blutrot färbte, bemerkte er dabei gar nicht. Kapitel 6: Heathers Warnung --------------------------- Kaum hatte Anthony das Schulgebäude verlassen, fiel ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, was er nun tun sollte, weswegen er innehielt, um darüber nachzudenken. Er konnte nach Hause gehen, seine neue Wohnung noch ein wenig auskosten und den Computer suchen, von dem Heather gesprochen hatte – oder die Stadt ein wenig erkunden. Letzteres erschien ihm durchaus angebracht, wenn er sich schon das erste Mal in seinem Leben in einer Großstadt befand. Zwar machte ihm der Gedanke Angst, sich verlaufen zu können, doch er rechnete damit, selbst aus so einer Situation wieder herauszukommen, irgendwie... Langsam muss ich lernen, tatsächlich mit solchen Kleinigkeiten zurechtzukommen, wenn ich auf dieser Schule bleiben will. Und das entsprach tatsächlich seinem Wunsch. Auch wenn er die anderen Schüler, besonders Heather und Leen noch nicht so wirklich verstand und auch die Lehrer gewöhnungsbedürftig waren. Er wollte nicht wieder fort, er wollte bleiben und mehr über all diese Leute erfahren, hinter ihre Fassade blicken und sie in sein Herz schließen... oder so ähnlich. Er war es nicht gewohnt, dass ihm Leute sympathisch genug waren, dass er sie mögen wollte, auch wenn er sie am Anfang eher als seltsam empfand. Ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen – da er sich ohnehin nicht auskannte – lief er los. Er hatte seine Schulsachen in seinem Spind zurückgelassen, so dass ihn nichts störte, während er durch die Straßen lief. Nichts, außer sein knurrender Magen, der ihn daran erinnerte, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und es um die Mittagszeit im Heim immer Essen gegeben hatte. Gegen seinen Willen drifteten seine Gedanken ab. Er fragte sich, was es dort wohl im Moment geben würde. Es war nur zwei Tage seit seiner letzten Mahlzeit dort her und doch vermisste er es ein wenig. Gut, die geschmacklosen Suppen, die wässrigen Soßen und die Pampe, die dort als Gemüse bezeichnet worden war, vermisste er keineswegs – aber er wusste ja auch nicht, wie das Essen außerhalb schmeckte, abgesehen von den Sandwiches von denen er sich am Vortag und am Morgen ernährt hatte. Vielleicht war ekelerregend noch steigerungsfähig. Ehe er sich's versah, fand er sich plötzlich vor einem großen Gebäude wieder, in dem Leute geschäftig ein- und ausgingen. Er musste, tief in seine Gedanken versunken, dem allgemeinen Strom der Schüler gefolgt sein, die das Gebäude fröhlich plaudernd durch die sich automatisch öffnenden Glastüren betraten. Unwillkürlich dachte er wieder an Alonas Worte vom Vortag, als sie ihm von dem Einkaufszentrum erzählt hatte. Dies musste es sein, aber er hätte nicht gedacht, es so schnell selbst zu Gesicht zu bekommen. Mit zögernden Schritten ging er auf den Eingang zu. Die Masse an Menschen sagte ihm zwar, dass er lieber weitergehen sollte, doch die Neugierde übernahm die Oberhand. Als er das Einkaufszentrum betrat, spürte er augenblicklich eine angenehme Kühle, die sich auf seine Haut legte. Es war nicht sonderlich heiß draußen, aber dennoch war dieses Gefühl erfrischend. Im Sommer würde er auf jeden Fall noch um einiges mehr Zeit dort verbringen. Obwohl er draußen noch geglaubt hatte, dass im Inneren Lärm herrschen würde, war es sogar recht leise. Die Stimmen der anderen schienen zu einem Flüstern zu werden, das alles andere als ohrenbetäubend war. Neugierig ließ er den Blick schweifen, auch wenn er schon nach wenigen Sekunden glaubte, dass sein Gehirn keine weiteren Eindrücke und Informationen mehr verarbeiten könnte. Der Brunnen in der Mitte des Kaufhauses schien ihn geradezu zu sich zu rufen, Wasser sprudelte in das edel aussehende weiße Marmorbecken. Während er noch damit beschäftigt war, den Brunnen zu beobachten, spürte er, wie jemand nicht weit entfernt von ihm, ihn abschätzend musterte. Sein Blick suchte diese Person und blieb alsbald an Marc hängen, der wie üblich mit verschränkten Armen dastand und zu ihm hinübersah. Als er bemerkte, dass Anthony ihn ansah, neigte der Blonde lächelnd den Kopf und winkte ihm zu. Für einen Moment haderte er mit sich. Sollte er hinübergehen? Oder sollte er nett zurückwinken und dann weitergehen? Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als Marc schließlich die Distanz zwischen ihnen überwand. Er grinste breit, als er direkt vor ihm stand. „Ich habe also doch richtig gesehen. Anthony, stimmt's?“ Der Angesprochene nickte. „Das ist korrekt.“ „So formell? Komm schon, das muss doch nicht sein. Ich bin Marc.“ Er hielt Anthony die Hand hin, dieser ergriff sie sofort, um sie zu schütteln. „Freut mich.“ Kaum ließ er diese wieder los, verschränkte Marc sofort erneut die Arme vor der Brust. Anthony erinnerte sich, dass man ihnen im Heim beigebracht hatte, dass diese Haltung Distanz ausdrücken sollte. Jemand, der so vor einem stand, wollte nicht, dass man ihm zu nah kam. Dabei machte Marc einen vollkommen anderen Eindruck. „Wie gefällt dir Lanchest bislang?“, fragte der Blonde und lenkte Anthony von seinen Überlegungen ab. „Richtig antworten kann ich darauf noch nicht. Ich bin ja erst seit gestern hier und habe noch nicht so viel gesehen.“ „Und wie gefällt dir die Schule?“ „Die ist der Wahnsinn!“, entfuhr es Anthony, ehe er noch darüber hatte nachdenken können. „Ich war noch nie in so einem tollen Gebäude!“ Schon im selben Moment schämte er sich direkt wieder für seinen Ausbruch, doch Marc lachte amüsiert. „Du kannst also doch Begeisterung zeigen, schön. Ich hab schon befürchtet, dass du so trocken wärst wie all die Absolventen dieses Heims.“ Also kannte er offenbar einige von ihnen, was wohl nicht weiter verwunderlich war, wenn sie ebenfalls Söldner waren. Möglicherweise trafen sie sich öfter bei Missionen, bei denen sie von verschiedenen Seiten angeheuert wurden. „Und du hast ja den ganzen Morgen nur auf deinen Tisch gesehen“, führte Marc seine Ausführungen fort. Anthonys Mundwinkel zuckten, doch er wusste nicht, ob er wirklich die Frage stellen sollte, die ihm in diesem Moment auf der Zunge brannte. Selbst er wusste, dass sie über alle Maßen unhöflich war – doch zum Glück nahm Marc ihm das direkt ab: „Oh ja, mit Sicherheit fragst du dich, warum ich dich überhaupt anspreche.“ „Schon... irgendwie“, gab Anthony zu. Zwar hatte er den Blonden selbst ansprechen wollen, bei Gelegenheit, doch dass es nun umgekehrt geschah, verwunderte ihn doch ein wenig. Vermutlich war das aber nur aufgrund der Tatsache, dass er der Neue und damit noch aufregend war. Oder vielleicht... „Du hast nicht zufällig Lust, mich zum Essen einzuladen?“, fragte Marc grinsend. Jeder andere wäre in diesem Moment darauf gekommen, dass der Junge einen nur ausnutzen wollte, Anthony hingegen, wollte tatsächlich bejahen, als Rena das Gespräch der beiden unterbrach, indem sie dem Blonden eine Kopfnuss verpasste. „Hör auf damit, andere Schüler auszunutzen!“ Während Marc seinen schmerzenden Kopf rieb, wandte Rena sich Anthony zu. „Tut mir Leid, am Monatsende wird er immer so. Bei allen anderen beißt er nur auf Granit, da versucht er es jetzt bei dir als Neuem. Geb ihm besser nie was aus, sonst wirst du ihn nicht mehr los.“ „Owww, mach mich doch nicht so schlecht bei ihm“, jammerte Marc. Anthony bekam plötzlich das Gefühl, sich ungewollt, in die Beziehung der beiden einzumischen – wenn es da mehr als eine freundschaftliche Verbindung gab. In seinem Heim hatte es keine Mädchen gegeben und selbst wenn, wären Beziehungen verboten gewesen, daher besaß er keinerlei Erfahrungen, wie eine normale Liebesbeziehung auszusehen hatte. Er wich einen Schritt zurück, um anzuzeigen, dass er sich aus dieser Sache zurückziehen würde, so dass die beiden sich nicht miteinander streiten müssten. Marc sah sofort zu ihm hinüber. „Schau, jetzt hast du ihn verschreckt.“ „Behandel ihn doch nicht wie ein Tier“, wies Rena ihn zurecht. Da er merkte, dass beide im Begriff waren, deswegen gleich lautstark zu diskutieren, verabschiedete er sich hastig, ehe er herumfuhr und dann eilig wieder das Einkaufszentrum verließ. Hier wohnen wirklich sehr seltsame Leute... Eine sanfte Hand griff nach seiner Schulter und ließ ihn zusammenzucken. Als er herumfuhr, entdeckte er Heather, die leicht lächelte. „Gut, dass du noch mal angehalten hast.“ „Gibt es noch etwas?“ Da sie ohne sich zu verabschieden, aus dem Klassenzimmer verschwunden war, hatte er erwartet, dass sie sich nicht weiter für ihn interessierte, weswegen es für ihn nun selbstverständlich war, dass sie ihm nur etwas sagen wollte. „Nicht unbedingt. Bist du auf dem Heimweg?“ „So ziemlich.“ Er konnte sich das Einkaufszentrum auch ein andermal ansehen. Nach der kurzen Begegnung mit Marc und Rena war ihm zumindest am heutigen Tag nicht mehr danach. „Wenn es dir nichts ausmacht, begleite ich dich.“ Da er sich noch gut an den Vormittag erinnerte, wo es ihr nicht sonderlich gut gefallen hatte, dass er sich so offen über ihre Worte freute, neigte er diesmal mit neutraler Miene den Kopf. „Nein, das passt schon.“ Er wusste nicht warum, aber sie schmunzelte, als sie das hörte. „Dann komm.“ Gemeinsam liefen sie nebeneinander her die Straße entlang, wobei Anthony auffiel, dass ihnen im Gegensatz zum frühen Morgen erstaunlich viele Blicke zugeworfen wurden. Nein, wenn er genauer aufpasste, galten sie hauptsächlich ihr, doch Heather schien das nicht zu kümmern. „Du hast da drinnen mit Marc und Rena gesprochen“, sagte sie plötzlich und lenkte seine Aufmerksamkeit von den anderen Passanten ab. „Ich will mich ja nicht in deine sozialen Belange einmischen, aber ich würde dir raten, dich von den beiden fernzuhalten.“ „Warum? Sie erschienen mir ziemlich nett.“ „Nur weil jemand nett erscheint, heißt das nicht, dass er es auch ist.“ Zwar machten ihre Worte durchaus Sinn, aber dennoch konnte er das nicht so recht glauben. Es war nur sein Bauchgefühl oder sein Wunsch, Freunde zu haben, aber er wollte zumindest Marc vertrauen – selbst wenn er ihm bislang seltsam vorgekommen war. Da er schwieg, fuhr sie fort: „Du tust gut daran, nicht jedem zu vertrauen.“ „Beinhaltet dich das auch?“, fragte er lauernd. Für einen Moment schien sie verblüfft über seine Frage, aber dann schmunzelte sie. „Mich am Allermeisten, würde so mancher sagen. Als Einwohner dieses seltsamen Heims fehlen dir die Erfahrungen, die andere in deinem Alter bereits gemacht haben und das macht es anderen einfach, dich auszunutzen – auch mir.“ „Und... würdest du das tun?“ Tatsächlich musste er zugeben, dass er sich in all den Jahren keine Menschenkenntnis angeeignet hatte. Bislang waren seine Entschlüsse, den Leuten zu vertrauen nur auf seinem Bauchgefühl begründet und er war noch nicht lange genug unter normalen Menschen, um sagen zu können, ob dieses Gefühl verlässlich war oder nicht. „Vielleicht“, antwortete sie ausweichend. „Du solltest jedenfalls nicht jedem sofort vertrauen, nicht einmal meinen Eltern. Du weißt nie, welche Hintergedanken andere dabei hegen könnten.“ „Warum sagst du mir so etwas?“ Nachdenklich legte sie einen Finger an ihr Kinn. „Oh, gute Frage. Ich nehme mal an, das liegt daran, weil du mich an meinen Vater erinnerst. Du würdest nicht glauben, wie naiv er in manchen Situationen noch ist.“ Tadelnd schüttelte sie ihren Kopf, lächelte dabei aber, als sie an Raymond dachte. Ein wenig neidvoll blickte er zu ihr hinüber. Selbst wenn sie ihren Vater tadelte, musste sie dabei lächeln, mit Sicherheit spürte sie dabei ein warmes Gefühl in ihrem Inneren – zumindest stellte Anthony es sich so vor. Erneut setzte sie ihr neutrales Gesicht auf. „Meinem Vater liegt aus irgendeinem Grund viel an dir, daher dachte ich mir, dass dir jemand sagen sollte, wie das Leben so läuft.“ „Ähm, danke...“ Was soll das bedeuten, ihm liegt viel an mir? Er spürte, dass es sinnlos wäre, sie zu fragen, deswegen schwieg er. Wortlos legten sie den Weg bis zu dem Haus zurück, in dem er wohnte. „Soll ich dich morgen früh wieder zur Schule begleiten?“, fragte sie, ehe er hineinging. Zwar wollte er, dass sie das tat, aber erneut fiel ihm ein, dass sie davon wahrscheinlich eher nicht begeistert wäre, weswegen er mit dem Kopf schüttelte. „Nein, ich schaffe das morgen schon allein, danke.“ Lächelnd verabschiedete sie sich von ihm und ging davon. Er sah ihr eine Weile hinterher, während er über ihre Warnung nachdachte. Wenn sie ihm schon riet, vorsichtig zu sein, sollte er das vielleicht wirklich tun – aber warum sollte er sich gerade vor Rena und Marc fernhalten? Das hatte sie ihm nicht gesagt. Doch sein knurrender Magen sagte ihm, dass er darüber ein andermal nachdenken und nun erst einmal etwas in seiner Wohnung essen sollte. Also betrat er das Haus, in der Hoffnung, dass er noch genug zu essen in seiner Wohnung hatte. Kapitel 7: Jenseits der Öffnungszeiten -------------------------------------- Mit einem leisen Geräusch öffnete sich das Schloss, so dass er die Tür mühelos aufdrücken konnte. Sie schwang so selbstverständlich auf als würde sie ihn hereinbitten, das Licht der Straßenlaternen fiel auf einen Empfangstrese, auf dem eine wertvoll aussehende Teekanne aus bemaltem Porzellan stand. Er schmunzelte unwillkürlich, als er das feststellte. Die Tür bittet mich herein und der Empfang bietet mir Tee an, sehr freundlich, selbst jenseits der Öffnungszeiten. Er schloss die Tür hinter sich wieder, worauf der Raum im Dunkeln lag, was ihn aber glücklicherweise nicht stören musste. Staubpartikel tanzten im Strahl seiner Taschenlampe, während er sich seinen Weg zu dem Aktenschrank bahnte, in dem die von ihm gesuchten Unterlagen zu finden sein sollten. Sein Charme hatte bei der älteren Dame, die diese Akten verwaltete zu seinem Leidwesen nicht angeschlagen, aber immerhin war er so von ihr – wenn auch unbewusst – an die Information gekommen, wo genau er suchen müsste. Der Informant hatte ihm schließlich doch noch Rede und Antwort gestanden, nachdem Russels Schwert nicht seinen Schädel, dafür aber das Geländer hinter ihm gespalten hatte. Zwischen all dem Schluchzen und Jammern, war es Russel schließlich möglich gewesen, den Namen des Göttlichen zu erfahren – fehlte nur noch sein Aufenthaltsort. Darum war er nun in diesem Archiv, dieser netten Stadt – deren Namen er bereits wieder aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte – in der die gesuchte Person einmal gelebt hatte, bevor er weggekommen war, in ein Waisenhaus gebracht, wo man ihn vermutlich zu einem Mörder oder einem Söldner ausbilden würde – auch wenn beides oft auf dasselbe hinauslief, wie Russel inzwischen aus Erfahrung wusste. Seine Schritte hallten überraschend laut von den Bodenbrettern wider, was ihn zu der Annahme führte, dass dieses Gebäude schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Von außen war da zwar bereits die Vermutung gewesen, doch waren Retro-Fassade für einige Jahrzehnte der letzte Schrei gewesen. Ich fürchte, Maryl hat recht, ich werde wirklich alt. So spricht doch heutzutage niemand mehr, ich sollte nicht einmal so denken. Vor einer Tür, die ins Archiv führte, blieb er wieder stehen und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Nicht mit einer Haarnadel, nicht mit einer Kreditkarte und keinem Dietrich, stattdessen berührte er das Schlüsselloch mit den Fingerspitzen und ließ Magie hineinfließen, ließ diese sich ausbreiten – und schließlich die Tür entriegeln. Allzweck-Magie... sooo praktisch. Ach, es ist schön, kein Sterblicher zu sein. Er betrat das Archiv, das eigentlich nur ein kleiner, quadratischer Raum war, der mit Aktenschränken zugestopft war und damit noch viel enger wirkte. Russel beglückwünschte sich innerlich, dass er keine Angst vor engen Räumen hätte und begann mit seiner Suche in dem Schrank, der fein säuberlich mit einem schnörkellosen „B“ beschriftet war. Die aufgeklebte Plakette war dermaßen akkurat angebracht worden, dass es von einer wahren Beamtenseele durchgeführt worden sein musste. Russel dankte dieser Person im Innern und zog die Schublade heraus. Dutzende von Akten drängten sich aneinander, so dass es teilweise schon fast unmöglich schien, sie ein wenig auseinanderzuschieben, um auf die Beschriftung zu blicken. Wie üblich verließ Russel sich auf sein Glück, griff wahllos hinein und zog triumphierend eine Akte hervor. Er musste nicht einmal auf den Namen sehen, um zu wissen, dass es die Gesuchte war. Um Zeit zu sparen und die Akte direkt wieder zurücklegen zu können, hockte er sich im Schneidersitz auf den Boden, um sich die erforderliche Information herauszusuchen. Beim Überfliegen der ersten Seite seufzte er leise. Offensichtlich befand sich der Junge seit gut zwölf Jahren nicht mehr in der Stadt, nachdem seine Eltern bei einem Vorfall ums Leben gekommen waren. Pff, ich kann mir schon denken, was das für ein Vorfall gewesen sein soll. Das war auch bitter nötig, denn die Seiten, die diesen behandelten, so wie Details, die den Jungen damit in Zusammenhang brachten, waren in der Akte geschwärzt worden. Irgendjemand versuchte mit allen Mitteln, geheimzuhalten, was geschehen war und Russel konnte sich auch denken, dass dies nicht geschah, um ihn zu schützen. Ungeduldig blätterte er weiter, ohne sich darüber zu wundern, wie ein Vierjähriger eine derart dicke Akte haben konnte. Offenbar war sein ganzes Leben darin dokumentiert worden, er wunderte sich schon regelrecht, dass nicht auch das Lieblingsessen und die bevorzugte Zahnpasta-Marke notiert worden war. Schließlich kam er bei der letzten Seite an, auf der, scheinbar mit einer extrem altmodischen Schreibmaschine, genau das getippt worden war, was er hatte wissen wollen: Branch, Anthony wurde am 5. April 3083 dem Peligro-Waisenhaus überstellt. Von jeglicher Kontaktaufnahme ist abzusehen, Berichte über seine Entwicklung wurden abgelehnt. Russel schmunzelte ein wenig bei dem letzten Satz. Er kannte dieses Waisenhaus nicht, aber offenbar war die Stadt recht froh gewesen, den Jungen loszuwerden – und er wusste nun, wo er ihn suchen musste. Zufrieden klappte er die Akte zu und wollte gerade wieder aufstehen, als er hörte, wie hinter ihm ein Handy zu klingeln begann. Für einen kurzen Moment hielt er überrascht inne, der Besitzer des Geräts sog scharf die Luft ein – und im nächsten Augenblick überschlugen sich die Ereignisse. Russel sprang auf, genau in dem Moment, in dem sich Pistolenkugeln in den Boden bohrten, wo er eben noch gesessen hatte. Die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand, rollte über den Boden und kam mit einem leisen Geräusch an der Wand an, von wo aus sie ihm die Füße des Fremden beleuchtete – und ihm dummerweise gleichzeitig zeigte, dass dieser ihm bei einer Flucht im Weg stand. Doch noch während er den Gedanken verarbeitete, konnte er hören, wie der Mann erneut abdrückte. Offenbar war er nicht darauf aus, sich freundlich zu unterhalten. Allerdings kostete es Russel nur ein Fingerschnippsen, dass die Waffe aus den Händen des Fremden flog. „Schusswaffen sind sehr unehrenhaft“, sagte er dabei tadelnd. Er ließ seinem Gegenüber aber keine Zeit zum Reagieren, sondern sammelte Magie in seiner rechten Hand, die sich in einem Wirbel von grünen Funken materialisierte und auf seinen Befehl auf den Fremden zuschoss. Russel erwartete, dass der Mann ausweichen würde – doch dieser hob gelassen einen Schirm hoch, der vorher kaum sichtbar gewesen war, spannte ihn auf und hielt ihn schützend vor sich. Das spöttische Lachen blieb Russel aber wortwörtlich im Hals stecken, als seine Magie an dem Schirm abprallte und wirkungslos verpuffte. Das ist kein normaler Schirm... „Das war keine normale Magie“, erklang plötzlich die Stimme des Fremden, der Russels Gedanken fast haargenau widergab – nur eben auf seinen eigenen Widersacher bezogen. Russel überlegte nicht lange, sondern deutete mit ausgestrecktem Arm auf ihn, um dem Moment mehr Drama zu verleihen. „Ich kenne dich! Deine Stimme habe ich schon einmal gehört!“ Und damals war es eine sehr wichtige Stimme gewesen, das wusste er auch noch ganz genau – nur fiel ihm partout nicht ein, in welchem Zusammenhang. Der Fremde senkte den Schirm ein wenig, so dass Russel im schwachen Licht der letzten verbliebenen Funken stahlblaue Augen erkennen konnte, die ihn missbilligend ansahen. „Aha!“, rief er triumphierend aus. „Ich weiß es! Du bist dieser Schwarzmagier! Wie war der Name nochmal? Ah ja! Damian!“ Zwar wirkte sein Gegenüber über den Monolog nicht unbedingt erbaut, doch schwang er zumindest den Schirm über seine Schulter als wolle er sich vor Regen schützen, so dass endlich sein ganzes Gesicht betrachtet werden konnte und Russel sich in seiner Annahme bestätigt fühlte. Das schwarze Haar war zwar kürzer als zuvor, aber das fein geschnittene Gesicht und der arrogante, herablassende Blick, so wie die blauen Augen waren Russel Beweis genug, dass er im Recht war. „Das war einmal“, erwiderte der Mann tonlos. „Vor meinem Tod.“ Ein leichter Stich in seiner Brust ließ Russel zurückzucken. „Oh ja, da war was...“ Bis auf Maryl, den Kaiser und mich sind alle gestorben. Auch der Göttliche – weswegen ich ja überhaupt erst hier bin. Russel wollte ihn gerade nach seinem jetzigen Namen fragen, als das Handy erneut klingelte. Dieses Mal zögerte Damian nicht und hob sofort ab. Während er sich leise murmelnd mit seinem Gesprächspartner unterhielt, wandte er Russel den Rücken zu, was dieser extrem unhöflich fand, ihm aber auch die Gelegenheit ließ, die Taschenlampe wieder aufzuheben und nachzudenken. Diesen Mann – oder besser: seine letzte Inkarnation – hatte er zuletzt vor fast hundert Jahren gesehen. Damals waren sie beide Teil einer Gruppe gewesen, um die Vernichtung der Menschheit durch einen Dämon zu verhindern – ein Vorhaben, das zwar erfolgreich gewesen, aber durch den Verrat ihres Hoffnungsträgers mit herben Verlusten gespickt worden war. Zwar war er auf der Suche nach diesem Verräter und dessen Reinkarnation, aber er hätte dennoch nicht damit gerechnet, noch einem anderen ehemaligen Mitstreiter wiederzubegegnen. Dieses Treffen überraschte ihn also, sowohl positiv als auch negativ. Hätte es nicht jemand sein können, den ich zumindest mochte? Schließlich beendete Damian das Gespräch und ließ das noch sacht leuchtende Handy wieder in die Tasche seines Jacketts gleiten, während er sich wieder Russel zuwandte. „Ich sollte mich wohl vorstellen. Normalerweise gebe ich den Leuten in solchen Momenten meine Karte, aber an dich wäre sie ohnehin nur verschwendet.“ Russel erwiderte nichts darauf, aber sein Gesichtsausdruck zeigte sehr genau, wie genervt er von diesem Provokationsversuch war und dass er nicht im Mindesten darauf eingehen würde – dafür war er einfach zu alt. Oh nein, ich denke tatsächlich, dass ich ALT bin! „Mein Name ist Vincent Gene Valentine“, fuhr sein Gegenüber fort. „Ich bin Privatdetektiv.“ „Mit Schusswaffe?“ Mit hochgezogener Augenbraue sah Russel zu der Pistole hinüber, die auf dem Boden lag. Er versuchte damit allerdings nur davon abzulenken, dass er den Namen nicht sonderlich klug gewählt fand von den Eltern des Jungen – aber im heutigen Jahrhundert würde sich wohl ohnehin niemand daran stören. Glücklicherweise ging Vincent direkt darauf ein: „Sie dient meiner Selbstverteidigung, wenn ich jenseits der Öffnungszeiten auf Einbrecher treffe.“ „Ach? Und du bist legal hier?“ Wortlos präsentierte Vincent dem skeptischen Russel eine Schlüsselkarte, die eindeutig für dieses Gebäude und seinen Namen galt. „Wirst du mich jetzt einsperren?“ Nicht, dass er sich davor fürchten würde – er wäre wieder frei, kaum dass sich die Zellentür hinter ihm geschlossen hätte – aber er würde lieber auf so etwas verzichten, ein Gefängnisausbruch zog immerhin wahnsinnig viel Aufmerksamkeit auf einen, die er nicht gebrauchen konnte. „Ich sagte es bereits, ich bin Detektiv, kein Polizist. Mich würde viel mehr interessieren, was du hier zu suchen hattest.“ Russel antwortete nicht, immerhin lag die Antwort direkt vor Vincents Füßen. Er müsste sich nur danach bücken und die Akte aufheben, was er auch sofort tat. „Anthony Branch, was für ein Zufall. Genau diesen Jungen suche ich auch.“ Der Grünhaarige zweifelte daran, dass es ein Zufall war, sprach das aber nicht laut aus. „Du hast es also schon gelesen, dann kannst du mir auch sagen, wo er ist.“ Auffordernd blickte er Russel an, doch dieser hob unbeeindruckt eine Augenbraue. „Warum sollte ich? Es gibt nichts, womit du mir drohen könntest – du solltest mir eher sagen, für wen oder warum du ihn suchst und mit wem du eben telefoniert hast.“ Bei dem darauf folgenden Blickduell der beiden schienen Funken des Zorns zu sprühen. Es war deutlich zu sehen, dass beide auf den jeweils anderen wütend waren und sie am liebsten einfach wieder auseinander gegangen wären, ohne jemals wieder an diese Begegnung zu denken. Doch schließlich gab Vincent seufzend nach: „Der Anruf kam von meinem Auftraggeber. Wer das ist, geht dich aber nichts an – und ich stelle keine Fragen bei einem Auftrag.“ Mehr scheint er nicht sagen zu wollen... da werde ich wohl kaum mehr rauskriegen. Immerhin erinnerte er sich noch gut an Damian, Vincent schien, zu Russels Verdruss, kein Stück anders zu sein – obwohl die Chancen bei Reinkarnationen sonst immer gut standen. Damians Dickschädel wird man einfach nicht los, scheint es. „Also, wo ist der Junge?“ Es würde keinen Sinn machen, es ihm zu verschweigen, darüber war sich Russel im Klaren, besonders da sie im Anschluss auch dasselbe Ziel haben würden – also konnten sie sich auch einfach zusammentun. „Im Peligro Waisenhaus.“ Im Gegensatz zu ihm schien Vincent tatsächlich etwas mit diesem Namen anfangen zu können. Schlagartig wurde er blass. „I-ich verstehe.“ Russel neigte ein wenig den Kopf. „Kennst du dieses Waisenhaus?“ „Nur aus Geschichten.“ Endlich senkte Vincent den Schirm und schloss ihn wieder, also war zumindest davon auszugehen, dass er keine Bedrohung mehr in seinem Gegenüber sah. „Aber wenn nur die Hälfte davon wahr ist, befindet er sich bereits viel zu lange dort. Wir sollten keine Zeit verlieren.“ „Wir?“, fragte Russel überrascht. Vincent hob den Schirm und berührte damit sacht Russels Kopf, als würde er ihm einen leichten Schlag versetzen wollen, traute sich aber nicht so recht. „Du hast doch ohnehin dasselbe Ziel, also warum sollten wir getrennt hingehen, nur um dort wieder aufeinander zu treffen?“ Während er auf Russels Antwort wartete, ging er zum offenen Schrank hinüber und verstaute die Akte wieder an dem für sie bestimmten Platz. „Klingt logisch...“, murmelte Russel schließlich, der nicht zugeben wollte, dass er bereits dieselbe Idee gehabt hatte. „Dann lass uns keine Zeit mehr verlieren“, forderte Vincent ihn schließlich auf und ging an ihm vorbei bereits hinaus. Russel folgte ihm schlecht gelaunt, ganz und gar nicht von dieser Art der Zusammenarbeit begeistert – aber was sollte er tun? Immerhin würde er nun endlich jemanden haben, auf den er sich im Zweifelsfalle wirklich verlassen konnte und das war doch einiges wert. Und vielleicht, nur vielleicht, würde Vincent sich auch als ein wenig umgänglicher herausstellen. Zumindest hoffte Russel das, während er gemeinsam mit diesem das Gebäude verließ. Kapitel 8: „Töte sie“ --------------------- Am nächsten Morgen hatte Anthony befürchtet, fehl am Platz zu wirken, wenn er mit seinem Schwertkoffer in der Schule auftauchen würde, doch wie er bald feststellte, war das ein absolut normaler Zustand und er war keineswegs der einzige, der mit Waffen herumlief. Es war Heathers Idee gewesen, für die sie ihn schon um fünf Uhr morgens angerufen hatte. Immerhin hätte sie ihm ja eine kleine Einführung versprochen und die wollte sie an diesem Tag direkt in die Tat umsetzen. Dennoch war er froh, als er den Schwertkoffer endlich in seinem Spind unterbringen und sich dann in Richtung seines Klassenzimmers machen konnte. Dieses war bereits recht voll, obwohl es noch fast eine halbe Stunde bis zum Unterrichtsbeginn war. Zu Anthonys großer Überraschung war Marc an diesem Tag bereits anwesend und beschäftigte sich mit gerunzelter Stirn mit seinem Computer – zumindest war der Tisch geöffnet und der Monitor nach oben geklappt, so viel konnte Anthony bereits sagen, auch wenn er immer noch keine Ahnung von diesen technischen Gerätschaften hatte. Ohne etwas zu sagen, setzte er sich an seinen Platz – und zuckte direkt zusammen, als er Marcs Stimme hörte: „Guten Morgen, Anthony.“ Erschrocken wandte er sich dem Jungen neben sich zu. „G-guten Morgen.“ Marc lächelte herzlich und versenkte den Computer wieder in seinem Tisch, um sich Anthony vollends zuzuwenden. Selbst im Sitzen verschränkte er die Arme vor der Brust, aber sein Lächeln ließ kein bisschen nach. „Schon dein zweiter Tag hier. Aufregend, hm?“ Was soll daran aufregend sein? „Wie man's nimmt. Immerhin bleibt mir kaum Gelegenheit, mich zu langweilen.“ „Sieht so aus. He, du hast nicht zufällig Lust, nach der Schule mit mir essen zu gehen, oder?“ Anthony überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass er vor ihm gewarnt worden war und dann auch gleich nachzuhaken, warum das wohl geschehen war, doch er verzichtete darauf. „Damit ich dich zum Essen einlade?“ Marc lachte und winkte sofort ab. „Nein, nein, das geht auf mich, ernsthaft. Ich hab letzte Nacht ein wenig Geld verdient und kann mir das jetzt leisten.“ „Geld verdient?“ Er stellte sich alles mögliche vor, was man nachts tun könnte, um an Geld zu kommen – oder zumindest versuchte er es, aber aufgrund seiner Erziehung fiel ihm kaum etwas ein. Sein Gegenüber schien das zu bemerken und lachte leise. „Ich arbeite nachts ein paar Stunden in einem kleinen Laden im Einkaufszentrum.“ „Reicht dir dein Geld, das du von der Schule bekommst denn nicht?“ Zum ersten Mal seit er Marc kannte – was zugegeben noch nicht so lange war – veränderte sich dessen Mimik. Das Lächeln erlosch, dafür blickten seine Augen plötzlich nicht mehr in Anthonys Gesicht, sondern an die Decke, er schluckte leicht. Offenbar war die Antwort nicht unbedingt angenehm, weswegen er dieser ausweichen wollte – und Anthony tat ihm diesen Gefallen auch sofort: „Ich würde gern, aber Heather wollte mir nach der Schule noch etwas wegen der Kampfpraxis beibringen.“ Marcs Gesicht begann sofort wieder zu strahlen. „Das ist perfekt. Danach wirst du bestimmt Hunger haben, glaub mir.“ Es war offensichtlich, dass er sich da nicht so einfach würde rauswinden können – also sollte er sein Schicksal möglicherweise besser doch akzeptieren, besonders da es doch auch sein Plan gewesen war, sich mit Marc anzufreunden. „In Ordnung, dann machen wir das.“ Marc freute sich sichtlich darüber, während Anthony verwirrt auf die anderen Schüler sah, die ihnen immer wieder Blicke zuwarfen und dabei leise miteinander flüsterten. Sein Gegenüber kümmerte sich allerdings nicht im Mindesten darum. „Gut, ich treffe dich dann um drei Uhr am Schultor. Glaub mir, ein Bissen von diesem Steak und du bist im Himmel.“ Es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen, dennoch nickte er zuversichtlich und bereitete sich dann auf den Unterricht vor – auch wenn das Flüstern um ihn herum, dessen genauen Inhalt er nicht verstand, ihn nach wie vor nervös machte. Der Nachmittag war für seine Klasse wieder frei, da der Lehrer für die Kampfpraxis, die jeden Tag nach dem Mittagessen stattfand, immer noch krank war. Heather fing ihn allerdings an seinem Spind ab, wie vereinbart, so dass er mit seinem Schwertkoffer die richtigen Räumlichkeiten aufsuchen konnte. Sie durchquerten die Haupthalle, um den Gang jenseits dem mit den Spinden zu betreten. Obwohl der Rest des Gebäudes mit Schülern überströmt zu sein schien, war es in diesem Gang einsam, dunkel und überraschend ruhig. „Sind wir hier wirklich richtig?“, wagte er zögernd vorzubringen. Die vorauslaufende Heather warf ihm über ihre Schulter einen spöttischen Blick zu, der ihn zusammenzucken ließ. „Ich bin seit zehn Jahren auf dieser Schule, natürlich sind wir richtig.“ Er murmelte eine leise Entschuldigung und folgte ihr weiter, bis sie zu einer Tür kamen, hinter der sich eine Umkleide befand. Spinde reihten sich aneinander, jeder einzelne stand offen und schien damit frei zu sein. In Anthony kam die Frage auf, ob er sich umziehen müsste, gefolgt von der Erkenntnis, dass er keine Sportkleidung mit sich trug, doch Heather winkte sofort ab. „Mach dir keine Gedanken. Ich will dir nur ein paar grundlegende Dinge zeigen, du wirst nicht großartig schwitzen.“ Ihm blieb keine Zeit, etwas darauf zu erwidern, da sie direkt weiterlief und offenbar erwartete, dass er ihr folgte, was er auch sofort tat, um nicht zurückzubleiben. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, der Knall hallte zwischen den hohen Wänden wider und jagte Anthony einen Schauer über den Rücken. Etwas tief in seinem Inneren schien darauf anzusprechen und ihm etwas sagen zu wollen, doch gleichzeitig spürte er Übelkeit aufkeimen, die er sofort niederkämpfte. Er durfte sich dem nicht so einfach hingeben, so viel wusste er. Heather führte ihn durch eine weitere Tür – und im ersten Moment glaubte er, wieder im Freien zu stehen. Pflanzen, so riesig und dunkelgrün, dass er glaubte, sie müssten künstlich sein, wuchsen auf dem felsigen Boden, ihre Wurzeln fanden zwischen kleinen Rissen im Gestein Halt und nährten sich von der Erde darunter. Den Kopf in den Nacken gelegt, konnte er weit über sich ein gläsernes Dach ausfindig machen, durch das Sonnenlicht hereinfiel. Es musste sich um das Nebengebäude handeln, das ihm an seinem ersten Tag bereits aufgefallen war. Dabei hätte er eher erwartet, dass der Kampfunterricht in einer Art Sporthalle stattfinden würde. Warum also waren sie nun hier, in einem Gewächshaus? „Hier findet der Unterricht immer statt“, erklärte Heather auf seine Nachfrage. „Unsere Aufträge finden an den unterschiedlichsten Orten statt, also sollten wir lernen, in Gegenden zu kämpfen, die alles andere als frei und ebenerdig sind.“ Das machte selbst für Anthony Sinn, weswegen er sofort verstehend nickte. Scheinbar in der Mitte der Anlage blieben sie wieder stehen. Heather hatte bislang eine Tasche mit sich getragen, die sie nun flink öffnete und eine Waffe hervorzog. Als sie neulich den Begriff Schiavona erwähnt hatte, war es in Anthonys Vorstellung immer ein Schwert mit einer feinen, eleganten Klinge gewesen – doch als er es in der Realität sah, wirkte es eher wie ein Breitschwert, der goldene Klingenkorb am Ende wirkte durch seine verflochtenen Details fast schon wieder ZU edel für die Waffe. Heather schmunzelte, als sie seinen neugierigen Blick bemerkte. „Ist es das erste Mal, dass du so ein Schwert siehst?“ Er nickte zustimmend und erntete dafür ein leises Lachen. „Ich bin aber gespannt, was du für eine Waffe hast. Mach den Koffer mal auf.“ Anthony war selbst neugierig, immerhin hatte er ihn noch nie geöffnet oder auch nur den Inhalt gesehen. Auf dem Boden kniend öffnete er den Verschluss und öffnete den metallenen Behälter. Eingefasst in Schaumstoff funkelte ihm verheißungsvoll eine fein säuberlich polierte Klinge entgegen, so dass er sich nur vorsichtig traute, den Griff zu berühren, um das Schwert herauszuholen. Neugierig betrachtete Heather das Schwert, während er sich an das ungewohnte Gewicht in seiner Hand zu gewöhnen versuchte. „Der Griff ist ziemlich ungewöhnlich“, kommentierte sie schließlich. Sein Blick zeigte deutlich, dass er nicht wusste, wovon sie sprach, weswegen sie direkt auf das untere Ende des Griffs deutete. „Normalerweise wird an dieser Stelle etwas angebracht, damit dir das Schwert nicht mitten im Kampf aus der Hand rutscht – aber bei dir scheint es eher als wäre der Griff entweder einmal länger gewesen oder als würde man etwas daran befestigen können.“ Da er sich nicht im Mindesten mit Schwertern auskannte, blieb ihm vorerst nur, ihren Worten zu glauben und zu nicken, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. „Gut, dann lass uns anfangen.“ Er verstand nicht sonderlich viel von den Übungen, die er mit ihr machte. Aber das musste er offenbar auch nicht, da sein Körper vollkommen automatisch handelte und alles nachmachte wie sie es vorführte. Es war als hätte er irgendwann schon einmal ein Schwert geführt und würde sich nun nur nicht mehr daran erinnern, auch wenn das natürlich nicht sein konnte, so etwas vergaß man immerhin nicht so einfach, oder? Doch es war etwas anderes, das ihn plötzlich erschrocken zusammenzucken ließ. Ein Echo, tief in seinem Inneren, das in ihm widerhallte, die Worte erst nur undeutlich an sein Ohr brachte und schließlich doch glasklar zu verstehen war: „Töte sie.“ Sie verhallten wieder, nur um erneut zu ihm vorzudringen. „Töte sie.“ Er kannte die Stimme, tief in seinem Inneren wusste er, dass er ihr gehorchen sollte und doch sträubte er sich dagegen. Er konnte doch nicht einfach jemanden töten und schon gar nicht Heather. Ein brennender Schmerz fuhr protestierend durch sein Inneres, als er sich gegen die Stimme stellte und sich weigerte, diesen Auftrag auszuführen. Mit einem leisen Keuchen ging er in die Knie, alles in seinem Inneren zog sich schmerzhaft zusammen, doch er schaffte es, nicht zu schreien, obwohl er die Hoffnung hatte, dass es dann erträglicher werden würde. Ihm schienen Stunden zu vergehen, in denen ihm der Schweiß über den Rücken lief und er sich in der ungewohnten Pein winden musste. Gerade als er glaubte, er müsste sterben oder in Ohnmacht fallen, spürte er plötzlich eine kühlende Hand auf seiner Stirn, gefolgt von einer sanften Stimme, die ihm zuflüsterte, dass alles in Ordnung war. Gleichzeitig damit verschwand die andere Stimme wieder und nahm die Schmerzen gleich mit sich. Er musste mehrmals blinzeln, ehe sein Blickfeld wieder klar genug wurde, um die Person zu erkennen, die für die Linderung seiner Symptome sorgte. „Was ist los?“, fragte Heather besorgt. „War das zu anstrengend für dich?“ Er überlegte, ihr von dieser Stimme zu erzählen, ließ es dann aber bleiben, nicht zuletzt weil sein Hals so trocken war, dass er nicht glaubte, einen vernünftigen Satz hervorbringen zu können. „V-vielleicht“, brachte er mühsam hervor. „Dann sollten wir für heute Schluss machen... Du bist ohnehin ziemlich gut für einen Anfänger, du solltest beim Unterricht keinerlei Probleme haben.“ Sie lächelte ihm aufmunternd zu, er erwiderte es ein wenig müde. Die Schmerzen hatten an seiner Kraft gezehrt und ihn ermüdet – und ihn hungrig gemacht, wenn er ehrlich war. „Gut, dann geh lieber nach Hause und ruh dich aus. Morgen ist immerhin wieder Unterricht.“ Wortlos half Heather ihm, das Schwert wieder im Koffer zu verstauen. Schließlich deutete sie in die entgegengesetzte Richtung zur Umkleide. „Dort drüben kannst du direkt nach draußen gehen. Schaffst du das alleine?“ „Ich denke schon“, murmelte er. Er fragte sich noch immer, was das für eine Stimme gewesen war und warum sie von ihm verlangt hatte, Heather zu töten. Bei ihren sonstigen Begegnungen war das nicht gewesen – und seit das Schwert nicht mehr in seiner Hand war, fühlte er sich auch wesentlich besser, aber das Schwächegefühl ging nicht mehr fort. „Dann sehen wir uns morgen“, sagte Heather, ehe sie nach einem kurzen Winken in Richtung Umkleide davon ging. Anthony sah ihr eine Weile hinterher, während er darauf wartete, dass seine Beine zu zittern aufhörten. Seine Hand, die den Koffer hielt, war derart verkrampft, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Zu seiner Erleichterung kehrte die Stimme nicht wieder, genausowenig wie die Schmerzen. Da es nichts brachte, herumzustehen und darauf zu warten, dass ihn die Erkenntnis treffen würde, fuhr er schließlich herum, um den anderen Ausgang zu nehmen, von dem Heather gesprochen hatte – ohne zu ahnen, dass diese in der Umkleide gerade ihren Bericht über ihn beendete. „Ich weiß natürlich nicht, was genau es war, aber es war mit Sicherheit kein normaler Schwächeanfall.“ Raymonds Blick ging ins Leere, während er ihrem Bericht gelauscht hatte, erst als als fertig wurde, sah er wieder sie direkt an. Seine Brille war verrutscht, aber seine Gedanken waren zu sehr auf etwas anderes konzentriert, um sich darum zu kümmern. „Er hat dir nichts dazu gesagt?“ „Korrekt.“ Zwar sah er sie an, doch sein Blick sagte ihr, dass er geradewegs durch sie hindurchsah, vollkommen in seine eigene Gedankenwelt versunken, aus der er nicht so bald wieder auftauchen würde, sofern man ihn nicht herausholte. „Dad. Hör auf, dauernd wegzudriften.“ Er zuckte zusammen und schob sich nun wirklich seine Brille zurecht. „Oh, tut mir Leid. Ich habe gerade nur an etwas aus meiner Vergangenheit gedacht. Heath, denkst du, ich kann ihn auf eine leichte Mission schicken?“ Bei Erwähnung dieser Koseform ihres Namens zog sie die Stirn kraus, allerdings hatte sie es längst aufgegeben, ihm etwas deswegen zu sagen, weswegen sie das überging und stattdessen mit den Schultern zuckte. „Ich denke schon, aber ich würde es nicht machen, zumindest nicht direkt in seiner ersten Woche. Mit wem würdest du ihn überhaupt mitschicken?“ Statt einer Antwort zog Raymond einen Gegenstand aus seiner Tasche, der sich nach dem Aufklappen als ein Handy entpuppte. Mit wenigen Tastendrücken fand er sich in einem Menü wieder, das lediglich ihm als Direktor dieser Einrichtung vorbehalten war. Einen Klick später fand er auch bereits die ersehnte Antwort, als er durch die Überwachungskamera sah, wie Anthony vor der Halle von Marc abgefangen wurde. „Was sagst du zu deiner Schwester und Campbell?“ Heather schnaubte. „Wenn du meinst, dass es gut ist, wenn er mit einem Campbell zusammen ist... Leen wird bestimmt begeistert sein.“ Mit einem leichten Lächeln auf seinem Gesicht steckte Ray das Handy wieder ein. „Mach dir keine Gedanken, ich bin sicher, alles wird sich in Wolken auflösen.“ „In Wohlgefallen“, seufzte Heather. „Nicht in Wolken, Dad.“ Ehe er dazu kam, sie zu fragen, ob sie sich ganz sicher war, dass es so hieß, klingelte sein Handy und teilte ihm mit, dass er in seinem Büro gebraucht wurde. „Bereite Leen schon mal auf eine kleine Erkundungstour vor, während ich alles in die Wege leite. Ich will so schnell wie möglich sicher gehen.“ „Als ob eine weitere Woche da noch einen großartigen Unterschied machen würde“, klagte Heather, winkte dann aber ab und gab ihm zu verstehen, dass er gehen sollte, um endlich in sein Büro zu kommen, da das Schrillen des Handys immer penetranter wurde. Ihr zunickend huschte er hastig hinaus, das Telefon bereits an sein Ohr gedrückt, um seiner Sekretärin zu bestätigen, dass er auf dem Weg war. Heather dagegen schulterte wieder ihre Schwerttasche, immer noch nicht sonderlich von dem Plan ihres Vaters überzeugt. Wenn das mal nicht nach hinten losgeht... hoffentlich weißt du wirklich, was du da vorhast. Doch statt noch weiter ihren Gedanken nachzuhängen, verließ sie schließlich ebenfalls die Umkleide, um sich ihrer Freizeit zu widmen. Kapitel 9: Am Abend ------------------- Marc hatte keinerlei Probleme damit gehabt, Anthony wirklich zum versprochenen Essen zu überreden. Zwar wollte der erschöpfte Junge eigentlich nur noch nach Hause, doch die Aussicht auf etwas zu essen und zu trinken und ein wenig Ablenkung von seinen düsteren Gedanken, war ihm schließlich doch verlockender erschienen und so folgte er dem gut gelaunten und leicht überdrehten Marc in die Innenstadt. Es war offenbar eine Einkaufspassage, die mit Menschen gefüllt war, die hektisch umherliefen oder mit aller Zeit der Welt an den Schaufenstern vorbeischlenderten. Es kam Anthony fast so vor als würden alle Personen abwechselnd jeden Tag entweder ins Einkaufszentrum oder auf diese Straße kommen – es konnte doch gar nicht derart viele Leute in der Stadt geben, dass gleichzeitig so viele Menschen an verschiedenen Orten sein konnten. Marc führte ihn zu einem Geschäft, das mit Café ausgeschildert war – was selbst in Anthonys Gedanken etwas deutlich anderes als ein Steakrestaurant war. Aber sein Begleiter lächelte ihm nur vielsagend zu und ging hinein. Anthony folgte ihm und stellte überrascht fest, dass das Café nicht nur voll besetzt war, sondern es tatsächlich Steak zu geben schien – zumindest waren einige der Anwesenden damit beschäftigt, eben jenes zu essen. Als sein Blick auf den Kellner fiel, der anhand seiner Uniform leicht zu identifizieren war, atmete Anthony unwillkürlich erleichtert aus. Bislang hatte er niemanden in Lanchest gesehen, dessen Haarfarbe ähnlich außergewöhnlich war wie die seine, aber die Haare dieses Kellners waren tatsächlich violett. Marc zog Anthony mit sich und brachte ihn dazu, sich auf eine der Bänke zu setzen ehe er ihm gegenüber auf einer anderen Platz nahm. „War das Training anstrengend?“, fragte Marc fürsorglich. „Uhm, schon irgendwie.“ Dem Jungen etwas von der Stimme zu erzählen hielt er für überflüssig. Möglicherweise war es nichts weiter gewesen, er wollte aber auch gar nicht weiter darüber nachdenken, dennoch versank er wieder in Gedanken. Marc interpretierte das allerdings vollkommen falsch. „Mach dir keine Sorgen, bei Mr. Chandler ist der Unterricht nicht so schlimm. Heather ist da, soweit ich gehört habe, nur ein wenig strenger.“ Anthony verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass das Training an sich nicht weiter schlimm gewesen war, sondern ließ ihm einfach in den Glauben und nickte verstehend. Während sich erneut Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, überlegte Anthony, was man wohl mit jemandem sprach, den man kaum kannte. Sollte er ihn nach seiner Familie fragen? Oder war das zu persönlich? Der Kellner nahm ihm schließlich die Überlegungen ab, als er an ihren Tisch trat. „Willkommen.“ Anthony hob den Blick, um den Mann anzusehen und blinzelte irritiert. Die Augen des Kellners waren tatsächlich so violett wie seine Augen, so etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Aber so interessant dieser Anblick auch war, es wirkte gleichzeitig auch unheimlich und unnatürlich. Besonders als der Kellner lächelte, seine Augen jedoch so kalt wie zuvor blieben. „Was kann ich für dich und deinen Begleiter tun, Marc?“ Also war er offenbar ein Stammgast in diesem Café, das Steak musste wahrlich köstlich sein. „Wir nehmen beide ein Wasser – oder Anthony?“ Der Angesprochene sah immer noch wie hypnotisiert auf den Kellner und nickte nur geistesabwesend. Dieser Mann kam ihm bekannt vor, er musste ihn irgendwann schon einmal gesehen haben, lediglich die Augen passten nicht in das Bild. Aber die violetten Haare, die eleganten Bewegungen und die majestätische Ausstrahlung war ihm so sehr in seine Erinnerung gebrannt, dass er nur ein wenig tiefer schürfen müsste, um den Namen zu finden, es lag ihm geradezu auf der Zunge. „... bitte, Ryu.“ Anthony zuckte zusammen, als er den Namen hörte. Natürlich! Das war der Name des Mannes, aber woher kannte er ihn. „Steaks?“, hakte Ryu nach. „Hast du denn Geld dafür, Marc?“ „Bin ich jemals ohne Geld hier aufgetaucht?“ Der Kellner legte sich einen Finger an seine Lippen, während er so tat als würde er überlegen. Doch schließlich schmunzelte er leicht. „Schon oft genug.“ Marc wirkte über diese Nachricht äußerst verlegen. „Diesmal mein ich es aber ernst.“ Ryu akzeptierte das tatsächlich und ging wieder davon. „Kommst du wirklich öfter ohne Geld her?“, fragte Anthony neugierig. Sein Gegenüber nickte, dabei lächelte er wieder so schelmisch wie zuvor, setzte aber zu keiner weiteren Antwort an. „Aber wofür gibst du dein Geld immer aus?“ „Das ist eine lange Geschichte“, erhielt er als Antwort. „Aber die Kurzfassung ist, dass ich es jemandem schulde und es langsam zurückzahle... aber es ist sehr, sehr viel, das dauert noch eine Weile.“ Anthony fragte sich, wie man jemandem derart viel Geld schulden konnte, aber er fragte besser nicht weiter. Möglicherweise würde er ohnehin keine Antwort bekommen. „He, darf ich dich was fragen?“ Marcs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Klar.“ Sein Gegenüber lächelte erleichtert. „Erinnerst du dich an deine Eltern?“ Anthony schüttelte mit dem Kopf, ohne lange darüber nachzudenken. Die letzten Jahre hatte er so oft versucht, sich etwas von früher ins Gedächtnis zu rufen, doch er war immer daran gescheitert. Alles, was vor seiner Zeit im Waisenhaus stattgefunden hatte, war wie ausgelöscht. „Dann vermisst du sie auch nicht, hm? Ah, ich beneide dich.“ Marc legte den Kopf zurück und blickte gedankenverloren aus dem Fenster hinaus. Anthony dagegen kratzte sich verwirrt an der Schläfe. Sein Gegenüber war wohl der erste, der ihn beneidete, statt ihm Mitleid zu schenken, eine recht angenehme Erfahrung. „Was ist mit deiner Familie?“, erwiderte er mit einer Gegenfrage. „Magst du sie nicht?“ Sofort richtete Marc seinen Blick wieder auf ihn, er wirkte äußerst amüsiert als ob Anthony eben einen äußerst unterhaltsamen Scherz gemacht hätte. „Du weißt echt nicht, wer meine Familie ist, oder? Kein Wunder, dass du noch Zeit mit mir verbringst.“ Also war Heathers Warnung auf Marcs Familie und nicht auf ihn selbst bezogen gewesen. Es stellte sich für ihn nur noch die Frage, was genau seine Familie tat. In dem Moment, in dem Anthony das bewusst wurde, fiel ihm auf, dass einige der anderen Gäste ihnen immer wieder argwöhnische Blicke zuwarfen. Bislang hatte er diese auf sein rosa Haar bezogen, doch offenbar galten sie tatsächlich alle Marc. „Was tut deine Familie denn?“, fragte Anthony, obwohl er sich nicht sicher war, ob er das wirklich wissen wollte. Marc machte keine Anstalten, etwas zu antworten, stattdessen hob er die Hand und schnippte zweimal mit den Fingern. Anthony wollte gerade fragen, was ihm das sagen sollte, doch schon im nächsten Moment hörte er, wie die Gäste am Tisch hinter ihnen eilig mit etwas zu rascheln begannen – und plötzlich sah er, wie jemand ihm eine Zeitung unter die Nase hielt. Verdutzt bedankte er sich und nahm sie selbst in die Hand, um sich die Schlagzeile durchzulesen, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Campbell-Gruppe übernimmt Ven-Rail – Mysteriöser Tod in der Firmenriege. „Campbell... das sind deine Eltern?“ „Meine Eltern, meine Großeltern, meine Onkel, meine Cousins... Also alle, außer ich.“ Anthony neigte den Kopf. „Das verstehe ich nicht... Deine Familie ist reich, also...“ Marc hielt sich eine Hand vor den Mund, um sein Lachen zu verbergen. „Du verstehst wohl wirklich nicht sonderlich viel von der echten Welt, hm? Meine Familie gehört zum organisierten Verbrechen – und ich finde es selbst am Schrägsten, dass ich das in der Öffentlichkeit einfach so sagen kann.“ Anthony konnte auch mit dieser Angabe nicht sonderlich viel anfangen, aber Marcs bitterer Gesichtsausdruck sagte ihm, dass es besser war, nicht weiter nachzufragen, außerdem schien es etwas zu sein, was man eigentlich wissen müsste und er kam sich selbst dumm vor, es nicht zu wissen. „Mir war das alles zu... na ja, kriminell, ich will weder damit noch mit dem Geld meiner Familie etwas zu tun haben. Die sind also reich – ich bin es nicht.“ „Aber warum redest du jetzt so offen darüber?“, hakte Anthony nach. „Wir kennen uns doch kaum.“ Marc lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich dachte, wir sollten das direkt am Anfang klarstellen, bevor ich dich zu sehr mag.“ Er zwinkerte Anthony zu, worauf dieser sich wieder ein wenig entspannte. So ganz verstand er noch nicht, was das alles für ihn bedeuten würde, falls er sich tatsächlich mit Marc anfreunden würde – aber bislang hielt ihn das nicht davon ab, den Dingen ihren Lauf zu lassen. So sehr er Heathers Warnung auch schätzte, er würde seine eigenen Erfahrungen bezüglich einer Freundschaft mit Marc machen, schon allein um endlich ein normales Leben führen zu können. Die Karte knisterte unangenehm laut, als Russel sie auseinander faltete und auf der Motorhaube ausbreitete. Vincent verzog sein Gesicht, da er aber im Moment mit Telefonieren beschäftigt war, konnte er seinem Unmut darüber, dass sie sich offenbar verfahren hatten, keinen Ausdruck verleihen. Russel runzelte seine Stirn. Die Adresse ist korrekt. Aber... Er warf einen Blick umher, weit und breit war nichts zu sehen, außer die Straße, die sich in beide Richtungen in die Endlosigkeit zu erstrecken schien und jede Menge Sand, Erde und halb verdorrte Pflanzen. „Mit wem telefoniert er eigentlich dauernd?“ Die leise Stimme neben ihm, ließ Russel zusammenzucken. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass jemand neben ihn getreten war, aber nun wandte er seinen Blick. Er vergaß allzu gern, dass diese jung aussehende Dame neben ihm tatsächlich seit einigen Jahrzehnten seine Reisebegleiterin war. Wenn man sie sich genau ansah, wirkte sie auch nicht wie jemand, der auf Reisen war. Ihr leicht gelocktes, blondes Haar saß immer perfekt, ihr zierlicher Körper war nie ausgemergelt, ihre goldenen Augen nie glanzlos und ihre Fingernägel immer akkurat gestutzt. Manchmal fragte Russel sich, wie sie das machte, aber die meiste Zeit war es ihm inzwischen egal, wenn er ehrlich sein musste. „Ich schätze mal, es ist immer sein Auftraggeber“, antwortete er auf ihre Frage und sah wieder auf die Karte. „Oder er fragt bei der Auskunft nach dem Weg.“ Er schmunzelte bei seinen Worten, aber die Dame neben ihm schien nicht sonderlich amüsiert zu sein. „Das ist nicht lustig. Vielleicht wird er uns ja in den Rücken fallen...“ Er konnte ihren Argwohn nachvollziehen. Stets achtete Vincent darauf, dass man ihm nicht belauschen konnte während des Telefonats, wandte sogar immer wieder misstrauisch seinen Blick als würde er überprüfen wollen, dass niemand seine Gedanken las. Russel seufzte leise. „Maryl... kannst du nicht was tun, um dieses Waisenhaus zu finden?“ Ihre Augen verengten sich empört, hastig hob er die Hand, ehe sie loskeifen konnte, wie sie es sonst immer tat, wenn er ihren Zorn erregt hatte. „Schon gut, Prinzessin, tut mir Leid, dass ich gefragt habe.“ Immer noch brodelnd, aber zumindest ein wenig beruhigter begann sie an dem Ring zu spielen, der am Ringfinger ihrer rechten Hand zu sehen war. Ein gelber Edelstein war im Gold eingefasst, er glitzerte bereits und verriet, dass sie Russel am Liebsten mit Steinen beworfen hätte, was keineswegs das erste Mal gewesen wäre. „Du solltest wirklich netter zu einer Lady sein“, erklang Vincents Stimme plötzlich. Als Russel zu ihm sah, beobachtete er wie der Detektiv das Handy wieder in seine Tasche gleiten ließ. „Fertig mit Telefonieren?“ Er überging den Ratschlag und wechselte stattdessen das Thema. „Weißt du jetzt vielleicht, wo wir hinmüssen?“ „Selbstverständlich. Ich mache meine Hausaufgaben, im Gegensatz zu dir.“ Russel schnaubte. „Wenn es noch funktionierende Navis geben würde...“ Er beendete den Satz nicht, sondern versank in nostalgische Erinnerungen an eine Zeit, in der GPS noch existiert hatte und ein Navigationsgerät einen überall hinbrachte – selbst an Orte, an die man nicht gehen wollte. „Was auch immer“, unterbrach Vincent seine Gedanken. „Wir sind gar nicht so weit entfernt – und man erwartet uns dort bereits.“ „Du hast im Heim selbst angerufen?“, fragte Russel perplex. Gleichgültig zuckte der Detektiv mit den Schultern. „Wie sollte man sonst am besten hinkommen? Wenn man sich verfährt, fragt man die Person, zu der man fahren will.“ „Aber du hast die Leute damit vorgewarnt!“ Russel machte eine ausfallende Handbewegung, die zeigen sollte, wie wenig er von dem hielt, was sein Gegenüber sagte. In Ermangelung seines Schirms, der noch im Auto lag, tippte Vincent ihm gegen die Stirn. „Hattest du etwa wieder vor, dort nachts einzusteigen? Wie wäre es, wenn du mal den legalen Weg gehst? Du bist vielleicht kein Mensch, aber das gibt dir dennoch nicht das Recht, dich über alle Gesetze hinwegzusetzen.“ Unwirsch fegte Russel die Hand beiseite. „Der legale Weg dauert zu lange! Die ganze Sache nimmt ohnehin schon zu viel Zeit in Anspruch, ich-“ Als seine Wut anwuchs, entstand ein heftiger Windstoß, der die Karte erfasste, von der Motorhaube anhob und einige Meter durch die Luft beförderte, ehe sie trudelnd wieder zu Boden stürzte. Russel, Maryl und Vincent blickten ihr schweigend hinterher. Die angespannte Atmosphäre schwand sofort, statt weiterer Diskussionen gingen sie wortlos auseinander. Maryl und Vincent setzten sich wieder ins Auto, während Russel zuvor noch die Karte aufhob und sie wieder zusammenfaltete. Sein Blick schweifte dabei in die Entfernung. Mit jeder Sekunde, die verging, glaubte er zu spüren, wie sich das Ende dieser Welt näherte. Doch ehe in diesem Gefühl der Hilflosigkeit vollkommen versank, schüttelte er hastig seinen Kopf, fuhr herum und setzte sich ebenfalls ins Auto. Wenn sie rechtzeitig ankommen würden, könnte er das verhindern, da war er sich sicher. Vincent startete den Wagen wieder und fuhr weiter, doch Russels Gedanken verloren sich weiterhin in allerlei verschiedene Möglichkeiten, wie seine Begegnung mit dem Gesuchten aussehen könnten. Das einfache, graue Gebäude vor dem sie schließlich wieder inne hielten wirkte kalt und herzlos, daran änderte auch das Schild nichts, auf dem Peligro Waisenhaus stand. Russel erinnerte sich, dieses Wort schon einmal gehört zu haben, allerdings in einem vollkommen anderen Zusammenhang. Ist es nicht... spanisch? Ach, wenn ich nur besser aufgepasst hätte damals... argh, ich hasse es, alt zu werden. Ich sehe zu gut aus, um alt zu sein. Da es schon spät war, vermisste er keinerlei Geräusche, die normalerweise von einem Waisenhaus erwartet wurden, er ging davon aus, dass sie alle bereits im Bett waren oder es zumindest Nachtruhe gab. Russel wäre am liebsten direkt wieder umgedreht, dieser Ort behagte ihm nicht und er konnte spüren, dass dieser Anthony ohnehin nicht hier war. Selbst wenn seine Macht noch nicht erwacht war, müsste diese aufgrund seines Status derart überquellen, dass sie für ihn spürbar war. Doch alles, was ihn hier zu erwarten schien, war eine furchteinflößende Aura, die immer wieder kurzzeitig schwand als würde sie versuchen, sich einer Prüfung durch ihn zu entziehen. Dabei lag ihm nichts ferner, da diese Aura sogar ihn frösteln ließ. Sie war so kalt und herzlos wie dieses Gebäude, er wollte gar nicht wissen, wie es wäre, einem solchen Menschen gegenüberzustehen. Vincent ließ sich allerdings nicht beirren. Er trat direkt an die Tür und klopfte. Es dauerte nicht lange, bis eine Klappe sich im Holz öffnete und ein misstrauisches Augenpaar darin erschien. „Ja?“ „Mein Name ist Vincent Valentine“ – Russel schmunzelte erneut, als er das hörte und sich dabei einen Mann mit langen, schwarzen Haaren und einem roten Umhang vorstellte – „Ich habe vor kurzem hier angerufen und um einen Termin bei der Heimleitung gebeten.“ „Oh ja, genau.“ Die Klappe wurde wieder geschlossen, dafür wurde die Tür geöffnet und die Besucher hereingebeten. Nur widerwillig folgte Russel dieser Aufforderung, nachdem Vincent und Maryl bereits hineingegangen waren. Der Gang wurde nur notdürftig von blassen Nachtlichtern erhellt, was ihn darin bestätigte, dass die Kinder bereits alle im Bett waren. Es war eine Frau, die sie hereingelassen hatte, aber Russel war sich sicher, dass dieser Person erst einmal die Menschlichkeit und sämtliche Emotionen entzogen worden waren, ehe sie diesen Job angenommen hatte, jedenfalls blickte sie alle kühl an und die von ihr ausgehende Strenge war auch nicht gerade dafür geeignet, dass man Vertrauen zu ihr fasste. Zum Glück bin ich kein Waisenkind hier... das muss sehr unangenehm sein. Die Frau bat die Drei mit sich und führte sie den Gang entlang. Die Bodendielen knarrten bedrohlich unter ihren Füßen, in der Stille kamen sie Russel so laut vor, dass er fürchtete, alle im Haus Schlafenden damit aufzuwecken. Eine Plakette an der Tür, vor der sie stehenblieben, verriet, dass dies das Büro des Direktors war. Russels Hals schnürte sich zu, er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, so erdrückend war die Aura plötzlich, die er bereits draußen hatte spüren können. Die Quelle musste hinter dieser Tür sitzen, da war er sich absolut sicher. Er versuchte noch einmal, tief Luft zu holen, ehe die Tür geöffnet wurde und er ins Zentrum der Kälte trat, was auch immer ihn dort erwarten würde... Kapitel 10: Erwachen -------------------- „Erkundungsmissionen sind die Leichtesten, besonders bei Anfängern. Wir werden heute eine alte Lagerhalle erforschen, sie ist aber vollkommen ungefährlich, steht unter Videobeobachtung und wird seit Jahren von den Kadetten unserer Schule als erstes Trainingsgelände genutzt.“ Leen beendete ihre kurze Erklärung, indem sie sich ein Stück Schokolade in den Mund schob und dieses dort mit der Zunge von einer Seite auf die andere schob, ohne es zu kauen. Zwar hatte er bislang noch nicht viel mit ihr gesprochen, doch Anthony konnte sich denken, dass sie das tat, um nichts weiter sagen zu müssen. Er saß ihr gemeinsam mit Marc im Wagen, der sie zu dieser Halle bringen sollte, gegenüber. Während der Blonde vollkommen gelassen schien und beständig lächelte, war Anthony über alle Maßen nervös. Bislang hatte er nur einmal – zwei Tage zuvor – mit Heather trainiert. Was wenn sich doch etwas Gefährliches in dieser Halle befinden würde? Er würde sich nicht vernünftig verteidigen können. Beide Anwesenden schienen das genau zu merken, aber nur einer von beiden sagte etwas darauf. „Mach dir keine Gedanken“ – Marc klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter – „Wir decken dir den Rücken. Ich war bei der ersten Mission hier auch nervös.“ „Das waren wir alle“, ergänzte Leen. Gleichermaßen überrascht wandten sich die Jungen ihr zu. „Du warst nervös?“ In Anthonys Augen war sie bislang eine etwas unterkühltes Mädchen gewesen, das leicht über allen möglichen Emotionen schwebte und darum abweisend wirkte, obwohl sie eigentlich eher desinteressiert war und einige Zeit brauchte, um wirklich aufzutauen. Aber Nervosität passte absolut gar nicht in dieses Schema. „Was denn?“, erwiderte sie leicht genervt. „Darf ich nicht nervös sein?“ Marc machte eine hilflose Geste, um zu zeigen, dass er nach Worten suchte, um zu erklären, warum sie darüber so verwundert waren. Doch es war Anthony, der diese schließlich fand: „Das passt einfach nicht zu dir.“ „Und du kannst das so genau sagen?“ Sie verzog ihr Gesicht, offensichtlich nicht gerade erfreut darüber, dass er so etwas bemerkte. „Es ist nur das, was wir denken“, sprang Marc für den vor Furcht schweigenden Anthony ein. Ihre gerunzelte Stirn und ihr finsterer Blick reichten, um die beiden Jungen tiefer in ihrem Sitz sinken zu lassen. Anthony konnte sich nicht erklären, woher sie diese furchteinflößende Attitüde hatte, aber er wollte sie keineswegs bei ihren Eltern in Gebrauch sehen. Der Wagen hielt schließlich an, der Fahrer bedeutete ihnen, auszusteigen, was Marc und Anthony nur zu gern auch gleich in die Tat umsetzten. Tatsächlich fanden sie sich vor einer großen, einfachen Lagerhalle wider, der Putz blätterte bereits von den Wänden ab, Efeu rankte sich daran empor, einige der Fenster waren kaputt, andere waren total verdreckt. Alles deutete darauf hin, dass seit Jahren niemand mehr in dieser Halle arbeitete. „Was wird hier denn aufbewahrt?“, fragte Anthony. Während Leen ebenfalls aus dem Wagen stieg, dachte Marc nach. „Also, ich das letzte Mal hier war, standen jede Menge Fässer und elektronische Ausrüstung darin herum und sind eingestaubt. Ich glaube, die Halle ist seit gut hundert Jahren verlassen.“ „Hundertfünf, um genau zu sein“, ergänzte Leen, als sie zu ihnen trat. „Wollen wir jetzt endlich reingehen, bevor wir hier Wurzeln schlagen?“ Die beiden Jungen nickten und folgten ihr hinein. Bislang hatte Anthony dem Gegenstand an Leens Gürtel keine Beachtung geschenkt, aber nach einem kurzen Handgriff von ihr erstrahlte das kristalline Rechteck in einem hellen weißen Licht, das ihnen genug Helligkeit spendete, um sich umsehen zu können Im Inneren des Gebäudes hallten ihre Schritte dermaßen von den Wänden wider, dass Anthony im ersten Moment zusammenzuckte und sich gehetzt umsah. „Ganz ruhig“, murmelte Marc. „Dir passiert hier nichts.“ Da war er sich nicht so sicher, aber er wagte es nicht, in irgendeiner Art und Weise zu widersprechen. Im Heim war man dafür stets abgestraft worden, weswegen er es hier lieber vermied. Metallregale, in Reih und Glied angeordnet, ragten meterhoch bis fast unter die Decke der Halle, auf jedem Fach waren eingestaubte Kartons oder mit Kabeln versehene Geräte abgelegt worden. Die niedrigsten Fächer waren derart hoch angebracht, dass die ein Meter hohen Fässer bequem darunter passten. Ein unangenehm stechender, fauler Geruch ging von ihnen aus und ließ Anthony fast schwindelig werden, als er diesen einatmete. Auf dem hölzernen Boden musste sich irgendwann eine schleimige Substanz ausgebreitet haben, weswegen nun alles klebte und Anthony weiter beunruhigte. Leen schnaubte empört. „Ab und an könnte Dad hier schon eine Putzfrau vorbeischicken...“ Das wäre eine Lebensaufgabe für eine einzelne Putzfrau, fuhr es durch Anthonys Gedanken. Nachdem sie die erste Reihe der Regale hinter sich gebracht hatten, blieben sie in dem Seitengang stehen, der wohl den Zugang zu bestimmten Bereichen erleichtern sollte. Marc sah auf den Boden hinab. „War hier immer Holz ausgelegt?“ Nachdenklich folgte Leen seinem Blick. „Nein, ich glaube, das letzte Mal war es noch Beton. Aber es ist gut möglich, dass unter dem schon immer Holz gewesen ist.“ „Müsste das nicht heißen, dass irgendwas den Beton weggeätzt hat?“, hakte Anthony nach. Das ungute Gefühl in seinem Inneren verstärkte sich derart, dass er schon regelrecht Magenschmerzen bekam und auch Migräne gesellte sich langsam dazu. Seine angespannten Schultern wirkten sich auf seinen Nacken aus und von dort auf seinen Hinterkopf, doch der Schmerz schlich sich bereits nach vorne zu seiner Stirn, das konnte er deutlich spüren. „Das ist wahr“, bestätigte Leen. „Aber es scheint sich mit dem Beton aufgelöst zu haben, sonst hätten wir schon längst keine Schuhe mehr.“ „Du bist so talentiert darin, einen zu beruhigen“, frotzelte Marc. „Hoffentlich bekommen wir mal eine lebensgefährliche Mission miteinander.“ Sie warf ihm nur einen missbilligenden Blick zu und kniete sich dann hin, um sich den Boden näher anzusehen. „Diese klebrige Substanz... was ist das?“ Während Marc sich zu ihr kniete und sich mit ihr in allerlei Theorien zu verstricken begann, worum es sich handeln könnte, ließ Anthony den Blick schweifen. Der Großteil der Halle lag trotz Leens Lichtquelle immer noch im Dunkeln. Irgendwo mitten in dieser Finsternis glaubte er, eine fremde Anwesenheit wahrzunehmen, die ihn zu sich rief und obwohl er sich dagegen zu wehren versuchte, spürte er plötzlich, wie seine Beine sich automatisch in diese Richtung zu bewegen begannen. Weder Marc noch Leen schienen zu bemerken, dass er sich von ihnen entfernte. Am Ende des Ganges angekommen, blieb er wieder stehen. Die Regale reichten dort nicht bis an die Wand, so dass er in einem recht freien Bereich stand. Allerdings wurde das Gefühl, dass sich außer ihnen noch jemand – oder etwas – hier befand, noch stärker. Es war das erste Mal, dass er eine fremde Aura spüren konnte, aber auch das erste Mal, dass sie so dermaßen stark war – und sie kam von unten. Unwillkürlich sprang er zur Seite und drückte sich gegen die Wand. Holz splitterte, als etwas aus dem Boden hervorbrach, ein massiger Körper, gespickt mit schwarzen Schuppen baute sich vor Anthony auf. Bei genauerem Hinsehen glaubte Anthony, ein rotes Glühen unterhalb der Schuppen wahrnehmen zu können als würde Feuer im Körper dieses Wesens schwelen. Die grünen Augen schienen ebenfalls von innen heraus zu glühen, die gebleckten Zähne waren erstaunlich weiß und rasiermesserscharf. Die verzogenen Mundwinkel erweckten den Eindruck als würde das Geschöpf ihn angrinsen. Anthonys Blick wanderte an dem Körper der Kreatur herab, um sich dieses Grinsen nicht mehr mitansehen zu müssen. Lederne, leicht eingerissene Flügel wuchsen dem Wesen aus dem Rücken, die Pranken waren geradezu gigantisch, dementsprechend groß waren auch die daraus hervorsprießenden Krallen. Der Schwanz zuckte nervös. Selbst mit seinem eingeschränkten Wissen bezüglich der Welt außerhalb des Heims wusste Anthony sofort, was das für ein Geschöpf war. „E-e-ein Drache...“ „E-e-ein Mensch.“ Anthony brauchte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass die Stimme, die ihn da verspottete, tatsächlich von dem Wesen selbst kam. Ein Lachen erklang aus der Kehle des Drachen. „Ich hatte etwas anderes als einen Menschen erwartet... Du bist ja nicht mal als Snack geeignet.“ Eine Flüssigkeit tropfte aus dem Maul des Ungetüms, dort wo sie auf dem Boden aufkam, löste dieser sich zischend auf. Immerhin weiß ich jetzt, was den Beton hat verschwinden lassen. Allerdings tröstete ihn diese Erkenntnis nicht sonderlich. Er presste seinen Rücken gegen die Wand und versuchte, seitlich zur Seite auszuweichen, doch der Kopf des Drachen stellte sich ihm in den Weg. „Wo willst du denn hin, Kleiner?“ Schweigend starrte Anthony in seine Augen und spürte dabei, dass es unnatürlich war, dass er Angst empfand, dass er eigentlich keinerlei Probleme mit diesen Wesen haben dürfte. Aber woher kam dieser Gedanke? Wie sollte man vor diesem riesigen, furchteinflößenden Ungetüm keine Angst haben? „Anthony!?“ Marcs Stimme holte ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Drache mit dem Schwanz ausholte – und diesen auf ihn zusteuerte. Während Leens Blick vollkommen auf den Drachen gerichtet war, den sie hier nicht erwartet hatte, war Marc auf Anthony fixiert – und zuckte erschrocken zusammen, als der Schwanz des Wesens den Jungen erwischte und gegen die Regale schleuderte, die unter dem Aufprall zusammenbrachen und ihn unter sich begruben. „Anthony!“ Marc wollte auf das eingestürzte Regal zurennen, um dem Begrabenen zu helfen, doch Leen hielt ihn hastig am Arm fest und zog ihn zurück. Überrascht stellte er dabei fest, über was für eine Kraft das Mädchen verfügte – und wie ruhig sie blieb. „Lass es, Campbell. Du kannst ihm ohnehin nicht mehr helfen. Lass uns gehen!“ Er musste auch zugeben, dass es ziemlich viel Gewicht war, das da auf Anthony gelandet war, aber dennoch fiel es ihm schwer, zu verarbeiten, dass er tot sein sollte. Er war doch erst ein paar Tage bei uns... Als der Drache seinen Kopf ihnen zuwandte, wurde ihm bewusst, dass er keinerlei Zeit hatte, sich darüber Gedanken zu machen. Vorerst mussten sie fliehen, es war wichtig, dass sie überlebten. Drachen waren recht verbreitet, wenngleich die meisten einer äußerst friedlichen Spezies angehörten, die lediglich kämpften, wenn man sie bedrohte – und dann gab es jene, die einfach Vergnügen aus dem Töten von Menschen zogen. Dazwischen gab es mit Sicherheit noch weitere Schattierungen, aber für Marc war ihm Moment nur wichtig, dass dieses Exemplar vor ihnen sich im Moment an ihrer Furcht labte und genau wie alle anderen seiner Art ein äußerst tödlicher Gegner war. Ein einzelner Prankenhieb konnte diesem Ungetüm ausreichen, um seine Gegenüber mühelos zu zerquetschen. Sein Überlebensinstinkt meldete sich und spornte ihn an, sich umzudrehen und gemeinsam mit Leen zu fliehen, solange sie noch konnten. Er warf noch einen letzten Blick auf das zusammengestürzte Regal, dann fuhr er tatsächlich herum und rannte los. Leen tat es ihm direkt nach. Plötzlich schien die Dunkelheit jenseits der transportablen Lichtquelle noch viel undurchdringlicher zu sein, jeder Gang wirkte genau wie der andere, der Ausgang war wie verschwunden, verschluckt von der Finsternis, die ihre Klauen nun auch nach ihnen ausstreckte. „Links!“ Ihm blieben nur Bruchteile von Sekunden, zu entscheiden, ob Leen meinte, dass er nach links laufen oder sich vor einem Angriff von dort in Acht nehmen sollte. Instinktiv wählte er ersteres, schlitterte bei der nächsten Öffnung zwischen den Regalen nach links und stellte erleichtert fest, dass er endlich das Lichtquadrat sehen konnte, das gleichbedeutend mit dem Ausgang war. Er glaubte bereits, die frische Luft wieder wahrnehmen zu können – als Leen abrupt innehielt. „Marc, stopp!“ Automatisch blieb er ebenfalls stehen und wich sofort zurück, als etwas vor ihm aus dem Boden brach. Holzsplitter streiften sein Gesicht, er legte den Kopf in den Nacken, um den Drachen zu betrachten, der sich vor ihm aufbaute. „Er kann sich durch den Untergrund bewegen“, wisperte Leen, als Marc zu ihr zurückgewichen war. „Ich glaube nicht, dass er uns gehenlassen wird.“ „Kannst du nicht etwas tun?“ Keiner von ihnen wandte den Blick von ihrem Feind ab und dieser wiederum sah sie auch unablässig amüsiert an. Er bewegte sich nicht einmal, er wusste offenbar genau, dass sie ihm in der Falle saßen. „So gern ich auch würde“, erwiderte Leen, „aber es gibt nichts.“ Marc gab nur ungern zu, dass sie damit recht haben könnte. Hexenmagie galt als unwirksam, da die Schuppen der Drachen diese reflektierten, ihre Doppel-Kukri waren eine Nahkampfwaffe, die einen direkten Kontakt zum Feind voraussetzte – und er selbst fühlte sich mit seiner Pistole gerade auch äußerst unnütz. Wenn er sich den Unterricht richtig ins Gedächtnis rief, waren Drachen quasi unbesiegbar und den einzigen Rat, den er von ihrem Lehrer diesbezüglich bekommen hatte war 'Solltest du jemals einem gegenüberstehen, dann lauf und hoffe, dass er sich nicht für dich interessiert'. Tss, in diesem Fall geht gar nichts von beidem. Als er bemerkte, wie ruhig und sachlich er selbst über all das im Moment nachdenken konnte, wunderte er sich selbst – aber Panik, so wusste er, war im Augenblick fehl am Platz, das würde sie nicht aus dieser Situation retten. Leen und er wichen noch einen Schritt zurück und unbemerkt für sie beide, durchzuckte sie in diesem Moment derselbe Gedanke: Wir bräuchten schon ein Wunder, um hier herauszukommen. Die Kälte und die Leere, die ihn umgab, kamen ihm entfernt bekannt vor. Irgendwann war er schon einmal an diesem Ort gewesen, zumindest sagte ihm das sein Gefühl. Aber er konnte nichts sehen, er spürte seinen Körper nicht, nur diese unnachgiebige Kälte, die ihn wie einen Kokon umgab, der vergessen hatte, dass er eigentlich schützen und wärmen sollte. „Du bist wach?“ Er kannte auch diese Stimme, hatte sie unzählige Male in seinen Träumen gehört und doch war ihm der Name dessen unbekannt, der da sprach. Bislang war es ihm nicht möglich gewesen, zu fragen, wer dieser andere war, warum er sich in seinen Träumen befand. Ich denke schon... Es war ihm nicht möglich, selbst die Stimme zu erheben, um zu antworten, aber die gedachten Worte entfalteten sich in der Leere und bekamen einen Klang, der seiner echten Stimme ähnelte. „Das ist gut. Dann ist noch nicht alles verloren.“ Verloren? Was war überhaupt geschehen? Warum war er hier? Es war anders als seine normalen Träume, viel kälter... und noch nie hatte der Andere direkt mit ihm gesprochen. Bislang waren die Worte in seinen Ohren immer Erinnerungen an Ereignisse gewesen, von denen er nichts wusste, zumindest in seiner Vorstellung. „Du erinnerst dich nicht? Das wundert mich nicht. Im Prinzip bist du immerhin tot, begraben von Schrott. Dein Leben hängt am seidenen Faden, aber offenbar bist du noch nicht bereit, einfach aufzugeben, immerhin ist dein Bewusstsein noch da.“ Normalerweise hätten seine Gedanken sich in diesem Moment ein wildes Wettrennen in seinem Kopf liefern müssen, doch stattdessen schoben sie sich träge und zähflüssig umher und erlaubten es ihm nicht, Verbindungen oder Schlüsse zu ziehen. Was... jetzt? So sehr er sich auch an diese Stimme klammerte, um nicht zu verschwinden, so spürte er immer mehr wie sein Bewusstsein zu bröckeln begann und Gleichgültigkeit von ihm Besitz ergriff. „Nun, du wirst sterben, das ist klar. Aber du hast noch eine Möglichkeit...“ Er hätte über diese Zaghaftigkeit des Anderen am Liebsten laut geschrien, aber selbst für Wut fühlte er sich inzwischen zu müde. Was...? „Du musst mich in deine Seele lassen, übergib mir deinen Körper. Nicht für immer natürlich, aber zumindest für den Moment. Du solltest ohnehin eigentlich ich sein.“ Es fiel ihm bereits schwer, die Bedeutung der Worte zu erfassen, weswegen er nicht lange zögerte und zustimmte, worauf ein zufriedenes, leises Lachen folgte. „Sehr gut. Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit, mein Bester. Lass uns ein paar Fehler ausbügeln, die andere gemacht haben.“ Er verstand erneut kein Wort, doch er fragte auch nicht weiter. Wärme erfüllte ihn wieder, als dieser Andere Besitz von seiner Seele ergriff und die Kontrolle über seinen Körper übernahm. Er konnte spüren, wie sein Bewusstsein wieder verstärkt zurückkehrte, nur um sich hinter einen nebelhaften Vorhang zu begeben, um dem Anderen alles zu überlassen, in der Hoffnung, dass alles gut ausgehen würde. Das helle Licht lenkte sowohl die Aufmerksamkeit des Drachen als auch die von Leen und Marc zurück in die Richtung, in der das eingestürzte Regal lag. Die illuminierte Säule dort leuchtete so grell, dass sämtliche Finsternis aus der Halle vertrieben zu werden schien. Das Licht glühte in einem blassen Grün, das allem einen geisterhaften Schein verlieh und die Gesichter der beiden Kadetten unnatürlich bleich erscheinen ließ. „Was ist das?“, fragte Marc. Leen antwortete nicht, obwohl sie wesentlich weniger ahnungslos als er schien und auch der Drache, der von einer unguten Vorahnung erfasst wirkte, sagte nichts. Von unheimlicher Stille beseelt beobachteten sie, wie die Säule wieder verblasste, das Licht jedoch nicht ganz erlosch und sich dafür langsam auf sie zubewegte. Als es um die Ecke kam, erkannte er eine Gestalt in diesem Licht. Sie lief ein wenig ungelenk und vorübergebeugt als müsste sie sich erst wieder an diese Bewegungen gewöhnen, eine unheimlich kalte und furchteinflößende Aura ging von dieser Person aus und doch erkannte Marc sie sofort. „Anthony?“ Wenige Schritte vor ihnen blieb er wieder stehen und da war der blonde Kadett sich ganz sicher, dass es der vermeintlich Tote war. Sein Verhalten erinnerte aber eher an einen Geist oder einen Zombie denn den zurückhaltenden Jungen von zuvor. 'Anthony' stützte sich gegen das Regal und hob den Kopf ein wenig, so dass sie ihm ins Gesicht sehen konnten. Leen zuckte erschrocken zusammen und wich in derselben Bewegung zurück, während Marc ihn interessiert betrachtete. Die ehemals blauen Augen waren plötzlich blassgrün und wirkten unheimlich fehl am Platz – aber am meisten überraschte ihn das Symbol auf der Stirn des Jungen. Es war ein schlangenförmiger Drachen, der sich selbst in den Schwanz biss, eingerahmt von einem Kreis. Marc war sich sicher, dass er dieses Symbol bereits schon einmal gesehen hatte – fragte sich nur, wann und wo. Der Drachen sog erschrocken die Luft ein, genau wie Leen schien er diese Gestalt also zu erkennen, während Marc nach wie vor im Dunkeln tappte. „Das kann nicht wahr sein!“ 'Anthonys' Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Du hättest vielleicht vorher darüber nachdenken sollen, wen du angreifst.“ Marc glaubte zu spüren, wie der Drache vor Angst zu zittern begann, ganz offensichtlich wusste er mehr über diese fremdartige neue Aura, die Anthony umgab. Genau wie Leen, die sich hinter den blonden Kadetten drängte, um sich von ihm schützen zu lassen, zumindest glaubte er das. 'Anthony' hob mühevoll die Hand – etwas schoss an Marc vorbei, im nächsten Augenblick erklang ein lauter Schmerzensschrei von dem Drachen, der hinter ihnen stand. Der erzitternde Boden versicherte ihm, dass das Ungetüm umgefallen und – hoffentlich – tot war. Doch dafür hatten weder er noch Leen im Moment einen Blick übrig. Sie beide sahen konzentriert weiter auf 'Anthony', der den Blick wieder gesenkt hatte. Leen krallte ihre Finger schmerzhaft in Marcs Schultern und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn aus ihrer sicheren Position heraus zu betrachten. „Weißt du, was hier los ist?“, wisperte der blonde Kadett. Sie antwortete ihm nicht, aber damit gerechnet hatte er ohnehin nicht. Inzwischen kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihr Wissen nicht teilte. Seine Hand griff nach dem Pistolenhalfter an seiner Hüfte, hielt aber davor inne. 'Anthony' schien sie nicht angreifen zu wollen, aber er machte auch keine Anstalten, sich selbst zu erklären. Marc war sich daher unsicher, ob und wie er nun handeln sollte. Vielleicht reichte es auch, wenn er ihn einfach in Gewahrsam nahm... oder ihn nett darum bat, mit ihnen zu kommen. Doch während er noch überlegte, fiel die fremde Aura plötzlich von seinem Gegenüber ab und im selben Augenblick stürzte Anthony zu Boden und blieb reglos liegen. Marc riss sich von Leen los und eilte zu dem Gestürzten, um seinen Puls zu fühlen. Ohnmächtig. Immerhin lebt er noch. „Wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen“, bemerkte Leen, als sie neben ihn trat. „Und ich muss unbedingt mit meinem Vater sprechen.“ Marc wusste zwar nicht, was sie diesem sagen wollte, nickte aber zu dem Punkt, dass Anthony in ein Krankenhaus und in ärztliche Behandlung gehörte. Sein Mund war allerdings viel zu trocken, um etwas zu sagen. Vorsichtig, aber dennoch hastig, hob Marc seinen Oberkörper nach oben. Leen legte Anthonys Arm um die Schulter des Blonden und fuhr dann herum, um zu gehen. Sie lief einen großzügigen Bogen um den toten Körper des Drachen, der keinerlei offene Verletzungen zeigte, es war als ob er einfach vor Schreck umgefallen wäre. Marc betrachtete ihn nicht weiter, während er Anthony mit sich zum Ausgang schleppte. Er war bereits zu sehr in seine Sorgen und Gedanken vertieft, die sich alle um das eben Geschehene drehten. Er würde dafür Antworten finden müssen, irgendwie. Kapitel 11: Unterwegs --------------------- Maryl schlief immer noch. Zusammengekauert saß sie mit hochgezogenen Beinen auf dem Sitz, zugedeckt mit Vincents Jackett, das dieser der Schlafenden zur Verfügung gestellt hatte. Russel fragte sich, wie lange sie das noch durchziehen würde und ob er sie, in Lanchest angekommen, noch in ein Hotel tragen müsste. Immerhin war Vincent inzwischen wieder wach, so dass die Zugfahrt nicht ganz so einsam war, doch sonderlich gesprächig war der Detektiv auch nicht – obwohl Russel es ohnehin lieber vermied, mit ihm zu sprechen. Worüber unterhielt man sich auch mit jemandem, den man nicht mochte? He, wir konnten uns noch nie ausstehen, aber erzähl doch mal von dir. Oder willst du lieber was von meinen vergangenen Eskapaden hören? Da war neulich eine tolle Party... Russel verwarf den Gedanken eilig wieder, überlegte stattdessen, ob er lieber über das Peligro-Waisenhaus und ihren Besuch dort sprechen sollte, aber... Ehe er dazu kam, zog Vincent, der bislang abwesend aus dem Fenster gestarrt hatte, sein Handy hervor. Es klingelte nicht, vibrierte nicht und leuchtete nicht einmal, also rief wohl niemand an. Dennoch betätigte er einige Tasten und hielt es sich anschließend ans Ohr. Von seinem Platz gegenüber konnte Russel nicht sonderlich viel von der weiblichen Stimme am anderen Ende verstehen, aber sie sprach ohne Punkt und Komma, aufgeregt als ob sie kurz davor stand zu weinen. Vincents Mimik wurde augenblicklich weicher, gleichzeitig schlich sich eine Sorgenfalte auf seine Stirn. Wer immer da sprach, musste also wirklich wichtig für ihn sein. „Wer ist sie?“ Es war nicht nur die Neugierde, die ihn dazu trieb, diese Frage zu stellen, Russel konnte deutlich spüren, dass Vincent sich Sorgen um diese Frau machte und dass er sich nun eine alte Nachricht von ihr anhörte, deutete darauf hin, dass er sie gerade im Moment sehr vermisste und auch wenn er diesen Mann nicht wirklich mochte, wollte er ihn dennoch nicht mit diesen Gefühlen allein lassen. Immerhin wusste er nur zu gut, wie sich das anfühlte. Der Detektiv runzelte seine Stirn, überlegte offenbar, ob er wirklich etwas sagen sollte und entschied sich schließlich dafür: „Sie ist der Grund, warum ich den Göttlichen überhaupt suche. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich niemals um all das gekümmert. Ich wollte keinen von euch je wiedersehen.“ Russel verkniff sich die sarkastische Erwiderung, die ihm bereits auf der Zunge lag, um Vincents plötzliches Mitteilungsbedürfnis nicht zu stören. „Eigentlich kann ich dich ja verstehen. Mir wäre es auch lieber gewesen, wenn nichts mehr in der Richtung passiert wäre.“ Dass sie wieder zusammentrafen und auch noch nach dem Göttlichen suchten, konnte immerhin nur bedeuten, dass genau wie vor fast hundert Jahren wieder eine Katastrophe bevorstand – und Russel dachte sich bereits, dass es etwas mit dem Direktor dieses Waisenhauses zu tun haben könnte. „Aber was hat sie dann getan, um dich neu entscheiden zu lassen?“, fragte er weiter. Vincent ließ das Handy sinken, steckte es aber nicht wieder ein, sondern blickte darauf als ob die Antwort auf dem Display stehen würde. „Sie hat nichts getan. Jemand hat sie gekidnappt und verlangt im Austausch gegen ihr Leben, dass ich Anthony Branch suche.“ „Du musst sie sehr lieben.“ Zum ersten Mal seit er diesen Mann kannte, egal ob in diesem oder dem letzten Leben, lächelte Vincent und lachte dann leise. „Das tue ich. Aber wohl anders als du denkst.“ „Sieht sie denn gut aus?“, fragte Russel ganz in seinem Element. Mit Frauen kannte er sich aus, studierte er sie doch schon seit Jahrhunderten und das Aussehen war immerhin meist das Erste, was man an einer solchen bemerkte. Obwohl er sich durchaus vorstellen konnte, dass man für einen Mann wie Vincent mehr brauchte als nur Schönheit – wenn er überhaupt auf derart viel Wert aus das Äußere legte. In seinem Leben hatte Russel einige Frauen kennengelernt und so manche hatte ihn allein durch ihren Charisma um den Finger gewickelt. Dennoch galt seine erste Frage immer dem Aussehen, es war einfach ein Reflex geworden. Zur Antwort hielt Vincent ihm sein Handy entgegen, Russel betrachtete das anzeigte Bild auf dem Display interessiert. Das Foto zeigte den Detektiv, wie er griesgrämig ins Objektiv sah, eine fröhlich aussehende junge Frau hatte ihren Arm um ihn gelegt und lachte im Gegensatz vergnügt in die Kamera, ihr ausgestreckter anderer Arm verriet, dass sie es war, die dieses Bild aufgenommen hatte. Die Ähnlichkeit mit Vincent war frappierend, glänzendes schwarzes Haar, bei ihr allerdings so lang, dass auf diesem Ausschnitt kein Ende zu sehen war und ihre stahlblauen Augen schienen einem geradezu in die Seele zu schauen – sogar die Gesichtszüge der beiden ähnelten sich. „Sie sieht aus als wäre sie mit dir verwandt“, bemerkte Russel im Scherz, blinzelte aber irritiert, als Vincent knapp nickte. „Sie ist meine...“ – er zögerte einen kurzen Moment – „Schwester. Wir haben gerade gemeinsam an einem Fall gearbeitet, als sie gekidnappt und ich erpresst wurde.“ „Klingt ernst. Aber für Geschwister würde man auch durch die Hölle gehen, was?“ Vincent nickte noch einmal und steckte sein Handy nach einem letzten Blick auf das Bild wieder ein. Erstaunt hob er eine Augenbraue, als ihm etwas bewusst zu werden schien. „Es wundert mich ein wenig, dass du mir nicht geraten hast, mich an die Polizei zu wenden.“ „Na ja, du bist eher einer von der korrekten Sorte... ich denke also, wenn du das hättest tun können, wärst du auch diesen Weg gegangen. Aber stattdessen tust du etwas, was du eigentlich nicht tun wolltest, das bedeutet also, dass die Kidnapper zu einflussreich sind oder ihr etwas Illegales getan habt, als sie von diesen Leuten geschnappt wurde – oder beides. Und dann liebst du sie tatsächlich zu sehr, um zu riskieren, dass die Behörden was vermasseln, was sie nämlich tun würden, wie ich sie kenne.“ Vincent lachte spöttisch durch die Nase. „Du bist gar nicht schlecht im Raten. Es stimmt, die Leute sind sehr einflussreich und meine Schwester wurde gefangen, als sie dort einbrach, um einige Beweise für mich zu aquirieren. Es ist also... auch meine Schuld, dass sie in diese Situation geriet, darum ist es allein meine Aufgabe, sie zu retten.“ Russel schmunzelte, als er diese Worte hörte. Langsam wurde dieser Vincent ihm wirklich sympathisch, eine solche Einstellung gefiel ihm äußerst gut – und sie widersprach dem sonstigen Verhaltensmuster des Detektivs, was noch einmal darauf hinwies, wie wichtig ihm diese Frau war. Man verzichtete immerhin nicht für jede x-beliebige Person auf seine eigenen Prinzipien. Plötzlich stutzte der Detektiv. „Wohin fahren wir eigentlich?“ „Sag mir nicht, du hast es wirklich vergessen.“ Nach dem Treffen mit dem Direktor hatten sie sich in diesen Zug gesetzt und im Anschluss waren sowohl Vincent als auch Maryl eingeschlafen. Die blonde Frau schlief immer noch, der Detektiv war irgendwann wieder aufgewacht, sein desorientierter Blick hatte in Russel aber schon eine derartige Ahnung geweckt. „Warum antwortest du mir nicht einfach? Es ist viel zu dunkel, um draußen etwas zu erkennen.“ „Wir fahren nach Lanchest. Der nette Herr Direktor hat uns verraten, dass Anthony dort ist.“ Und noch ein paar Dinge mehr... Die Verwirrung auf Vincents Gesicht war ungewohnt und unter anderen Umständen hätte Russel dieser Anblick durchaus gefallen, aber im Moment wäre es ihm lieber gewesen, wenn jemand sich gemeinsam mit ihm hätte Sorgen machen können. „Wir haben ihn... getroffen?“ Russel nickte bestätigend. „Du wirst dich nicht mehr daran erinnern, weil du ein Mensch bist und er nicht, aber -“ „Moment. Heißt das, du bist kein Mensch?“ Ertappt zuckte Russel zusammen und sank augenblicklich tiefer auf seinem Sitz, was für Vincent natürlich eine Bestätigung war. „Was bist du dann? Ein Drachenmensch?“ Prüfend huschte sein Blick über die grünen Haare und Augen seines Gegenübers, die diese These stützten, doch von ihm kam keine Antwort. Das brauchte Vincent allerdings nicht, er verwarf diese sofort selbst wieder. „Nein, das kann nicht sein. Etwas an dir passt nicht ganz dazu. So etwas wie dich habe ich noch nie getroffen, deswegen fällt es mir schwer, dich einzuschätzen.“ 'Etwas'... als ob ich ein Tier wäre. Früher hätte es so etwas nicht gegeben. „Du kannst ruhig ewig raten, du kommst ohnehin nie darauf. So schlau bist du auch nicht.“ Russel zwinkerte ihm zu, um zu verhindern, dass Vincent wütend wurde – und es funktionierte tatsächlich, der Detektiv schmunzelte. „Das wäre möglich. Du bist auf jeden Fall sehr außergewöhnlich, nicht wahr?“ „Oh, total.“ Der grünhaarige Schwertkämpfer lächelte stolz. „Aber irgendwann werde ich es dir schon verraten. Wenn der große Moment gekommen ist.“ Zu Russels großer Überraschung lachte Vincent leise und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. „Du hast wohl zu viele Hollywoodfilme gesehen, hm?“ „Damals, als sie noch gut waren, ja. He, kann ich doch noch etwas fragen wegen deinem Auftrag?“ Die Antwort auf die Frage interessierte ihn natürlich, aber er wollte auch unbedingt das Thema wechseln, da er nicht wusste, wie er Vincent erklären sollte, was es mit diesem Direktor auf sich hatte. Der Detektiv nickte und warf ihm einen auffordernden Blick zu, worauf Russel die Frage stellte: „Was haben deine Auftraggeber mit dem Göttlichen vor? Was sollst du tun, wenn du ihn gefunden hast?“ „Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Sobald ich ihn gefunden habe, soll ich ein Foto machen, dieses an meine Auftraggeber schicken... und dann abwarten.“ „Ziemlich schwammige Aufgabe“, schloss Russel mit gerunzelter Stirn. Obwohl es eine vollkommen neutrale Feststellung gewesen war, schien Vincent sich davon angegriffen zu fühlen. Missbilligend verzog er sein Gesicht. „Ich habe mir das auch nicht ausgesucht – und ich würde es auch nicht tun, wenn Iras Leben nicht auf dem Spiel stehen würde.“ Entschuldigend hob Russel seine Hand und winkte ab. „Tut mir Leid, ich wollte dich nicht angreifen. Du kannst natürlich nichts dafür. Ich finde es sogar schön, dass du deine Schwester so sehr liebst, dass du das alles durchziehst. Das ist mal eine Seite an dir, die ich nicht kenne.“ „Du weißt, dass es mir ziemlich egal ist, ob du mich kennst oder gar magst?“ Trotz dieser Worte glaubte Russel tief in Vincents Innersten spüren zu können, dass es dem Mann doch nicht ganz egal war. Diese abweisende und unterkühlte Fassade war möglicherweise nur eine vorgeschobene Maske, weil er kein Vertrauen fassen wollte – zumindest erinnerte Russel sich gut daran, als er dieselbe Phase durchgemacht und sich genauso verhalten hatte. Inzwischen erschien ihm das schon so ewig her, dass es aus einem ganz anderen Leben sein musste. „Ich werde dir jedenfalls helfen“, beteuerte Russel. „Immerhin muss ich deine Schwester unbedingt kennenlernen.“ „Das werde ich zu verhindern wissen.“ Vincent schmunzelte wieder, was seinem Gegenüber sagte, dass er diese Worte nicht sehr ernst gemeint hatte – dennoch konnte er die unausgesprochene Drohung deutlich hören und entschied für sich selbst, doch lieber die Finger von ihr zu lassen. „In wenigen Minuten erreichen wir unser Ziel, den Hauptbahnhof von Lanchest“, erklang plötzlich eine Lautsprecherdurchsage. „Bitte denken Sie daran, Ihr Gepäck und Ihre Wertsachen mit sich zu nehmen. Vielen Dank, dass Sie mit Ven-Rail gereist sind.“ Russel wandte sich Maryl zu, um sie zu wecken, stellte jedoch überrascht fest, dass sie offenbar schon wach war und ihn verschlafen ansah. „Habe ich was verpasst?“ „Nichts Wichtiges“, erwiderte er. „Aber wir sind gleich da, es ist besser, wenn du dann wach bist.“ Sie nickte und gab Vincent sein Jackett zurück, während sie sich streckte, um vollständig wach zu werden. „Was wird uns in Lanchest erwarten, Russel?“ „Ich bin kein Wahrsager“, antwortete er. „Aber es könnte ziemlich heftig werden – wenn es zu schlimm wird, könnt ihr euch hinter mir verstecken.“ Er zwinkerte beiden zu, doch interessanterweise ließ sich nur Vincent davon beruhigen, Maryl schnaubte wütend und wandte sich ab. „Idiot.“ Zicke... Er verstand wirklich nicht, wie eine einstmals so bezaubernde Person, in die er sich damals verliebt hatte, sich derart verändern konnte, dass er sie am Liebsten im Wald ausgesetzt hätte. Doch wann immer seine Gedanken sich darum drehten, erinnerte sich auch wieder daran, wie sie bei ihrer ersten Begegnung gewesen waren – und dann fragte er sich nur noch, wie er auf ihren ganzen Charakterwandel hatte hereinfallen können. Immerhin hat sie mich auch satt und sobald das alles vorbei ist, werden wir uns nie wieder sehen. Auf diesen Tag freute er sich schon. Aber vorerst würden sie die weiteren Ereignisse abwarten und überleben müssen – Russel hoffte nur, dass es nicht zu verlustreich werden würde. Kapitel 12: Das falsche Ziel ---------------------------- Anthony wachte den ganzen Weg zurück nach Lanchest nicht auf. Egal wie rücksichtslos der Fahrer den Wagen über die Straße lenkte und auf jedem unbeschädigten Straßenabschnitt beschleunigte, er kam nicht mehr zu Bewusstsein. Als sie an der Akademie ankamen, stand Raymond bereits mit einem Krankenwagen bereit. Marc konnte sich nicht daran erinnern, den Direktor je so besorgt gesehen zu haben. Die anwesenden Sanitäter schnallten Anthony nach einer kurzen Untersuchung, routiniert auf eine Trage, ehe sie ihn in den Krankenwagen hoben. „Will jemand hier mitfahren?“, fragte einer der beiden Sanitäter, als er bereits dabei war, die hinteren Türen zu schließen. „Campbell“, konnte Marc die Stimme des Direktors wie durch Watte hören, „du wirst ihn an meiner Stelle begleiten, ich habe noch etwas zu tun.“ Er hätte nicht einmal widersprochen, wenn ihm danach gewesen wäre, immerhin war seine Sorge immer noch größer als sein Verlangen nach einer Dusche und einem Eistee. „Verstanden.“ Damit stieg er zu dem Sanitäter in den hinteren Bereich des Wagens, um sich auf die gegenüberliegende Sitzbank zu setzen. Kaum war er drinnen, schloss der Sanitäter die Türen und der Wagen wurde gestartet. Raymond sah dem Gefährt hinterher, während es sich mit Blaulicht in Richtung Krankenhaus entfernte. Als es aus seiner Sichtweite verschwunden war, wandte er sich seiner Tochter zu. „Lass uns in mein Büro gehen, wir sollten darüber reden, was geschehen ist.“ Schweigend folgte sie ihm in sein Büro, wo sie sich gegenüber an seinen Schreibtisch setzten. „Was hast du alles mitbekommen, Dad?“ „Die meisten Kameras wurden zerstört, als der Drache euch verfolgte und die anderen fielen nach dieser Lichtsäule aus. Ich bin mir also nicht sonderlich sicher, was geschehen ist.“ „Bin ich mir auch nicht wirklich“, gab sie zu. „Vor diesem Ereignis war er aber immerhin noch Anthony, danach aber nicht mehr.“ „Was war er danach?“, fragte Raymond neugierig. Es fiel ihm deutlich auf, dass Leen sich vor der Antwort drücken wollte, was sonst eigentlich gar nicht zu ihr passte. Er kannte seine Tochter als sehr offenen und direkten Menschen, die selten Rücksicht auf andere nahm – aber was auch immer sie zu sagen hatte, fiel ihr außerordentlich schwer. Glücklicherweise konnte er sich aber auch so denken, was das zu bedeuten hatte, so dass es ihm möglich war, ihr einen Teil dieser Bürde abzunehmen: „Also ist er erwacht?“ Leen nickte noch einmal. Ihr Gesicht veränderte sich kein Stück, doch ihre Finger krallten sich in die Lehne des Stuhls. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir genau das vermeiden können. Offenbar war dies die falsche Entscheidung...“ „Nicht unbedingt“, erwiderte Leen sofort, noch bevor er die Gelegenheit hatte, sich in Selbstvorwürfen zu ertränken. Es wirkte und er reagierte sofort, indem er sie fragend ansah. Sie straffte ihren Oberkörper wieder zu ihrem selbstbewussten Ich. „Wir wissen ja immer noch nicht, ob Kai aggressiv ist oder nicht – aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es Leute gibt, die nach ihm suchen und dabei auch nicht vor Gewalt zurückschrecken. Anthony ist nicht unbedingt ein Kämpfertyp, aber Kai schon, er kann Feinde auf Abstand halten.“ Raymond blickte sie nur schweigend an, während er sich die Worte durch den Kopf gehen ließ, sie allerdings fühlte sich dadurch angespornt, noch mehr hinzuzufügen: „Außerdem weißt du auch, dass es hier nachts nicht sonderlich sicher ist und er sie auch noch extra anlockt. Kai wird ihn mit Sicherheit nicht einfach sterben lassen, er ist also zusätzlich geschützt.“ „Das ist natürlich wahr“, gab er zögernd zu. „Aber...“ „Und ich hab ja auch nicht sämtliche Erinnerungen an diese Zeit damals,“, fuhr sie bereits übereifrig fort, „vielleicht fehlt ja noch ein Puzzleteil, das beweist, dass er kein Verräter war.“ Sie verstummte wieder. Raymond wartete einen Moment ab, bis er sich sicher war, dass sie nichts mehr sagen würde, dann schob er schmunzelnd seine Brille zurecht. „Ich bin überrascht, dass du Partei für ihn ergreifst. Ich dachte, dir wäre es egal, falls wir ihm etwas tun würden.“ Leen sank tiefer auf dem Stuhl. „Mir ist es auch egal – aber es ist Heather nicht egal und Mama auch nicht und dir sowieso nicht. Oh und Marc gehört auch noch dazu.“ „Du wirkst gar nicht so empathisch“, erwiderte Raymond amüsiert. „Du überraschst mich immer wieder, Liebes.“ Grummelnd verschränkte Leen die Arme vor der Brust. „Hör endlich auf damit. Ist schon schlimm genug, wenn Alexander mich damit dauernd ärgert.“ Er lachte leise, wurde dann aber gleich wieder ernst. „Ich muss mit Ryu und Seline darüber sprechen.“ Es war deutlich zu sehen, dass Leen mindestens einen der beiden Namen nicht leiden konnte, angewidert verzog sie das Gesicht, wagte aber nicht, etwas dagegen zu sagen. Stattdessen nickte sie. „Ja, mach das – und schlag die beiden, wenn sie auf dumme Gedanken kommen.“ „Versprochen.“ Mit einem einzigen Ruck stand sie wieder auf. „Gut, ich gehe dann erst mal nach Hause, ich bin müde. Tu nichts, was ich nicht auch tun würde – und ja, das sagt man so.“ Sie winkte ihm zu und verließ dann sein Büro. Raymond lachte leise, als sie draußen war. Ja, sie ist immer wieder für eine Überraschung gut. Doch dann wurde seine Mimik wieder ernst, als er nach seinem Telefon griff, um ein Treffen mit den beiden Geschwistern zu vereinbaren. Kein einziger Windhauch bewegte die Blätter an dem Baum direkt vor dem Fenster des Krankenhausganges, das Neonlicht, von dem das Gewächs in der Dunkelheit erleuchtet wurde, schmerzte in den Augen. Dennoch empfand Marc es als besser, diese zu beobachten als die immer wieder hin und her hastenden Ärzte und den Rest des Pflegepersonals. Das alles verstärkte seine Nervosität nur noch mehr. Die Minuten zogen sich wie Stunden hin, während er sich erneut die Ereignisse aus der Lagerhalle ins Gedächtnis rief. Anthony war mit Sicherheit tot gewesen, als er von dem Drachen in das Regal geschleudert worden war. Zwar war diese Gestalt, die wie er ausgesehen hatte, ohnmächtig geworden – aber das hieß immerhin nicht, dass er auch wieder Anthony war. Vielleicht hatte dieser Andere immer noch die Gewalt über seinen Körper. Das alles würde er aber nur herausfinden, wenn der Junge endlich wieder aufwachte. Aber falls Anthony wirklich nicht mehr da war, wollte Marc eigentlich auch gar nicht, dass er je wieder aufwachte. Erneut hörte er Schritte, dieses Mal aber huschten sie nicht an ihm vorbei, sondern blieben vor ihm stehen, so dass er den Blick wandte. Der Arzt vor ihm wirkte äußerst unkonventionell mit seinem langen blonden Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war und der lässigen Art, in der er seinen Arztkittel trug, noch dazu saß die Brille wie so oft schräg auf seiner Nase. Marc fand es immer wieder erstaunlich, dass dieser Mann der Vater des äußerst korrekten Alexander war – aber immerhin wollte sein Mitschüler in die Fußstapfen des Arztes treten. „Gut, dass du noch da bist.“ „Wo sollte ich sonst hin?“, erwiderte Marc. Dr. Dumont zuckte mit den Schultern, um anzuzeigen, dass es ihm egal war. „Jedenfalls bin ich mit Branchs Untersuchung fertig. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, kein Grund zur Sorge also. Das Bewusstsein hat er aber noch nicht wiedererlangt. Wenn du willst, kannst du zu ihm, aber er wird wohl bis morgen durchschlafen.“ „Das ist schon okay. Ich komme einfach morgen wieder.“ „Du hast es nicht so mit Krankenhäusern, oder?“ Marc antwortete nicht darauf, sondern verschränkte nur abwehrend die Arme vor dem Körper. Dr. Dumont nickte ihm noch einmal zu, dann ging er weiter, eine Hand in der Tasche seines Arztkittels vergraben. Der Schütze wartete nicht mehr lange und verließ das Krankenhaus auf dem schnellsten Weg, der sich ihm bot. Eigentlich hätte er längst zu Hause sein müssen, in der Nacht war die Stadt immerhin kein sicherer Ort, aber wenn er sich beeilte, würde er mit Sicherheit unbeschadet in sein Appartement kommen. Normalerweise hasste er es, durch die engen Gassen zu laufen, die Lanchest zu bieten hatte. Nicht, weil er befürchtete, dass irgendjemand ihn dort angreifen würde, sondern weil sie ungute Erinnerungen in ihm weckten, an eine Zeit, an die er gar nicht erinnert werden wollte. Allerdings war dies der sicherste Weg, so paradox das auch war, wurde man in Filmen doch immer an solchen Orten überfallen. Er verdrängte allerdings den Gedanken – bis er plötzlich von einem unguten Gefühl übermannt wurde. Seine Nackenhaare stellten sich auf, ein Schauer fuhr über seinen Rücken, beides meist untrügliche Anzeichen, dass jemand ihn beobachtete. Statt stehenzubleiben oder zu rennen, lief er weiter, ruhig und gelassen wie auch schon zuvor. Vorsichtig, um keine zu hastige Bewegung zu machen, griff er nach seiner Pistole. Dabei überlegte er, wie dumm sein Verfolger sein müsste, wenn er ihn trotz der Kadetten-Uniform, die er im Moment trug, angreifen würde. Immerhin war bekannt, dass Kadetten und Rekruten der Lanchest-Militärakademie nicht sonderlich leicht zu überfallen waren. Dennoch kam die Person hinter ihm näher, wie er gleich darauf an den einsetzenden fremden Schritten bemerkte. Möglicherweise war es ein Ortsfremder, der keine Ahnung von den Uniformen und den Kadetten hatte. Pech für ihn, dass er gerade heute auf mich trifft. Unvermittelt blieb Marc stehen, fuhr herum und zog noch in derselben Bewegung die Pistole hervor. Im selben Moment holte sein Verfolger mit einem Schwert aus. Der Schütze sprang reflexartig zurück und entging so dem Angriff, um direkt wieder auf den Fremden zielen zu können. „Das würde ich nicht nochmal tun, wenn ich du wäre.“ „Was interessiert mich das?“, schnaubte der Andere. „Du kannst mir ohnehin nichts tun mit diesem Spielzeug.“ Auch wenn es ihm nicht gefiel, musste Marc ihm in gewisser Weise recht geben. Er war zwar nicht überzeugt, dass seine Waffe keinerlei Schaden anrichten würde, aber sein Gegenüber war tatsächlich von einer recht merkwürdigen Aura von Macht umgeben, wie sie ihm bislang noch bei keinem Feind untergekommen war – aber sie erinnerte ihn eindeutig an die Situation mit Anthony und dem Drachen vorhin. „Wer bist du?“, fragte Marc misstrauisch. „Als ob ich dir das sagen würde...“, erwiderte sein Gegenüber und rollte mit den Augen. „Oder überhaupt sagen müsste, Kai. Du siehst zwar anders aus, aber du müsstest mich erkennen.“ Ah, also sucht er jemand Bestimmtes, ich bin aus dem Schneider. „Ich fürchte, da liegt eine Verwechslung vor“, versuchte er, seinem Gegenüber zu erklären. Der Grünhaarige runzelte seine Stirn, kniff die Augen zusammen und schien ihn noch einmal zu mustern. Doch dann schüttelte er mit dem Kopf. „Hör auf mich hinters Licht zu führen. Ich weiß genau, dass du es bist. Die Aura ist schwach, aber es ist deine. Ich habe sie in den letzten neunzig Jahren nicht vergessen.“ „Ich bin erst 16“, erwiderte Marc genervt. „Und ich heiße nicht Kai, sondern...“ Er hielt wieder inne. Er wusste nicht, wer sein Gegenüber war, es konnte gut sein, dass es eine dumme Idee war, ihm seinen echten Namen zu verraten. Sehr beliebt war seine Familie immerhin nicht. „Uhm... sondern Anthony Branch.“ Er sagte einfach den ersten Namen, der ihm in den Sinn kam – und stellte gleich darauf fest, dass dies die falsche Entscheidung gewesen war. „Du hast dich verraten!“ Der Andere griff erneut an, Marc blieb als Distanzkämpfer nicht sonderlich viel anderes übrige als weiter auszuweichen, indem er zurücksprang. Etwas anderes ließ die enge Gasse nicht zu. Hektisch versuchte Marc, sich etwas einfallen zu lassen, da die Angriffe seines Gegenübers immer akkurater wurden – und er schien fest entschlossen, ihn mindestens schwer zu verletzen. Was hat Tony getan, dass jemand ihn so sehr hasst? Plötzlich wurde sein Gegenüber von etwas an der Schulter getroffen und gleich darauf in den Kniekehlen, so dass er zu Boden sank. Er wirkte nicht verletzt, aber zumindest für den Moment abgelenkt. Marc hätte nur die Pistole heben und abdrücken müssen – doch weitere Schritte hielten ihn davon ab. Für einen Moment wollte er auf die dritte Person zielen, doch als sie in sein Sichtfeld trat, erkannte er sie und lächelte erleichtert. Die blonde Frau erwiderte sein Lächeln. „Geh nach Hause, Marc, ich kümmere mich um den Rest.“ Er nickte, steckte die Pistole ein und fuhr herum, ehe der Grünhaarige ihn noch einmal angreifen konnte. Zwar wusste er immer noch nicht, was eigentlich geschehen war – aber er wusste ja, wo er seine Retterin finden könnte, er würde sie morgen einfach fragen. Nun stand ihm der Sinn erst einmal nach etwas zu essen, zu trinken und einem Bad oder einer Dusche. Russel sah dem Jungen leise grummelnd hinterher. Marc? Wieso Marc? Ich dachte, das wäre Anthony... Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, die seine Aufmerksamkeit wieder auf die Person lenkte, die ihn niedergerungen hatte. Die junge Frau lächelte spöttisch, was ihre blaue Augen glitzern ließ, ihr blondes Haar fiel über ihre Schultern, da sie sich leicht vornübergebeugt hatte. „Da sehe ich dich achtzig Jahre nicht“, sagte sie, „und begegne dir ausgerechnet in einer finsteren Gasse wieder. Das muss Schicksal sein, mein Lieber.“ Sie lachte und klopfte ihm auf die Schulter, damit er sich wieder aufrichtete, was er auch direkt tat und dann sein Schwert einsteckte. „Ich wusste gar nicht, dass du hier bist, Seline.“ „Oho, bin ich denn dazu verpflichtet, dich immer über meinen Aufenthaltsort zu informieren?“ Sie räusperte sich theatralisch, dann hob sie ihre Hände. „Lieber Russel, ich schreibe dir diese Zeilen, um dir freundlichst mitzuteilen, dass mein Wohnort sich erneut verlagert hat. Ich befinde mich nun in Lanchest und sende dir schöne Grüße von der sonnigen Westküste. In ewiger Liebe, deine Seline.“ Sie lachte erneut, doch er rollte nur genervt mit den Augen. „Trag doch nicht immer so dick auf. Das ist mein Stil und nicht deiner.“ Belehrend hob sie ihren Zeigefinger. „Na na na, sei nicht so egoistisch. Ich bin immerhin auch Meisterin in dieser Disziplin, mein Bester.“ Statt einer Erwiderung neigte er den Kopf, während er sie musterte. Ihre letzte Begegnung war mindestens achtzig Jahre her, das entsprach der Wahrheit. Wie es für einen Drachenmenschen üblich war, hatte sie sich kaum verändert, aber seinem geschulten Auge entging keineswegs, dass sie doch ein wenig gealtert war. Nein, in ihrem Fall war das seiner Meinung nach ein falscher Begriff. Gereift gefiel ihm doch um einiges besser. Dennoch konnte er in ihren Augen noch denselben Abenteuergeist wie früher erkennen, was ihn doch ziemlich beruhigte. Manche Dinge ändern sich einfach nie. „Es trifft sich aber gut, dass ich dich hier treffe“, sagte er. „Ich muss unbedingt mit dir reden.“ Schmunzelnd warf sie einen Blick auf ihre Uhr. „Hast du vor, alte Gefühle aufleben zu lassen? Leider habe ich heute keine Zeit mehr für dich, ich hab eine wichtige Verabredung. Du solltest mich morgen besuchen kommen, dann können wir ausführlicher sprechen – auch darüber, warum du arme, unschuldige Kadetten verfolgst. Und bring dein Prinzesschen mit.“ „Woher weißt du, dass sie noch bei mir ist?“ „Oh bitte.“ Sie griff in eine Tasche ihrer braunen Jacke und zog eine Brille hervor, die sie sich aufsetzte. Russel ahnte, dass es sich um besonders beschaffene Gläser handelte, die ihr irgendetwas ermöglichen sollten. „Du würdest doch niemals eine hilflose kleine Prinzessin im Stich lassen – und ihre Aura haftet noch an dir. Wo hast du sie denn gelassen?“ „In einem Hotel... sie war müde.“ Genau wie Vincent, aber da nach diesem nicht gefragt war, erwähnte Russel ihn auch nicht. Sie nickte verstehend und zog eine Visitenkarte hervor. „Dann kommt morgen zu dieser Adresse und wir werden seeeehr ausführlich reden.“ Verspielt zwinkerte sie ihm zu, dann wandte sie sich ab, um in eine andere Richtung zu laufen, hielt davor aber noch einmal inne. „Es wird dich auch interessieren, dass die Aura des von dir Gesuchten auch an Marc haftet, deswegen hast du den Falschen aufgespürt.“ Russel wollte noch etwas dazu sagen, doch sie lief bereits eilig davon, ohne auf seine Antwort zu warten. Als er das beobachtete, konnte er nicht anders als sich zu fragen, ob sie möglicherweise ein Rendezvous hatte. Aber eigentlich ist das doch doch auch egal... Wir sind immerhin nicht mehr zusammen. Dennoch konnte er sich nicht helfen, ein wenig Eifersucht zu spüren, als er daran dachte und sich das vorstellte. Er blickte wieder auf die Visitenkarte hinunter. Am nächsten Tag würde er sie also wiedertreffen... Na, immerhin mal ein Lichtblick in dieser verkorksten Woche. Er steckte die Karte ein und lief dann los, um zum Hotel zurückzukehren – immerhin glaubten seine Begleiter, dass er nur mal eben spazieren gehen wollte. Obwohl er sein eigentliches Ziel nicht erreicht hatte, war er der Überzeugung dennoch einen großen Schritt weitergekommen zu sein und das würde er beiden schön auf die Nase binden. Kapitel 13: Auf der Flucht -------------------------- Ich hätte nie gedacht, dass aus der Ohnmacht zu erwachen genauso ein kaltes Gefühl sein konnte wie bewusstlos zu sein, fest zu sitzen zwischen Leben und Tod, unfähig, Einfluss auf irgendetwas außerhalb zu nehmen. Als ich zuvor diesen Körper übernommen hatte, war ich von einer warmen Umarmung begrüßt worden, dem angenehmen Empfinden, wieder zu leben – bis ich ohnmächtig geworden war. Es war einfach zu viel Energie in zu kurzer Zeit gewesen, die ich eingesetzt hatte, um diesen Körper zu heilen und den Drachen zu töten, der ihn erst in den erbärmlichen, halbtoten Zustand versetzte. Eigentlich hätte ich dem Wesen dankbar sein müssen, immerhin war es mir nur so gelungen, zu dem Jungen durchzudringen und ihn zu einer Art Pakt zu überreden. Doch bei meinem jetzigen Erwachen fürchtete ich zuerst, ich wäre erneut gestorben. Es war eine unangenehme, stechende Kälte, die mir beinahe schon körperliche Schmerzen bereitete – das wiederum sagte mir, dass ich noch lebte. Mit Mühe schaffte ich es, meine Augen zu öffnen, um die weiße Decke über mir zu erblicken. Ein stetiges Piepsen drang an mein Ohr, es musste von dem seltsamen Apparat stammen, der neben meinem Bett stand. Doch egal wie lange ich ihn betrachtete, mir erschloss sich der Sinn dieses Geräts nicht im Mindesten. Vorsichtig setzte ich mich aufrecht hin, dabei spürte ich stechende Schmerzen in meinem Hals. Reflexartig griff ich danach und stellte fest, dass irgendjemand eine Nadel in meine Kehle gesteckt hatte. Ohne lange zu überlegen welchen Sinn das verfolgte, zog ich einmal heftig daran, so dass die Nadel herausfiel. Ich schwang die Beine aus dem Bett, stellte erleichtert fest, dass der Körper mir inzwischen ziemlich gut gehorchte und stand auf. Dass dabei Kabel von mir abfielen, worauf das piepsende Gerät zu pfeifen begann, ignorierte ich. Meine Aufmerksamkeit galt bereits der Kleidung, die auf einem Stuhl im Raum lag. Mein Ziel – so beschloss ich in diesem Moment – war das Verlassen dieses Gebäudes, das eine Bedrohung für mich darstellte und es wäre am besten, das so unauffällig wie möglich zu machen. So schnell wie es mir meine noch steifen Finger erlaubten, zog ich die Kluft aus, die ich im Moment trug und ersetzte sie durch die Kleidung des Jungen. Damit fühlte ich mich deutlich wohler und vor allem wärmer, so dass mein Kopf wieder frei genug war, um mich neu zu orientieren. Das pfeifende Gerät hatte bislang noch keinen Feind irgendeiner Art angelockt, weswegen ich ihm ab sofort keinerlei Bedeutung mehr beimaß und meine Aufmerksamkeit auf den Rest des Raumes konzentrierte, um einen Fluchtweg zu finden. Das Fenster, sonst ein verlässlicher Pfad, war so weit oben, dass ich daran zweifelte, dass dieses Gebäude von Menschenhand errichtet worden war. Eine Flucht darüber kam absolut nicht in Frage, also blieb mir nicht viel anderes übrig als die Tür zu nehmen. Vorsichtig öffnete ich diese und warf einen Blick hinaus. Ein langer Gang erstreckte sich in beide Richtungen, in die ich sehen konnte, ich konnte niemanden entdecken, obwohl das Piepsen hier lauter zu hallen schien als im Zimmer. Ich nutzte die Gelegenheit und trat auf den Flur, lief aufs Geratewohl in irgendeine Richtung, in der ich den Ausgang vermutete. Erst einige Abzweigungen später traf ich auf andere Menschen, von denen mich allerdings glücklicherweise niemand beachtete. So unauffällig wie möglich lief ich weiter, versuchte, nichts und niemanden anzurempeln – und atmete erleichtert auf, als ich schließlich draußen stand. Der kühle Nachtwind, der mich umgab, ließ mich trotz der Jacke frösteln, aber ich war zu fasziniert von den seltsamen Lichtquellen, die alles erhellten, um mich wirklich damit auseinanderzusetzen, was diesem Körper im Moment fehlte. Mit traumgleichen Bewegungen setzte ich meinen Weg fort und überlegte dabei, wie ich, nun da ich meinen Feinden entronnen war, weiter vorgehen sollte. Ich erinnerte mich an den Drachen von zuvor oder genauer, an das Mädchen, das dabei gewesen war. Ihr Aussehen war nun vollkommen anders, aber ihre Aura war dieselbe wie zuvor, ich war mir ganz sicher, dass sie die Person war, die am Ende meines letzten Lebens an meiner Seite gewesen war. Wenn ich sie finden könnte, wenn ich herausfinden könnte, warum sie mich bei dieser Begegnung mit dem Drachen gefürchtet hatte... sie würde mir bestimmt helfen, wenn ich ihre Furcht beiseite schaffte. Eine bedrohliche Aura ließ mich augenblicklich innehalten. Es war nicht menschlich, zumindest nicht vollkommen. Im Inneren dieser Geschöpfe gab es mit Sicherheit etwas Menschliches, das sie einem unbemerkt aus der Seele gerissen hatten, aber außen waren es eher unförmige Gestalten – so viel konnte ich auf den ersten Blick erkennen, als dieses schleimige Etwas in mein Sichtfeld trat... robbte... wie auch immer man diese seltsame Fortbewegungsmethode beschreiben wollte. Ich drehte mich um, damit ich zurückkehren und eine andere Richtung einschlagen konnte – doch dummerweise war auch da ein solches Wesen erschienen. Die roten Augen, die mich neugierig begutachteten saßen inmitten des dunkelblauen schleimigen Körpers, zwei Auswüchse davon schienen als Arme zu fungieren. „Ihr habt hier nichts zu suchen...“ Meine Stimme war lediglich ein besseres Krächzen, den Worten fehlte jegliche Kraft, die ich in sie hineinzulegen gedachte. Dementsprechend waren die Wesen auch nicht sonderlich beeindruckt, sondern kamen weiter auf mich zu. Ich konnte spüren, dass ihnen noch weitere folgten, möglicherweise durch meine Kräfte angelockt, deren Kontrolle mir im Moment noch fern lagen. Darüber sollte ich mir jedoch besser ein andermal Gedanken machen. Ich blickte auf meine Hüfte. Zwar trug der Junge einen Schwertgürtel mit sich, doch fiel mir in dem Moment auf, dass ich die dazugehörige Waffe zurückgelassen hatte. Mein Mut sank allerdings kein bisschen. Ein blaues Leuchten erschien in meiner Hand und daraus formte sich ein Schwert – genau jenes, das ich auch damals gehalten hatte. Die Drachenschwingen, die eine übliche Parierstange ersetzten und das azurne Glühen der Klinge waren ein unverkennbares Indiz dafür. Unter anderen Umständen hätte ich nun nostalgisch innegehalten, mich an meinen letzten Kampf damit erinnert und mich dann gefragt, was mit dem Schwert in der Zwischenzeit gewesen und ob es gut behandelt worden war. Doch mit den näher kommenden Monstern war dafür keine Zeit. Ich hob die Klinge und ließ sie noch in derselben Bewegung wieder herunterfahren. Der Schwung ließ einen energiehaltigen Schweif entstehen, der die ersten Monster in ihrer Umgebung zerfetzte. Die Splitter in ihrem Inneren, die Bruchstücke verschiedener menschlicher Seelen darstellten, wie ich spüren konnte, obwohl sie mich eher an Spiegelscherben erinnerten, lösten sich in leuchtende weiße Funken auf. In diesem Moment war mir noch nicht bewusst, was mit ihnen geschah, aber es war auch nicht weiter von Belang, vorerst gab es noch mehr Kreaturen um die ich mich kümmern musste. Die nächsten zwei Wellen wurden von mir mit derselben Fähigkeit beseitigt, doch es kamen immer mehr Wesen nach und meine Kräfte brauchten einiges an Zeit, bis sie sich wieder regenerierten – ganz zu schweigen davon, dass ich gerade erst erwacht war und meine Fertigkeiten damit noch eingeschränkt waren. So kam es schließlich dazu, dass die Wesen mich übermannten und zu Boden rissen. Auf dem Grund liegend, fühlte ich keinerlei Schmerzen, also verletzten sie einen nicht körperlich – aber ich konnte überaus deutlich spüren, wie sie versuchten, von meiner Seele zu zehren und sich diese einzuleiben bemühten. Doch nicht nur meine, auch die des Jungen war in ihr Visier geraten. Nichts von beiden konnte ich zulassen! Mit aller Macht, die ich aufbringen konnte, richtete ich mich auf, bis ich auf Knien und Händen einige dieser Wesen abschütteln konnte, andere dagegen krallten sich dabei schmerzhaft in meinen Rücken. Jegliche verbliebene Kraft, die mir noch geblieben war, wurde von mir mobilisiert, zusammengetrommelt – und auf einen Schlag freigelassen. Das daraus resultierende Licht blendete sogar mich, so dass ich meine Augen schließen musste. Allerdings konnte ich die gequälten Schreie der Wesen hören, als sie sich in genauso auflösten wie ihre Leidgenossen zuvor. Die Kraft verließ meine Arme, so dass ich wieder zu Boden fiel. Der Aufprall hätte schmerzen sollen, doch war mein Körper wieder bereits viel zu taub, um etwas zu spüren. Ich öffnete meine schweren Augenlider, um herauszufinden, ob noch mehr dieser Kreaturen kommen würden, doch es schienen in dieser Umgebung alle gewesen zu sein. Die glitzernden Scherben der verschlungenen Seelen verharrten noch immer in der Luft und lösten sich nur langsam vor meinen Augen auf. So traurig und betrüblich es auch war, es war gleichzeitig ein wundervoller, erhabener Anblick – doch als sie verschwanden ließen sie mich allein in der deprimierenden Dunkelheit zurück. Gleichzeitig sagten sie mir aber auch, dass ich nicht an diesem Ort bleiben durfte. Ich musste aufstehen und weiterlaufen, ich musste dieses Mädchen finden, sie würde mir helfen können. Ganz sicher. Mein Körper verweigerte mir zwar seine Kooperation, aber dennoch schaffte ich es mit gesammelter Willenskraft, mich so weit aufzuraffen, dass ich bis zur Wand eines Hauses kam, an der ich mich hochziehen und abstützen konnte. Mein Sichtfeld verschwamm, doch ich schaffte es, mich gefahrlos fortzubewegen, indem ich mich an der Wand entlangtastete und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Es erschienen mir Stunden vergangen zu sein, als ich endlich in eine weitere Gasse kam, die wesentlich belebter wirkte, zumindest wenn ich die seltsame dumpfen Melodien, die an mein Ohr klangen, richtig einschätzte. Etwas leuchtete über einer Tür, doch meine verschwommene Sicht erlaubte es mir nicht, zu erkennen, was es war. Wichtig war mir in dem Moment auch nur, dass es keine Bedrohung für mich darstellte, denn ich konnte keinen Schritt weiterlaufen. Mit dem Rücken zur Wand ließ ich mich schließlich direkt gegenüber der Tür zu Boden gleiten. Ich war dermaßen erschöpft, dass mein Bewusstsein sich wieder zurückziehen musste, selbst auf die Gefahr hin, dass diese Wesen meine Seele und die des Jungen dann doch zersetzen würden. Doch je dichter der Schleier vor meinen Augen wurde desto mehr wuchs die Gleichgültigkeit, bis meine Glieder schließlich erschlafften und ich endgültig das Bewusstsein verlor – wohlwissend, dass einiges an Zeit vergehen könnte, bis ich wieder so eine Gelegenheit bekam. Kapitel 14: Helfer in der Not ----------------------------- Der in der Luft hängende Zigarettenqualm ließ das ganze Etablissement erscheinen als würde es weder Fenster noch Türen oder sonstige Abzüge geben. Er konnte sich auch nicht erklären, wie der Rauch es schaffte, sich derart zu halten, aber es war bereits seit seinem ersten Besuch so. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er bestimmte Bereiche dieser Bar noch nie wirklich gesehen, da sie immer von Rauch verhüllt gewesen waren. Dafür kannte er den Aufbau besser als den seiner eigenen Wohnung. Vom Eingang aus waren es drei Schritte nach vorne, vier Stufen hinab und dann sechs Schritte nach rechts, um auf seinen Stammplatz am Bartresen zu kommen. Von dort waren es drei Schritte am Tresen entlang und dann zehn nach rechts, um auf die Toilette zu kommen, mit einer minimalen Abweichung zum Hinterausgang. Diesen Wissen erfüllte ihn mit einem Gefühl von Sicherheit, würde er so doch sogar bei einem Brand ganz schnell und einfach den Weg nach draußen finden können, selbst wenn er nichts sah. Glücklicherweise war er bislang aber noch nicht Zeuge eines solchen geworden und so konnte er nach wie vor jeden Abend in diese Bar kommen, trinken und darüber nachdenken, ob es nicht langsam doch Zeit wurde, so spießig wie all seine Freunde zu werden und eine Familie zu gründen. Doch jedes Mal entschied er sich wieder dagegen. Er führte vielleicht nicht das beste Leben, aber immerhin war er ungebunden, frei und – wie Alona nun sagen würde – unheimlich gut darin, sich alles schön zu reden, damit er diesen Zustand weiter genießen konnte, während alle anderen ihn heimlich bemitleideten. An diesem Abend aber war ihm das Schicksal nicht sonderlich gewogen, er wusste bereits, dass er nicht sonderlich viel Zeit in der Bar verbringen würde, es war eine Vorahnung – und als er plötzlich jemanden seinen Namen sagen hörte, fühlte er sich darin auch bestätigt: „Joel, hinten gibt es ein Problem.“ Er wollte fragen, was Probleme in dieser Bar – oder besser hinter ihr – mit ihm als einfachen Gast zu tun hätten, doch stattdessen blickte er seinen Gegenüber nur geduldig abwartend an, bis dieser es von selbst sagen würde, was gleich danach auch der Fall war: „In der Gasse liegt ein Junge, scheint ein Schüler der Akademie zu sein.“ „Trägt er eine Uniform?“, fragte Joel, um sicherzugehen. „Nein. Aber er ist im richtigen Alter und hat einen Schwertgürtel – ohne Schwert.“ Aus Erfahrung wusste Joel, dass solche Gürtel leicht zu erkennen waren. Sie waren breiter und robuster als die normalen ihrer Art – und außerdem wurden sie locker über der Kleidung getragen, so dass sie oftmals eher wie ein nettes Accessoire anmuteten als wie ein nützliches Kleidungsstück. In dieser Stadt trug man einen solchen allerdings nicht als Requisit, immerhin war es möglich, dass die Leute das durchaus falsch auffassen konnten. Wenn diesem Jungen also das Schwert fehlte, war er entweder ein Schüler, der an einige Monster oder Verbrecher geraten war und dadurch seine Waffe verloren hatte oder er war ein selten-dämlicher Tourist, der es cool fand, mit einem nutzlosen Schwertgürtel durch die Gegend zu laufen und damit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Egal, was von beiden, Joel ärgerte sich bereits darüber, dass man das als sein Problem abgestempelt hatte und ihm nun nichts anderes mehr übrig blieb als aufzustehen und selbst nach dem Rechten zu sehen. Trotz des schummrigen Lichts, das in der Gasse hinter der Bar herrschte, erkannte er den im Schatten sitzenden Jungen sofort. Zwar war er ihm bislang noch nicht selbst begegnet, aber ihm war die Akte auf Raymonds Schreibtisch aufgefallen. Dank seines fotografischen Gedächtnisses – das zugegeben nur alle Jubeljahre einmal funktionierte – erinnerte er sich auch sofort an den zugehörigen Namen. „Anthony, kannst du mich hören?“ Als keine Antwort erfolgte, kniete er sich neben den Jungen, um am Hals nach seinem Puls zu fühlen. Kaum berührten seine Finger die Haut, schnellte Anthonys Knopf in den Nacken, erschrocken sog er Luft ein als hätte er kurz vor dem Ertrinken gestanden und sah sich dann mit einem Blick um, den Joel nur als eine Mischung aus Verwirrung und Panik deuten konnte. „Ganz ruhig, Anthony, ich tue dir nichts.“ Er sah Joel an und zumindest die Panik schwand langsam, die Verwirrung blieb dafür einsam zurück, darauf wartend, dass sich bald noch ein anderes Gefühl zu ihr gesellen würde oder sie ebenfalls gehen dürfte. „Na, wie kommst du denn hierher?“ Eigentlich war es nicht sonderlich üblich, dass sich Schüler in diesen Teil der Stadt verirrten und noch weniger, dass sie in einer der hinteren Gassen zusammenbrachen. Langsam normalisierte sich die Atmung des Jungen wieder, aber er schien nicht darauf erpicht, einem für ihn Fremden einfach so eine Antwort zu geben. „Wer sind Sie?“ Die Stimme klang brüchig als wäre sein Hals viel zu trocken, um überhaupt einen vernünftigen Ton hervorbringen zu können. Joel lächelte ihm aufmunternd zu. „Ich bin Joel, ein Freund von Mr. Lionheart. Du kannst mir vertrauen.“ Er zweifelte daran, dass der Junge ihm zugehört hatte. Zu fixiert war sein Blick auf das weinrote, in alle Richtungen abstehende Haar und abwechselnd die goldgelben Augen. Joel seufzte leise. „Hör mal, du kannst hier nicht liegen bleiben. Wo wohnst du? Ich bringe dich heim.“ Anthony antwortete nicht, aber das störte ihn nun auch nicht weiter. „Gut, wenn du es mir nicht sagen willst, bringe ich dich einfach zu Ray nach Hause. Einverstanden?“ Auf einen Schlag verabschiedete sich auch die Verwirrung, dafür trat Erleichterung leichtfüßig an ihre Stelle. Die Augen des Jungen leuchteten für einen Moment regelrecht auf, als er die Aussicht auf Sicherheit und Schutz bekam. „Na bitte, wir verstehen uns. Dann komm.“ Joel half ihm nach oben und hielt ihn weiterhin am Arm fest, als er gemeinsam mit ihm die Gasse entlanglief, um zu seinem Auto zu kommen. „Wo kommst du eigentlich gerade hier? Du siehst nicht gerade gesund aus.“ Es dauerte einen kurzen Augenblick, doch dann antwortete Anthony tatsächlich, wenn auch nur leise: „Aus dem Krankenhaus.“ „Soll ich dich nicht lieber dorthin zurückbringen?“ Der Junge versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch Joel verstärkte ihn sofort. „Ich hab verstanden, ich bring dich lieber zu Ray.“ Anthony beruhigte sich direkt wieder und schien durchzuatmen. Sein Helfer dagegen war bereits leicht genervt von ihm. Wenn er sich recht erinnerte, war dieser Junge aus dem Peligro-Waisenhaus, jeder bisherige Schüler von dort war problematisch gewesen und dieser bildete offenbar keine Ausnahme. Aber immerhin schien er Vertrauen zu Raymond gefasst zu haben, das war im Gegensatz zu allen anderen schon ein Fortschritt. Alle anderen Schüler waren stets distanziert geblieben und irgendwann auch für untauglich für den Dienst an der Waffe befunden wurden – alle bis auf Raymond. Ich vergesse immer beinahe, dass er auch von dort kommt. An der Straße angekommen setzte Joel den Jungen in sein Auto. Er gab dabei keinen Ton von sich, wehrte sich nicht und schien nicht einmal im Mindesten misstrauisch zu sein. Joel hätte am Liebsten missbilligend den Kopf geschüttelt und ihm in lehrerhafter Manie erklärt, dass es nicht gut war, sich entführen zu lassen, auch nicht, wenn der vermeintliche Täter behauptete, Raymond zu kennen. Doch Anthony wirkte so müde wie er da auf dem Beifahrersitz saß, dass Joel es sich ihm und sich selbst ersparte und sich lieber auf den Fahrersitz setzte. „Schnall dich bitte an“, forderte Joel routiniert; es war nicht das erste Mal, dass er jemanden herumfuhr, der noch nie zuvor in einem Auto gesessen hatte. Demonstrativ schnallte er sich selbst an und schenkte Anthony einen Blick, der diesem mitteilte, dass er dies damit meinte. Der Junge begriff glücklicherweise sofort und tat es ihm nach. Ohne weiteres Zögern fuhr er los. Je schneller er ihn wieder loswurde desto besser. Das Schweigen lastete schwer auf Joels Ohren, doch ein Seitenblick zu Anthony sagte ihm, dass dieser es nicht von sich aus brechen würde. Er war zu konzentriert darauf, aus dem Fenster zu starren. „Warum bist du aus dem Krankenhaus abgehauen?“ Der Gefragte runzelte seine Stirn und griff sich an die Schläfe als hätte er Kopfschmerzen. „Ich weiß es nicht... ich... ich erinnere mich nur verschwommen, ein Schild gesehen zu haben, auf dem Krankenhaus stand. Dann war ich irgendwie... weg...“ „Dann weißt du wohl auch nicht, wie du in diese Gasse gekommen bist, was?“ „Ich habe nicht den Hauch einer Idee...“ Seine jahrelange Erfahrung mit Schülern sagte ihm, dass das gelogen war, aber gleichzeitig wusste er auch, dass weiteres Nachhaken unnötig war. Dieser Junge kannte ihn nicht, warum sollte er ihm vertrauen? „Tut mir Leid, dass ich Ihnen Ärger mache...“ Will ich aber auch hoffen, Junge. „Schon gut, mach dir da keine Gedanken. Ich hatte ohnehin nichts Besseres zu tun.“ Außer zu feiern und eigentlich wollte ich weder Ray noch Alona die nächsten Tage begegnen – wie soll ich so weiter krankfeiern? Plötzlich schmunzelte Anthony. „Sie denken das genaue Gegenteil von dem, was Sie sagen, oder?“ Anerkennend hob Joel eine Augenbraue, doch ehe er nachhaken konnte, wie der Junge darauf kam, antwortete dieser bereits: „Sie sind überraschend leicht zu durchschauen. Daran sollten Sie arbeiten.“ „Danke für den Hinweis.“ Bislang hatte ihm das keiner gesagt, weswegen es ihn umso mehr überraschte, dass dieser Junge, der ihn das allererste Mal sah, das offenbar sofort erkannte. In gewisser Weise verletzte es ihn aber auch, da er sich eigentlich als sehr guten Lügner sah. Dennoch ließ er sich davon nichts anmerken und versank wieder in Schweigen, selbst als Anthony bemerkte, dass es vielleicht doch keine gute Idee war, zu einem besseren Lügner zu werden. Erst am Haus der Lionhearts angekommen sagte Joel wieder etwas: „Wir sind da.“ Den Gang zur Tür brachten sie wieder schweigend hinter sich, was Joel äußerst recht war. Die Sekunden, die er warten musste, bis jemand kam, zogen sich endlos hin – doch schließlich erschien Alona in der geöffneten Tür. Sie musterte ihre unverhofften Gäste verwirrt. „Anthony, Joel, guten Abend. Was kann ich für euch tun?“ Joel klopfte ihm auf die Schulter. „Ich habe den Jungen hier in der Stadt aufgegriffen und wollte ihn vorbeibringen.“ „Was hast du da so spät gemacht?“, fragte Alona misstrauisch. Er zog die Augenbrauen zusammen. „Ich war... bei einer Behandlung.“ Sie glaubte ihm immer noch nicht, aber sie schien in Anthony ein interessanteres Thema gefunden zu haben und wandte sich diesem zu. „Und was machst du so spät in der Stadt?“ Anthony warf Joel einen Seitenblick zu, worauf dieser für ihn antwortete: „Er sagt, er ist aus dem Krankenhaus abgehauen. Weißt du schon, dass er dort war?“ Sie nickte mit besorgtem Gesichtsausdruck. „Danke, Joel. Ich übernehme Anthony ab jetzt.“ „Ist Ray nicht da?“ Joel beugte sich ein wenig vor, um in das unbeleuchtete Haus hineinzusehen, in Erwartung, dass Raymond gähnend die Treppe herunterkommen oder aus dem Wohnzimmer blicken würde, um herauszufinden, wer um diese Zeit noch störte und ihm dann eine Standpauke im Stil eines echten Arbeitgebers zu halten. Doch Alona schüttelte mit dem Kopf. „Er hatte noch eine wichtige Besprechung, sagte er. Deswegen kommt er später.“ „Glück gehabt.“ „Aber ich werde ihm erzählen, dass es dir offenbar schon viel besser geht.“ Joel schnaubte wütend. „Vielen Dank, das wollte ich unbedingt sicherstellen. Nicht, dass er am Montag überrascht ist, mich wieder bei der Arbeit zu sehen.“ Leise lachend bat Alona den wartenden Anthony herein, ehe sie sich noch einmal an Joel wandte, um sich von ihm zu verabschieden. „Danke, dass du ihn hergebracht hast.“ „Nichts zu danken“, wehrte er ab. „Sorg nur dafür, dass er das nicht noch einmal macht. Beim nächsten Mal hilft ihm möglicherweise niemand mehr.“ „Ich werde ihm das einbläuen.“ Zum Abschied hob er noch einmal die Hand, dann wandte er sich ab, ging davon und stieg wieder ins Auto. Er warf einen letzten Blick zur Tür, die gerade geschlossen wurde, dann startete er den Wagen und fuhr davon. In Gedanken bereits bei der Frage, wie viel Zeit er vergehen lassen musste, bis er sich wieder krankmelden könnte – und ob er diesen seltsamen Jungen wirklich unterrichten müsste. Kapitel 15: Fleera ------------------ Alona drückte Anthony auf das Sofa im Wohnzimmer nieder, bat ihn, zu warten und ging dann wieder davon. Er ließ sich tiefer in das Polster sinken, die Augen geschlossen, um sich zu entspannen, zumindest für den Moment. Er war nun in Sicherheit, niemand hier würde ihm etwas tun, alles war gut – aber warum fühlte er sich dann plötzlich beobachtet? Er öffnete die Augen wieder und blickte zur Seite. Heather stand im Türrahmen und blickte ihn neugierig an, genau wie Leen, die hinter ihr stand als würde sie versuchen, sich vor ihm zu verstecken. Er grüßte beide leise, doch keine von ihnen erwiderte dies. Stattdessen neigte Heather den Kopf. „Eine komische Zeit für einen Besuch. Und solltest du nicht eher im Krankenhaus sein?“ „Das war auch nicht geplant“, erwiderte er. „Aber... ich bin mitten in der Stadt aufgewacht und wurde dann hierher gebracht.“ Leen trat langsam hinter Heather hervor. Als er ihr Gesicht sehen konnte, erkannte er tatsächlich, dass sie ihn zu fürchten schien. Sie hielt die Augen niedergeschlagen, um ihn nicht zu genau ansehen zu müssen. Allerdings verstand er nicht im Mindesten, warum sie das tat. „Was ist los mit dir?“ Sie hob ein wenig den Blick. „Erinnerst du dich nicht mehr an das, was in der Halle passiert ist?“ Er dachte daran zurück, doch die Erinnerung war verschwommen, lediglich der Schmerz in seinem Rücken, als er gegen das Regal geprallt war, kam ihm deutlich wieder in den Sinn. Unwillkürlich versuchte er, an seinen Rücken zu greifen, ließ es dann aber bleiben und konzentrierte sich lieber wieder auf die beiden Mädchen, die ihn immer noch ansahen. „Was ist denn passiert, nachdem das Regal zusammenfiel?“ Das war das Letzte, woran er sich wirklich erinnerte. Die Unterhaltung in seinem Unterbewusstsein tat er als Einbildung ab und beschloss, den anderen lieber nichts davon zu erzählen. Leen verschränkte die Arme vor der Brust. „Du wurdest zu einem Zombie und hast den Drachen getötet, einfach so.“ Sie schnippte mit den Fingern, Heather rollte mit den Augen. „Er war doch kein Zombie, übertreib nicht immer so.“ Während die beiden Schwestern darüber diskutierten, ob Leen oft übertrieb oder nicht, versank Anthony wieder in Gedanken. Der andere hatte seinen Körper also genutzt, um diesen Drachen zu töten. Außerdem kamen ihm undeutlich Bilder in den Sinn, wie er durch die Straßen lief, gegen seltsame Monster kämpfte und schließlich in der Gasse hinter der Bar wieder zusammengebrochen war. Aber wer dieser andere war oder die Bedeutung dessen Worte waren ihm nicht bewusst. Erst als die beiden Mädchen wieder verstummten, erwachte er aus seinen Gedanken. Für einen kurzen Moment lieferte er sich mit ihnen ein Blickduell, dann stieß Leen ein tiefes Seufzen aus. „Du hast echt keine Ahnung, oder?“ Er schüttelte den Kopf, worauf sie sich mit einem genervten Stöhnen an die Stirn griff. „Okay, okay, ich erklär dir dann mal ein paar Dinge.“ Heather setzte sich neben ihn auf das Sofa, während Leen einen Arm in die Hüfte stemmte und ihre andere Hand mahnend erhob. Es kam ihm vor als ob er sich mitten in einer Nachhilfestunde befand – und das in seinem schlechtesten Fach. „Vor knapp hundert Jahren gab es einen großen Krieg zwischen Drachen, Menschen und Dämonen. Im Zuge dessen wurden sieben Krieger, Reinkarnationen der verstorbenen Drachengötter, als Krieger auserkoren. Als sie alle vereint waren, erschien ihnen der Göttliche, ein junger Mann namens Kai, der nicht nur den Krieg beenden, sondern die Erde auch in ein neues Zeitalter führen sollte.“ Undeutliche, verschwommene Erinnerungen erschienen in Anthonys Gedächtnis, allerdings konnte er mit all diesen wirbelnden Farben und den verzerrten Stimmen nichts anfangen und schob diese deswegen weit von sich, um sich auf den Vortrag zu konzentrieren. Leen schien auf eine bestimmte Reaktion zu warten, die allerdings ausblieb, weswegen sie enttäuscht seufzte. „Als der Krieg seinen Höhepunkt erreichte, suchten Kai und Fleera, die Kriegerin des Lichts, eine Höhle auf, um den Anführer der Dämonen zu versiegeln. Aber... Kai hat uns verraten.“ Ein stechender Schmerz fuhr durch Anthonys Kopf, als er versuchte, sich das vorzustellen. Es glich fast einer Barriere, die zu verhindern versuchte, dass er sich erinnerte. Moment! Erinnern? Warum sollte ich mich daran erinnern müssen? Das ist mir nie passiert. „Zumindest glaube ich das“, fuhr sie nachdenklich geworden fort. „Die Erinnerung ist noch nicht ganz vollständig, aber ich habe etwas von einem Verrat im Gedächtnis.“ „Die Erinnerung?“ Er neigte den Kopf und blickte sie verwirrt an. Er fürchtete bereits, sie würde noch einmal seufzen, doch stattdessen nickte sie nur andächtig. „Ich bin Fleeras Reinkarnation.“ Nach ihren Worten kehrte Stille ein. Anthony betrachtete sie verdutzt und wartete darauf, dass sie zu lachen begann und ihm sagte, dass es nur ein Scherz gewesen war. Doch da sie ihn nach wie vor vollkommen ernst ansah, wandte er seinen Blick zu Heather, nur um festzustellen, dass diese genau denselben Gesichtsausdruck aufgelegt hatte. Er lachte, nicht weil er es lustig fand, sondern, um die angespannte Situation zu entschärfen, worauf beide Mädchen allerdings wütend zu werden schienen. „Was ist so komisch?“, fauchte Leen. „Das ist doch komplett verrückt.“ Langsam stand er auf und ging rückwärts zur Tür, so dass sie ihm nicht in den Rücken fallen konnten. „Ich werde jetzt hier rausgehen – und wenn wir uns das nächste Mal treffen, werde ich so tun als ob es diese Unterhaltung nie gegeben hätte.“ Er wartete die Reaktionen der beiden erst gar nicht ab, sondern fuhr herum und verließ eilig das Haus. Die spannungsgeladene Atmosphäre verschwand augenblicklich, als er die kühle Nachtluft auf seiner Haut spürte, aber das unangenehme Stechen in seinem Inneren blieb. Er wusste, dass das, was Leen erzählte, nicht verrückt war, aber etwas anderes in ihm wollte, dass er nicht weiter darüber nachdachte und es verdrängte so gut es ging. Mit langsamen Schritten machte er sich auf den Weg zurück in seine Wohnung. Er hielt den Blick gesenkt als fürchtete er, dass etwas unscheinbar Kleines ihm in die Knöchel beißen könnte. Ihm fielen diese Wesen ein, die Kai – das musste der Name dieses Mannes in seinem Inneren sein, da war er sich sicher – zuvor bekämpft hatte. Wenn er noch mehr von ihnen begegnen würde, könnte er diese nicht bekämpfen und wer wusste schon, was sie mit ihm tun würden? Er bereute bereits, das Haus verlassen zu haben, doch da hörte er eine Stimme, die ihn seine Sorge vergessen ließ: „Anthony, wohin gehst du?“ Raymonds Stimme klang besorgt und sein Gesicht sah so aus als würde er wirklich Bedenken um die Gesundheit seines Schülers haben, auch wenn irgendwas daran nicht ganz so war wie es sein sollte. Anthony dagegen empfand eine verwirrende Mischung aus Erleichterung und Schuldgefühlen, als er dem Direktor so unvermittelt gegenüberstand. „Nach Hause“, antwortete er kleinlaut. „Ich wollte Ihnen nicht zur Last fallen.“ Es war eine Ausrede, weil er ihm schlecht sagen konnte, dass seine Tochter ihm Angst einjagte, aber Raymond durchschaute es trotzdem. „Leen hat dir mit Sicherheit ein paar Dinge erzählt, hm?“ „Irgh, ja. Aber ich will nicht einmal darüber nachdenken.“ Anthony machte sich bereit, loszurennen, um Raymonds Hand zu entgehen, wenn der ihn zurückzuschleifen versuchte, damit er sich noch mehr von diesem Unsinn anhörte, aber stattdessen lächelte der Direktor fast schon erleichtert. „Das kann ich gut verstehen. Soll ich dich nach Hause begleiten?“ Das Angebot war verlockend, immerhin würde ihm bestimmt nichts geschehen, solange der Direktor bei ihm war, doch dann schüttelte er mit dem Kopf. „Nein, ich komme schon allein zurecht, danke.“ Nach Leens Auftritt zuvor, war er sich nicht mehr so ganz sicher, ob er Raymond wirklich trauen konnte, immerhin hatte Heathers Warnung an seinem ersten Schultag sich ja sogar auch auf ihren Vater bezogen. Und dann war da immer noch was mit seinem Gesicht, das nicht so war wie sonst, aber im Moment konnte Anthony einfach nicht bestimmen, was es war. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, in diese Stadt zu kommen. „In Ordnung“, sagte Raymond nach kurzem Zögern. „Aber sei vorsichtig. Man weiß nie, was einem nachts alles unterwegs begegnet. Oh und bleib morgen zu Hause, es ist wichtig, dass du dich ausruhst.“ Anthony nickte, versprach, wirklich vorsichtig zu sein und setzte dann seinen Weg fort. Obwohl er sich unterwegs fragte, woher diese Wesen zuvor wohl gekommen waren und ob auch andere von ihnen wussten, kam er unbeschadet in seiner Wohnung an, wo er sich ohne weitere Umschweife ins Bett fallen ließ. Die Erschöpfung kehrte mit einem Schlag zurück und ließ ihn sofort wieder einschlafen, kaum, dass sein Kopf das Kissen berührte. „Das ist wirklich deine Entscheidung?“ Es war wieder einer dieser Träume. Aber diesmal, so hatte Anthony das Gefühl, war er wesentlich... greifbarer. Die gesprochenen Worte verhallten nicht in einem Echo, bis er den Sinn nicht mehr verstand, sondern kamen derart klar und deutlich bei ihm an, dass er sogar die Stimme erkennen konnte. Sie klang nach Leen und doch einen Hauch... anders. Es schwang etwas darin mit, das man guten Gewissens als Weisheit bezeichnen konnte und das unterschied sie. Er öffnete die Augen, in der Erwartung, wie üblich lediglich flirrende Farben und Lichter zu erkennen, doch stellte er überrascht fest, dass auch das Bild gleichsam mit dem Ton vollkommen deutlich und klar erkennbar war. Er befand sich in einer Höhle, was in seinen vorigen Träumen wohl immer das Echo verursacht hatte. Direkt vor ihm standen, Rücken an Rücken, zwei Personen in einem Lichtkreis, beide hielten den Blick auf den Boden gerichtet. Die Frau war von einer Aura der Erhabenheit umgeben, ihr langes silbernes Haar glühte regelrecht durch das farblose Leuchten des Lichtkreises. Am Liebsten hätte Anthony den Arm ausgestreckt, um das helle Gesicht zu berühren, das aus feinstem Porzellan zu bestehen schien, doch er befand sich außerhalb des Kreises und fürchtete sich davor, in Kontakt mit dem Licht zu kommen. Der Mann dagegen war von einer Aura der Traurigkeit umgeben, das blassgrüne Haar war zerzaust, als ob er es sich in Stunden der Besorgnis immer wieder gerauft hatte, um eine Lösung zu finden. Er nickte auf ihre Frage zuvor. „Das ist es.“ Anthony horchte auf. Dieser Mann hatte dieselbe Stimme wie jener, der seinen Körper übernommen hatte, es musste Kai sein. Aber warum nur klang er so unendlich traurig? „Die Menschheit ist noch nicht bereit für meine Erlösung, Fleera.“ Verwirrt ließ Anthony seinen Blick von einem zum anderen schweifen. Diese Frau war also die Fleera, von der Leen gesprochen hatte, diejenige, die sie angeblich in ihrem letzten Leben gewesen war. Nun da er sie vor sich sah, konnte er sich sogar vorstellen, dass es der Wahrheit entsprach, die Ähnlichkeit der beiden war nicht von der Hand zu weisen. „Du weißt, dass das einem Verrat gleichkommt.“ Kai schloss die Augen. „Ich weiß. Und auch wenn es mich schmerzt, so werde ich mich in meinem nächsten Leben allen Konsequenzen stellen, die aus dieser Entscheidung heraus resultieren.“ Fleera lachte, ein freudloser, kalter Laut, der in der Höhle widerhallte. „Große Worte, die du da sprichst. Ich bin sicher, sie fallen dir nur so leicht, weil du ohnehin weißt, dass du ein neues Bewusstsein bekommen wirst, das sich mit alldem auseinandersetzen muss.“ Er antwortete darauf nicht, aber sein gequälter Gesichtsausdruck verriet Anthony, dass er genau das befürchtete. Offenbar lag ihm viel daran, sich selbst den Konsequenzen zu stellen und sie nicht auf die Schulter einer anderen Person – in diesem Fall eben seine – zu legen. „Keine Sorge, ich habe einen Plan, dass niemand anderes an meiner Stelle leiden muss.“ Dass Anthony dennoch existierte, bedeutete für ihn, dass Kais Plan wohl fehlgeschlagen war, eine andere Erklärung gab es nicht. „Ich verstehe“, sagte Fleera schließlich. „Mir bleibt nichts anderes übrig als es zu akzeptieren. Aber beschwere dich in deinem nächsten Leben dann nicht bei mir.“ „Natürlich nicht.“ Als sie ebenfalls ihre Augen schloss, wurde das Leuchten des Lichtkreises rasch intensiver. Es pulsierte in einem unregelmäßigen Rhythmus, der dem Schlagen eines aufgeregten Herzens gleichkam. Und mit einemmal schwand die Klarheit dieses Traums, dafür kehrten die flirrenden Farben und die echoenden Stimmen zurück, die den überforderten Anthony in die Knie zwangen. Er schloss die Augen und legte die Hände auf die Ohren, damit es endete – und tatsächlich herrschte kurz danach Stille. Unter sich spürte er etwas Weiches, Warmes und ohne die Augen zu öffnen, stellte er tastend fest, dass es sich um sein Bett handelte. Der Traum war vorbei. Doch noch während er kurz darauf in der Küche Frühstück für sich machte, dachte er über das Gesehene nach. Kai hatte die Menschen offenbar nicht mit böser Absicht verraten – aber warum waren diese noch nicht reif für die Erlösung gewesen? Kai schwieg seit seinem Erwachen beharrlich, vermutlich war er wieder eingeschlafen und da Anthony von ihm keinerlei Antworten auf seine Fragen erhielt, beschloss er, vorerst wieder über etwas anderes zu grübeln. Seine Begegnung mit Raymond am Abend zuvor, kam ihm da sofort wieder in den Sinn. Etwas an dem Direktor war anders gewesen, etwas so Unscheinbares, dass es ihm auf den ersten Blick nicht bewusst aufgefallen war und das ihm selbst in diesem Moment noch immer Kopfzerbrechen bereitete. Da die neue Wohnung noch ungewohnt war, suchte er mehrere Minuten im Kühlschrank und im Küchenschrank nach der Milch, ehe ihm auffiel, dass diese bereits auf dem Tisch stand. Er seufzte leise. „Ich brauche wohl eine Brille.“ Kaum hatte er das gesagt, stutzte er. „Das ist es! Mr. Lionheart hat gestern keine Brille getragen!“ Kapitel 16: Wiedersehen ----------------------- Obwohl das Schild am Eingang in geschwungenen Buchstaben verkündete, dass geschlossen war, stellte Russel rasch fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er betrat das Café, das Seline ihm am Abend zuvor als Rendezvous Point genannt hatte – gut, als solcher war es von ihr nicht beschrieben worden, aber er mochte diesen Begriff, selbst wenn er aus dem Militärischen kam, für ihn trug er etwas Romantisches mit sich. Maryl und Vincent folgten ihm mit deutlich abweisenden Gesichtern, sie wirkten nicht sonderlich begeistert davon, einfach in ein geschlossenes Geschäft zu platzen. Im Gastraum war niemand zu sehen, aber aus einem der hinteren Räume erklang lautes Rascheln, gefolgt von einem leisen Seufzen, mit dem sich über die Arbeit beklagt wurde. Gleich darauf wurde der Person offenbar bewusst, dass jemand hereingekommen war, da er aus dem Hinterzimmer rief, dass noch nicht geöffnet sei. Russel ließ sich davon allerdings nicht stören, sondern ging einfach hinter den Tresen, um das Hinterzimmer zu betreten, wo er tatsächlich einen genervten Ryu vorfand, der offenbar gerade mit Bestellungen beschäftigt war und nicht einmal aufblickte. „Ich sagte, wir haben geschlossen!“ „Das habe ich schon verstanden“, erwiderte Russel ruhig. „Aber ich dachte, ich schaue trotzdem mal vorbei.“ Erst als er die Stimme des anderen hörte, blickte Ryu auf. Er brauchte nicht viel mehr als die grünen Haare zu entdecken, um genau zu wissen, wen er da vor sich hatte. „Russel!“ Zwar lächelte er bei dieser Erkenntnis, aber dem Grünhaarigen fröstelte es dennoch. Es war unverkennbar, dass Ryu sich darüber freute, ihn zu sehen, aber seine Augen blieben von alldem unberührt als ob sie eigentlich jemand ganz anderem gehören würden und nur durch eine Verwechslung in seinem Gesicht gelandet waren. Nachdem er Russel und Maryl, die ihm noch immer gut im Gedächtnis waren, begrüßt hatte, wandte er sich Vincent zu, der ein wenig entfernt von ihnen stehengeblieben war. „Ich muss nicht lange raten, um zu wissen, wer Sie einmal waren. Aber es wäre mir angenehm, wenn ich Ihren jetzigen Namen wüsste.“ Es wunderte Russel nicht im Mindesten, dass Ryu ihn wiedererkannte, der Schwarzmagier war damals sein erster Gefährt nach seinem Leibwächter Lionheart gewesen und die beiden hatten sich immer gut verstanden. Diese äußerst höfliche Art aber verwirrte ihn. Irgendwas musste in den letzten neunzig Jahren mit ihm vorgefallen sein, dass er sich so verhielt. „Vincent Valentine“, stellte der Gefragte sich vor und Russel stellte verärgert fest, dass er seinen Mittelnamen wegließ, was wohl bedeutete, dass er gegenüber Ryu keine derart große Distanz verspürte wie bei ihm. „Ich nehme mal an, Seline hat euch hergebeten“, meinte Ryu, nachdem er alle dazu gebracht hatte, sich zu ihm an den Tisch zu setzen, auf dem sich Berge von Dokumenten und Büchern stapelten. Russel warf nur einen kurzen Blick auf einen der Preisführer, dann wandte er sich lieber wieder ihrem Gastgeber zu und nickte. „Richtig, ich habe sie letzte Nacht getroffen. Mich wundert ja, dass ihr jetzt zusammen ein Café führt.“ „Was heißt hier zusammen?“, brummte er. „Ich mache die ganze Arbeit, sie taucht nur alle paar Tage mal auf und tut so als sei sie die Chefin.“ Das klang nicht sonderlich nach der Seline, die Russel kannte, abgesehen von der Tatsache, dass sie ihren kleinen Bruder alleinließ. Aber normalerweise ging sie alles mit einem erstaunlichen Verantwortungsbewusstsein an, das ihn schon damals immer hatte staunen lassen. „Was führt euch eigentlich genau her?“, fragte Ryu weiter. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr drei freiwillig zusammen reist.“ Die Blicke aller wandten sich Russel zu, eine stumme Aufforderung, alles zu erklären, was er bislang für sich behalten hatte. Er seufzte innerlich. „Wir suchen den Göttlichen.“ „Aha.“ Für einen Moment herrschte Schweigen. Eigentlich hatte Russel sich eine gänzlich andere Reaktion darauf erhofft, etwas wesentlich Emotionaleres, aber es schien Ryu komplett egal zu sein, was sich durch die folgenden Worte auch bestätigte: „Da habt ihr ziemlich lange gebraucht, ich habe ihn neulich erst gesehen.“ „Du hast was?“, fragte Russel fassungslos. Selbst Maryl und Vincent schienen darauf blass geworden zu seine. Offenbar dachten sie alle drei dasselbe: Dass Ryu in einen Kampf mit dieser Person geraten war – auch wenn zumindest Russel sagen konnte, dass sich das nicht im Mindesten mit den Angaben von Seline deckte. „Es wird dich auch interessieren, dass die Aura des von dir Gesuchten auch an Marc haftet, deswegen hast du den Falschen aufgespürt.“ Das musste bedeuten, dass Anthony mit diesem Marc befreundet war und das passte nicht zu dem kampfwütigen Göttlichen, den sie alle drei gerade im Sinn hatten. Möglicherweise war sich Anthony seiner Kräfte auch noch gar nicht bewusst und war bislang noch keine Bedrohung gewesen. „Anthony war zum Essen hier“, antwortete Ryu. „Er schien mir ein ziemlich ruhiger, eher schüchterner Junge zu sein. Im Moment werden wir kaum was vor ihm zu befürchten haben.“ „Im Moment vielleicht“, ereiferte Russel sich sofort. „Aber er wird ja auch nicht immer so bleiben... oder?“ Darauf wusste offenbar keiner der Anwesenden eine Antwort. Aber wie erwartet, kümmerte es Vincent auch nicht weiter. „Mir geht es nur darum, ihn einmal zu sehen. Ich brauche lediglich ein Bild von ihm.“ Er erklärte dem fragend dreinblickenden Ryu ebenfalls, dass sein Auftraggeber das verlangte und fügte auch sofort hinzu, dass er nicht wusste, weswegen er so einen Auftrag bekam. „Ich denke, das mit dem Bild dürfte kein großes Problem werden“, meinte Ryu, ehe er wieder zu Russel blickte. „Aber ich fürchte, ich kann nicht zulassen, dass du ihm etwas antust.“ „Warum denn nicht? Hast du vergessen, dass er uns alle verraten und den Tod einiger von uns in Kauf genommen hat?“ „Das habe ich nicht, keine einzige Sekunde.“ Sein Blick wurde noch eine Spur kälter. Wieder einmal wurde Russel bewusst, dass Ryu von ihnen allen am meisten verloren hatte. Zwar hatte er sein Leben nicht verloren, aber dafür sein Zuhause, sein Reich, seine Untertanen und die Zuversicht, dass seine Versprechen etwas wert waren. Man konnte durchaus sagen, dass er nach dem Ende des damaligen Krieges vor den Trümmern seines Lebens gestanden hatte – und nun betrieb er ein Café. Es wäre lustig gewesen, wenn er Ryu nicht gemocht hätte, so aber fand er es einfach nur traurig. „Ich denke aber, dass du Anthony nicht die Schuld geben kannst, für etwas, das Kai verantwortet hat. Und ich denke, dass wir auch Kai die Gelegenheit geben sollten, sich zu erklären.“ Wütend über diese Worte, verschränkte Russel die Arme vor der Brust. „Sich erklären? Er hat uns alle ins offene Messer rennen lassen, da gibt es nichts zu erklären.“ „Und eben da denke ich anders.“ Ryu ließ sich nicht im Mindesten aus der Ruhe bringen und zu Russels zusätzlicher Verärgerung stimmte Vincent ihm auch noch zu. „Es könnte doch tatsächlich sein, dass es nicht seine Absicht war, irgendjemandem zu schaden? Vielleicht ist er selbst genauso betroffen davon wie wir.“ „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ Vincents überheblicher Blick verstärkte Russels Abneigung um ein Vielfaches. „Auf der Seite der Gerechtigkeit natürlich. Und jene wird nur erreicht, wenn wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und jeden Blickwinkel analysieren, bis wir die Wahrheit extrahiert haben.“ Sowohl Ryu als auch Maryl warfen ihm bewundernde Blicke zu, während Russel nur mit den Augen rollte und dann in einem Ton, der verriet, dass er es nicht ernst meinte, „Ich hasse euch alle“ sagte. „Ich hoffe, das gilt nicht für mich.“ Automatisch wandten alle den Kopf und entdeckten Seline, die lächelnd den Raum betrat, ohne Brille, wie Russel feststellte. Er hätte am Liebsten erleichtert geseufzt, so sehr freute er sich, endlich eine vernünftige Person zu sehen. „Natürlich nicht, Liebes. Dich könnte ich nie hassen.“ Obwohl er es einige Jahre lang versucht hatte – aber alles leugnen und verdrängen half in seinem Fall wohl nicht mehr. Äußerst zufrieden über diese Äußerung setzte sie sich neben ihn und ließ sich erst einmal die anderen beiden Besucher vorstellen, obwohl sie Maryl noch durchaus kannte. Da sie kein weiteres Interesse an den beiden hatte, wandte sie sich wieder Russel zu. „Also, du meintest letzte Nacht, du wolltest mit mir sprechen.“ „Letzte Nacht?“, hakte Maryl mit knurrendem Unterton nach. Russel warf ihr nur einen kurzen Blick zu, der ihr bedeuten sollte, dass sie still sein sollte. Immerhin waren sie beide seit Jahren kein Paar mehr und reisten nur noch zusammen, weil sie keinen Ort hatte, an dem sie bleiben könnte, also gab es für sie keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Nicht zuletzt, weil er und Seline ja auch kein Paar mehr waren – und es vermutlich auch nie wieder sein würden. „Wir waren neulich im Peligro Waisenhaus“, begann er zu erklären. Bei der Erwähnung dieses Namens runzelten die Geschwister gleichermaßen die Stirn, unterbrachen ihn allerdings nicht, sondern warteten darauf, dass er fortfuhr, um ihren Verdacht zu erhärten oder zu entkräften. „Dort haben wir den Direktor dieser Einrichtung getroffen, diesen Master.“ Vincent und Maryl tauschten einen Blick miteinander, ganz offensichtlich erinnerten sie sich immer noch nicht an das, was während ihres Besuches dort geschehen war – und je öfter Russel daran zurückdachte desto mehr wünschte er sich, es ebenfalls zu vergessen. Aber erst musste er den Geschwistern davon erzählen, damit sie darüber Bescheid wussten. Danach, davon war er überzeugt, würden sie sich nicht mehr so querstellen, wenn es darum ging, den Göttlichen schnellstmöglich zu beseitigen, ehe ihm bewusst wurde, über welche Kräfte er verfügte. „Ich finde es gut, dass du ihn getroffen hast“, bemerkte Seline. „Dann kannst du mir jetzt sicherlich mehr über ihn erzählen, ich bin nämlich ziemlich neugierig. Alle anderen, die ich kenne, erinnern sich nicht an ihn.“ „Das kann ich mir vorstellen.“ Russel seufzte schwer. „Ich würde es auch gern vergessen. Aber wie auch immer. Wir kamen also dort an und wurden ins Büro des Direktors gebeten...“ Kapitel 17: Unheilvolle Begegnung --------------------------------- Wir traten in das Büro, das Zentrum der Kälte, wie es mir schien – aber es sah nicht im Mindesten so aus, wie man sich sowas vorstellte. Eine helle Tapete zierte die Wände, eine Lampe spendete warmes gelbes Licht und auf dem Tisch stand eine Kanne mit dampfendem Kaffee, mit einem Teller appetitanregender Kekse daneben. Die Stühle, auf denen wir Platz nahmen, waren auch überraschend bequem, mal ehrlich, wer stellt sich denn so das Hauptquartier des Bösen vor? Ja, ja, nicht vom Thema ablenken, ich weiß. Jedenfalls war außer uns niemand da, wir wurden gebeten zu warten und taten das selbstverständlich auch. Vincent warf mir einen abschätzigen Blick zu. „Es gehört sich nicht, mit einer deutlich sichtbaren Waffe zu Besuch zu kommen.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es höflicher ist, mit versteckten Waffen anzutanzen“, erwiderte ich unbeeindruckt und wartete auf unseren Gastgeber. Als dieser sich endlich zu uns bequemte, kam es mir so vor als hätte man mich ohne Vorwarnung in eiskaltes Wasser gestürzt, ich weiß, wovon ich rede, das ist mir schon mal passiert, aber dieses Mal konnte ich zumindest noch atmen. Äh, ja, ich hatte bereits sehr viel von diesem Master gehört. In Untergrundkreisen wird über ihn gemunkelt, er sei ein bösartiger Wissenschaftler, der bei seinen eigenen Experimenten den Verstand verloren hat, aber bis zu dem Augenblick, in dem ich ihn das erste Mal sah, dachte ich, alle würden übertreiben. Doch als er mir gegenüberstand und mich aus belustigten goldenen Augen ansah, hatte selbst ich das Gefühl, dass irgendwas an dieser ganzen Sache dran war. „Welch hoher Besuch.“ Seine Stimme klang als ob sie... na ja, mehrmals durch eine Mangel genommen und dann durch eine Reibe gedrückt wurde oder im Klartext: Seine Stimme war die Essenz eines Albtraums, was gar nicht zu seinem Auftritt als biederer Geschäftsmann im grauen Anzug passen wollte. Gut, sein langes graues Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, passte ebensowenig. Aber ich glaube, was mir in dem Moment mehr Angst einjagte war, dass er wusste, wer ich war. „Du kennst mich?“ „Wie könnte ich nicht?“ Er verzog den Mund zu einem furchteinflößenden Lächeln. Wenn ich das sage, muss das etwas bedeuten, ich habe immerhin nie Angst und warum auch? „Jeder sollte den einzigen kennen, der das Massaker Ladons überlebt hat. Besonders jemanden, der so berühmt-berüchtigt ist wie du, Levante. Oder gefällt dir dein Titel Gott des Windes besser?“ Selbstverständlich blickte Maryl nicht im Mindesten überrascht, Vincent dagegen schon, was mir äußerst gut gefiel. Aber mir blieb keine Zeit, das zu genießen, da ich mich eher wunderte, woher dieser Kerl das über mich wusste. Doch statt uns das zu erklären, setzte er sich uns gegenüber auf seinen Platz. Zwar lächelte er, aber ich konnte spüren, dass ich nicht der einzige war, dessen Körper sich in diesem Augenblick anspannte. Vincents Griff um seinen Schirm verstärkte sich so sehr, dass ich sehen konnte, wie seine Adern blau hervortraten. „Nun, wenn du mich schon kennst, wäre es dann nicht angemessen, wenn du dich ebenfalls vorstellen würdest?“ Ich verzichtete auf jede Form von Respekt, ihn schien das nicht weiter zu stören. „Das ist ein wenig schwer. Ich kam nie in den Luxus eines Namens.“ Zu meiner großen Überraschung war es tatsächlich Vincent, der darauf seine Stirn runzelte. „Ich habe von Leuten wie dir gehört. Aber ich dachte nicht, dass ihr überlebt habt.“ „Oh, es ist auch nur noch einer übrig und das bin ich“, erwiderte unser Gastgeber. „Aber einer von uns reicht auch, um diesen hohen Posten zu erreichen.“ „Mag mir einer erklären, wovon ihr sprecht?“ Genervt sah ich zu Vincent, der sogar zu angespannt schien, um eine sarkastische Bemerkung zu machen. „Vor gut vierzig Jahren fanden Wissenschaftler einen Körper, den sie als jenen von Ladon zu identifizieren glaubten, ausgehend von irgendwelchen Reliefen oder uralten Malereien. Jedenfalls hat man anhand dieses Körpers die verschiedensten Experimente durchgeführt, unter anderem versuchte man, ihn zu klonen, aber die meisten starben innerhalb der ersten paar Jahre.“ „Nun, ich habe überlebt“, sagte er mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. „Und ich empfinde mich als sehr gute Kopie.“ Ich sah wieder zu ihm hinüber und musterte ihn unter dieser Prämisse. Allerdings konnte ich keinerlei Ähnlichkeit zwischen den beiden feststellen, wenn man mal von dem Haar absah. Ladon war größer gewesen, vertrauenserweckend, seine Augen noch dazu blassgrün... und er hätte mit Sicherheit lieber eine Handvoll Reißzwecken verschlungen statt sich um Waisenkinder zu kümmern, wobei... „Ich wette, diese Waisenkinder, sind auch gar keine richtigen Waisenkinder, oder?“, fuhr Vincent fort. Das Gesicht des Klons hellte sich schlagartig auf. „Nun, ein paar von ihnen sind wirklich welche... und die anderen haben auch keine Eltern, faktisch gesehen sind sie also auch welche.“ Was ich da gerade begriff, wollte mir gar nicht gefallen. „Du erstellst weitere Klone!?“ „Sicher. Aber natürlich nicht aus dem defekten Körper, den alle für einen Gott gehalten haben. Nein, ich hatte eine wesentlich bessere Alternative.“ Schweigend sahen wir ihn an und warteten offenbar alle drei darauf, dass er uns erklärte, was er meinte, aber er sagte nichts weiter, sondern lächelte nur vielsagend. „Was soll das denn?“, hakte Maryl nach. „Warum diese Klone? Willst du eine Armee aufbauen?“ Sein Gesicht leuchtete geradezu, offensichtlich hatte sie ins Schwarze getroffen, mir wurde schon richtig übel. „So in etwa, ja. Sobald Ladon zurückkehrt, wird er eine Armee brauchen, um die Menschen daran zu erinnern, wer ihr wahrer Herrscher ist.“ „Im Klartext: Du willst alle Menschen, die sich gegen Ladon richten, abschlachten?“ Ich wollte nur sichergehen, ehe ich handelte und auch Vincent schien nur noch darauf zu warten, dass ein Stichwort fiel, um ihm zum Angriff zu bewegen. „Wenn es Ladons Wunsch ist, auch alle anderen.“ Ich weiß nicht, ob er das kommen sah, aber Fakt ist, dass er sowohl mein Schwert abwehren als auch der Pistolenkugel von Vincent ausweichen konnte. Seine Schnelligkeit verblüffte mich für einen Moment und ließ mich handlungsunfähig erstarren, eine Gelegenheit, die er nutzte, um einen kaum sichtbaren Schalter zu drücken, worauf ein Alarm im Haus losheulte. Binne weniger Sekunden waren unzählige Schritte zu hören, ein spontaner Großeinsatz der kleinen Armee offenbar. Wir drei warfen uns einen ratlosen Blick zu, während der Direktor sich lachend zu der Tür begab, durch die er vorhin hereingekommen war. Ich wusste genau, was zu tun war und Vincent glücklicherweise auch: „Du folgst ihm, wir halten hier die Stellung.“ Maryl nickte zustimmend, ohne weitere Worte folgte ich dem Kerl. Die Tür führte zu einer Treppe, die in die Tiefe führte. Er war nicht mehr zu sehen, wie auch immer er so schnell hatte vorauseilen können. Ich folgte ihm so schnell wie möglich, stürzte am Fuß der Treppe durch eine weitere Tür – und rutschte im nächsten Raum erst einmal aus und fiel zu Boden. Kein Grund, zu lachen! Eine glitschige Flüssigkeit unter mir war dafür verantwortlich, dass ich den Halt verloren hatte. Als ich den Kopf wandte, fiel mir sofort eine leere Röhre auf, die vor kurzem geöffnet worden war. Offenbar befand ich mich in einer Art Labor, da es noch mehrere von diesen Röhren an den Wänden entlang gab. Obwohl sich in denen etwas zu befinden schien, waren sie nicht beleuchtet, deswegen konnte ich nicht sehen, was sich darin befand – aber ich konnte es mir denken. Ich richtete mich wieder auf und lief vorsichtig weiter. Ich konnte nichts hören oder spüren, also glaubte ich, davon ausgehen zu können, dass niemand außer mir hier war. Neben mehreren dieser Röhren gab es noch einen Behandlungstisch, eine halbe Arztpraxis und einen riesigen Computer in diesem Labor – vor Letzterem blieb ich fasziniert stehen. Der flirrende Bildschirm zeigte das Bild einer Person, die ich nur allzugut kannte – daneben war noch ein Bild zu sehen, aber dieser Mann kam mir nicht im Mindesten bekannt vor. Was mich allerdings noch mehr verwunderte, war das, was über den beiden Bildern stand. Mir blieb allerdings keine Zeit, mir mehr durchzulesen oder überhaupt zu verarbeiten, worum es ging, da ich plötzlich etwas hinter mir spürte. Ich fuhr herum und wich gleichzeitig aus. Etwas traf auf den Bildschirm und zerstörte diesen völlig. Erst als die mit Stacheln besetzte Metallkugel an seiner Eisenkette zurückgezogen wurde, erkannte ich, dass es ein Morgenstern war, der auf mich geschleudert worden war. Wie unnett, nicht wahr? Ich sah zu der Person hinüber, die dafür verantwortlich war und sog überrascht die Luft ein. Aufgrund der schweren Waffe hatte ich einen ziemlich starken Mann erwartet oder zumindest einen männlichen Klon von was auch immer dieser Kerl für gut genug befunden hatte, um es zu klonen. Aber was da vor mir auf einem Tisch stand, war eine Frau in grüner OP-Bekleidung, das dunkle Haar noch nass, was davon zeugte, dass sie das Wesen aus der leeren Röhre war. Sie blickte kalt und erbarmungslos auf mich hernieder, dabei hatte ich noch nicht mal eine Verabredung mit ihr gehabt, bei der ich etwas hätte tun können, weswegen sie mich derart verachtete. Niemand lacht? Also, ich fand den gut, aber na okay. Ich hob die Hände, jene in der ich das Schwert hielt mit der Klinge nach unten. „He, alles klar?“ Sie antwortete mir nicht, aber mir fiel inzwischen auf, was mich an ihr so irritierte. Erst einmal waren ihre Augen dunkel, wirklich dunkel, da war nichts Weißes in ihrem Auge und sie besaß keine Aura, nichts, was ich spüren oder gedanklich ertasten konnte. Sie ließ sich am Ehesten mit einem Zombie vergleichen, sie war tot und lebte doch noch, sie besaß keine Seele, ein Gespräch war damit also sinnlos. Ich weiß, wie es zu so etwas kommen kann, aber das erkläre ich besser später mal, jedenfalls war sie eindeutig ein Klon und in einem solchen Fall war es wohl besser, sie direkt wieder aus dieser Welt zu befördern. Sie schien einen ähnlichen Gedanken mir gegenüber zu hegen, denn sie holte erneut mit dem Morgenstern aus, wofür sie nicht einmal großartig Anstrengung gebrauchte. Noch einmal wich ich der Metallkugel aus und versuchte direkt danach sie mit dem Schwert anzugreifen, doch ihr heftiger Ruck an der Kette sorgte dafür, dass der Morgenstern wieder zurückgeschleudert wurde und mir beinahe in den Rücken einschlug. Im letzten Moment duckte ich mich darunter hinweg, so dass sie getroffen werden würde – erstaunt hielt ich dann allerdings inne. Statt von den Stacheln aufgespießt oder von der Wucht der Kugel zerschmettert zu werden, hatte sie den Morgenstern mit einer Hand aufgehalten und hielt diesen nun locker auf ihrer Handfläche als wäre es ein Tennisball. Als ich das sah, ahnte ich, dass die Person, aus wem auch immer sie geklont war, eine überaus machtvolle Entität sein musste. Nicht einmal ich wäre zu so etwas in der Lage, deswegen bin ich doch immer ausgewichen. Sie sah, roch oder fühlte wohl, dass ich ein wenig Angst verspürte, denn sie nutzte den Moment, um mich noch einmal anzugreifen, obwohl sie damit für einen kurzen Augenblick ihre Deckung aufgab. Sie musste nicht einmal mit der Kette ausholen, stattdessen warf sie die Kugel absolut locker aus dem Handgelenk auf mich als ob das alles ein Kinderspiel für sie wäre. Ich sprang zurück, wich der Kugel dieses Mal allerdings nicht aus, sondern sprang darauf und rammte dann das Schwert vor. Ich sah die Überraschung in ihren Augen, aber da war es bereits zu spät für eine Reaktion von ihrer Seite aus. Durch den Wucht meines Angriffs stolperte sie rückwärts, fiel vom Tisch herunter und prallte gegen eine weitere Röhre. Sie hustete, Blut lief aus ihrem Mundwinkel, während sie langsam mit dem Rücken am Glas hinabrutschte. Im nächsten Moment bewegte sie sich nicht mehr, ihre Augen blieben so tot wie eh und je. Mit einem erleichterten Seufzen zog ich das Schwert wieder aus ihrem Körper heraus und steckte es wieder ein. Mein Blick wanderte von der Leiche zu der Röhre hinauf, in der inzwischen ebenfalls das Licht angegangen war. Wieder sog ich überrascht die Luft ein. Die Gestalt, die da in einer durchsichtigen Flüssigkeit zu schweben schien, glich jener, die tot vor der Röhre lag – und gleichzeitig war sie doch ganz anders. Der maßgebliche Unterschied zwischen den beiden war, dass die Schwebende eine Seele besaß. Aber noch etwas schien anders und obwohl ich nicht sagen konnte, was es war, schien mir als würde es direkt nach meinem Herzen greifen, um dieses für sich zu gewinnen. Ich wollte die Hand heben, um diese auf das Glas zu legen, als ich ein Geräusch hinter mir hörte und sofort herumwirbelte. Der Master stand da und lächelte freundlich, zumindest was er wohl unter freundlich verstand. „Gratuliere, du hast einen Kampf gegen einen Prototyp der dritten Generation bestanden.“ „Prototyp?“ Ich blickte auf die Leiche hinunter, die mir fast schon Leid tat so bezeichnet zu werden, aber man konnte sie auch kaum als gelungen bezeichnen, von daher war Prototyp wohl die beste Bezeichnung. „Ich werde wohl die Forschungen vorantreiben müssen und die folgenden Klone verbessern.“ „Denkst du, ich lasse das zu?“ Ich wollte gerade mein Schwert ziehen, als ich den Gegenstand in seiner Hand entdeckte. Es war ein Schalter... ein roter Schalter... das bedeutete nie etwas Gutes, meist waren rote Schalter mit Atombomben oder Atomraketen oder Kernschmelzen verknüpft – es hatte auf jeden Fall immer etwas mit nuklearen (Un-)Fällen zu tun. Er bemerkte meinen Blick und hob die Hand mit dem Schalter. „Oh, du hast ihn also entdeckt. Und ich denke, ich weiß, was dir gerade in den Sinn kommt. Aber du hast nur fast recht. Dieser Schalter ist mit vollkommen handelsüblichen C4 verbunden.“ „Oh, wie Oldschool“, frotzelte ich. „Du würdest all deine Forschungen opfern?“ „Um dich von mir abzulenken? Aber mit Sicherheit. Aber ich will nicht so sein und sage dir, wo die Person ist, die du suchst.“ Ich weiß wirklich nicht, woher er all das wusste, aber bitte, solange er mir sagte, wohin ich gehen musste. Er neigte den Kopf. „Lanchest, das kennst du doch, oder? Dort wirst du Anthony Branch finden, er ist ein Schüler in der dortigen Militärakademie – zumindest noch. Ich habe noch viel vor mit ihm.“ Ehe ich nachhaken konnte, drückte er auf den Schalter. Ein gut hörbares Klicken erklang – und im nächsten Moment schienen mehrere Explosionen meine Trommelfelle zu sprengen. Der Direktor wurde von einer Welle von Flammen verschlungen, dabei riss sein Lächeln nicht im Mindesten ab. Ich wich zurück, bis ich mit dem Rücken an der Röhre stand, dann schloss ich die Augen und konzentrierte ein Schutzschild um mich herum, das mich vor diesen von Menschen geschaffenen Flammen beschützen sollte. Ich spürte, wie das Feuer auf mein Schild traf, wie es versuchte, dieses zu sprengen, um auch an mich selbst heranzukommen. Die einzelnen Röhren gaben unter der Hitze nach, ich konnte einige Schreie aus Kehlen hören, die nicht gewohnt waren, zu sprechen, auch das Glas hinter mir zersprang, instinktiv schien das daraus befreite Wesen sich an mich zu klammern. Ich riss die Augen auf, gleichzeitig fegte ein heftiger Windstoß durch das Labor, dessen Wucht genügte, um sämtliche Flammen auf einen Schlag zu löschen – nun gut, einige brannten weiter, aber immerhin war es nun wieder erträglich. Ich drehte mich wieder herum, um das befreite Wesen in meine Arme zu schließen und es vorsichtig auf den Boden sinken zu lassen. Die eisblauen Augen blickten mich hilfesuchend an, flehten stumm um meine Unterstützung, aber ich spürte bereits das dünne Konstrukt der künstlichen Seele aus dem zierlichen Körper rinnen, es konnte nicht mehr aufgehalten werden. Tränen liefen aus ihren Augenwinkeln als wäre sie sich tatsächlich dem Ende ihres kurzen Lebens bewusst und ich konnte nicht anders als mich zu fragen, ob es in diesem Fall nicht sogar besser war. Für einen Moment überlegte ich, ihr zu sagen, dass alles okay war, dass sie sich vor nichts fürchten musste – aber ich wusste nicht einmal, ob sie mich überhaupt verstehen würde und ich hatte keine Ahnung vom Sterben, vielleicht war es tatsächlich etwas, vor dem man sich fürchten musste, warum sonst sollten alle unbedingt leben wollen? Doch meine Gedanken waren ohnehin umsonst. Nur wenige Sekunden später sackte ihr Kopf zur Seite, ihre Seele war komplett verschwunden. Vorsichtig ließ ich sie zu Boden sinken, sprach ein kurzes Gebet, das ihr helfen sollte, unbeschadet in der Seelenwüste anzukommen und dort ihren Frieden zu finden – oder noch besser, diese Wüste zu durchqueren und in einer der damit verbundenen Welten ein neues, richtiges Leben zu beginnen. Da sich außer mir niemand mehr im Labor befand, sprintete ich zur Treppe zurück und hastete diese hinauf. Das Feuer hatte nicht den ganzen Weg hinauf geschafft, so dass das Waisenhaus noch stand, lediglich Spuren eines Kampfes verrieten, dass es dort zu keinem Kaffeekränzchen gekommen war. Vincent und Maryl entdeckte ich glücklicherweise im Freien, beide unverletzt, aber sichtlich erschöpft. Bis zu den Explosionen hatten sie gegen die Waisenkinder gekämpft, die anscheinend über die Entschlossenheit echter Patrioten verfügten – aber kaum hatte der erste Knall eingesetzt, waren ihre Feinde in alle Himmelsrichtungen geflohen und nicht zurückgekehrt. Obwohl mich beide fragten, was im Labor geschehen war, sparte ich mir die Erzählung, da ich genau wusste, dass sie es vergessen würden, sobald sie eingeschlafen waren. Das – so wusste ich auch durch diese Untergrundquellen – war eine seiner entscheidendsten Fähigkeiten, weswegen seine Machenschaften alles andere als bekannt waren: Normale Menschen vergessen ihn einfach, sobald sie nach einer Begegnung mit ihm einschliefen. Da ist etwas an ihm, was dafür sorgt, dass die Erinnerung an ihn nicht ins Langzeitgedächtnis eingearbeitet werden kann und stattdessen einfach verlorengeht, sobald das Gehirn das versucht. Ich weiß nicht, was es ist, selbst nach einem Treffen mit ihm, aber ich muss sagen, ich finde diese Fähigkeit fast schon traurig, immerhin bekommt man so auch nie Freunde, andererseits könnte man so auch recht interessante Beziehungen führen, ähnlich wie in diesem Film damals... ah, schon wieder vom Thema abgekommen, tut mir Leid. Jedenfalls beschlossen wir, nach Lanchest zu fahren und kaum saßen wir im Zug, schliefen Vincent und Maryl ein... und hier sind wir nun. Tolle Geschichte, oder? Kapitel 18: Lügende Gottheit ---------------------------- Lächelnd blickte Russel nach dem Ende seiner Erzählung in die Runde, auch wenn den anderen nicht im Mindesten auch nur nach einem Schmunzeln war. „Deine Erzählung war ziemlich kurz“, meinte Vincent schließlich. „Bist du sicher, dass nicht noch mehr passiert ist? Oder dass du wirklich so eine tolle Figur abgeliefert hast?“ „Nein, das war alles, ehrlich.“ Sein aufrichtiges Lächeln, das sonst dazu diente, jeden Verdacht zu zerstreuen, bewirkte bei Vincent, der als Detektiv darauf getrimmt war, Lügen zu durchschauen, eher, dass sein Misstrauen weiter anwuchs. „Bist du dir sicher?“ Russel nickte, ohne mit dem Lächeln aufzuhören und Vincent wurde bewusst, dass es nichts gab, womit er einen Gott bestechen könnte, um ihn dazu zu bringen, doch zu sprechen. Möglicherweise gab es auch einen vernünftigen Grund, warum er etwas verbarg. Als Gott würde er sicherlich die Lebenserfahrung besitzen, um das einzuschätzen, auch wenn Vincent diese Erkenntnis nicht gefiel. Seline tippte auf Russels Schulter, worauf dieser ein wenig zusammenzuckte und sich ihr zuwandte. „Was mich eher interessieren würde als das, was du uns bewusst verschweigst, ist, was du auf diesem Bildschirm gesehen hast.“ „Ah, du hast es dir gemerkt, du bist so umsichtig.“ Er zwinkerte ihr zu, bekam aber nur einen Klaps auf die Schulter, worauf er vor Schmerz das Gesicht verzog. „Okay, okay, lass das. Also, auf diesem Bildschirm war ein Bild von dir.“ Verwundert fuhr sie zurück und legte sich eine Hand auf ihr Herz. „Von mir? Bist du sicher?“ „Selbst wenn ich nicht dein hübsches Gesicht wiedererkannt hätte, wäre da immer noch dein Name gewesen, der unter dem Bild stand. Seline de Silverburgh.“ Mit der Hand zeigte er eine Fläche wie eine weit entfernte Leinwand an. „Den Namen würde ich nie vergessen und dein Gesicht-“ „Ich hab's verstanden, mein Lieber“, unterbrach sie ihn. „Du findest mich wunderschön und kommst einfach nicht über mich hinweg. Kannst du das sein lassen, langsam wird es langweilig.“ „Gut, sorry, kommt nicht wieder vor.“ Er winkte ab, um sie zu beruhigen. „Jedenfalls war das dein Bild und dein Name und darunter standen noch ein paar Daten. Sah ein wenig danach aus als hätte jemand deine DNS entschlüsselt oder so. Ich bin kein Wissenschaftler und ich hab nicht mal den Hauch einer Ahnung von sowas.“ Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten. „Ich glaube, ich bin diesem Kerl noch nie begegnet, aber es ist nicht auszuschließen, dass irgendjemand irgendwann tatsächlich mal an ein Haar oder ein wenig Blut von mir kam.“ Auch wenn es ihr schwerfiel, zu glauben, dass irgendjemand Hand an sie legen würde ohne dafür von einer bestimmten Person gemaßregelt zu werden. Aber Gelegenheiten hatte es tatsächlich viele gegeben. „Neben deinen Informationen waren da noch die von so einem Kerl, den ich nicht kannte. Sein Name war.. äh, Raymond Lionheart, wenn ich das richtig im Kopf habe.“ Diesmal war es Ryu, der verwundert die Stirn runzelte. „Ray? Warum stand da Rays Name?“ Russels Gesicht hellte sich auf, hatte er doch bereits befürchtet, er würde diesen Mann ebenfalls erst suchen müssen, um... ja, was hatte er sich eigentlich gedacht, dass er ihn suchen müsste? Es schien ihm entfallen zu sein und für einen Moment glaubte er, das wäre ebenfalls die Schuld dieses Masters, auch wenn seine Fähigkeit keinen Einfluss auf ihn nehmen dürfte. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass er schon im ersten Moment dieses Gedankens nicht wusste, warum er Raymond aufsuchen sollte, außer dafür zu sorgen, dass er sich von Seline fernhielt. „Nun, genau das ist der Grund, warum ich mit dir sprechen wollte, Seline. Das, was über den Bildern, Namen und Infos stand, war nämlich das wirklich Erschreckende und der Grund, warum ich so schockiert war.“ Gespannt blickten alle ihn an, nur Vincent schien sich so gar nicht für all das zu interessieren und lediglich aus Pflichtbewusstsein zu lauschen. „Also, ich hab nicht ganz verstanden, was genau dieser Kerl vorhatte, aber mir ist klar, dass das echt krank ist. Selbst aus meiner Perspektive und ich bin nicht mal ein Mensch.“ „Russel!“ Drohend hob Seline die Hand, bereit, erneut auf seine Schulter zu schlagen. Er duckte sich sofort. „Über den Bildern stand Perfekte Paarungs-Partie.“ Auf sein heftiges Niesen erntete Raymond ein äußerst altmodisches „Gott segne Sie“. Mit tränenden Augen blickte er seine Sekretärin an – tatsächlich eine reizende, ältere Dame mit Namen Marybeth Lively, die von allen nur Beth genannt wurde – und schluckte die Entschuldigung, die ihm bereits auf der Zunge gelegen hatte, hinunter. „Wissen Sie, was so ein Niesen bedeutet?“, fragte Beth, ohne von der Tastatur aufzublicken, auf der sie gerade mit ihren langen, manikürten Fingernägeln klackerte. „Nein, was?“ „Jemand denkt an Sie.“ Sie lächelte ihm vielsagend zu, ein sympathisches Lächeln als ob sie einem gerade ihre überaus schlecht schmeckenden Kekse verkaufen wollte. Auch wenn ihm nicht danach war, konnte er nicht anders als es zu erwidern. „Ich dachte immer, einem würden dann die Ohren klingeln.“ „Die Variante gibt es auch“, gab sie zu. „Aber das Niesen dürfte geläufiger sein. Was denken Sie, wer hat eben an Sie gedacht?“ Er blickte nach oben als würde er darüber nachdenken, aber eigentlich gab es für ihn nicht viel zu überlegen. „Ich bin Direktor einer Schule, also dürfte es genug Leute geben, die sich über mich ärgern und deswegen an mich denken. Ich habe zwei Töchter und eine Frau, die dürften sich gleichfalls über mich ärgern, hin und wieder. Und dann gibt es mit Sicherheit noch Leute, die nur meinen Namen kennen und sich denken Raymond Lionheart, was muss das für eine tolle Person sein, die hinter diesem Namen steht.“ Er schnitt eine Grimasse, als Beth über seinen trockenen Humor zu lachen begann. „Seit wann so humorvoll, Mr. Lionheart?“ „Ich versuche gerade, mir das anzueignen.“ Er schob seine Brille zurecht. „Wir haben einen eklatanten Mangel an Humor in der Familie.“ Beth zog die Stirn kraus, was die Falten in ihrem Gesicht vermehrte. „Sie reden von Ihrer Familie als wäre es eine Einheit, deren Stärken und Schwächen man ausgleichen muss.“ Ray, der bislang ziellos in Unterlagen geblättert hatte, hielt plötzlich inne. „Oh... das ist mir nicht bewusst gewesen.“ Das war es zwar doch, aber in dem Moment, in dem Beth das angemerkt hatte, war ihm klar geworden, dass man auf so eine Art wohl nicht über seine Familie sprach. „Ich arbeite wohl zu viel“, fügte er entschuldigend hinzu. Sie nickte zustimmend und nahm ihm demonstrativ die Akte ab, in der er geblättert hatte. „Sie sollten sich für heute frei nehmen. Wenn Sie krank werden, hilft das immerhin niemandem.“ Er murmelte zustimmend, dann kehrte er in sein Büro zurück, um seine Sachen zu holen, ehe er ging. Beth warf währenddessen einen Blick auf die ihm entrissene Akte und schüttelte seufzend den Kopf. „Dieser Anthony wird mit Sicherheit noch der Untergang unseres Direktors sein.“ Und sie ahnte nicht einmal im Mindesten, wie sehr sie damit noch recht behalten sollte. Russel genoss diesen Moment der ungeteilten Aufmerksamkeit in dem alle ihn irritiert und entsetzt anstarrten – alle bis auf Seline, die offenbar nicht anders konnte und in schallendes Gelächter ausbrach, was die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie umlenkte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Maryl irritiert, während sie ängstlich ein wenig zurückrutschte, um nicht in der Nähe von Selines Hand zu sein, falls sie entschließen würde, diese zu heben. Zwar hob die tatsächlich die Hand, aber nur um sich damit die Lachtränen aus den Augen zu wischen. „Wie herrlich. Allein die Vorstellung, dass Ray und ich... ach nein, du meine Güte.“ „Ich mag mir auch gar nicht vorstellen, wie ein Kind von euch sich verhalten würde“, murrte Ryu. „Aber ich muss zugeben, von den Fähigkeiten her wäre es ein richtiges Wunderkind. Es wäre intelligent, schön und äußerst stark. Zumindest mit einer hohen Wahrscheinlichkeit.“ „Deswegen würde ich trotzdem nicht unbedingt ein Kind von ihm haben wollen... Ich meine, er ist okay, wenn man ab und an mit ihm redet und Pläne schmiedet, aber privat würden wir nicht zusammen passen. Er ist mir viel zu ruhig.“ „Wenn es allein um die Paarung geht, müsstet ihr ja nicht mal zusammen sein“, bemerkte Russel schmunzelnd. „Ich denke, es wäre um eine künstliche-“ „Bitte, können wir über etwas anderes reden?“, fragte sie plötzlich. „Allein der Gedanke löst bei mir schon Morgenübelkeit aus. Fragen wir lieber: Was will der Kerl mit einem solchen Kind?“ Gedankenverloren wog Vincent den Schirm in seiner Hand, hob ihn immer wieder hoch und runter als ob er ein Händler wäre, der abschätzen würde, wie viel er für solch ein Stück wohl verlangen sollte. „Es stimmt, wir wissen eigentlich gar nichts über seine Motive, obwohl wir mit ihm gesprochen haben.“ „Wahrscheinlich ist in seinem Gehirn einfach etwas schiefgelaufen.“ Maryl drehte den Finger an ihrer Schläfe, um ihre Worte zu unterstreichen. „Er ist doch ein Klon, oder? Die sind vielleicht alle so krank drauf, deswegen sind die meisten von ihnen gestorben, zumindest denke ich das.“ „Da ist was dran“, stimmte Russel zu. Ryu schien dagegen etwas anderes nachdenklich zu stimmen. „Hatte er denn eine Seele? Du sagtest, du kannst so etwas spüren, aber du hast nicht erwähnt, ob er eine hatte.“ Offenbar schien er es aus gutem Grund weggelassen zu haben, denn in dem Moment, als Ryu das erwähnte, schauderte Russel, als er sich gezwungenermaßen daran zurückerinnerte. „Oh, er besitzt sehr wohl eine Seele. Aber ob man das so bezeichnen kann? Weißt du, normalerweise sind Seelen“ – er hielt einen Moment inne, um über die passende Formulierung nachzudenken – „etwas Warmes. Ich habe schon viele verschiedene Menschen getroffen, gute wie böse, aber jeder von ihnen hatte diesen warmen Fleck von Seele in seinem Inneren, die vielleicht einmal vom Bösen berührt worden war, aber sonst... ihr versteht, worauf ich hinauswill. Aber dieser Kerl... es war als ob seine Seele einst in Bosheit getaucht worden war, diese vollständig in sich aufgesogen und danach nie mehr losgelassen hätte. Ich weiß, das Klischee vom urbösen Bösewicht war schon im 20. Jahrhundert verbraucht, aber dieser Kerl besteht aus Bosheit, die selbst mir unbekannt ist. Ich wette, selbst Ladon würde vor ihm zurückschrecken. Sowas ist selten, aber es kann vorkommen.“ Bei seinem letzten Satz wurde sogar Vincent, der zwischendurch gedanklich ausgeblendet hatte, um sich nicht alles anhören zu müssen, wieder hellhörig. „Du erwähntest auch vorhin, dass du weißt, wie es sein kann, dass ein Geschöpf keinerlei Seele besitzt, sich aber dennoch bewegt als wäre es ein Mensch. Mich interessiert seitdem, was du meinst. Hat das was mit Voodoo zu tun?“ „Ich kenne mich ehrlich gesagt nicht mit derlei Praktiken aus, weiß aber genug, dass das mehr was mit Pülverchen zu tun hat, die du einem Lebenden erst geben muss. Und es hat auch nicht sonderlich viel mit den üblichen Zombie-Viren zu tun, das alles erfordert, dass das vermeintliche Opfer immerhin erst einmal leben muss.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und biss sich einen kurzen Moment auf die Unterlippe. „Diese Wesen dort unten allerdings haben zuvor nie gelebt, das kann man deutlich spüren. Ah, wieder Zeit für eine Erklärung, das wäre viel einfacher, wenn eure Erinnerungen noch da wären. Es ist nämlich so-“ „Eine Seele hinterlässt Spuren.“ Russel verstummte, als er von dem wieder nachdenklich gewordenen Ryu unterbrochen wurde. Alle sahen wieder zu ihm hinüber, bis auf Seline sichtlich erstaunt, dass er das offenbar wusste. „Egal wie lang eine Seele in einem Körper war, sie verlässt diesen nicht vollständig. Selbst Ladon war nie begreiflich, woher das rührte, aber ich denke, am Einfachsten lässt sich das damit erklären, dass bestimmte, mit der Seele und dem Herz verbundene Erinnerungen im Körper bleiben.“ „Ich sehe, du erinnerst dich ein wenig an dein altes Leben“, stellte Russel lächelnd fest. Auch wenn er nicht wusste, ob ihn das wirklich freuen sollte. Damit ging immerhin auch viel Leid einher, möglicherweise war das für Ryus Charakterwandel verantwortlich. „Jedenfalls kann man auch in toten Körpern noch Spuren der alten Seele ertasten“, fuhr Russel fort, als Ryu nichts auf seine Worte erwiderte. „Aber in diesem Klon war nichts davon. Und ja, jetzt komme ich zum Punkt, seid nicht so ungeduldig. Es gibt nicht – entgegen der landläufigen Meinung – endlos viele Seelen, die verteilt werden können, sie sind tatsächlich begrenzt, was einfach dem Zweck dient, die ominöse Überpopulation, von der Weltuntergangspropheten seit Jahrtausenden sprechen, einzudämmen. Ist keine Seele verfügbar, wird auch niemand geboren, so einfach ist das.“ Er sagte das mit einer Gleichgültigkeit, die nur von jemandem kommen konnte, der bereits so lange lebte, dass er so viele Geburten, verzweifelte Eltern, die einfach keine Kinder bekamen und Todesfälle erlebt hatte, dass sie inzwischen einfach an ihm vorbeizogen und nur noch Aktenzeichen waren. „Aber es gibt eine Möglichkeit, diese Sperre zu umgehen, sofern man keinen Wert auf normales menschliches Verhalten legt.“ Vincent gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er nun wirklich endlich zum Punkt kommen sollte, auch wenn diesem das gar nicht gefiel. „Es gibt so etwas wie leere Seelen. Sie gaukeln dem Körper das Vorhandensein einer richtigen Seele vor, damit dieser vollständig agiert – ohne die negativen Aspekte wie Emotionen. Man kann diese Teile nicht künstlich herstellen, er muss sie von irgendwem bekommen oder sie gefunden haben.“ „Ich höre zum ersten Mal von sowas“, bemerkte Vincent, der nur darauf zu warten schien, dass Russel etwas sagte, das ihn als Lügner entlarvte. „Warum sollte so etwas auch für irgendwen wichtig sein?“, erwiderte dieser allerdings nur. „Wir sollten uns vorrangig auch nicht darum kümmern. Konzentrieren wir uns lieber darauf, was wir nun mit diesem Anthony machen.“ Seline winkte desinteressiert ab und erhob sich. „Ohne mich. Diese ganze Sache“ – sie gestikulierte zwischen dem Rest der Gruppe umher als würde sie versuchen, ein Netz zwischen ihnen zu weben – „hat ohnehin nichts weiter mit mir zu tun.“ Mit einem letzten Gruß verließ sie den Raum und verschwand in der vorherrschenden Dunkelheit jenseits des Raumes. Kaum war sie fort, fühlte Russel sich elend, ein Zustand, der bei ihm selten eintrat. Als Gott ging es ihm eigentlich immer gut, er wurde nie krank, verspürte nie Hunger, Durst oder Müdigkeit – er aß, trank und schlief nur aus Gewohnheit – aber in diesem Moment fühlte er sich so elend als ob er gerade dabei wäre, eine Grippe auszubrüten, zumindest fühlte es sich ähnlich an wie jene Beschreibungen. Mein Nacken ist gespannt, mein Hals schmerzt, mein Magen ist flau und mir ist kalt... irgh, alles nur wegen diesem verdammten Klon! Er stand schließlich ebenfalls auf, murmelte nur knapp, dass er frische Luft schnappen wollte und verließ den Raum, ohne auf eine Erwiderung der anderen zu warten. Zumindest Vincent war mit Sicherheit froh, ihn endlich loszusein. Als er aus dem Raum trat, wollte er instinktiv nach rechts gehen, um durch den Vordereingang wieder nach draußen zu kommen, besann sich dann aber eines besseren und wandte sich nach links, in der festen Erwartung, dort einen Hinterausgang vorzufinden. Doch er hatte den engen Flur noch nicht völlig hinter sich gelassen, als er plötzlich spürte, wie jemand nach seiner Jacke griff und ihn zur Seite zog, eine Treppe hinauf, die er im Dunkeln nicht hatte sehen können. Er spürte, dass die Person keine finsteren Absichten verfolgte, weswegen er sich nicht wehrte – und sie im nächsten Moment auch direkt als Seline wiedererkannte, die ihn wortlos weiter mit sich zog. In der oberen Etage führte sie ihn in ein Zimmer, das eher spartanisch eingerichtet war. Neben dem einfachen, weiß bezogenen Bett, gab es nur noch einen schlichten Schrank und einen Schreibtisch. Die einsame Zimmerpflanze auf dem Fensterbrett sollte wohl die Atmosphäre ein wenig auflockern, scheiterte mit seinen traurig herabhängenden Blättern aber kläglich. Es war das typische Zimmer einer Person, deren Fernweh und Impulsivität stärker waren als das Heimatgefühl und die sich in einem neutral eingerichteten Hotelzimmer wohler fühlte als in einem das gefüllt war mit Erinnerungsstücken. „Du siehst ziemlich blass aus, Russ.“ Sie wies ihn an, sich auf das Bett zu setzen, ehe sie neben ihm Platz nahm und ihm vorsichtig die Jacke auszog. Als sie seine Schulter freigelegt hatte, auf der sich eine klaffende Wunde befand, nickte sie triumphierend als würde sie sich über seine Verletzung freuen. „Du hast gelogen, mein Bester, nicht wahr? Dein Stolz hat verhindert, dass du uns erzählst, wie furchtbar dich dieser Klon zugerichtet hat.“ „Es ist nur diese eine Seite“, erwiderte er. „Und ich blute ja nicht mal.“ Das war ein Vorteil, ein Gott zu sein. Zwar hatte er sich in vielen Dingen inzwischen den Menschen angepasst, aber er war sich sicher, dass er niemals aus Gewohnheit anfangen würde, zu bluten. „Götterkörper funktionieren anders, ich weiß.“ Seline klang belustigt. „Ich habe selbst schon einen getötet, das ist mir geläufig. Ich kümmere mich trotzdem lieber hierum, damit es dir bald wieder besser geht. Erzähl mir solange, was geschehen ist.“ „Das ist schnell erzählt. Statt auf die Kugel zu springen, habe ich versucht, mich wieder zu ducken, aber sie korrigierte die Bahn des Morgensterns, so dass er mich an der Schulter traf. Ich konnte meine Kleidung reparieren, aber du weißt, ich beherrsche keine Heilmagie...“ Sie nickte verstehend, während sie vorsichtig einen Verband anbrachte. Er sollte nicht der Blutstillung dienen, sondern verhindern, dass Schmutz und Bakterien in die Wunde gelangten und diese sich schneller wieder schloss. „Wie hast du sie dann besiegt?“ „Ich bin mir selbst nicht sicher. Der Kampf dauerte eine ganze Weile, am Ende hatte ich wohl nur Glück, wie so oft. Jedenfalls darf man diese Klone nicht unterschätzen.“ „Sieht ganz danach aus. Wenn sogar du das schon sagst...“ Zum Abschluss strich sie ihm über den frischen Verband. „Ab sofort aber keine Dummheiten mehr, ja? Und vor allem keine Lügen mir gegenüber. Du weißt, ich hasse das.“ „Ja, schon gut. Ich bin doch kein Kleinkind.“ Er rollte mit den Augen, lächelte allerdings kurz darauf. „Wenn das hier vorbei ist, könnte ich deine Hilfe wegen dieser ganzen Klonsache brauchen.“ „Sicher. Falls du das alles überlebst – also sieh zu, dass du nicht deinen Kopf verlierst.“ Sie versetzte ihm einen Klaps gegen die Stirn, so verspielt und leichtfertig wie auch früher schon, als zwischen ihnen noch so ziemlich alles in Ordnung gewesen war. Möglicherweise war das ein Zeichen, dass es wieder so werden könnte wie früher – er konnte nur inständig hoffen und auf sein Glück vertrauen, das ihn bislang glücklicherweise noch nie im Stich gelassen hatte. Kapitel 19: Mimikry ------------------- Es war sein erster richtiger freier Tag in seinem ganzen bisherigen Leben – und er empfand es als furchtbar langweilig. Inzwischen hatte er den gut versteckten Fernseher im Wohnzimmer gefunden und auch gelernt, wie man ihn anschaltete; seitdem hing er regelrecht auf dem Sofa gegenüber des Bildschirms und betrachtete desinteressiert das Fernsehprogramm. Während er zwischen den Programmen wechselte, von Zeichentrickfilmen zu Seifenopern zu Talkshows und wieder zurück zu Cartoons sprang, wanderten seine Gedanken erneut zu seiner Begegnung mit Raymond am Abend zuvor. Es sollte eigentlich keine sonderlich große Sache sein, das war ihm klar, jeder konnte einfach seine Brille abnehmen, wenn er wollte, aber dennoch kam es ihm einfach... falsch vor. Warum hatte er sie eigentlich nicht getragen? So sehr wie er in seine Gedanken vertieft war, dauerte es eine Weile, bis er bemerkte, dass dieses seltsame Klingeln, das ihn seit wenigen Sekunden nervte, nicht aus dem Fernseher kam. Da er es allerdings zum ersten Mal hörte, wusste er nicht, wo er es einordnen sollte. Schließlich erstarb es allerdings wieder, so dass er beschloss, seine Gedanken wieder anderen Dingen zuzuwenden – nur um direkt darauf zusammenzucken, als ein anderes Klingeln erklang. Dieses Geräusch kannte er allerdings, es war sein Handy. Da jeder Schüler eines brauchte, bekamen diejenigen, die keines besaßen, eines von der Schule gestellt, so wie er eben. Wie Anthony es auf dem Display las, war es Marc, der ihn anrief. Ihm blieb nicht einmal Zeit für einen Gruß, nachdem er den Anruf angenommen hatte, als er auch schon die bemüht gutgelaunte Stimme seines Freundes hörte: „Bist du nicht zu Hause, Tony?“ Er klang ein wenig besorgt, zumindest glaubte Anthony das. „Doch, warum?“ „Ich steh hier vor der Tür und klingele mir einen Wolf ab.“ Anthony überlegte, was das wohl bedeuten sollte, verwarf das allerdings sofort wieder, als Marc weitersprach: „Oder habe ich dich geweckt?“ „Nein, ich wusste nur nicht, wie es sich anhört, wenn es an meiner Tür klingelt.“ Er konnte ein erleichtertes Aufatmen am anderen Ende der Leitung hören. „Gut, kannst du mir dann jetzt aufmachen? Oder willst du gerade keinen Besuch?“ „Nein, schon gut.“ Sie verabschiedeten sich voneinander, Anthony ließ Marc ins Haus und wartete dann darauf, dass er die Wohnung erreichte. Nicht sonderlich interessiert blickte der Besucher sich im Inneren um. Da er selbst ein solches Apartment bewohnte, interessierte ihn wohl lediglich, wie Anthony sich eingerichtet hatte; allerdings gab es nicht wirklich viel zu entdecken, immerhin war er mit dem System des Individualismus immer noch nicht sonderlich vertraut. „Also, wie geht es dir?“, fragte Marc schließlich. „Ich war echt überrascht, als ich gehört habe, dass du nicht mehr im Krankenhaus bist. Was ist passiert?“ Anthony presste die Lippen aufeinander. Er glaubte, dass er seinem Freund vertrauen konnte, er wollte das glauben, aber er wusste nicht, wie er das mit Kai erklären sollte. Sicher, Marc hatte ihn in der Lagerhalle gesehen, als Kai den Drachen tötete, aber würde er ihm das danach Geschehene glauben? und falls ja, würde er sich dann nicht auch fürchten, so wie Leen? Wusste Marc eigentlich überhaupt etwas von den Geschehnissen dieses Krieges, um die Tragweite dieses Ereignisses zu begreifen? Es gab viel zu viele ungeklärte Fragen an dieser Stelle. „Mir geht es gut“, antwortete er daher nur teilweise. „Deswegen fand ich es überflüssig, im Krankenhaus zu bleiben.“ Marc nickte sofort verstehend und verschränkte die Arme vor der Brust, wie er es oft tat. Inzwischen glaubte Anthony nicht mehr, dass es bedeutete, dass er andere fernhalten wollte, es schien ihm eher als wolle Marc damit nur den Eindruck erwecken, dass er eine Barriere aufbaute, während er gleichzeitig erreichen wollte, dass jemand diese zu überwinden versuchte. Auch wenn Anthony nicht ganz verstand, warum jemand so einen Eindruck überhaupt erwecken sollte. „Du bist gekommen, weil du dir Sorgen um mich gemacht hast?“ „Natürlich.“ Marc lächelte herzlich, wurde aber überraschend schnell wieder ernst, was nicht ganz zu ihm passen wollte. „Aber nicht nur wegen dieser Sache im Lagerhaus, auch wenn das echt nicht gut aussah und ich froh bin, dass es dir gut geht, sondern auch, weil...“ Er fasste Anthony zusammen, was geschehen war, als er das Krankenhaus verlassen hatte, um nach Hause zu gehen. „Und ich denke, der Kerl wollte irgendwas von dir.“ Die Beschreibung dieses Mannes sagte ihm allerdings gar nichts. Er kannte so jemanden nicht, auch nicht aus dem Waisenhaus und er konnte sich nicht erinnern, jemals irgendwem etwas getan zu haben. Aber vielleicht war auch dieser Mann jemand aus seinem letzten Leben, den er von dort kennen sollte und den er auch erkennen würde, sobald er ihm gegenüberstand. „Sei also vorsichtig, wenn du wieder allein unterwegs bist.“ Er nickte bekräftigend und bot Marc etwas zu essen an, um das Thema auf etwas Angenehmeres zu lenken. Noch während die beiden in der Küche zusammensaßen und ihre belegten Brote aßen, wurde Anthony erneut nachdenklich. Vielleicht konnte sein Freund ja ein wenig Licht in seine vorige Frage bringen. „He, kann ich dich was fragen?“ Da er gerade am Kauen war, nickte Marc lediglich und Anthony fuhr fort: „Du weißt nicht zufällig, ob Mr. Lionheart auf seine Brille angewiesen ist, oder?“ Es gab ein Schulterzucken zur Antwort. „Keine Ahnung. Ich seh ihn meistens mit, lediglich, wenn er im Schulkeller herumhantiert, trägt er keine, soweit ich weiß.“ Anthony sprang sofort darauf an, neugierig, welches Geheimnis sich wohl noch in dieser Stadt befand: „Was ist denn im Keller?“ Marc zuckte noch einmal mit den Schultern. „Ich war noch nie dort unten. Alex aber schon – und he, er weiß vielleicht, warum Mr. Lionheart eine Brille braucht!“ „Alex?“ „Du weißt schon, Leens Freund Alexander. Er ist der Sohn des Schularztes und allgemein weiß er ziemlich viel.“ Er rief sich den weißhaarigen Jungen wieder ins Gedächtnis und erinnerte sich auch wieder an diesen seltsamen Blick, den er von ihm an seinem ersten Schultag bekommen hatte. Gleichzeitig wusste er, dass es keinen Zweifel daran gab, dass Alexander über mehr Wissen verfügte als sie. „Ich ruf ihn einfach mal an, vielleicht nimmt er uns ja in den Keller mit.“ Noch ehe Anthony überhaupt darauf reagieren konnte, zog Marc bereits sein Handy hervor, drückte auf einige der Tasten und hielt sich das Telefon dann ans Ohr. Sein Gastgeber konnte ihn nur irritiert ansehen, wagte aber nicht, etwas zu sagen, vor allem da jemand offenbar bereits am anderen Ende den Anruf annahm. „He, Alex! Ja, genau, hier ist Marc. Ich bin erstaunt, dass du mich so schnell erkannt hast. Nein, ich finde das nicht. Meine Stimme ist sehr angenehm, wenn du mich fragst.“ Die Situation schien Anthony ein wenig abstrus, weswegen er leicht lächeln musste. Das Geplänkel zwischen Marc und Alexander ging ein wenig weiter, doch dann ging es endlich um die entscheidende Frage: „Weswegen ich eigentlich anrufe – nein, es nicht mein Ziel, dich zu nerven, ich hatte echt 'nen Grund. Ich bin grad bei Anthony und wir...“ Er hielt inne, offenbar sagte Alexander gerade etwas, was ihn überraschte, denn Marc blickte plötzlich verwundert. „Ja, genau. Aber woher weißt du...?“ Alexander unterbrach ihn wohl erneut, denn er verstummte wieder mitten im Satz und blinzelte. „Ja, okay. Wir kommen dann gleich vorbei. Ja...“ Kaum dass er aufgelegt hatte, blickte er Anthony an. „Er sagte, er will dir den Keller zeigen und ich soll dich deswegen zu ihm bringen.“ Marc wirkte deutlich überrascht darüber, dass Alexander das geplant hatte, aber Anthony wunderte sich nicht darüber. Mit Sicherheit war er von Leen über die Ereignisse der letzten Nacht unterrichtet worden. Dann musste sich im Keller etwas befinden, das damit zu tun hatte und er war reichlich gespannt, was es war. Es war ein ungewohnter Anblick, das Büro leer vorzufinden. Ratlos ließ Alona den Blick schweifen, aber Raymond war nicht zu entdecken und auch der ausgeschaltete Computer, an den sie prüfend eine Hand hielt, deutete darauf hin, dass er schon lange nicht mehr hier war und sie umsonst vorbeigekommen war, um ihn abzuholen. Da seine Sekretärin nicht da war, um diese zu fragen, wo er war, holte sie ihr Handy hervor und drückte die entsprechenden Kurzwahltasten, um Raymond anzurufen – doch egal wie lange sie es klingeln ließ, er hob nicht ab und in ihrem Inneren breitete sich ein überaus schlechtes Gefühl aus. Es war nicht üblich, dass er sein Handy ignorierte, meist warf er zumindest einen Blick darauf und nahm den Anruf dann an, wenn er sah, dass sie es war. Dieses Mal aber wartete sie vergebens. Seufzend gab sie auf und steckte ihr Telefon wieder ein. Sie fuhr herum und verließ das Büro. Als sie auf dem Gang stand, überlegte sie, wo sich Raymond nun aufhalten könnte, wenn er nun schon nicht hier war. Es gab eigentlich nicht sonderlich viele Orte, an denen er um diese Uhrzeit sein konnte und schon gar nicht, wenn er schon länger nicht mehr im Büro war. Mit einem flauen Gefühl im Magen lief sie los, um nach Hause zu gehen. Sie glaubte zwar nicht, dass er dort sein würde, aber es war eine gute Ausgangsposition, um mit dem richtigen Suchen anzufangen, wie sie fand. Während des Gehens angelte sie erneut ihr Handy aus der Tasche, um noch einmal bei Raymond anrufen zu können. Vielleicht würde er ja noch rangehen, damit ihre Sorgen sich in Luft auflösen könnten. Doch selbst als sie noch die Schule verließ, hatte sie ihn noch nicht erreicht. Das ungute Gefühl wuchs und wuchs, fand Nahrung an ihrer irrationalen Furcht und machte sich einen Spaß daraus, ihr in eindrucksvollen Bildern zu zeigen, was Raymond alles zugestoßen sein könnte. Zwar versuchte sie, diese Gedanken zu verscheuchen, doch klammerten sie sich mit aller Gewalt an sie und schienen dabei noch höhnisch über ihren vergeblichen Versuch zu lachen. Sie konnte nur mit dem verbliebenen Platz, der von der Furcht verschont worden war, hoffen, während sie die Straße entlang eilte und dabei dem unbarmherzigen Ton ihres Handys lauschen, der ihr sagte, dass niemand sich um ihren Anruf scherte. Anthony und Marc kamen währenddessen an der Schule an und betraten die Krankenstation, auf der Alexander sie erwarten wollte. Im Gegensatz zum Rest des Gebäudes wirkte die Station neu als ob sie erst nachträglich angebaut worden wäre. Die Wände waren nicht aus dem bereits vertrauten Gestein, zumindest sahen sie nicht danach aus, sondern aus einem Material, an dem jeglicher Schmutz abzuprallen schien und dementsprechend sauber und weiß sahen sie auch aus; dennoch warfen sie das einfallende Sonnenlicht nicht zurück, stattdessen schienen sie es regelrecht zu verschlucken und dafür nur Kälte abzugeben. Dementsprechend fröstelte Anthony auch, als er sich ausgiebig umgesehen hatte. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er Alexander, der an einem Tisch saß und dort offenbar Medikamente sortierte; er war derart in seine Arbeit vertieft, dass er die beiden Besucher erst bemerkte, als Marc ihn ansprach: „Na, wieder mal Arbeit für deinen Dad übernommen?“ Alexander hob den Kopf ein wenig und musterte ihn über den Rand seiner Brille hinweg. „Mein Vater hat viel zu tun, genau wie deiner.“ Marc verzog ein wenig das Gesicht, konterte aber dennoch: „He, mein Vater verschafft deinem seine Arbeit, du solltest ihm dankbar sein.“ „Mein Vater ist Arzt, kein Pathologe“, erwiderte Alexander kurzangebunden, worauf Marc zusammenzuckte und nichts weiter sagte. Die angespannte Atmosphäre weckte in Anthony den Wunsch, zu verschwinden und errichtete in ihm den Vorsatz, nie wieder mit den beiden zusammen etwas zu tun. Schließlich richtete Alexander seinen Blick auf ihn. „Dir scheint es wieder besser zu gehen.“ Er konnte lediglich nicken, das war aber offenbar genug für den Fragenden, der direkt danach aufstand. „Dich interessiert, was im Keller ist, ja?“ „U-und...“ Alexander blickte dieses Mal ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. Auf Anthony wirkte es wie die Verkörperung der Arroganz, aber es schien ihm im Moment eher als würde er damit wortlos ausdrücken wollen, dass er genervt über eine Unterbrechung seiner sorgsam vorbereiteten Planung war. Vielleicht konnte er nicht gut mit Menschen umgehen und musste all seine Interaktionen mit ihnen im Vorfeld komplett durchdenken – da war jede Unterbrechung sicherlich extrem störend. Dennoch fuhr Anthony fort: „Weißt du vielleicht, weswegen Mr. Lionheart eine Brille trägt?“ „Du hast ihn ohne gesehen, hm?“ Zustimmendes Nicken, Alexander schob seine eigene Brille zurecht. „Ich erkläre es dir im Keller, dann wirst du es mit Sicherheit auch verstehen.“ Im Moment tat er das jedenfalls nicht, deswegen nickte er nur und folgte Alexander dann gemeinsam mit Marc. Der Keller schien jedenfalls gut geschützt. Es gab eine stählerne Tür in der Haupthalle, die mit einer Karte geöffnet werden musste, am Fuß der steinernen Treppe jenseits davon befand sich eine massive, hölzerne Tür. Das altmodische Messingschloss schüchterte Anthony ein wenig ein, immerhin gab es einem ein Gefühl von Sicherheit und es erweckte den Eindruck, sämtliche Geheimnisse zu schützen, die jenseits davon lagen. „Was wird hier denn so vor den Schülern geschützt?“, fragte Marc skeptisch. Alexander zog einen ebenso massiven Schlüssel hervor, der eindeutig zu dem Schloss gehörte. „Wer sagt denn, dass es nicht umgekehrt ist?“ Anthony und Marc warfen sich einen fragenden Blick zu, warteten jedoch darauf, bis sie eintreten konnten. Zuerst konnten sie dort nicht wirklich etwas sehen. Eine Computeranlage war an der Wand entlang aufgebaut, einige Lichter glühten auf der Anlage und verrieten, dass er sich im Stand-by-Modus zu befinden schien; gegenüber der Tür konnten sie eine Glaswand sehen, die den Raum in zwei Hälften teilte. Auf der anderen Seite der gläsernen Wand war aufgrund der Dunkelheit nichts zu sehen. „Was ist das hier?“, fragte Marc. „Geh näher ran, Anthony.“ Alexanders Aufforderung ließ keinen Platz für Widerspruch, deswegen trat Anthony bis an die Glaswand und blickte auf die andere Seite. Er konnte nichts sehen, aber etwas in seinem Inneren reagierte auf das, was er nicht erkennen konnte. Er fühlte sich angespannt, bedroht, als müsste er vor etwas auf der Hut sein. Noch während er das Gefühl in Gedanken zu fassen versuchte, spürte er, wie er eine Gänsehaut bekam und sich das Haar auf seinem Nacken aufstellte. „Du kannst es nicht sehen, aber du spürst es“, schloss Alexander aus Anthonys Verhalten. „Ich werde ein wenig nachhelfen, wenn du erlaubst.“ Er wandte sich dem Computer zu, der mit einem leisen Geräusch ansprang. Zuerst ging nur das Licht im Keller an, so dass deutlich zu erkennen war, dass sich jenseits des Glases nichts befand – doch im nächsten Moment schien sich die Beschaffenheit der Scheibe zu ändern und es war etwas sehr deutlich zu erkennen. Unwillkürlich fuhr er zurück, um nicht mehr so nah an der Scheibe zu stehen. Marc wich ebenfalls zurück, musterte das Wesen aber mit ehrlicher Neugier. Die Ausstrahlung war dieselbe wie jene der Wesen, von denen Kai in der Nacht zuvor angegriffen worden war, aber es sah deutlich anders aus. Es war kein unförmiges Etwas, das sich kriechend mit den missgebildeten Armen vorwärtsbewegte, da ihm die Beine fehlten. Dieses Wesen, das sich da hinter der Scheibe befand war... er fand keine Worte dafür. Es war durchaus schön anzusehen, wenn man dabei ausblendete, dass es nichts Menschliches an sich hatte. Die Form der dunklen tintenblauen, fast schon schwarzen Masse glich für ihn der einer viel zu perfekten Frau, die sitzend an der Wand lehnte; im Brustbereich war undeutlich ein glitzerndes Fragment zu erkennen. Anthony schaffte es nicht, den Blick von diesem Wesen abzuwenden, Marc dagegen schon. Er sah zu Alexander hinüber. „Ist das eines von diesen Dingern?“ Der Arztsohn nickte zustimmend und setzte für Anthony zu weiteren Erklärungen an: „Wir nennen diese Wesen Mimikry, manchmal auch Seelenfresser. Sie suchen nachts manchmal diese Stadt heim, um sich an den Seelen von Menschen, besonders jenen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, zu laben. Da man sie normalerweise nicht sehen kann, bemerkt das auch kaum jemand. Die entstehenden Schmerzen beim Verlust eines Seelenfragments kann man immerhin auch mit vielen verschiedenen Dingen erklären, selbst wenn es nur Liebeskummer sein sollte.“ Er hielt einen kurzen Moment inne als würde er sich dieses Gefühl ins Gedächtnis rufen und es war überraschenderweise deutlich zu sehen, dass er es selbst einmal erlebt hatte und es nicht so geringschätzte, wie es sich in seinem Vortrag anhörte. „Haben sie sich genug Fragmente einverleibt, wandeln sie ihre Form und werden immer menschlicher. Sobald sie Menschen sind, werden sie wirklich gefährlich – die meisten Morde in Lanchest werden von ihnen begangen.“ Ein Schauer lief über Anthonys Rücken, als er sich vorstellte, dass ein Wesen, das über keinerlei Erziehung, Moral und menschliche Zuneigung verfügte, nachts durch die Stadt strich und Menschen tötete, die ihm dabei über den Weg liefen. Keinerlei Moral... und menschliche Zuneigung... genau wie die Leute im Pflegeheim... Bei dieser Parallele schauderte es ihm noch einmal, weswegen er lieber über etwas anderes nachdenken wollte. „Warum habt ihr so etwas hier im Keller?“, fragte Anthony. „Ausgewählte Rekruten der Lanchest Akademie werden darin ausgebildet, diese Wesen zu töten,“, erklärte Alexander sofort als würde er das ständig tun, „um die Menschen zu schützen und dafür müssen sie erst einmal wissen, was sie da bekämpfen sollen.“ Ein Blick zu dem überraschten Marc verriet Anthony, dass er davon ebenfalls nichts gewusst hatte und nun versuchte, das alles zu verarbeiten. Alexander trat an die Scheibe. „Das ist auch die Antwort, was deine Frage wegen Mr. Lionheart angeht. Normale Menschen können diese Wesen nicht sehen, sie brauchen spezielle Brillen dafür. Nur bei Mr. Lionheart ist es anders. Er kann sie sehen und auch viele andere Dinge, deswegen braucht er seine Brille, um diese Eindrücke zu unterdrücken und ein normales Leben zu führen.“ „Als er sie gestern nicht getragen hat...“ „War es schon spät“, unterbrach Alexander ihn. „Da Mr. Lionheart ebenfalls zu den außergewöhnlichen Menschen gehört, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er unterwegs von den Mimikry angegriffen werden könnte; deswegen lief er ohne Brille durch die Stadt, um die Wesen sofort zu sehen.“ Anthony neigte verstehend den Kopf und sah wieder zu dem Wesen hinüber. Es bemerkte seine Beobachter nicht einmal, schien es, vermutlich war es eine Trickscheibe oder die Wesen waren blind und orientierten sich anhand anderer Dinge, die aber nicht durch das Glas drangen. Mittels eines anderen Schalters wandelte Alexander die Scheibe wieder in eine gewöhnliche, das Mimikry verschwand erneut aus ihrem Blickfeld. Schauer liefen über Anthonys Rücken, als er daran dachte, dass sich dort etwas befand, was er nicht sehen konnte, obwohl er wusste, dass es da war. „Sind damit alle Fragen beantwortet?“, hakte Alexander nach. „Schon...“, gab Anthony zu. Allerdings fühlte er sich nun nur noch müde und überfordert. Er wollte nach Hause, sich ins Bett legen und am besten bis zum Montag durchschlafen, bis er wieder in die Schule gehen müsste. „Durftest du uns das hier überhaupt zeigen?“, fragte Marc. „Kriegst du jetzt nicht vielleicht Ärger von Mr. Lionheart?“ „Seit wann kümmert dich so etwas?“ Doch nichtsdestotrotz zog Alexander einen Zettel hervor, auf dem in Raymonds unverkennbarer Handschrift tatsächlich eine Aufforderung zu sehen war, Branch und Campbell mit dem Keller vertraut zu machen. „Ich weiß nicht, weswegen er dich miteinbezog, Marc, aber er wird sich schon etwas dabei denken.“ Er wusste und verstand es offensichtlich auch nicht, sein verwirrter Gesichtsausdruck schwand einfach nicht. Aber es war deutlich, dass sie keine klärende Antwort von Alexander erwarten durfte – und er auch gar keine geben wollte, selbst wenn wenn er sie kennen würde. „Ich denke, das war alles“, sagte er stattdessen. „Ihr solltet nach Hause gehen, ich habe noch etwas zu tun, nachdem ihr mich gestört habt.“ Marc rollte mit den Augen und ging bereits voraus, um hinauszugehen. Anthony blieb allerdings noch einmal stehen, als er von Alexander angesprochen wurde. „Du hast gerade einen Vergleich zu deinem Pflegeheim gezogen, oder?“ „Woher...?“ „Mein Vater hat mir erzählt, dass es Mr. Lionheart ähnlich ging, als er das erste Mal von den Mimikry hörte. Da du länger dort warst, dachte ich mir, dass der Eindruck bei dir stärker sein muss.“ „Verstehe.“ Was er immer noch nicht verstand, war der Grund, warum jemand Menschen erzog so zu sein. Die Mimikry waren bösartige Dämonen, wie es schien, sie dachten nicht über Dinge wie Moral nach und waren nicht an das ethische Konstrukt der Menschen gebunden. Aber warum erzog man Kinder so zu sein wie diese Wesen? „Ich kann dir keine Antworten auf deine Fragen geben“, sagte Alexander mit einem tatsächlich bedauernden Tonfall in der Stimme. „Aber ich kann dir nur das raten, was Mr. Lionheart uns immer wieder in seinen Reden predigt: Glaube an dich, so kitschig das auch klingen mag. Du bist nicht wie die anderen Heimbewohner, das kann sogar ich sagen. Irgendwann kommt vielleicht der Tag, an dem dir jemand anderes einreden will, aber das darfst du nicht glauben. Verstanden?“ So ganz tat er das nicht, es kam ihm vor als würden alle etwas wissen, das ihm verwehrt geblieben war, aber er war zu müde, um darüber nachzudenken, deswegen nickte er lediglich und folgte dann Marc, der bereits in der Eingangshalle wartete. Glücklicherweise schien er nicht in der Stimmung, über das eben Gesehene zu sprechen. „He, Tony, wie sieht's aus? Wollen wir es heute mal ruhig angehen lassen und uns ein paar Filme ansehen?“ Er lachte nervös. „Ich möchte nicht unbedingt allein sein, sonst denke ich viel zu viel nach und du hast ein paar Filme nachzuholen, die du in deinem Leben verpasst hast.“ Anthony musste zugeben, dass er dankbar und glücklich über dieses Angebot war, immerhin wollte er auch nur ungern allein sein im Moment. Also machte er sich gemeinsam mit Marc wieder auf den Rückweg, um den Abend mit ablenkenden Filmen zu verbringen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie beinahe den Schlüssel fallenließ, ehe sie aufschließen konnte. Doch als sie die Tür endlich aufwerfen konnte, ließ sie den Schlüssel einfach stecken und die Tür weit geöffnet. Aus dem oberen Schlafzimmer war das unverkennbare Klingeln von Raymonds Handy zu hören. Sie hastete die Treppe hinauf und stürmte direkt in das Zimmer. Das Handy lag auf dem Nachttisch und klingelte ununterbrochen empört vor sich hin, aber der Besitzer blieb ignorant auf dem Bett liegen – und schlief einfach weiter. So tief und fest, dass Alona im ersten Moment das Schlimmste befürchtete. Doch als sie sich neben ihn auf das Bett setzte, drehte er sich von der Seite auf den Rücken und blinzelte sie irritiert an. „Mhm... hab ich verschlafen?“ „Wir haben Nachmittag“, sagte sie deutlich erleichtert. Mühevoll schluckte sie die Tränen hinunter, die aus ihr hervorbrechen wollten, um den Stress, die Angst und die Panik der letzten Minuten fortzuspülen. Er bemerkte das allerdings dennoch und setzte sich aufrecht hin. „Was ist los? Warum weinst du?“ „Tue ich gar nicht“, erwiderte sie und fuhr sich hastig über die Augen. „Aber mach das ja nie wieder, verstanden!?“ „Was?“, fragte er ehrlich verwundert. „Schlafen?“ Leicht verärgert nahm sie eines der Kissen und schlug es ohne viel Kraft auf seinen Kopf. „Oh, du Idiot! Du weißt doch genau, was ich meine! Weißt du, wieviel Angst du mir gemacht hast?! Ruf mich das nächste Mal an, wenn du früher nach Hause gehst, um zu schlafen!“ Sie schluchzte und brach nun doch in Tränen aus, worauf er sie in seine Arme zog, um sie zu trösten, obwohl er nicht verstand, was ihr Problem war. Er konnte nicht wissen, was sie tief im Inneren befürchtete und sie war nicht in der Lage, es ihm zu erklären, zu sehr fürchtete sie sich vor dem, was geschehen könnte, wenn er davon erfuhr. Zumindest im Moment war es ihr gelungen, ihn wiederzufinden, aber tief in ihrem Inneren fürchtete sie sich vor dem Tag, an dem ihre Suche erfolglos bleiben würde – und sie wusste, dass das über kurz oder lang eintreten würde. Ihr blieb nur zu hoffen, dass es kein Ereignis in der nahen Zukunft wäre. Kapitel 20: Ein Tag voller Überraschungen ----------------------------------------- Der Montag kam überraschend schnell, stellte Anthony fest, als er sich an diesem Morgen bereitmachte, um das Haus zu verlassen. Im Gegensatz zu allen anderen, die gerade dasselbe taten, freute er sich allerdings bereits auf die Schule. Tief im Inneren hoffte er nämlich, dass er unter diesem ganzen Lernstoff all das am Freitag Erfahrene begraben und vergessen könnte. Am Liebsten wäre es ihm gewesen, hätte er nie wieder etwas von Mimikry oder Seelenfressern gehört. Er hoffte, er würde nicht zu den Rekruten gehören, die mit der Bekämpfung dieser Wesen beauftragt werden würden – und dann war da auch noch diese Sache mit Kai, dem Göttlichen und diesem Krieg von vor hundert Jahren. All das war viel zu viel für ihn und drohte regelrecht, ihn zu erschlagen, wenn er zu lange darüber nachzudenken versuchte. Deswegen nahm er hastig seine Tasche an sich und verließ die Wohnung. Er war kaum einige Schritte den Gang entlang gelaufen, als er eine Stimme hinter sich hören konnte: „He, Anthony!“ Fragend wandte er sich dem Sprechenden zu, der ihn bereits eingeholt hatte und neben ihm herlief. „Alles klar?“, fragte der Junge, während Anthony noch versuchte, ihn einzuordnen. Das schwarze Haar, die hellblauen Augen und das markige Gesicht sagten ihm gar nichts, genausowenig wie die Stimme. Aber die fast schon lächerlich großen Kopfhörer, die um seinen Nacken hingen, kamen ihm eindeutig bekannt vor. Wenn er nur wüsste- „Du warst Donnerstag und Freitag nicht in der Schule, wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.“ Natürlich, er war einer seiner Mitschüler. Sein Name war... „Das wäre nicht nötig gewesen“, erwiderte Anthony. „Ich wurde am Mittwoch verletzt, weswegen ich mich ausruhen musste. Aber es geht schon wieder, danke Ethan.“ Er schmunzelte, als er bemerkte, dass Anthony sich an seinen Namen erinnerte und dieser war heilfroh darüber, denn bei den anderen war er immer noch ratlos. „Wurdest du während der Mission verletzt?“ „Ja, aber ich will eigentlich nicht weiter darüber reden.“ Ethan hob sofort seine Hände. „Schon gut, reden wir nicht weiter drüber. Aber he, warum hängst du eigentlich so oft mit Campbell ab?“ Es klang keineswegs wie eine unschuldige Frage, eher wie eine solche auf die man eine bestimmte Reaktion erwartete und in diesem Fall sollte es Spott sein. Das sagte Anthony zumindest eine leise Stimme in seinem Inneren, während er über seine Antwort nachdachte. Allerdings brauchte er diese gar nicht auszusprechen, denn Ethan fuhr direkt fort: „Schuldet er dir vielleicht auch irgendwas so wie Rena?“ Verständnislos neigte er den Kopf. „Marc schuldet Rena etwas?“ „Hat er dir nicht erzählt, hm? Wundert mich nicht.“ Neben den Geheimnissen um ihn selbst und all diese anderen unheimlichen Sachen, kam nun auch noch das mit Marc und Rena hinzu. Er wusste ja bereits, dass der Junge ein Spross dieser Verbrecherfamilie war, aber hatte das überhaupt mit dieser Sache zu tun? „Na ja, du wärst jedenfalls besser dran, wenn du dich von ihm fernhältst“, meinte Ethan. „Der Kerl ist echt kein guter Umgang.“ Anthony fühlte sich in unangenehmer Weise an sein Gespräch mit Heather erinnert, weswegen er das Gesicht verzog, was seinen Gesprächspartner schmunzeln ließ. „Aber andererseits, vielleicht seid ihr vom Peligro Waisenhaus auch besser darin, mit solchen Leuten auszukommen.“ „Ich weiß nicht...“ Das Gespräch war Anthony unangenehm und das bemerkte man auch deutlich, weswegen er sich auf die Treppenstufen konzentrierte, während sie beide hinunterliefen. Weitere Bewohner des Hauses schlossen sich ihnen an, grüßten sie alle überraschend fröhlich und liefen dann plaudernd weiter. Es schien als ob sie sich alle in irgendeiner Art und Weise kennen würden – und Anthony fühlte sich erneut wie ein Außenseiter, weswegen er sich Marc oder Heather oder sonst jemanden herbeiwünschte, den er kannte. Dementsprechend groß war auch seine Überraschung, als er vor der Tür tatsächlich Marc stehen sah, der allerdings von niemandem der vorbeikommenden Schüler gegrüßt wurde. Mit gleichgültigem Blick und mit vor der Brust verschränkten Armen stand er einfach nur da und wartete; zumindest bis er Anthony entdeckte. Augenblicklich breitete sich ein Lächeln auf Marcs Gesicht aus, weswegen Anthony nicht länger zögerte und direkt auf ihn zulief. „Guten Morgen, Tony. Wie hast du geschlafen?“ Er ignorierte offensichtlich all die nicht sonderlich verhohlenen abfälligen Blicke, weswegen Anthony beschloss, es ihm gleichzutun. „Guten Morgen. Ah, nicht schlecht und du?“ „Ganz gut, ich kann nicht klagen.“ Die beiden setzten sich in Bewegung, um zur Schule zu kommen, nur um gleich darauf wieder innezuhalten, als eine Stimme hinter ihnen ertönte, die deutlich Marcs Namen rief. „Oh-oh, das gibt Ärger“, murmelte Ethan abfällig, während er an ihnen vorbeilief. Marc schenkte ihm einen deutlich unterkühlten Blick, ehe er sich Rena zuwandte, die deutlich verärgert schien, als sie auf beide zutrat. „Marc! Warum hast du heute nicht auf mich gewartet?“ Sie klang wütend, aber ihr Gesicht verriet eher Enttäuschung als ob sie sich darauf gefreut hätte, ihn an diesem Morgen zu sehen. Anthony zeigte sich von diesen widersprüchlichen Emotionen deutlich irritiert und wandte seinen Blick daher wieder Marc zu. Diese senkte schuldbewusst den Kopf. „Tut mir Leid. Ich habe mir nur Sorgen um Tony gemacht...“ Rena wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu als wäre sie sich bislang gar nicht bewusst gewesen, dass er ebenfalls anwesend war. „Ah, guten Morgen, Anthony.“ Sie verzichtete auf die Frage, ob es ihm gut ging, er erwiderte den Gruß ein wenig eingeschüchtert. Im Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung fühlte er sich diesmal nicht so als ob er sich für irgendetwas entschuldigen müsste oder als ob er sie kennen sollte. Das änderte aber nichts daran, dass ihr Auftreten ihn ein wenig einschüchterte. Sie schien wesentlich bestimmender als Heather und wesentlich emotionaler als Leen. Wieder ein wenig sanfter gestimmt, sah sie zu Marc zurück. „Nächstes Mal gehen wir zusammen zu ihm. Er wird schon nicht gleich tot umfallen, wenn du ein wenig später kommst.“ „In Ordnung.“ Anthony konnte nicht anders als bei diesem knappen Wortwechsel daran zu denken, dass Marc ihr offenbar etwas schuldete. Was konnte das nur sein? Und warum musste er das mit Gehorsam zurückzahlen? Doch statt zu fragen, begleitete er beide auf den Weg zur Schule und unterhielt sich mit der erstaunlich neugierigen Rena über die Filme, die er mit Marc am Wochenende gesehen hatte, worauf sie ihr versprechen mussten, sie das nächste Mal einzuladen. Der Unterricht in der Schule verlief dann wesentlich ereignislos und erreichte genau das, was Anthony sich gewünscht hatte: Er vergaß für den Vormittag, was ihn beschäftigte und konzentrierte sich völlig auf den Stoff, immerhin musste er alles nachholen, was er früher nie gelernt hatte. Als es zur Mittagspause klingelte, trat die erste Überraschung an diesem Tag für Anthony ein. „Wir haben heute wieder Kampfunterricht“, bemerkte Marc. „Mr. Chandler ist wieder da.“ „Oh, schön.“ Anthony klang nicht sonderlich begeistert, nach Kämpfen stand ihm nicht gerade der Sinn, vor allem da er eigentlich den Nachmittag hatte nutzen wollen, um noch mehr Unterrichtsstoff nachzuholen. „Der Unterricht ist ziemlich einfach“, meinte Marc. „Mr. Chandler ist nicht sonderlich streng, er wird dir bestimmt gefallen.“ Daran zweifelte Anthony zwar, aber er sagte nichts und folgte Marc und Rena in Richtung der Umkleideräume. Dabei fiel ihm auf, dass sie eine Peitsche mit sich trug und er eine Pistole, eine weitere Überraschung für Anthony, da er nicht anders konnte als sich zu fragen, wie man mit einer solchen Waffe am Unterricht teilnehmen konnte. Allerdings würde er das mit Sicherheit noch sehen können, sobald es soweit war. Bei seinem letzten Besuch waren ihm Umkleideräume und Trainingshalle unheimlich vorgekommen, doch dieses Mal waren so viele Leute dabei, dass beides von Stimmen erfüllt und so nicht mehr gruselig war. Aber beim Betreten der Halle gab es eine weitere Überraschung für Anthony, als er den Mann erblickte, der dort bereits stand: „Mr. Joel?“ Der Mann schmunzelte ein wenig. „Mr. Chandler wäre passender, aber schön, dass du mich wiedererkennst.“ Rena sah interessiert zwischen beiden hin und her. „Ihr kennt euch?“ „Ja“, bestätigte Anthony. „Wir haben uns letzten Mittwoch in der Stadt getroffen.“ „Scheinst dich ja gut erholt zu haben. Du bist nicht mal mehr blass. Als ich dich traf, sah es aus als würdest du gleich tot umfallen.“ „So sieht er öfter aus“, meinte Marc lachend. Wieder einmal fiel Anthony auf, dass sein bester Freund mit den Lehrern wesentlich weniger Berührungsängste hatte als mit den anderen Schülern. Stellenweise erschien es ihm sogar so als ob die Lehrer keinerlei Vorbehalte gegen ihn hegten, weswegen Anthony es bedauerlich fand, dass es bei den Schülern nicht so war. Ohne weiteren Smalltalk stellte Joel sich schließlich vor der Klasse auf und verschaffte sich mit einem lauten Pfiff Aufmerksamkeit. Gehorsam wandten sich alle ihm zu. „Schön, euch alle wiederzusehen.“ Sein Gesicht sagte allerdings das genaue Gegenteil, offensichtlich wäre er dem Unterricht lieber noch eine Weile fern geblieben. „Ich hoffe, ihr habt alle noch nicht verlernt, wie man mit euren Waffen umgeht. Falls doch fällt das nämlich auf mich zurück.“ Die anderen Schüler lachten, lediglich Anthony runzelte seine Stirn. Ihm schien, dass keiner der anderen bemerkte, dass er es trotz des ironischen Untertons durchaus ernst gemeint hatte. Warum war er unter diesen Umständen überhaupt Lehrer geworden? Oder handelte es sich lediglich um ein vorübergehendes Tief? „Ihr anderen macht dann mal das Übliche, um euch aufzuwärmen... und so. Anthony, du kommst mit mir.“ Während die anderen Schüler sich in der Halle verteilten, ging Joel an den Rand derselben und lehnte sich dort mit einem Gähnen gegen die Wand. Anthony blickte ihn fragend an, doch ehe er sich viele Gedanken darum machen konnte, begann der Lehrer mit einem Gespräch: „Hast du dich schon in der Schule eingelebt?“ „Es geht einigermaßen, nur ist es so anders als früher. Besonders im Unterricht, viele Dinge kenne ich gar nicht, weil ich sie nie gelernt habe.“ Joel beobachtete die Schüler in einiger Entfernung, die ein wenig undiszipliniert und unstrukturiert ihre Aufwärmübungen zu machen schienen. Aber er fühlte sich nicht berufen, da einzuschreiten und alle anzuhalten, sich anzustrengen. „Du bist wohl nicht so ein Genie wie Ray, was?“ „Ich glaube nicht.“ „Umso besser. Ray ist ganz in Ordnung, aber zu viele Genies können einem echt auf die Nerven gehen – Alexander und Leen reichen da.“ Seine Augen fixierten die beiden erwähnten Schüler, die selbst nur die anderen beobachteten und sich ansonsten nicht weiter bewegten als ob sie diese Übungen im Vorfeld nicht bräuchten. Keiner der beiden hatte diesen Vormittag mit Anthony gesprochen, stattdessen war er komplett von ihnen ignoriert worden. Aber immerhin bedeutete das auch, dass Leen sich nicht mehr vor ihm fürchtete. „Ich verstehe nicht, warum Sie mit mir darüber sprechen“, merkte Anthony an. Joel lachte, während er mit den Schultern zuckte. „Ich bin manchmal nur sehr redselig. Eigentlich wollte ich wissen, ob du weißt, wie man kämpft. Ansonsten würde ich dir einen Grundkurs geben.“ „Ein wenig weiß ich es schon.“ Da war nicht nur das kurze Training mit Heather gewesen, in seinem Unterbewusstsein schlief neben Kai immer noch das Wissen, wie man ein Schwert führen musste. Aber er wollte es nur ungern anwenden, aus Furcht, diese unheimliche Stimme wieder zu hören, die ihn anwies, jemanden zu töten. Joel nickte zufrieden. „Gut, gut. Weißt du, wie der Unterricht hier funktioniert?“ Darüber hatte er sich tatsächlich einige Gedanken gemacht und er war zu dem Ergebnis gekommen, dass es wohl darum ging, alle Schüler in Paare einzuteilen, damit sie Duelle ausfechten konnten; allerdings ließ ihn der Gedanke, dass sie mit echten Waffen kämpften doch ein wenig unruhig werden. Er teilte Joel diesen Gedanken mit, worauf der Lehrer leise lachte. „Ja, mit der Methode hätten wir wohl rasend schnell weniger Schüler als uns lieb wäre. Nein, wir nutzen eine andere Möglichkeit.“ Anthony blieb keine Zeit, ihn danach zu fragen, denn Joel stieß einen zweiten Pfiff aus. „Fertig oder nicht, wir fangen jetzt an!“ Plötzlich schien sich die Halle zu verdüstern, obwohl der Himmel jenseits des Glasdaches blau blieb. Anthony konnte seinen eigenen Herzschlag hören, während die Atmosphäre schwerer zu werden schien und im nächsten Moment wie aus weiter Ferne das Kreischen mehrerer undefinierbarer Wesen erklang. „Was ist das?“ Obwohl er die Worte in normaler Lautstärke aussprach, kam es ihm vor als wäre es nicht viel mehr als ein Flüstern, das da aus seiner Kehle kam. „Eine ganz spezielle Vorrichtung, die es nur in der Lanchest Akademie gibt“, erklärte Joel mit leuchtenden Augen. Es schien als ob es nur dieser Moment wäre, wegen dem er Lehrer für dieses Fach geworden war. „Da wir auch allerlei Aufträge bekommen, die das Vernichten von Monsterhorden beinhalten, wird genau das hier gelernt.“ Die anderen Schüler warfen sich bereits freudig – so wirkte es zumindest auf Anthony – in den Kampf mit den plötzlich erscheinenden Wesen. Wobei plötzlich vielleicht ein wenig zu viel gesagt war. Ein lila-farbenes rundes Glühen erschien stets kurz vorher und aus diesem krochen dann die Monster hervor. Zuerst tasteten sie sich mit einer ihrer scherenartigen verkrüppelten Arme vor als wollten sie herausfinden, ob sie sich dort überhaupt aufhalten könnten, dann streckten sie den Rest ihres Körpers heraus, der an den eines Skorpions erinnerte. Nur dass diese Wesen die Größe eines ausgewachsenen Schäferhundes erreichten und statt eines Stachels ein Messer an ihrem Schwanz schwangen – und dieser sich sogar ausdehnte, um seine Gegner besser angreifen zu können. „Das sind nur Illusionen“, erklärte Joel als Reaktion auf Anthonys blass gewordenes Gesicht. „Sie können keinen der Schüler verletzen oder gar töten, aber genau eignen sie sich prima als Trainingsmaterial.“ Anthony zweifelte nicht daran. Woran er aber sehr wohl zweifelte, war dass es sich nur um Illusionen handelte. Dafür waren die Schreie der Agonie, wenn die Wesen sich auflösten zu echt, zu schmerzhaft, zu... grausam. Bei jedem einzelnen glaubte er, einen Stich in seinem Herzen zu spüren – und wie aus dem Nichts zog er durch ein müdes Flüstern von Kai in seinem Inneren plötzlich eine Verbindung, die ihm selbst nie in den Sinn gekommen wäre: „Die Splitter aus dem Inneren der sterbenden Mimikry...“ Die Splitter waren Bruchstücke von Seelen, aber wenn diese Wesen aus den verlorenen Fragmenten erschaffen wurden, warum nahmen sie dann diese grauenhafte Form an? Wie wurden sie überhaupt beschworen? Und was wurde hiernach aus ihnen? In diesem Augenblick bereute Anthony, an diesem Tag in die Schule gekommen zu sein, denn nun fühlte er sich mit noch mehr ungeklärten Fragen belastet. Wie hielten das andere Menschen nur aus? „Halt dich heute erst einmal zurück.“ Joels ruhige Stimme stand im krassen Gegensatz zu Anthonys innerer Unruhe, die durch das gegenseitige Jagen seiner Gedanken entstand. „Wir machen dieses Training nicht jeden Tag, mir ging es heute auch nur darum, dass du es einmal siehst und verstehst.“ Anthony sah zu ihm hinüber, doch der Lehrer blickte vollkommen ernst auf die Schüler, die mit diesen Wesen kämpften. „Was soll ich verstehen?“ Doch Joel schwieg auf diese Frage und ließ Anthony damit mit noch mehr Unverständnis und Verwirrung zurück. In was für ein Theater war er mit diesem Umzug nur geraten? Ob es bereits zu spät war, einfach zu verschwinden? Nein, nach kurzem Überlegen wurde ihm bewusst, dass er selbst bei einer Flucht stets gedanklich über all den Fragen nachhängen würde. Also wäre es besser, zu bleiben, immerhin gab es an diesem Ort auch die Möglichkeit, die Antworten zu finden, egal wie schwer es sein würde. Vorerst aber würde er sich weiter damit quälen, in der Hoffnung, dass sich ihm endlich einer erbarmte und ihm alles sagte, was er wissen wollte. Kapitel 21: Manchmal liefern Bücher Antworten --------------------------------------------- Joel sprach den ganzen Rest des Unterrichts kein Wort mehr mit dem neben ihm stehenden Anthony. Er ließ sich lediglich zu einer kurzen Verabschiedung herab, ehe er auch schon verschwunden war. Die Atmosphäre war kurz vor Ende der Stunde wieder merklich gelöster gewesen, als die Wesen verschwanden, Anthonys Inneres hatte sich wieder beruhigt, aber seine Gedanken fanden keine Ruhe. Dementsprechend erleichtert war er, als Marc ihn nach der Schule fragte, ob er Interesse daran hätte, gemeinsam mit ihm und Rena noch einkaufen zu gehen. Während sie nebeneinander herliefen, kam es Anthony vor als wäre es Renas Idee gewesen und sie hätte Marc nur dazu überredet, mit ihr zu gehen. Wieder festigte sich sein Entschluss, seinen Freund zu fragen, was er Rena schuldete und warum. Im Moment beschäftigte ihn eher, dass sie nicht in Richtung des Kaufhauses liefen. „Wo gehen wir eigentlich hin?“ „In einen Buchladen“, antwortete Rena. „Aber nicht der im Kaufhaus, der ist mir immer mit zu vielen Leuten gefüllt, da kann ich mich nicht konzentrieren. Außerdem gibt es dort nicht die Bücher, die ich haben will.“ „Was suchst du denn für welche?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich, wenn ich sie sehe.“ Er fand sie wirkte nicht wie jemand, der sich für Bücher interessierte. Offenbar waren Menschen wesentlich vielschichtiger, so dass man sie nicht auf den ersten Blick einschätzen konnte. Ihr Weg führte sie in ein altes Einkaufsviertel, dessen Geschäfte schon von außen einen gemütlichen und einladenden Eindruck machten, so dass man hineingehen und den Laden nie wieder verlassen wollte. Der Buchladen, an dem sie stehenblieben, gehörte ebenfalls dazu. Von außen war nicht viel zu sehen, die Fenster waren verdunkelt, so dass Anthony daran zweifelte, ob überhaupt geöffnet war, doch Rena drückte wie selbstverständlich die Tür auf und ging hinein, gefolgt von ihren beiden Begleitern. Der Geruch alter Bücher erfüllte die Luft und hieß sie willkommen und setzte Anthony wieder in die Vergangenheit zurück. Bücher, das war etwas gewesen, das sie auch im Peligro Waisenhaus zur Genüge gehabt hatten. Es wäre zu viel gesagt, wenn jemand behauptet hätte, dass Anthony sie liebte, aber er empfand auch keinerlei Abneigung dagegen. Am Liebsten mochte er eigentlich den Geruch alter Bücher, er umfing einen sobald man den entsprechenden Folianten in der Hand hielt und verhieß Geschichten von Abenteuern, Legenden, Märchen, Liebe und Freundschaft. Geschichten, in denen Drachen getötet und Jungfrauen gerettet wurden oder Menschen von den Toten auferstanden. Dieser Moment kam Anthony stets wie ein Rausch vor, das Lesen des Buches dagegen war für ihn fast schon wieder eine Enttäuschung, da die aufgeschriebenen Geschichten nie seinen Erwartungen standhalten konnten. Deswegen liebte er keine Bücher. Rena dagegen war sofort verzückt, als sie die Regale betrachtete, die sich an der Wand aufreihten und in denen so viele Bücher verstaut waren, dass es Anthony fast schon wunderte, dass sich die Bretter nicht unter dem Gewicht durchbogen. Von außen hatte der Laden dunkel ausgesehen, aber im Inneren war es überraschend hell, die Glühbirne war wesentlich stärker als alle, die er bislang gesehen hatte und verbreitete gleichzeitig ein überraschend sanftes Licht, vermutlich damit man sich beim Probelesen nicht die Augen kaputtmachte und dabei nicht die Buchstaben ausbleichen ließ. Während Rena sich umsah und dabei ihre Finger über die Buchrücken streifen ließ als könne sie somit jegliche Inhalte erfahren, blieb Marc ziemlich direkt neben dem Eingang stehen, wieder einmal mit verschränkten Armen. Anthonys Blick fiel auf einen Verkaufstresen, aber niemand war dahinter zu sehen. Allerdings gab es eine Tür auf der anderen Seite, die nur mittels eines Vorhangs den Raum jenseits des Ladens vor neugierigen Augen abzuschirmen vermochte. „Sie hat eine Kamera“, erklärte Marc auf Anthonys Nachfrage, „deswegen sieht sie, ob sie gebraucht wird oder nicht. Mach dir keine Gedanken.“ Der Buchladen gehörte also einer Frau. Aus irgendeinem Grund hätte Anthony einen solchen eher mit einem alten Mann in Verbindung gebracht als mit einer Frau. „Und wenn jemand etwas stiehlt?“ Statt einer Antwort deutete er auf etwas, das oberhalb der Tür angebracht war. Es war ein für Anthony unbekanntes Symbol in einem bedrohlichen Purpurton. Zwar sagte Marc nichts dazu, aber auch ohne jede weitere Erklärung konnte er spüren, dass ein mächtiger Zauber darauf lag, der Personen mit schlechten Absichten weder hinein- noch hinausließ, wenn sie irgendwie doch in den Laden gekommen waren. Rena griff sich eines der Bücher heraus und blätterte neugierig darin herum. Es sah so aus als würde es noch eine Weile dauern, weswegen Anthony sich ebenfalls umzusehen begann. Keiner der Titel oder Autorennamen sagte ihm etwas, weswegen sie alle vor seinen Augen zu neuen Geschichten verschmolzen unter denen er sich alle möglichen Sachen vorstellte, weswegen er keines der Bücher herauszog, um auch nur auf dem Einband nachzulesen, worum es wirklich ging. Er kam an einem weiteren Regal an, das anders eingerichtet war als alle anderen. Nicht alle Bücher standen mit dem Rücken zum Kunden, einige zeigten auch mit dem Cover nach vorne und präsentierten damit ihre fantasievollen Titelbilder, die sich erstaunlicherweise mit Anthonys Vorstellungen deckten. Sein Blick blieb allerdings an einem Bild hängen, das nicht sonderlich fantasievoll oder gar bunt, sondern eher unheimlich war. Darauf war ein skorpionähnliches Wesen zu sehen – und er wusste sofort, wo er es schon einmal gesehen hatte. „He, Marc. Dieses Buch...“ Er deutete nur darauf und beendete den Satz nicht, aber sein Freund kam bereits dazu, um es sich selbst anzusehen. „Ah, ich erinnere mich. Mein Kindermädchen hat mir früher oft daraus vorgelesen.“ Anthony merkte sich diese Information für eine spätere Frage. „Worum geht es darin?“ „Man könnte sagen, dass es ein Märchenbuch ist. Mit unheimlichen Märchen natürlich, die Kindern beibringen sollen, sich nachts nicht auf der Straße herumzutreiben. Warum? Interessierst du dich dafür?“ „Erkennst du das Monster darauf denn nicht?“ Anthony streckte den Arm ein wenig mehr durch, so dass er das Buch fast mit seiner Fingerspitze berührte. Marc blickte genauer auf das Cover, was Anthony fast dazu führte, dass er einen verzweifelten Laut ausstieß. Wie konnte es sein, dass er überhaupt darüber nachdenken musste? „Wo du es erwähnst, es scheint Ähnlichkeit mit den Wesen unseres Trainings zu haben. Ist mir nie aufgefallen, dabei seh ich das Buch öfter.“ „Wie kann dir das nicht auffallen?“ Marc zuckte scheinbar verlegen mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das passiert wohl.“ „Und fragst du dich jetzt nicht, warum die Wesen so aussehen wie die beim Training?“ Er brauchte gar keine Antwort, um zu wissen, dass sein Freund sich das tatsächlich nicht fragte, sein Blick war genug. Marc zuckte noch einmal mit den Schultern. „Wir sind Söldner, wir hinterfragen nicht – haben zumindest meine Eltern immer gesagt, als ich hier anfing. Und zu Hause haben wir das auch nicht gemacht. Habt ihr im Waisenhaus etwa was anderes gelernt?“ Langsam schüttelte Anthony mit dem Kopf. Wenn überhaupt, war ihnen beigebracht worden, immer alles zu tun, was ihnen von einer höherstehenden Person aufgetragen wurde. Aber da war noch etwas anderes... „Ich habe das Gefühl, irgendjemand anderes hat mir beigebracht, zu hinterfragen.“ „Vielleicht deine Eltern? Du erinnerst dich ja nicht an sie, oder?“ Anthony neigte den Kopf ein wenig. „Ich erinnere mich nicht, aber es ist gut möglich.“ Die Erinnerungen an seine Eltern waren immer noch nicht zurückgekehrt und er zweifelte auch daran, dass es je passieren würde. Aber immerhin konnte er sie so nicht vermissen. Er beschloss, das Thema fallen zu lassen, statt weiter darauf herumzuhacken, dass Marc seiner Umgebung keine Beachtung schenkte und er auch keine Fragen stellte, da es ihm so beigebracht worden war und nahm dafür ein anderes Thema wieder auf: „Du hattest ein Kindermädchen?“ Marc lächelte sofort und lachte leise. „Klar. Eine sehr tolle Frau, die eigentlich eher wie meine Großmutter war. Deswegen denke ich gerne an sie zurück. Sie konnte tolle Kekse backen.“ Sein Blick verriet deutlich, dass er viele gute Erinnerungen an diese Frau hatte und sie vermutlich tatsächlich vermisste, was Anthony Leid tat. Er kannte diese Art von Schmerz zwar noch nicht, aber er stellte sich vor, dass es sehr grauenvoll war. Eine Bewegung von Rena riss ihn aus seinen Gedanken. Sie begab sich an ein anderes Regal etwas weiter entfernt von ihnen. Da sie immer noch tief in die Bücher vergraben war, nutzte Anthony die vermeintliche Gelegenheit, um Marc eine weitere Frage zu stellen: „Ich habe mich heute mit Ethan unterhalten. Er meinte, du würdest Rena etwas schulden, aber...“ Da er augenblicklich blass wurde, hielt Anthony wieder inne. Marcs Schultern sanken ein wenig tiefer. „Lass uns später darüber sprechen“, wisperte er. „Wenn wir irgendwann allein und unter vier Augen sind.“ Die Intensität seiner Stimme und die mitschwingende Verzweiflung sorgten dafür, dass Anthony keine weitere Fragen stellte, sondern direkt nickte und erneut das Thema wechselte: „Wie lange wird Rena wohl noch brauchen?“ Ihm war kalt. Trotz der Sonne, die direkt ins Lehrerzimmer und sogar ganz genau auf seinen Stuhl fiel, fror er; trotz der Jacke, die er um seinen Körper geschlungen hatte, fror er. Deswegen hasste er den Unterricht, er hasste, dass er dazu gezwungen wurde, aber gleichzeitig wusste er, dass es notwendig war und dies ihn unersetzlich machte. Er war unabdingbar für Raymond und den Rest der Akademie und das war ein extrem gutes Gefühl. Zu dumm nur, dass diese entsetzliche Kälte der kaum auszuhaltende Nachteil daran war. Während er noch dasaß und versuchte Wärme zu tanken ehe er nach Hause fuhr, hörte er, wie die Tür geöffnet wurde. Er blickte nicht einmal auf, da er fürchtete, sonst von einem der anderen Lehrer in ein Gespräch verwickelt zu werden, aber zu seinem Bedauern hielten die Schritte direkt vor seinem Tisch inne. Allerdings roch er im selben Moment den unwiderstehlichen Duft einer frischen Suppe aus seinem Lieblingsrestaurant. Eine Hand schob den damit gefüllten Teller in sein Blickfeld. Er bedankte sich seufzend bei Raymond, während er diesem den Löffel abnahm. Der Direktor setzte sich ihm gegenüber, um selbst ebenfalls einen Teller mit Suppe zu essen. Joel stürzte sich geradezu auf sein eigenes Essen, um sein Inneres mit der Wärme zu erfüllen, die ihm im Moment fehlte. „Du hast dich heute übernommen, oder?“, fragte Raymond. „Nachdem ich Anthony am Mittwoch getroffen habe, dachte ich, dass es besser wäre, wenn er gleich heute sieht, mit was wir trainieren.“ „Aber du warst noch nicht ganz auf der Höhe dafür. Vielleicht hättest du doch lieber noch eine Woche zu Hause bleiben sollen.“ Joel schnitt ihm eine humorlose Grimasse. „Erklär das mal deiner Frau.“ Raymond zuckte mit den Schultern. „Dazu müsste ich ihr erst einmal erklären, was du hier eigentlich genau machst und das willst du ja nicht.“ „Es reicht, wenn du es weißt.“ Nach dem ersten Schlingen hatte sich die Wärme gleichmäßig wieder in ihm ausgebreitet, so dass er langsamer essen und die restliche Suppe genießen konnte. „Das ist wirklich nichts, was ich an die große Glocke hängen will.“ Er selbst fand diese Fähigkeit unheimlich und grauenerregend, es war schlimm genug, dass er sie sein eigen nannte, da musste er nicht auch noch die Gewissheit haben, dass andere darüber Bescheid wussten - und insbesondere Alona musste nicht wissen, dass er sie andauernd einsetzte. Er wusste nicht, wie Raymond anderen Leuten erklärte, wie das Training in der Akademie ablief und woher die Monster kamen, aber es kümmerte ihn auch nicht weiter, da es nicht sein Problem war, solange die Leute nicht erfuhren, dass er etwas damit zu tun hatte. „Ich verstehe. Aber lass es die nächsten Tage wenigstens ein wenig ruhiger angehen. Es wäre nicht gut, wenn dir etwas passieren würde.“ „Nur keine Sorge, ich kann auf mich aufpassen, auch wenn es nicht so aussieht.“ Er zwinkerte Raymond zu, der allerdings weiterhin ein wenig besorgt aussah. Dennoch sagte er nichts weiter, sondern aß einfach schweigend. Jedes weitere Wort war umsonst, das wusste er. Immerhin hielt Joel diese Fähigkeit unter Kontrolle, das war viel wert, wie er wusste, aber dennoch machte er sich Sorgen darum, dass sein bester und einziger Freund eines Tages davon verschlungen werden würde, auch wenn ihm versichert worden war, dass so etwas nicht geschehen könnte. Aber wie viele Menschen außer ihm gab es denn, die solche Illusionen beschwören konnten? Wie sollte man also mit Gewissheit sagen können, dass es ungefährlich für Joel war? Da blieb nur die Hoffnung und die wenigen Mittel der Unterstützung, die Raymond ihm bieten konnte, wenn er ihn schon so sehr missbrauchte. „Ich denke aber, du solltest dir einmal andere Monster vorstellen. Mir scheint, dass viele der Schüler diese Märchenfigur nicht mehr ernstnehmen.“ „Ja, so kommt es mir auch vor.“ Joel nickte bedächtig. „Ich werd' mir mal was für die nächste Stunde vorstellen.“ Raymond neigte zufrieden den Kopf und verbrachte den Rest der gemeinsamen Mahlzeit mit einem zwanglosen Gespräch, das nicht verriet, wie besorgt er war und wie sehr sein schlechtes Gewissen an ihm nagte. Kapitel 22: Marcs Schulden -------------------------- Anthony genoss den Tag mit Rena und Marc ausgiebig. Nach der Buchhandlung – Rena war ohne Buch hinausgegangen, hatte aber für einen späteren Besuch eine Liste auf dem Tresen zurückgelassen – waren sie erst ins Einkaufszentrum gegangen, wo sie sich verschiedene Geschäfte angesehen hatten und dann gemeinsam in einem Fast Food Restaurant essen gewesen waren. Da alles besser schmeckte als das Essen im Heim, war von seiner Sicht aus nichts daran auszusetzen gewesen, während Rena und Marc sich darüber unterhielten, in welchem dieser Restaurants, die wohl zu einer Kette gehörten, man besser aß. Er stellte durchaus erleichtert fest, dass Rena sich nicht im Mindesten neugierig zeigte, was seine Vergangenheit anging, genau wie es bei Marc der Fall war. Fast schon schämte er sich dafür, dass er sich bei ihnen so neugierig fühlte und seinen Freund an diesem Tag derart bedrängt hatte. Auf dem Weg nach Hause verabschiedete Rena sich an einer Weggabelung von den beiden Freunden und ging in eine andere Richtung davon, die nicht zu den Wohnheimen führte. „Rena wohnt in einem sehr großen Hause mit Bediensteten“, erklärte Marc schmunzelnd, als Anthony ihn fragte, wo sie hingehen würde. „Also, ein Butler, ein Mädchen für die Küche und ein Gärtner.“ „Was ist mit ihren Eltern?“ „Mhm, darauf komme ich, wenn ich dir erzähle, was meine Schulden sind.“ Damit ließ Anthony das Thema erst einmal auf sich beruhen, während sie durch die Straßen liefen, dafür fand Marc ein anderes: „Warum hast du das Buch eigentlich nicht gekauft?“ Als er einen fragenden Blick von seinem Freund bekam, ergänzte er: „Das Märchenbuch.“ „Ah... ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil ich denke, dass die Antwort, die ich suche, nicht in diesem Buch steht.“ „Nun, ich weiß zwar nicht, was für eine Antwort du suchst, aber schau doch im Internet, da findet man eigentlich zu jedem Thema etwas.“ Da Anthony nicht im Mindesten verstand, was das bedeuten sollte, versprach Marc, ihm später zu zeigen, wie das funktionierte und was genau es eigentlich war. „Ich dachte immer, die Peligro Absolventen wären echt cool, aber ihr wisst ja ganz viele Sachen nicht, die für uns selbstverständlich sind.“ „Hast du denn schon welche getroffen?“ Marc nickte zustimmend. „Hin und wieder trifft man sie bei den Missionen auf die wir von der Schule geschickt werden. Einmal war da dieses rothaarige Mädchen, die hättest du sehen müssen, sie war mega-cool und-“ „Das kann nicht sein“, erwiderte Anthony und unterbrach ihn damit. „Es gibt keine Mädchen im Peligro Waisenhaus. Sie kann keine Absolventin gewesen sein.“ Auf diese Erwiderung hin neigte Marc ratlos den Kopf, beschloss aber offenbar, nicht mit jemandem darüber zu diskutieren, der es besser wissen musste und fuhr in einer etwas anderen Form fort: „Die zwei Kerle bei ihr waren aber sicher Absolventen und die haben ein riesiges Monster besiegt. Ganz allein, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne auch nur in Schweiß auszubrechen. Aber mit uns reden wollten sie nicht.“ Anthony wusste nicht, von wem Marc sprach und es war auch unsinnig, nach Details zu fragen, da er sich kaum an jemand anderen erinnerte. Dennoch versank er bei dieser Erzählung in Gedanken, so dass sie den restlichen Weg zu Anthonys Wohnung schweigend hinter sich brachten. Ehe sie sich dem düsteren Thema zuwandten, setzte Marc sein Versprechen in die Tat um, zeigte seinem Freund nicht nur, wo er den Computer in der Wohnung fand, sondern auch wie man diesen bediente, insbesondere das Internet. Anthony war sichtlich überwältigt von all den Möglichkeiten, die es ihm bot, was Marc leise lachen ließ. „Ich habe gehört, früher, im 21. Jahrhundert, war es noch umfangreicher und vernetzter. Inzwischen ist es wesentlich eingeschränkter, aber man kann dennoch seinen Spaß damit haben.“ Dabei ging es Anthony nicht mal um Spaß, sondern nur um Antworten, aber das wollte er seinem Freund nicht unbedingt auf die Nase binden, stattdessen nickte er nur verstehend – und dann kam es endlich zu dem Thema, das ihn schon den ganzen Tag interessierte. Marcs Stimmung kippte wieder einmal, als er die Arme vor der Brust verschränkte und den Blick zu einem der Fenster wandern ließ als würde er weit in die Vergangenheit sehen. Erneut fühlte Anthony sich ein wenig schlecht, als er das beobachtete, aber als er seinem Freund anbot, das Thema einfach auf sich beruhen zu lassen, schüttelte er mit dem Kopf. „Nein, ist schon gut. Ich denke, das ist auch eines der Dinge, die du von mir wissen solltest.“ Da Ethan vermutet hatte, dass Marc ihm auch etwas schulden würde, war das selbst für Anthony logisch und das beruhigte sein schlechtes Gewissen. „Du weißt, dass ich der Sohn einer Familie bin, die zum organisierten Verbrechen gehört, ja? Inzwischen bin ich der einzige Erbe dieses Imperiums, aber früher hatte ich einen älteren Bruder.“ Er hielt einen Moment inne, als er an diesen dachte, aber sein Gesicht wirkte dabei nicht so entspannt und nostalgisch wie bei der Erinnerung an sein Kindermädchen. „Sein Name war Thomas, er war zwei Jahre älter und stand in der Erbfolge vor mir, was mir nur recht war, ich wollte ja nie das Oberhaupt der Familie werden. Um zu lernen, wie wie man Verhandlungen führt und Kontakte zu knüpfen, wurden wir eines Tages zu den Chessts nach Lanchest geschickt, die Bekannte unserer Familie waren...“ „Du hast die Ruhe weg, was?“ Ich hatte während des Wartens fast schon vergessen, dass Thomas ebenfalls da war, aber als er mich wieder an seine Anwesenheit erinnerte, sah ich zu ihm hinüber. Im Gegensatz zu mir schien er nervös, jedenfalls tippte er unruhig immer wieder mit seinem Fuß auf den Boden und schaffte es auch nicht, still sitzenzubleiben. Ich dagegen saß gemütlich auf dem Sofa im Empfangszimmer und genoss die neue Umgebung. „Ich sehe keinen Grund, nervös zu sein. Das ist doch nur eine nette Unterhaltung heute.“ Zumindest dachte ich das in diesem Moment noch, auch wenn ich die Zeichen hätte sehen müssen. Das Gespräch mit den Chessts an sich war sehr angenehm. Wir hatten die beiden bereits auf verschiedenen Anlässen kennengelernt, das war das erste Mal, dass wir länger als fünf Minuten mit ihnen sprachen und es ging keinerlei Bedrohung von ihnen aus – weswegen wir alle umso überraschter waren, als Thomas plötzlich seine Waffe zog. Wir führten natürlich immer versteckte Pistolen mit uns, aber wir benutzten sie nur in Notfällen. „Thomas, was ist los?“, fragte ich irritiert, im festen Glauben, dass er lediglich etwas gesehen hätte, was mir entgangen war oder dass er in seiner Nervosität etwas nur falsch interpretiert hatte. Aber kaum, dass er die Waffe gezogen hatte, schien genau diese Unruhe von ihm abgefallen zu sein, in seinen Augen war absolut keine Unsicherheit zu erkennen und mir kam der schreckliche Gedanke, dass er sogar nur wegen diesem Moment hergekommen war. Mr. Chesst stand auf und hob in einer beruhigenden Geste seine Hände. „Mein lieber Freund, beruhigen Sie sich. Wir wollen doch hier keinen Fehler machen, den wir bereuen könnten.“ Thomas lächelte kühl. „Keine Sorge, ich werde nichts bereuen.“ Im nächsten Moment feuerte er zwei Schüsse ab – und dann direkt noch einmal zwei. Ich bin mir nicht sicher, ob zwischen den Schüssen irgendetwas anderes geschah, mein Blick war auf die umstürzenden Körper der Chessts gerichtet, die erschreckend schnell auf den Boden fielen. In den Filmen erzählen sie dir immer was von Zeitlupe oder dass ein Moment dir im Nachhinein total langsam vorkam, aber ich hatte eher das Gefühl, dass alles viel zu schnell vor sich ging, ich war sogar überzeugt, dass es nicht real sein konnte. Mein Blick ging wieder zu Thomas zurück – und zu meinem Erschrecken stellte ich fest, dass er seine Waffe nun auf mich gerichtet hatte. „W-was tust du da!? Bist du wahnsinnig geworden!?“ „Nein, ich bin mir sogar vollkommen klar über das, was ich tue“, erwiderte er mir ruhig, viel zu ruhig, wie ich fand. Ehrlich gesagt hatte ich mein ganzes Leben mit solch einer Situation gerechnet, ich war von meinen Eltern darauf vorbereitet geworden, nicht zuletzt weil es bei meinem Vater und dessen Geschwistern genauso abgelaufen war, bis die letzten zwei Überlebenden einfach von allein auf das Erbe verzichtet hatten – etwas, was ich bis dahin nicht getan hatte und in jenem Moment bitter bereute. Aber klar, ich hatte zwar damit gerechnet, aber gleichzeitig auch gehofft, dass die Bindung zwischen meinem Bruder und mir stark genug wäre, dass uns das alles nicht kümmerte. So sehr konnte man sich in seiner Familie täuschen. „Thomas, komm schon, denk nochmal darüber nach.“ „Es ist schon zu spät, Marc. Was denkst du, wer denn die Schuld hierfür auf sich nehmen soll, wenn nicht du? Unsere Eltern werden nicht sehr erfreut sein, wenn sie hören, dass du ihre Geschäftspartner erledigt hast. Aber mit mir werden sie vollauf zufrieden sein, wenn sie hören, dass ich die Bestrafung direkt übernommen habe.“ Er lächelte so kalt wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben bei ihm beobachten konnte. „Hattest du das alles hier geplant?“ „Vielleicht.“ Thomas zuckte mit den Schultern. „Das muss dich ja nicht mehr interessieren, meinst du nicht?“ Ich wagte kaum zu atmen oder gar den Blick von seinen Augen abzuwenden. Da lebte immer noch die Hoffnung in mir, dass er es sich anders überlegen würde, wenn ich nur lange genug nicht den Blickkontakt unterbrechen würde. Und reden, ich musste reden, Argumente, das war alles, was ich denken konnte. „Komm schon, du weißt doch, dass ich absolut kein Interesse am Erbe habe.“ Ich dachte, es würde etwas bringen, wenn ich ihm das noch einmal deutlich machte, aber er grinste nur. „Ich weiß – und ich stelle nur sicher, dass du dich nicht umentscheiden wirst und mir in den Rücken fällst.“ In diesem Moment war ich mir sicher, dass es nichts mehr gab, was ich tun konnte. Es war vorbei, endgültig, ich würde ein weiteres namenloses Opfer werden, das nicht einmal in die Familiengruft kam, weil ich durch Thomas' Plan als Verräter gelten würde. Ein Plan, den ich für erschreckend einfach befand und dennoch nicht vereiteln konnte. Ich schloss die Augen, um es ihm nicht noch schwerer zu machen, mich umzubringen. He, ich kann noch nicht einmal einem Kaninchen den Hals umdrehen, wenn es mich ansieht – und ja, das hab ich schon getan, ist so 'ne Tradition meiner Familie, aber darum geht es ja gerade nicht, tut mir Leid. Ich konnte nichts sehen, lediglich hören – und in diesem Punkt haben die Filme wirklich recht: Wenn du dastehst und auf den Tod wartest, kommt es dir vor als würden Stunden vergehen, während in Wirklichkeit nur wenige Sekunden verrinnen. Als ich schließlich die Schüsse hörte, welche die eingetretene Stille durchbrachen, erwartete ich den Schmerz und den Verlust der Kontrolle über meinen Körper – aber stattdessen erklang nur ein dumpfer Schmerzenslaut von mir gegenüber und im nächsten Moment hörte ich, wie etwas zu Boden fiel. Da meine Neugier nun doch stärker war als der Gedanke an den bevorstehenden Tod, öffnete ich meine Augen wieder – und entdeckte ein braunhaariges Mädchen, das mir gegenüber stand. Sie hielt eine Pistole auf mich gerichtet, deren Lauf immer noch qualmte. Ein kurzer Blick nach unten bestätigte mir, dass sie auf Thomas geschossen hatte. Dieser war nun keine Bedrohung mehr für mich, sondern lag reglos in einer rasch größer werdenden Blutlache. Er war nicht mein erster Verwandter, den ich so sah und die ganze Atmosphäre war immer noch zu... angespannt, so dass ich in jenem Moment noch nicht wirklich dazu kam, in irgendeiner Art Trauer zu empfinden. Stattdessen sah ich wieder das Mädchen an, das noch immer unverändert dastand. Ich kramte ein wenig in meinem Gedächtnis und erinnerte mich auch wieder an ihren Namen: „Rena?“ Erst als ich sie ansprach, ließ sie die Waffe sinken. „Ist es in deiner Familie üblich, sich einfach erschießen zu lassen?“ Statt zu antworten konnte ich nur zu ihren Eltern hinübersehen, was sie wohl als Erwiderung deutete, zumindest wenn ich ihren weiteren Worten glauben konnte: „Oh komm schon, das war auch unfair von deinem Bruder, findest du nicht?“ Als Antwort sah ich auf ihn hinab, was sie erneut als Erwiderung empfand: „Ich hab ihn nur von hinten erschossen, weil er sich garantiert nicht umgedreht hätte. Er war total fixiert auf dich.“ „Warum hast du das getan?“ Ich sah noch immer auf meinen Bruder hinab und die Worte waren eigentlich auch an ihn gerichtet, aber sie glaubte wohl, dass ich mit ihr sprach, denn sie zuckte mit den Schultern. „Notwehr. Muss ja niemand wissen, dass er eigentlich vorhatte, dich umzubringen.“ Meine nächsten Worte galten dann tatsächlich ihr: „Wie kann dich das so kalt lassen?“ „Wie kann dich das so mitnehmen?“, erwiderte sie. „Dir wird doch dein Leben lang beigebracht, Menschen zu töten, oder?“ „Dir aber nicht, oder?“ „In gewisser Weise schon.“ Ich weiß nicht, was sie dazu bewog, aber sie erklärte mir, dass sie eine Ausbildung an der Lanchest-Akademie machte und man dort alle möglichen Sachen beigebracht bekam. Unter anderem auch, wie man am Effektivsten Menschen tötete – nur für den Fall der Fälle. „Der Kerl hier ist natürlich der erste und um ehrlich zu sein konnte ich ihn noch nie leiden.“ Sie schnitt eine Grimasse und runzelte gleich darauf die Stirn, als sie bemerkte, dass mir nicht nach Scherzen zumute war. „Hätte ich ihn dich lieber töten lassen sollen?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber was soll ich jetzt tun? Ich kann nicht nach Hause.“ Egal, was ich sagen würde, wenn ich heimging, es würde darauf hinauslaufen, dass ich der Erbe des Imperiums werden würde, wenn ich nicht vorher als Verräter im Meer landen würde... so viele würdes im Satz. Jedenfalls gefiel mir keine der Alternativen, aber Rena wusste dafür bereits eine Lösung – ich konnte nicht anders als mich zu fragen, ob sie nicht etwas von den Plänen meines Bruders gewusst und dann eigene geschmiedet hatte. Fragte sich nur, wieso ich darin vorkam. „Du verlässt deine Familie einfach und fängst ebenfalls in der Lanchest-Akademie an“, sagte sie als wäre es das Einfachste der Welt. „Das geht aber nicht so leicht.“ „Oh, es geht alles leicht, wenn du nur weißt, wie du es anstellen musst. Also stell dich nicht so an, langsam sollte ich nämlich jemanden kommen lassen, der hier aufräumt.“ „Na ja, sie kann manchmal sehr fordernd sein, ich konnte also nichts tun, als sie mich am nächsten Tag zu Mr. Chandler schleifte. Also, der Vater von Joel Chandler, der war zu dem Zeitpunkt noch Direktor an der Akademie. Ich war anfangs nicht sonderlich begeistert. Klar, ich wollte nicht das Imperium übernehmen, aber he, man lebt selbst als einfaches Mitglied sehr gut. Aber Rena, Mr. Chandler, Mrs. Chandler und Mr. Lionheart haben mich davon überzeugt, dass es besser ist, wenn ich mit meiner Familie abschließe. Und he, mir geht es jetzt schon viel besser, ich kann nachts endlich durchschlafen.“ Marc hielt einen kurzen Moment inne und dachte lächelnd zurück. Eine Pause, die Anthony nutzte, um die Erzählung zu verarbeiten. „Rena war so ruhig nach dem Tod ihrer Eltern?“ Das alles war zu glatt, zu problemlos, mit Sicherheit hatte Marc Dinge ausgelassen, die er nicht für weiter wichtig oder zu privat hielt. „Ja. Ich habe später erfahren, dass sie tatsächlich von Thomas' Plan wusste. Anscheinend hatte er sie darüber in Kenntnis gesetzt, um ihren Segen zu bekommen, weil er an ihr interessiert war... oder so. Sie meinte, er hätte sie tierisch genervt. Und sie hat die Gelegenheit genutzt, um nicht nur ihn, sondern auch ihre Eltern loszuwerden, organisiertes Verbrechen und so.“ Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Renas Familie ebenfalls in solche Geschäfte verwickelt gewesen war, aber das erklärte immerhin, warum er sie auch nie mit anderen Personen sah. Dennoch verstörte ihn das alles ein wenig. „Das klingt so brutal...“ „Manche Menschen haben keine Eltern – und andere wären sie am Liebsten los“, erwiderte Marc ungerührt. „Das ist das Leben. Und he, Lanchest ist schon viel sicherer, seit Rena nun das Oberhaupt der Chesst-Familie ist“ Anthony wollte nicht weiter darüber sprechen. Einerseits kam es ihm vor als würden sie den Tod zu sehr bagatellisieren und andererseits wurde er das Gefühl nicht los, dass sie das Leben zu sehr wertschätzten. Dieser meist schlafende Teil in seinem Inneren, der auch bei seinem Training mit Heather erwacht war, sagte ihm das, erklärte ihm, dass das Leben ohnehin derart vergänglich war, dass man es erst gar nicht wertschätzen musste – und deswegen musste man auch kein Mitleid mit seinen Opfern haben. Hastig versuchte er, diese Stimme wieder zu ignorieren. „Und deine Schulden?“ „Mein Leben gehört Rena.“ Marc lachte leise. „Ohne sie wäre ich immerhin tot oder Erbe eines Imperiums, das mich nicht interessiert und das viele Menschenleben kostet. Also tue ich, was sie sagt – und es ist ja nicht so, dass sie schlimme Dinge von mir verlangen würde. Sie will nur, dass wir Zeit miteinander verbringen.“ Das kam Anthony wie eine seltsame Bitte vor. Aber vielleicht hatte sie ja in irgendeiner Art und Weise Interesse an Marc und ihn deswegen verschont, statt einfach abzuwarten, bis Thomas ihn erschossen hätte. Aber es brachte nichts, hier darüber zu spekulieren. „Deine Familie hat dich einfach gehen gelassen?“ „Wäre ich nicht der letzte Erbe, hätten sie mich wohl schon längst umgebracht, aber so versuchen sie nur, mich zurückzugewinnen. Aber ich habe absolut kein Interesse daran.“ Er grinste ein wenig als ob er sich darüber freuen würde, dass so viele Leute ihn auf ihre Seite ziehen wollten. Aber da war noch etwas anderes, was Anthony interessierte: „Du sagtest mal, dass du nie Geld hast, weil du es jemandem zurückzahlst... geht das auch an Rena?“ „Awww, das hast du dir gemerkt?“ Er lächelte glücklich bei dieser Frage. „Nein, Rena hat genug eigenes Geld. Ich gebe meines für verschiedene Opfervereine aus. Wenn meine Familie Leben nimmt, was ich noch nicht verhindern kann, will ich wenigstens den Hinterbliebenen irgendwas... wiedergeben. Und mein Gewissen beruhigen, nehme ich an.“ Die Art und Weise wie Marc über all das redete, gefiel Anthony nicht. Es kam ihm fast so vor als ob er über das Leben eines Fremden sprach, das ihm allerdings nahegegangen war, so distanziert von den Formulierungen und gleichzeitig doch mit Emotionalität beladen, war die Erzählung. Aber noch während er das dachte, fiel ihm auf, dass er genauso sprach, wenn es um seine Vergangenheit, zumindest die Teile, an die er sich erinnerte, ging. „Sonst noch Fragen?“ Da war noch eine, die für Anthony wichtig war und die in Verbindung mit dem stand, was Alexander ihnen gesagt hatte. Raymond hatte ihn angewiesen auch Marc den Keller zu zeigen – und offenbar war es kein Problem gewesen, Mr. Chandler davon zu überzeugen, den Jungen in die Schule aufzunehmen. Dann noch die Mühe, die sich die Lehrer um ihn gemacht hatten... Da musste mehr dahinterstecken. Wer würde denn einer Familie des organisierten Verbrechen den einzigen Erben abspenstig machen? Aber er glaubte nicht, dass Marc die Antwort kannte. Er schüttelte nur mit dem Kopf, worauf sein Freund ihn wieder ernst ansah. „Gut, dann weißt du jetzt, was meine Schulden sind – und dass meine Familie mich einfach nicht loslassen kann. Aber das solltest du nicht herumerzählen, nicht jeder weiß, wie es wirklich abgelaufen ist.“ „Ich tu einfach so als ob ich keine Ahnung habe.“ Darin fühlte er sich inzwischen richtig gut. Sofort lächelte Marc wieder. „Du bist ein echter Kumpel.“ Anthony erwiderte das Lächeln, aber eher etwas sagen konnte, griff sein Freund bereits in seine Tasche. „Ich hab gehofft, dass du so reagieren würdest und habe deswegen vorhin etwas gekauft.“ Triumphierend zog er schließlich zwei versilberte Ketten hervor, an deren Enden sich ovale Anhänger befanden. Das schwarze Gestein aus dem sie waren, schimmerte mysteriös im Licht und weckte sofort Anthonys Aufmerksamkeit. Marc reichte ihm eine der Ketten. „Hier. Man sagt, wenn zwei Freunde diese Ketten tragen und sich stets in gegenseitiger Nähe aufhalten, laden die Steine sich mit göttlicher Energie auf und bringen einem Glück.“ Er lachte. „Ich weiß natürlich nicht, ob das funktioniert, aber die Idee dahinter finde ich nett. Das wollte ich schon immer mal ausprobieren, aber bislang hatte ich ja noch keine Freunde außer Rena und mit einer Frau ist das nicht dasselbe.“ Als Anthony die Freude auf Marcs Gesicht sah, besonders das Glitzern in seinen Augen, war er erstmals richtig froh darüber, nicht auf die anfänglichen Warnungen gehört zu haben. Da war etwas, das ihm sagte, dass Marc ungeachtet seiner Herkunft ein guter Mensch war, der ein wenig Glück durchaus verdient hatte – und wenn er ihm das geben konnte, dann würde er das eben tun. Und in Anbetracht dieser Tatsache war es ihm ausnahmsweise sogar fast einmal egal, dass auch diese Antwort ihm wieder neue Fragen beschert hatte. Kapitel 23: Im Internet ----------------------- Marc blieb an diesem Abend nicht lange und als er ging, kam es Anthony so vor als wäre ihm irgendetwas äußerst unangenehm. Er warf noch einmal einen skeptischen Blick durch den Raum, ehe er sich verabschiedete, aber Anthony konnte nicht sagen, was ihm nicht gefiel. Ihm kam alles normal vor, so wie eh und je. Alles stand an seinem Platz, einige der Kartons waren sogar noch gar nicht vollständig ausgepackt und außer ihm befand sich auch niemand in der Wohnung, weswegen er sich keine weiteren Gedanken darum machte und es vorzog, seine neuerworbenen Internet-Fähigkeiten auszutesten, indem er erst einmal etwas über das Märchen herausfand aus dem Joels beschworene Monster stammten. Das erforderte ihn sogar nicht einmal viel Mühe, da es offenbar ein recht berühmtes Märchen war und Marc ihn am Beispiel dieser Erzählung auch den Umgang mit dem Internet beigebracht hatte. Das dazugehörige Bild war genau dasselbe wie jenes auf dem Cover des Buches, weswegen er davon überzeugt war, dass es sich um das richtige handelte und begann zu lesen. Es lebte einst ein junger Mann in einem Dorf in der Nähe einer Klippe. Es hieß, dass eine Hexe bei seiner Geburt einen Fluch auf ihn gelegt hätte, der es ihm unmöglich machte, Schmerzen zu spüren, weswegen keiner der von ihm verängstigten Dorfbewohner sich seiner annahm; mit Ausnahme eines hübschen Mädchens, das ihm Obdach gab und ihn mit Essen versorgte, entgegen des Willens seiner Eltern. Beide mochten sich sehr, doch stand ihre Beziehung unter keinem guten Stern, denn niemand aus dem Dorf konnte das akzeptieren. Selbst die Drohung, dass sie beide verbannt werden würden, schreckte sie nicht ab. Aber der Mann konnte den Gedanken nicht ertragen, dass seine Liebste ihre Familie nie wiedersehen dürfte, sofern sie bei ihm bliebe und auch die Furcht, dass der Hexenfluch ihr schaden könnte, nagte an seinem Gewissen. In einer stürmischen Nacht verließ er heimlich das Dorf, in der Hoffnung, dass es ihr ohne ihn besser gehen würde. Alsbald fand er Obdach in der Hütte eines alten Holzfällers mit einem goldenen Herzen, der ihn bei sich aufnahm und ihm alles lehrte, was es über den Wald zu wissen gab. Er verlebte eine schöne Zeit bei dem Mann, aber schon bald quälte ihn die Sehnsucht nach seiner Liebsten und er beschloss, unerkannt ins Dorf zurückzukehren. Was er dort hörte, ließ allerdings sein Herz schwer werden: Nicht lange nach seiner Abreise, war das Mädchen vor Kummer krank geworden. Um dem Schmerz zu entfliehen, hatte es sich von der nahegelegenen Klippe ins Meer gestürzt. Von Schuldgefühlen geplagt wollte er seinen Körper ebenfalls dem Ozean übergeben, doch statt zu versinken, wurde er wieder an den Strand gespült. Die Hexe, der er seinen Fluch verdankte, erschien vor ihm und verkündete ihm, dass sie ihn nicht einfach sterben lassen würde. Vorerst sollte er büßen und die Schmerzen, die er dem Mädchen – wenngleich aus einer guten Gesinnung heraus – beigebracht hatte, tausendfach selbst spüren. Würde er diese Pein aushalten, so versprach sie ihm, würde sie nicht nur den Fluch von ihm nehmen, sondern ihm auch seinen sehnlichsten Wunsch nach Glück erfüllen. Da ihm keine andere Wahl blieb, akzeptierte er diesen Handel und aus den Tiefen des Ozeans stiegen Wesen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Ihre Körper erinnerten an Skorpione, aber an ihren überraschend elastischen Schwänzen waren Dolche angebracht, die vorschossen, um dem Mann tiefe Wunden ins Fleisch zu reißen. Doch durch den Fluch der Hexe war es ihm nicht möglich, Schmerzen zu spüren, so dass er niemals das bekam, was er sich wünschte und selbst am heutigen Tag noch dem Nagen seines schlechten Gewissens ausgesetzt ist. Anthony konnte sich nicht erinnern, jemals ein Märchen gehört zu haben, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie meist nicht so abliefen – und sie vor allem gut endeten. Dieses aber schien noch unbeendet als ob derjenige, der es aufgeschrieben hatte, vergessen hatte, dass man es beenden musste oder wie es überhaupt endete. Und es ließ ihn ebenfalls mit Fragen zurück, wobei er sich denken konnte, dass einige von diesen mit logischem Nachdenken zu beantworten wären. Die meisten der Fragen bezogen sich auf das Märchen selbst. Warum war der Mann bei seiner Geburt mit diesem Fluch belegt worden? Was war mit seinen Eltern geschehen? Und warum war die Hexe derart wütend auf ihn, dass sie nicht einmal zuließ, dass er sich selbst umbrachte? Auf diese Fragen gab es wohl keine Antwort, immerhin handelte es sich lediglich um ein Märchen, aber es gab auch etwas bezüglich Joel, das er nicht verstand: Wenn diese Wesen den Mann quälen sollten, um ihn büßen zu lassen, warum beschwor der Lehrer sie? Tat er das einfach so oder versteckte sich ein tieferer Sinn dahinter? Litt Joel etwa ebenfalls an einem schlechten Gewissen? War jemand wegen ihm gestorben? Warum müssen sich immer so viele Fragen auftun, wenn ich Antworten suche? Kai... Der Andere schwieg, vermutlich schlief er immer noch und sparte sich seine Kräfte für irgendetwas, das in naher Zukunft kommen würde. Aber es war ohnehin äußerst wahrscheinlich, dass er auch keine Antworten liefern könnte. Er lebte immerhin im Inneren von Anthony und kannte mit Sicherheit auch nicht die Antworten auf alle Geheimnisse dieser Welt, auch wenn er um einiges weiser schien. Da das Märchen ihm nicht weiterhalf, beschloss er, die Verbindung zwischen Mimikry und den beschworenen Wesen zu suchen – oder es zumindest zu versuchen. Allerdings führte ihn die Suche nach diesen Monstern lediglich zu alten Filmeinträgen oder zu Seiten, die sich mit Biologie beschäftigten. Immerhin lernte er so, dass Mimikry eigentlich ein Begriff war, den man verwendete, wenn Tiere es schafften, Aussehen und Verhalten einer anderen Art zu imitieren. Alexander hatte erwähnt, dass Mimikry sich dem Aussehen von Menschen näherten, dementsprechend wusste er nun, wie sie auf den Namen gekommen waren. Desinteressiert klickte er sich durch die restlichen Ergebnisse, die alle lediglich auf die biologische Bedeutung eingingen – bis er plötzlich auf einer gänzlich anderen Art von Seite landete. Der Hintergrund war in einem schlichten Grau gehalten, lediglich ein schwarzes Logo, das entfernt an den Kopf eines Wolfs erinnerte, der gerade sein Maul aufriss und seine Reißzähne bleckte, war ebenfalls noch hinter den Buchstaben zu sehen. Die Worte davor verrieten Anthony, dass man, was auch immer sich dahinter verbarg, Garou Society nannte, GS. Offenbar ein traditionsreiches Unternehmen, das vollmundig von sich behauptete sich um alle Mimikry-Angelegenheiten zu kümmern. Anthony neigte den Kopf ein wenig. Ihm schien, dass es sich bei diesem GS um einen Söldnerservice handelte, der auf Mimikry spezialisiert war. Sie waren wohl in weitaus mehr Städten als nur Lanchest ein Problem. Aber in dieser Stadt wurden diese Söldner nicht eingesetzt. Vermutlich, weil die Lanchest Akademie selbst welche ausbildet. Es würde wohl auch ziemlich teuer werden... oder es gibt noch andere Gründe. Aber es war ihm zu müßig, darüber nachzudenken, deswegen klickte er sich relativ ziellos durch die Seite, in der Hoffnung, noch etwas Interessantes zu finden, wenn diese Leute sich schon derart mit Mimikry auszukennen schienen. Vielleicht sammelten sie ja Wissenswertes über diese Wesen und führten es auf ihrer Seite auf, nur zur Orientierung für mögliche Kunden. Die Seiten Über uns, gefolgt von Mitarbeiter brachte ihm diesem Ziel zwar nicht näher, aber vielleicht, so glaubte er, würde er dort jemanden finden, der ihm helfen könnte, auch wenn die Wahrscheinlichkeit eher gering war. In seinem jetzigen Zustand der Ratlosigkeit war ihm allerdings jeder Strohhalm recht, den er finden konnte. Aber sämtliche Mitarbeiter, die unter Verfügbar standen, kannte er nicht, weder vom Namen noch vom Gesicht – jeder Name war von einem Bild begleitet – und er glaubte auch nicht, dass sich einer von ihnen in der Nähe befand, zumindest kannte er die aufgeführten Wohnorte nicht. Also ging er weiter zu Aus dem Dienst ausgeschieden, wo er auch fast sofort jemanden erkannte – oder das zumindest glaubte. Die junge Frau auf dem Bild hatte durchaus Ähnlichkeit mit Alona, lediglich ihr Pony war anders geschnitten und ihre Augen waren golden statt braun, außerdem blickte sie ernst und verbittert drein, was er nicht im Mindesten mit der liebevollen Ehefrau des Direktors in Verbindung bringen konnte. Der Name dazu lautete Alona Leigh und in wesentlich kleineren Buchstaben stand Aus dem Dienst ausgetreten darunter. Ob er es wagen und sie auf Mimikry ansprechen sollte? Vielleicht, wenn er sie einmal allein antraf. Er besah sich die anderen Namen und Bilder und hielt schließlich noch einmal überrascht und gleichzeitig verwundert inne. Er zog an dem schwarzen Haar des Mannes, immer und immer wieder, bis dieser ihm schließlich den Kopf zuwandte. Die blauen Augen blickten besorgt und müde, auch wenn der Mann zu lächeln versuchte. „Was ist los, Tony?“ „Papa, wann gehen wir nach Hause? Es ist langweilig und mir ist kalt.“ „Bald. Versuch zu schlafen. Wenn du aufwachst, werden wir mit Sicherheit schon da sein.“ Undeutliche Bilder vor seinen Augen, begleitet von Stimmen. Eine Erinnerung? Möglicherweise an früher? Ein leises Pochen hatte sich hinter seiner Stirn ausgebreitet, worauf er sich an diese griff als würde das irgendwie dazu beitragen, dass es ihm wieder besser ging. „Papa...?“ Seine Augen wanderten von dem viel zu vertraut wirkenden Bild zu dem Namen des Mannes. „Adam... ich glaube, wir kommen so nicht weit.“ Der Mann wandte seine Aufmerksamkeit einer Frau zu, die im Dunkeln zu sitzen schien. „Eve, sei nicht so pessimistisch, wenn Tony dabei ist.“ „Ja, Mama!“, bekräftige er sofort. „Sei nicht pessi... mestetisch!“ Die beiden Erwachsenen sahen ihn verdutzt an, ehe sie leise zu lachen begannen. Eine weitere Erinnerung, ein Fetzen nur und doch schien er so viele Schatten in seinem Gedächtnis zu lüften, die bislang undurchdringlich gewirkt hatten. „Mama... Papa...“ Der Name des Mannes war Adam Branch. Wären die Erinnerungsfetzen nicht gewesen, hätte er geglaubt, dass es nur ein Zufall war, doch so war er davon überzeugt, dass dieser Mann wirklich sein Vater war. Aber wo war er nun? Wo könnte er ihn finden? Unter dem Namen stand MIA. Es schien nicht der Name einer Stadt zu sein, aber was sollte es dann bedeuten? Noch ein Grund, mit Mrs. Lionheart zu sprechen. Sie weiß es vielleicht, wenn sie auch einmal dazugehört hat. Vorerst schien ihn die Seite aber auch nicht weiterzubringen. Vor allem fand er nirgends jemanden mit dem Namen Eve. Seine Konzentration war noch dazu seit dem ersten Erinnerungsfetzen eingebrochen, er hatte das Gefühl, die Buchstaben, die er las, nicht mehr richtig aufnehmen und verarbeiten zu können. Da es bereits spät geworden war, beschloss er, es gut sein zu lassen und am nächsten Tag mit Alona zu sprechen, auch wenn er versuchte, seine Hoffnung nicht zu sehr in die Höhe zu treiben, damit die Enttäuschung nicht zu groß werden würde, falls sie doch nichts wusste. Aber vorerst sollte er wirklich ins Bett. Es brachte nichts, wenn er übermüdet oder gar nicht zum Unterricht erschien – außerdem konnte er im Nachhinein direkt mit Alona sprechen, wenn er dort die Kinderstätte fand, wo die Erzieher arbeiteten. Deswegen schloss er das Browserfenster – wie Marc es genannt hatte – und fuhr auch den PC wieder herunter. Seine Gedanken drehten sich dabei nach wie vor um diese beiden Menschen, die er nun als seine Eltern identifiziert hatte, nur dass er nach wie vor absolut nichts über sie wusste außer ihre Namen. Nicht einmal das Gesicht seiner Mutter kam ihm in den Sinn, es lag absolut im Dunkeln. Er lag noch überraschend lange wach und glaubte plötzlich zu verstehen, weswegen Marc sich zuvor so unwohl gefühlt hatte, ehe er gegangen war. Er fühlte sich als würde er beobachtet werden, als wäre er nicht allein – aber wann immer er in die entsprechende Ecke sah in der sein Beobachter stehen musste, entdeckte er niemanden. Erst als er aufstand, um physisch festzustellen, ob dort jemand stand, den er nur nicht sehen konnte, schwand das Gefühl und kehrte auch nicht wieder, so dass er endlich schlafen konnte. So tief wie er schlief, bemerkte er nicht, dass sich seine Balkontür öffnete und die Vorhänge sich sacht im überraschend warmen Nachtwind bauschten. Schritte näherten sich dem Bett, obwohl niemand zu sehen war, es schien, dass sich jemand über den Schlafenden beugte und ihn neugierig musterte. Ein leises, zufriedenes Lachen erklang und wäre Anthony wach gewesen, hätte er dieses möglicherweise wiedererkannt, auch wenn sich jemand alle Mühe gegeben hatte, seine Erinnerungen diesbezüglich zu unterdrücken. So aber schlief er einfach weiter, selbst als sein nicht zu sehender Gast die Wohnung wieder genauso verließ, wie er hereingekommen war. Am nächsten Morgen würde Anthony sich nach dem Aufstehen verwirrt fragen, ob er vergessen hatte die Balkontür zu schließen. Nur um dann mit den Schultern zu zucken, die Tür zu schließen und das zu vergessen, da seine Gedanken sich um ganz andere Themen drehten. Kapitel 24: Garou ----------------- Am nächsten Tag konnte er das Ende des Unterrichts gar nicht schnell genug erwarten. Normalerweise störte ihn selbst die langweiligste Stunde nicht, aber diesmal hatte er etwas vor und das wollte lieber so schnell wie möglich erledigen. Nicht einmal der Kampfunterricht bot ein wenig Abwechslung. Joel wirkte blass und kränklich, vermutlich kostete es ihn ungemein viel Energie, die Beschwörungen durchzuführen. Um den Unterricht dennoch durchzustehen, ließ er die Schüler an diesem Tag nicht kämpfen, sondern versuchte stattdessen ihnen anhand der gängigsten Monsterarten in der Gegend, zu erklären, wie man herausfand, welche Schwächen der Gegner hatte. Anthony hörte dabei nur mit einem Ohr hin, seine Gedanken drehten sich immer noch um Adam und Eve. Er hing sich an die einzigen Fetzen Erinnerung, die er an sie hatte, in der Absicht, sie niemals wieder loszulassen oder zu vergessen – und stürmte geradezu hinaus, als die Stunde endlich vorbei war, sogar ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden und wenn er sich nicht täuschte, war er dieses Mal sogar schneller als Joel. In weiser Voraussicht hatte er Marc bereits am Vormittag gefragt, wo sich die Kinderstätte befand, so dass er diese nun ohne Umschweife aufsuchen konnte. Wenn man im Erdgeschoss an den Spinden vorbeiging, und statt die Treppe hinaufzugehen, einfach dem Gang weiterfolgte, gelangte man direkt in einen großen Raum, der hell und einladend gestaltet war. Selbstgemalte Bilder hingen an den Wänden, die großen Fenster ließen das Sonnenlicht hereinfallen und beleuchteten damit die vielen Tische auf denen noch immer verwaiste Wachsmalstifte lagen. Die Kinder selbst waren allerdings nicht zu sehen. Ein Geräusch von draußen verriet Anthony, dass sie lediglich in dem kleinen Garten direkt vor den Fenstern spielten. Zwei Frauen, vermutlich Erzieherinnen, befanden sich ebenfalls draußen und unterhielten sich lachend. Er wusste nicht, wie lange er dort stand und das Geschehen jenseits des Fensters beobachtete, für den Moment waren sämtliche Gedanken aus seinem Kopf verschwunden und zurück blieb nur... Neid. Unbeschwertes Spielen, das war etwas, wovon er in seiner Kindheit nur hatte träumen können. Im Peligro Waisenhaus war so etwas nicht gern gesehen worden. Sie waren fast ihre gesamte Freizeit hindurch zum Lernen angehalten worden, nach draußen waren sie auch nie gegangen. Aber da es dort ohnehin nichts außer Sand, Erde und Sträuchern gegeben hatte, war zumindest das kein Verlust gewesen. Was vor seiner Zeit im Peligro Waisenhaus gewesen war... er wusste es nicht, aber es kam ihm fast so vor als wäre er immer dort gewesen, nur eben mit seinen Eltern. Aber warum? Was sollte er mit Eltern in einem Waisenhaus? Schritte holten ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Als er sich umdrehte, entdeckte er Alona, die ihm freundlich zulächelte. „Na sowas, hast du dich verlaufen?“ Sie trug einen Wäschekorb mit zusammengefalteten Kitteln vor sich her, stellte diesen aber auf einem nahegelegenen Tisch ab, um sich auf ihr Gespräch mit ihm zu konzentrieren. „Nein, ich wollte mit Ihnen sprechen, Mrs. Lionheart.“ Darauf wirkte sie sowohl verwundert als auch erfreut. „Oh, worum geht es denn?“ Noch war es möglich, sich einfach wieder zurückzuziehen und ihr nichts zu sagen, ihr keine seltsamen Fragen zu stellen, die möglicherweise dafür sorgten, dass er nicht mehr sonderlich gern gesehen war bei ihr. Aber ihr immer noch offenes und erwartungsvolles Lächeln sagte ihm, dass er es tun musste, wenn er eine Antwort haben wollte – und die wollte er. Und wenn er nicht damit rechnen konnte, dass sie ihm freiwillig sagten, was sie über ihn und seine Vergangenheit wussten, blieb ihm keine andere Wahl als dem nachzuhelfen. „Uhm... wissen Sie, was MIA bedeutet?“ Sie wirkte deutlich amüsiert. „Oh ja. Missing in Action, ein gebräuchlicher Begriff für Soldaten, die während eines Einsatzes spurlos verschwinden. Deswegen bist du aber nicht hier, oder?“ Sein Blick wanderte gedankenverloren in Richtung Boden. Spurlos verschwinden... Dieser Mann – Papa – ist also während eines Einsatzes verschwunden? Er hob den Kopf wieder und sah Alona direkt an, wesentlich mutiger als zuvor. „Garou Society, das sagt Ihnen etwas, oder?“ Einen kurzen, aber endlos erscheinenden, Augenblick lang, glaubte er, dass sie in ihrer Bewegung eingefroren wäre, dass die Zeit stillstehen würde, doch schon kurz darauf, blickte sie ihn ernst an. „Ja, das sagt mir etwas. Aber warum sagt es dir etwas?“ „Ich bin im Internet, während ich nach Mimikry suchte, auf die Seite der GS gestoßen. Ihr Bild war dort, aber-“ „Oh nein!“ Sie lachte plötzlich. „Ich sehe auf diesem Bild furchtbar aus. Ich sollte einmal anfragen, ob man es von der Seite nehmen kann.“ Immerhin versuchte sie nicht, alles abzuwehren und ihm zu sagen, dass er das nie hätte erfahren dürfen. Er war auf einem guten Weg, wie er fand. „Dort stand auch noch ein anderer Name, der mein Interesse geweckt hat.“ Ihr Gesicht verdüsterte sich wieder, beinahe schon demonstrativ wandte sie sich ab und begann damit, die Wachsmalstifte einzusammeln, wahrscheinlich um ihn nicht ansehen zu müssen. „Ich kann mir denken, welchen Namen du meinst.“ „Sie können es sich denken?“, fragte er mit zitternder Stimme. „Mh-hm. Du hast Adam dort gefunden, nicht?“ Er nickte heftig, seine Hände klammerten sich nervös um den Tragegurt seiner Tasche. Wenn sie ihn jetzt fortschicken würde, gäbe es keine zweite Chance, er könnte sie nicht noch einmal fragen und es gab auch sonst niemanden. Aber zu seinem Glück fuhr sie direkt fort: „Weißt du, was die GS ist? Es ist eine Ansammlung von Hexen und Zauberern, die mit ihren Kräften gegen Mimikry vorgehen und versuchen, Menschen vor diesen zu beschützen. Dabei bedienen sie sich nicht unbedingt den besten Methoden – genau genommen gelten die Methoden sogar als unmenschlich. Deswegen haben Rufus, der letzte Direktor der Akademie, und Raymond beschlossen, dass besondere Absolventen der Akademie ebenfalls Mimikry jagen sollen. Als Alternative zur GS.“ Anthony nickte verstehend. Immerhin wusste er nun, weswegen in Lanchest ebenfalls Mimikry gejagt wurden. Aber was genau hatte das alles mit Adam zu tun? „Die Methode der GS sah vor, dass man sich derselben Mittel bediente wie die Mimikry – und man sich ihnen anpasste.“ Anthony runzelte seine Stirn. Diese Wesen passten sich an Menschen an, indem sie deren Aussehen annahmen, aber was tat man, um sich wiederum ihnen anzupassen? Sie hielt im Einsammeln der Stifte inne, er konnte sehen, dass ihre Hände zitterten. „Ich muss vorher ausholen. Für normale Menschen sind Mimikry im Anfangsstadium nicht weiter gefährlich, sie fressen nicht die gesamte Seele auf, sondern nur bestimmte Teile. Die besonderen, deswegen werden sie auch eher von Menschen angezogen, die speziell sind. Der Verlust dieser Seelenfragmente fällt aber nur den wenigsten auf, denn jene, die ihnen zum Opfer fallen, mochten zwar dieses Spezielle besessen haben, aber es wurde von ihnen nie geschult oder eingesetzt – sonst hätten sie ihre Angreifer nämlich sehen und spüren können und sie hätten ihnen ausweichen oder sie bekämpfen können.“ Erneut hielt sie inne als würde sie sich an etwas erinnern. Anthony kam nicht umhin, sich zu fragen, weswegen man dann überhaupt Mimikry jagte – bis ihm wieder einfiel, dass sie irgendwann das Aussehen von Menschen annahmen und diese dann töteten. Es war wohl besser, sie so früh wie möglich zu beseitigen. Und erneut fragte er sich, warum sie ihm das alles erzählte und was es mit Adam zu tun hatte. „Bei der GS allerdings nahm man Menschen und setzte sie einem Mimikry aus, dem man vorgaukelte, dass die Seele des Gegenübers vollständig besonders und speziell ist. Der Mimikry frisst den Großteil der Seele und...“ Noch eine Pause. Wieder verkrampften sich Anthonys Hände. Möglicherweise erzählte sie ihm das, weil sie es unbedingt von ihrer Seele haben wollte, vielleicht sollte er es wissen oder es stand doch mit Adam im Zusammenhang, wenn er schon ebenfalls auf dieser Seite gewesen war? Er wagte allerdings nicht, sie zu unterbrechen, um das herauszufinden, sondern lauschte ihr lieber interessiert. „Im Anschluss bekommt der Proband ein Mittel injiziert. Ich weiß nicht, was für ein Mittel es ist, aber es sorgt dafür, dass man zu einem Mimikry wird, innerlich zumindest.“ Er glaubte, sich verhört zu haben. Nein, er musste sich einfach verhört haben. Es gab jemand, der Menschen zu Mimikry umfunktionierte? Gut, es hieß, dass der Zweck die Mittel heiligte, aber in diesem Fall glaubte Anthony nicht daran. Kein Zweck der Welt könnte es besser machen, dass man einem Menschen so etwas antat. Sie schien durchaus zufrieden, als sie das Erschrecken auf seinem Gesicht registrierte. „Als Jäger einem Mimikry ähnlich zu sein, hat viele Vorteile. Man wird von ihnen nicht gespürt, man wird schneller, geschickter und stärker und man kann Dinge beschwören, die einem helfen.“ „Beschwören... so wie Mr. Chandler?“, fragte er gedankenverloren. Alona runzelte ihre Stirn. „Woher weißt du, dass er das kann?“ „Er setzt es für den Unterricht ein“, antwortete er arglos und erzählte ihr von den beschworenen Wesen in seiner ersten Stunde in der Kampfpraxis. Er wusste sofort, dass er etwas Falsches gesagt hatte, als sich ihr Gesicht verdüsterte. Aber zumindest war sie nicht auf ihn wütend, wie er bemerkte, als sie ihn gleich darauf wieder anlächelte und mit ihrer Erklärung fortfuhr: „Man könnte jetzt fragen, was so schlimm daran ist, so viele tolle Fähigkeiten zu haben. Die Nebenwirkungen sind auch nicht sonderlich schlimm, zumindest einige Jahre lang. Man kann nicht mehr träumen, das ist der einzige Nachteil, denke ich. Aber irgendwann... irgendwann werden die Kräfte, die man entwickelt, unkontrollierbar und töten einen.“ Sie schluckte schwer, Anthony dagegen dachte an Joel. Der Lehrer hatte kränklich ausgesehen, vermutlich waren die Kräfte in seinem Inneren nicht sonderlich gut unter Kontrolle. Er wusste immerhin auch nicht, wie lange der Mann diese bereits in sich trug. „Adam Branch war genau wie meine Eltern ebenfalls ein Jäger bei der GS“, fuhr sie schließlich fort und kam damit endlich zu dem Punkt, der Anthony interessierte. „Damals war die Anpassung für die Jäger aber noch freiwillig. Adam und meine Mutter waren es nicht, mein Vater schon – und er war einer der ersten, der aufgrund unkontrollierbarer Kräfte starb. Meine Mutter wiederum wurde einige Jahre nach meiner Geburt von einem Mimikry getötet.“ Genau wie Marc am Tag zuvor, nahm ihre Stimme eine distanzierte Tonlage an, aber anhand ihres gequälten Gesichtsausdruck wusste er, wie nah ihr die Erinnerung an all das selbst an diesem Tag noch ging. In dieser Stadt schien es niemanden zu geben, der nicht einen schmerzhaften Verlust erlitten hatte. „Der verantwortliche Mimikry konnte entkommen und Adam beschloss, es zu verfolgen – da habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Im Anschluss verschwand er.“ Der letzte Satz klang wirklich endgültig, sie musste ihm danach wirklich nie wieder begegnet sein. „Aber er muss doch irgendwo und irgendwann wieder aufgetaucht sein, ich meine... er ist doch mein Vater.“ „Wer behauptet das?“ Bislang hätte er nicht gedacht, dass sie bösartig oder unbarmherzig dreinblicken könnte und vor allem nicht, dass das dann ihm gelten würde, aber in diesem Moment sah sie genau so aus. Er musste ein wenig zurückweichen, aus Furcht, dass sie im nächsten Augenblick die Hände um seinen Hals legen und zudrücken würde. „N-niemand“, erwiderte er mit zitternder Stimme. „Ich dachte nur... weil wir denselben Nachnamen haben u-und... ich habe mich an ihn erinnert, als ich das Bild sah.“ Er konnte sich nicht getäuscht haben, diese Erinnerung trog ihn nicht, das durfte nicht sein. Und zu seiner Erleichterung entspannten sich ihre Züge gleich darauf wieder. „Ich kann nicht leugnen, dass ihr beide euch auch ähnelt, deswegen ist es gut möglich. Aber wie gesagt, ich habe ihn danach nicht mehr gesehen. Du müsstest Raymond fragen. Er kannte Adam während seiner Zeit im Peligro Waisenhaus. Ich glaube, er war dort ein Lehrer.“ Also war Adam tatsächlich dort gewesen! Seine Erinnerung, die sich seit dem letzten Abend wieder zu sammeln begann, hatte ihn nicht betrogen. Die Aufregung in seinem Inneren wuchs stetig an und ließ seinen Puls rasen, sein Gesicht fühlte sich überraschend heiß an. Er überlegte, sie nach Eve zu fragen, aber es war gut möglich, dass Adam sie erst später kennengelernt hatte, vielleicht sollte er deswegen auch Raymond fragen. Aber da gab es noch etwas, was ihn interessierte. „Mrs. Lionheart... wenn Sie wussten, wer mein Vater ist, warum haben Sie es mir nicht gesagt?“ Sie streckte die Hand aus und fuhr ihm durch das Haar. Wie zufällig strich sie dabei über seine Stirn, ehe sie traurig lächelte. Es sollte ihn wohl trösten, aber es kam ihm eher vor als würde sie etwas nachprüfen wollen. „Ich dachte, Raymond würde es dir erzählen, sobald er sich sicher wäre.“ „Er hat es aber nicht getan“, erwiderte er vorwurfsvoll wie ein kleines eingeschnapptes Kind. „Ich werde ihm zu Hause eine Standpauke halten“, versprach sie. „Dann wird er dich bestimmt bald wieder zu einem Gespräch bitten – sobald er alles beisammen hat, um dich ausgiebig über deine Familiengeschichte aufzuklären.“ Irgendwie genügte ihm das nicht als Antwort. Wer wusste schon, wann das geschehen würde? Aber an ihrem Tonfall und auch an ihrer Hand, die sich in sein Haar zu verkrampfen schien, während sie auf seine Erwiderung wartete, erkannte er, dass es nichts mehr gab, was er bei ihr tun konnte, er würde sein Glück bei Raymond versuchen müssen, sobald dieser sich zu einer Erklärung herabließ. Immerhin – so sagte er sich – war er inzwischen einen Schritt weiter. Er wusste, wer sein Vater war und hatte sogar wieder Erinnerungen an seine Eltern. Und er wusste nun, dass es nicht nur Menschen gab, die böse Dinge taten, um böse zu sein, sondern auch, um Gutes zu tun. Diese Mimikry-Anpassung war etwas unfassbar Böses, wie er fand, besonders wenn man bedachte, wie das alles endete, selbst wenn man es eigentlich nur gut meinte. Er war richtiggehend froh darum, dass Raymond beschlossen hatte, eine alternative Form der Jagd zu etablieren – und plötzlich erschien ihm der Gedanke, ebenfalls einer der Jäger der Akademie zu werden, gar nicht mehr so schlimm, solange er damit verhindern konnte, dass die GS weitermachte. „Möchtest du sonst noch etwas?“ „Oh ja!“ Das hätte er beinahe vergessen. „Als Mr. Chandler diese Wesen beschworen hat und sie getötet wurden, hatte ich das Gefühl, dass sie etwas mit den Mimikry zu tun hatten, genauer gesagt mit den Splittern, die freigesetzt werden, wenn man diese tötet. In welcher Verbindung stehen sie?“ Zu seinem Bedauern zuckte sie allerdings nur mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich habe mich nie weiter mit den Mechanismen beschäftigt. Nicht einmal zu meiner Jägerzeit.“ Er fragte sich, ob sie ebenfalls einem Mimikry angepasst gewesen war, aber traute sich nicht, diese Frage laut zu stellen. Immerhin ging es ihn auch absolut nichts an. Auch wenn ihn interessiert hätte, wie sie es geschafft hatte, sich von dieser Anpassung wieder abzuwenden – zumindest war er davon überzeugt, dass ihre Augen deswegen nicht mehr golden, sondern braun waren. Immerhin waren die Augen fast aller Jäger auf dieser Seite golden gewesen. „Gut, wenn es nichts mehr gibt, muss ich jetzt leider weiterarbeiten.“ Sie klang wahrhaftig bedauernd. „Ich habe mich aber über deinen Besuch gefreut.“ „Trotz des düsteren Themas?“ Sie lächelte. „Sicher. Aber nächstes Mal besprechen wir so etwas lieber an einem gedeckten Tisch. Jedes düstere Thema wird erträglicher, wenn man kurz zuvor etwas Gutes gegessen hat.“ Es klang nicht nach einer Weisheit, die von ihr stammte, eher als hätte sie diese von jemand anderem angenommen, weil sie ihr äußerst gut gefiel – und Anthony war auch angetan davon, weswegen er direkt nickte. „Sicher, gern.“ Sie verabschiedeten sich dennoch nur kurzangebunden voneinander. Während Alona sich wieder ihrer Arbeit zuwandte, wollte Anthony wieder hinausgehen, hielt aber noch einmal inne. „Ah ja, Sie sagten, die Kräfte werden unkontrollierbar. Heißt das, Mr. Chandler wird auch sterben?“ Er kannten den Lehrer noch nicht sonderlich lange, aber er kam ihm sympathisch vor und wollte deswegen nicht, dass ihm etwas zustieß. Zuerst wirkte sie nachdenklich, aber dann schüttelte sie bestimmt mit dem Kopf. „Nein, keine Sorge. Er wird mit Sicherheit nicht sterben, das garantiere ich dir. Zumindest nicht wegen diesen Kräften.“ Er hoffte, dass er sich den bedrohlichen Unterton in ihrer Stimme und das mordlustige Glitzern in ihren Augen während ihres letzten Satzes nur einbildete, bedankte sich hastig bei ihr und setzte dann seinen Weg fort. Er war ein wenig unschlüssig, was er nun denken sollte. Einerseits war er froh darüber, etwas mehr über seine Vergangenheit erfahren zu haben, andererseits gab es da immer noch Fragen, die er sich stellte. Ob es normal war, sich dauernd irgendetwas zu fragen? Ihm blieb vorerst nur noch zu hoffen, dass Raymond ihn bald zu einem Gespräch einladen und ihm dann noch ein wenig mehr Fragen beantworten würde. Kapitel 25: Privatdetektiv für ungewöhnliche Fälle -------------------------------------------------- Als Anthony in die leer aussehende Haupthalle trat, fuhr er erschrocken zusammen, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte. Ein Blick zur Seite verriet ihm allerdings, dass es sich nur um Marc handelte, der ihm zulächelte. „Fertig mit deiner Unterhaltung?“ „Uhm...“ Er sah zwischen ihm und Rena hin und her. „Habt ihr auf mich gewartet?“ „Du hast heute so abwesend gewirkt“, erklärte das Mädchen. „Deswegen dachten wir, es wäre besser, wenn wir ein wenig bei dir bleiben. Hier weiß man nie so genau, wann jemand in Depressionen versinkt.“ Daran zweifelte Anthony keine Sekunde, wenn er sich vorstellte, dass noch andere Leute als er mit so vielen Fragen herumliefen, ohne je eine Antwort darauf zu bekommen – und sie nebenbei noch das Kämpfen lernen mussten. „Aber wir wollten dich nicht bei deinem Gespräch mit Mrs. Lionheart unterbrechen“, fügte Marc hinzu. „Habt ihr alles geklärt?“ „So ziemlich.“ Er wollte seine Freunde nicht beunruhigen und ebenfalls mit Fragen quälen, deswegen antwortete er lediglich derart knapp. „Was wollt ihr heute machen?“ „Falls es dich nicht stört, möchte ich noch einmal in den Buchladen“, antwortete Rena. „Ich möchte die Bücher abholen, die ich letztes Mal aufgeschrieben habe.“ „Nein, kein Problem.“ Er hatte den Ort in guter Erinnerung, deswegen kümmerte es ihn nicht weiter, als er den beiden schließlich hinausfolgte und den Weg in die Buchhandlung antraten. Als sie dieses Mal den Laden betraten, waren sie allerdings nicht allein. Hinter dem Tresen stand eine jung aussehende Frau, deren blondes Haar mit einem roten Band hochgebunden war, ihre adrette Kleidung, bestehend aus einer weißen Bluse, einer Weste und einer braunen Stoffhose, verriet sofort, dass sie die Inhaberin dieses Ladens war, auch wenn Anthony sich eine wesentlich ältere Frau vorgestellt hatte, nachdem seine Vorstellung eines älteren Herrn von Marc bereits zunichte gemacht worden war. Sie unterhielt sich schmunzelnd mit einem Mann im Anzug, der vor dem Tresen stand. Anthony konnte nicht anders als direkt die Stirn zu runzeln, als er ihn sah. Das schwarze Haar, die stechendblauen kalten Augen, das Gesicht... alles an ihm sprach etwas direkt in Anthonys Inneren an. Nein, es sprach nicht ihn an, es sprach Kai an und dieser reagierte, wenn auch nur verschlafen. „Damian...“ „... und er ist genauso furchtbar, wie ich ihn in Erinnerung hatte“, sagte er gerade, als sie hereinkamen. Auch die Stimme kannte Kai nur allzugut, wie Anthony spüren konnte. Ihm schien, dass der andere versuchte, aufzuwachen, die Kontrolle über ihn zu gelangen, es aber nicht schaffte – nicht zuletzt, weil Anthony es nicht zulassen wollte. Es war nicht die Zeit dafür und Kai war noch dazu viel zu schwach und müde, was immer ihm auch derart zu schaffen machte. Als die beiden bemerkten, dass Kunden hereingekommen waren, hielten sie inne und sahen zu ihnen hinüber. Während die Frau lächelte, blieb der Blick des Mannes kalt. Er huschte von Rena zu Marc, verharrte auf diesem für einen Moment als würde er ihn erkennen und wanderte schlussendlich zu Anthony, der seine Hände gleich wieder in den Tragegurt seiner Tasche verkrampfen ließ. Er wusste, dass der Mann ihn erkannte, konnte es in seinen Augen lesen, er sah das Glitzern darin als sein Gegenüber feststellte, dass er sein Ziel erreicht hatte. Der Mann hob den Regenschirm, den er in seiner Hand hielt und schwang ihn über seine Schulter. Anthonys Blick wanderte zu dem Griff des Schirms. Es war kaum zu sehen, aber er erkannte deutlich, dass ein zusätzlicher Knopf daran angebracht war, der Finger des Mannes schwebte darüber, bereit darauf zu drücken. Zwar konnte er nicht mit Sicherheit sagen, was geschehen würde, falls der Schalter gedrückt wurde, aber er wusste, dass er das gar nicht erleben wollte. Rena kümmerte sich nicht um den Mann, sondern wandte sich direkt an die Frau: „He, Joy. Stören wir gerade?“ „Nicht im Mindesten“, versicherte die Angesprochene. „Ich habe die Bücher, die du haben wolltest herausgelegt, Rena.“ Dabei griff sie unter den Tresen, um etwas hervorzuholen. Marc stieß Anthony an und deutete zu der Frau hinüber. „Das ist Joy de Silverburgh, die Schwester von Ryu. Du erinnerst dich, der Kellner im Café?“ Das violette Haar und die leblosen Augen waren ihm tatsächlich gut in Erinnerung geblieben. „Ja, tue ich. Aber ich wusste nicht, dass er eine Schwester hat.“ „Oh, er hat zwei. Aber Seline sieht man eher selten.“ Joy, die ihre Unterhaltung mitbekam, lachte spöttisch. „Wäre auch zu viel verlangt, wenn man wollte, dass sie arbeiten ging. Madame besteht immerhin darauf, dass sie eigentlich Kaiserin sein sollte.“ Anthony warf Marc einen fragenden Blick zu, dieser zuckte allerdings mit den Schultern. „Es ist unwichtig“, erwiderte Joy, die auch das mitbekam. „Das musst du also nicht auf deine Liste der unbeantworteten Fragen setzen.“ Macht sie sich gerade über mich lustig? Ihre Stimme klang zwar nicht im Mindesten nach Spott, aber ihre Worte verrieten zumindest, dass sie über seine Ratlosigkeit Bescheid wusste. Statt allerdings empört zu sein, wich er einen Schritt zurück. Selbst er konnte spüren, dass es besser war, es sich nicht mit dieser Frau zu verscherzen. Der Mann wiederum zog plötzlich sein Handy hervor, richtete es auf Anthony und den neben ihm stehenden Marc und drückte eine Taste, worauf ein leises Klicken erklang, das er sich nicht erklären konnte. Glücklicherweise nahm Marc es ihm gleich ab, dass er danach fragen musste: „He, Mister! Was wollen Sie mit dem Foto?“ Handys können fotografieren? Das wusste ich gar nicht. Er war bereits einmal fotografiert worden, aber mit einer richtigen Kamera und keinem Handy. Vielleicht sollte er seines einmal auf all seine Funktionen überprüfen. Marc stemmte den linken Arm in die Hüfte und sah den Fremden auffordernd an. Dieser ließ sich allerdings nicht im Mindesten einschüchtern, nicht zuletzt weil er um einiges älter schien als der Junge. „Du bist ein Campbell, oder?“ Unverhohlener Hass und Abscheu loderte in den Augen des Fremden auf. Offenbar war er nicht sonderlich gut auf diese Familie zu sprechen, Anthony wollte gar nicht wissen, was sie ihm wohl angetan haben mochten. Einen kurzen Augenblick lang verließ sämtliche Farbe Marcs Gesicht, doch im nächsten Moment seufzte er bereits schwer. „Ich werde meinen Namen ändern, wenn ich 18 bin.“ „Sei nicht so hart zu ihm, Vincent.“ Joy hatte endlich alle Bücher auf dem Tresen gestapelt und nahm Renas Karte entgegen, um die Bezahlung vorzunehmen. „Marc ist ein guter Kerl, er hat seiner Familie den Rücken gekehrt und spendet jede Menge Geld an einen Opferverein.“ „Als ob Geld irgendetwas wiedergutmachen könnte“, erwiderte Vincent. Marcs Mundwinkel zuckten, aber er verzichtete auf eine Replik, vermutlich weil er nicht wusste, was er sagen sollte oder weil er ebenfalls der Meinung war, dass er es sich nicht mit jemandem verscherzen sollte. Anthony versuchte, seine Gedanken zu sammeln, damit er für seinen Freund eintreten konnte – aber Rena kam ihm zuvor. Überraschend fest als ob sie nichts erschüttern könnte, blickte sie Vincent entgegen. „Es ist besser als wenn Marc einfach dasitzen und so tun würde als ginge ihn das alles nichts an. Mag sein, dass diese Spenden nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind und sie seine Familie nicht davon abhalten, dass sie weiterhin das tut, was sie tut. Aber im Moment bleiben ihm nicht viele andere Wege – und wenn Marc erst einmal seine Ausbildung beendet hat, wird er auch andere Mittel finden, da bin ich mir ganz sicher.“ Die Spannung war während der eingetretenen Stille im Anschluss deutlich greifbar. Anthony und Marc blickten Rena an, der eine wollte am liebsten applaudieren, der andere in Tränen ausbrechen. Joy sah schmunzelnd zu Vincent, der nach wie vor vollkommen unbewegt Renas Blick erwiderte. Doch plötzlich – und Anthony spürte sofort, dass es eine äußerst seltene Gelegenheit war – verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. „Ganz schön keck. Man merkt, dass du eine Chesst bist, junge Lady.“ Rena lächelte ebenfalls. „Sie kennen mich?“ „Als Privatdetektiv ist es unabdingbar, dass ich wichtige Personen kenne.“ Mit seiner freien Hand zog er eine Karte hervor, die er Anthony reichte, auch wenn dieser ein wenig weiter entfernt von ihm stand als Rena. Nur zögernd löste er die Hände vom Tragegurt seiner Tasche und nahm die Karte entgegen. „Vincent Gene Valentine“, las er vor. „Privatdetektiv für ungewöhnliche Fälle.“ Darunter standen Telefonnummern und etwas, das ähnlich wie eine Internetadresse aussah. Ihn interessierte aber mehr, was unter ungewöhnliche Fälle zu verstehen war. Marc, der ebenfalls auf die Karte gesehen hatte, hob den Blick wieder, um Vincent zu mustern. „Sie sehen gar nicht aus wie ein Detektiv. Wo ist Ihr Trenchcoat?“ „In der Reinigung“, erwiderte der Mann mit trockenem Humor. „Detektive besitzen nämlich prinzipiell nur einen, weil sie sich nicht mehr leisten können.“ Joy lachte leise. „Oh, du hast Humor entwickelt. Interessant.“ Als auch noch Marc zu lächeln begann, wäre Anthony am Liebsten direkt aus dem Laden gestürmt. Er traute Vincent nicht, auch wenn er spürte, dass dieser ihm zumindest im Moment nichts tun wollte. Und weil er ihm nicht traute, konnte er keine Sympathie für ihn spüren und er wollte auch nicht, dass seine Freunde ihn mochten. Schlagartig fühlte er sich wieder einsam, als ob alle auf einer anderen Seite standen als er und er eigentlich vollkommen unerwünscht war. Aber er wollte auch nicht egoistisch sein und ihnen Vorschriften machen, vielleicht reagierte er ja auch nur über. Bedrückt ließ er ein wenig den Kopf sinken und steckte die Karte ein, auch wenn er das vollkommen unbewusst tat. „Was haben Sie jetzt mit dem Foto vor?“, fragte Marc neugierig. Vincents Lächeln erlosch. „Das ist meine Sache. Du kannst ja deine Eltern anrufen, wenn du es wissen willst.“ „Was wollen meine Eltern mit einem Foto von Tony?“ Der Detektiv zuckte mit den Schultern. „Das hat mich nicht zu interessieren.“ Marc runzelte die Stirn, stellte aber keine weiteren Fragen. Rena nahm die Bücher endlich an sich und bedankte sich bei Joy, die lächelnd abwinkte. „Du bist meine beste Kundin, ich habe dir zu danken. Und macht euch nichts aus Vincents finsterer Art, er jagt Kindern nur gern Angst ein, damit sie ihm nicht zu nahe kommen.“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu, den sie allerdings nur mit einem Schmunzeln erwiderte. „Mich hat es nicht gestört“, bemerkte Rena, verabschiedete sich und verließ den Laden wieder. Anthony und Marc dagegen standen immer noch da und blickten Vincent an, als wäre es ihnen unmöglich, sich von der Stelle zu bewegen – und zumindest Ersterer hatte tatsächlich das Gefühl als wäre es auch so, nicht zuletzt weil Vincent ihm wieder direkt in die Augen sah. In seinem Blick lag eine unausgesprochene Drohung, nein, es war... eine Bitte. Anthony überkam das Gefühl, dass der Detektiv ihn mit aller non-verbaler Gewalt um etwas bat. Aber er verstand nicht, worum. Zum Fragen blieb ihm allerdings auch keine Zeit, denn er konnte plötzlich spüren, dass Marc ihm am Ärmel zupfte. „Komm, lass uns gehen.“ Ein wenig eingeschüchtert verabschiedeten sich beide und gingen dann ebenfalls hinaus. Vincent runzelte die Stirn, als die Tür sich hinter ihnen wieder geschlossen hatte. „Das war er also.“ „Mh-hm. Der Göttliche... live sieht er wesentlich besser aus als auf dem Monitor.“ „Ich finde, er sieht eher harmlos aus. Überraschend harmlos.“ Er ließ den Schirm wieder sinken und die Spitze davon laut auf dem Boden auftreffen. Joy neigte ein wenig den Kopf. „Was hast du denn erwartet? Einen Berserker? Ich hab dir doch gesagt, dass er eher süß erscheint.“ Er ignorierte ihren letzten Satz. „Ich weiß nicht. Dieser Russel hat mich glauben lassen, dass dieser Kerl uns jeden Moment alle in der Luft zerfetzen würde.“ „Vielleicht sollte Russel ihn dann auch einmal treffen, damit er sieht, dass nichts zu befürchten ist.“ „Ja, vielleicht... Vielleicht sollte er das wirklich.“ „Der Kerl war unheimlich“, bemerkte Marc, als sie endlich wieder zu Rena aufgeschlossen hatten. Sie lief recht zielstrebig und ohne sich die schweren Bücher in ihrer Tasche anmerken zu lassen. Anthony nickte zustimmend, ein wenig erleichtert darüber, dass sein Freund offenbar doch nicht sonderlich viel Sympathie für den Fremden empfand, aber das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich fand den gar nicht so übel – ein bisschen steif vielleicht, aber nicht weiter gefährlich.“ „Oh ja!“ Marc legte einen Arm um ihre Schulter, als ihm etwas einfiel. „Danke, dass du für mich eingetreten bist! Du bist echt die Beste!“ Anthony spürte einen kurzen Stich von Eifersucht. Wenn er es nur geschafft hätte, seinen Mut zu sammeln, um selbst für Marc einzutreten... aber vielleicht war es auch besser so, dass er diese Rolle Rena überlassen hatte. Er sah zu ihr hinüber und bemerkte, dass sie ein wenig verlegen lächelte, ganz entgegen ihrer sonst so direkten Art. „Ach, das war doch nichts weiter. Irgendjemand muss dich doch in Schutz nehmen, wenn du das schon nicht allein hinkriegst.“ Die Worte klangen verletzend, aber ihr zärtlich neckender Tonfall verriet, dass sie es nicht so meinte und Marc schien das genau zu spüren oder er kannte sie bereits lange genug, dass er das wusste. „Danke, Rena“, wiederholte er noch einmal mit einem ehrlichen Lächeln. Es war das erste Mal, dass Anthony das Gefühl bekam Liebe sehen zu können und in diesem Moment war er nicht nur auf Rena eifersüchtig, der es galt, sondern auch auf Marc, der es fühlte. Bislang hatte er sich nie Gedanken um so etwas gemacht, aber in diesem Augenblick wünschte er sich sehnlichst, ebenfalls einmal Liebe fühlen zu können. Aber wie ging man so etwas an? Er sollte unbedingt einmal im Internet nach Dingen recherchieren, die mit Liebe zu tun hatten. Wenn all seine Fragen geklärt wären, hätte er dann gleich die nächste Sache, der er sich widmen könnte. „Wollen wir essen gehen?“, fragte Rena plötzlich, der die Situation sichtlich unangenehm war – aber wohl nur weil Anthony ebenfalls anwesend war, Marcs Berührung schien ihr nämlich absolut nichts auszumachen. Die beiden Jungen stimmten lächelnd zu. Nach dieser unheimlichen Begegnung von eben hatten beide nun Hunger, in der Hoffnung, das alles schnellstmöglich wieder zu vergessen. Anthony war sogar recht egal, wo sie dieses Essen einnehmen würden – obwohl er ziemlich sicher war, dass er derjenige sein würde, der Marc einladen müsste. Joel und Raymond waren bereits ebenfalls mit Essen beschäftigt. Wie üblich saßen sie nach Ende des Unterrichts gemeinsam im ansonsten verlassenen Lehrerzimmer und unterhielten sich nebenbei nicht nur über den Tag an sich oder die Schüler, sondern auch über ihre gemeinsame Vergangenheit, wie in diesem Moment. „Hätte ich gewusst, wie nervig es sein kann, diesen Unterricht abzuhalten, hätte ich mich früher nicht über unseren Kampfpraxis-Lehrer beschwert“, murrte Joel, ehe er von seinem Sandwich abbiss und bedächtig kaute. „Ich habe dir immer gesagt, dass er seinen Job mit bestem Wissen und Gewissen erfüllt“, erwiderte Raymond mit einem Schmunzeln. „Aber du meintest immer nur, dass ich aufhören soll, mit dem Feind zu sympathisieren.“ Joel seufzte theatralisch. „Ja und jetzt sieh uns an – du bist der Anführer der Feinde und ich bin ebenfalls einer von denen. Was ist nur aus uns geworden?“ Er schüttelte gespielt betrübt den Kopf, während Raymonds Lachen darüber sofort erstarb, als er die Person erkannte, die plötzlich hereinkam. Eigentlich wollte er sie lächelnd begrüßen, aber ihr Gesicht verriet ihm, dass es besser war, wenn er nichts sagte und stattdessen lieber den Kopf zwischen die Schultern zog und hoffte, dass ihr Zorn nicht ihm galt. Ihr Blick blieb zu seinem Glück auf Joel geheftet, selbst als sie ein eher dünnes Buch an sich nahm, das einer der Lehrer für die Unterstufe auf seinem Tisch liegengelassen hatte und damit zielstrebig auf den arglosen Mann zuging. Joel warf Raymond lediglich einen fragenden Blick zu, als er dessen Furcht bemerkte – und gab in der nächsten Sekunde einen Schrei von sich, der eher von Überraschung als Schmerz zeugte. Alona hatte immerhin nicht mit sonderlich viel Wucht zugeschlagen. Dennoch hielt er sich den Hinterkopf und wandte sich ihr mit empörten Blick zu. „Was sollte das denn?“ „Das war die Rache für unsere erste Begegnung, Chandler“, antwortete sie, holte noch einmal mit dem Buch aus und schlug ihm damit noch einmal auf den Kopf. „Und das ist für deine Unterrichtsmethode. Und das“ – sie schlug noch einmal zu – „dafür, dass du mir nichts davon gesagt hast!“ Nach diesen drei Treffern erhob Joel sich, damit er sie überragte und sie ihn nicht erneut schlagen konnte. „Woher weißt du davon?“ „Du versuchst nicht einmal, es abzustreiten?!“, fragte sie wütend. „Ist doch egal, woher ich es weiß! Warum tust du das? Willst du unbedingt sterben?“ Er stemmte die Arme in die Hüften. „Ich bin erwachsen, ich kann tun, was ich will. Und ich werde schon nicht sterben. Unkraut vergeht nicht.“ „Das ist der schlechte Zeitpunkt für Witze, Chandler!“ Raymond musste zugeben, dass Alona ihm in diesem Zustand Furcht einflößte. Sie war oft zornig, auch auf ihn, manchmal sogar aus den nichtigsten Gründen. Aber in diesem Moment war sie richtiggehend wütend, er konnte es an ihrem Blick sehen, hörte es an ihrer Stimme und bemerkte es an der Tatsache, dass sie Joel wie früher nur mit seinem Nachnamen ansprach – und nicht zuletzt konnte er selbst durch das unterdrückende Glas seiner Brille sehen, dass ihre dunkelrote Aura geradezu am Kochen war und Joel am Liebsten auf der Stelle verschlungen hätte. Deswegen konnte Raymond nicht anders als tiefsten Respekt für seinen Freund zu empfinden, der nicht einmal einen Zentimeter zurückwich oder mit der Wimper zuckte. „Es gibt keinen Grund, dich aufzuregen. Die Illusionen tun den Schülern nichts, ich lebe immer noch und Raymond sorgt auch dafür, dass ich nicht sterbe, das hat er mir versprochen.“ Die Erwähnung ihres Mannes schien sie nicht sonderlich positiv aufzunehmen, sie stieß einen genervten Laut aus. „Willst du, dass er sich den Rest seines Lebens grämt, wenn du tot bist, weil er es eben nicht verhindern konnte? Denkst du eigentlich immer nur an dich!?“ „Ich denke nicht nur an mich! Ray braucht meine Hilfe und deswegen mache ich das auch.“ „Ach, du denkst, du kennst ihn besser als ich?“ „Ich kenne ihn jedenfalls um einiges länger als du!“ Schlagartig wandten beide ihm ihren Blick zu. Raymond zuckte unwillkürlich zusammen und erwiderte die Blicke fragend. „W-was?“ „Was sagst du dazu?“, fragten beide überraschend synchron. Es fiel ihm schwer, sich für eine Seite zu entscheiden. Tatsächlich war ihm bewusst, dass es möglicherweise nichts gab, was er für Joel tun könnte, falls die Kräfte außer Kontrolle gerieten, aber andererseits brauchte er dessen Hilfe, so sehr es ihm auch widerstrebte. Da er das aber nicht sagen konnte, immerhin musste einer von ihnen autoritär erscheinen und als ob er wüsste, was er tat, lächelte er leicht. „Ich mag es, wenn ihr euch um mich streitet.“ Im ersten Augenblick sahen beide ihn verdutzt an, doch schon im nächsten Moment begannen beide zu lachen und gleichzeitig fiel die Spannung von ihnen ab. Mit einer solchen Reaktion hatte er zwar nicht gerechnet, aber solange es half, war Raymond froh. „Das ist unmöglich von dir“, wies Alona ihren Mann zurecht, obwohl sie ebenfalls erleichtert über diesen Umschwung war. „Ray, wie er leibt und lebt“, bemerkte Joel. „Ich wette, du weißt nicht einmal, was wir beide jetzt so lustig daran fanden, oder?“ „Nicht wirklich“, gab Raymond zu, aber er konnte sich bereits denken, dass er unwissentlich etwas Zweideutiges gesagt hatte. „Aber immerhin habt ihr euch wieder beruhigt.“ Joel und Alona sahen sich für den Bruchteil einer Sekunde erneut an und wandten sich dann demonstrativ wieder voneinander ab. „Ich denke, wir sollten uns noch einmal in aller Ruhe unterhalten“, fuhr Raymond fort, worauf sich Joels Gesicht sofort erhellte. „Ja, genau!“, pflichtete er bei. „Jedes düstere Thema wird erträglicher, wenn man kurz zuvor etwas Gutes gegessen hat.“ Raymond musste schmunzeln, als er das hörte und bemerkte, wie Alona ein wenig verlegen den Blick senkte; immerhin war dies eine Weisheit, die seine Frau offenbar unmerklich von seinem besten Freund übernommen hatte und da beide sich nicht sonderlich gut verstanden, gefiel ihr das mit Sicherheit gar nicht. Beide Männer sahen Alona auffordernd an, worauf sie seufzend nachgab. „Fein, du kannst zum Abendessen zu uns kommen. Aber rechne mit keinem Festmahl.“ „Keine Sorge, ich weiß, dass dein Essen nur schmeckt, weil du Illusionsmagie benutzt, um das allen vorzugaukeln.“ Empört sah sie erst wieder ihn an, ehe sie Raymond einen wütenden Blick zuwarf. Doch zu seinem Glück legte sie das Buch wieder auf den Tisch und wandte sich ab. „Ich bin auf dem Weg nach Hause, um das Abendessen vorzubereiten.“ Ohne sich zu verabschieden verließ sie mit zornigen Schritten den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. „Musste das jetzt sein?“, fragte Raymond seufzend. „Ich wollte nicht, dass sie nur auf mich wütend ist.“ Joel warf ihm einen grinsenden Blick zu, aber sein Freund schien davon nicht versöhnt zu werden. „Du wohnst aber nicht mit ihr zusammen, du bist nicht ständig in ihrer Reichweite.“ „Habt ihr ein Gästezimmer?“ „Äh, sicher?“ Raymond verstand nicht, worauf Joel hinauswollte. „Dann musst du immerhin nicht auf dem Sofa schlafen.“ Wieder herrschte einen kurzen Moment Schweigen, in dem sie sich beide nur ansahen, dann seufzte Raymond. „Manchmal hasse ich dich.“ Joel grinste auf diese Worte allerdings. „Klar doch. Dann komm, lass uns einpacken und gehen, bevor wir zu spät kommen und deine Frau uns noch verhext.“ „Tu mir wenigstens einen Gefallen: Lass deine Sprüche diesbezüglich heute Abend bitte stecken. Sonst wirst du einen sehr frühen Tod sterben – und das nicht durch diese Kräfte.“ „Verstanden, Chef.“ Joel salutierte lachend und machte sich daran, seine Sachen einzupacken, während Raymond sich betreten Gedanken darüber machte, ob er selbst diesen Abend überleben würde. Kapitel 26: In der Nacht ------------------------ Joel kam nicht oft zu Besuch bei den Lionhearts, was nicht nur daran lag, dass er sich nicht mit Alona verstand, sondern auch die beiden Töchter eher argwöhnisch betrachtete, was von den beiden erwidert wurde – auch wenn das bei Leens gleichgültigem Gesicht eher eine Ermessensfrage war. Normalerweise störten ihn keine Schüler, egal wie seltsam sie waren, immerhin hatte er mit diesen nichts weiter zu tun, aber gerade die Kinder seines besten Freundes fielen ebenfalls in diese Sparte. Während des Abendessens war die Stimmung eher angespannt, aber immerhin schwieg jeder, besonders Alona. Erst im Anschluss, als die beiden Mädchen auf ihren Zimmern waren, begannen die Erwachsenen mit einer Diskussion, die bald in eine lautstarke Auseinandersetzung mündete, die sich stets im Kreis bewegte und auch nicht enden wollte, als Joel sich schließlich verärgert verabschiedet und die Haustür hinter sich zugeworfen hatte. Heather, die in ihrem Bett lag, an die Decke starrte und dem Gespräch lauschte, verlor bald die Übersicht darüber, was ihre Eltern besprachen, da sich der Streit nach Joels Fortgang rasch verselbstständigte und sie sich gegenseitig Dinge an den Kopf warfen, die nichts mehr mit dem Ursprungskonflikt zu tun hatten. Es war selten, dass sie sich stritten, umso heftiger wurden ihre Auseinandersetzungen dann aber auch. In solchen Nächten war es Heather unmöglich, zu schlafen. Sie fürchtete keineswegs um die Ehe der beiden, sie glaubte nicht, dass sie sich trennen würden, schon allein wegen dem Bild, dass das nach außen vermitteln und deswegen beide von diesem Schritt abhalten würde – aber es belastete sie dennoch. Die Spannung, die danach immer tagelang in der Luft lag, das Schweigen zwischen ihren Eltern und die betont unterkühlten Blicke, mit denen sie dann herumliefen, nur um sich demonstrativ aus dem Weg zu gehen... Aber Heather ließ sich das nicht anmerken, es würde einfach nicht zu ihr passen, emotional zu werden, selbst gegenüber ihren Eltern. Ob es Leen irgendwie kümmerte, wusste sie nicht. Ihre Zwillingsschwester war selbst für sie manchmal ein Buch mit unzähligen Siegeln. Im Moment schlief sie zum Beispiel vollkommen ungestört im Nebenzimmer, trotz des andauernden Streits in der Etage unter ihnen, so viel konnte Heather sagen, wenn sie sich genug konzentrierte. Oft war es ihr möglich Gedanken und Gefühle ihrer Schwester aufzufangen – es sei denn, es ging um Alexander. Der Junge und die Zeit, die sie gemeinsam teilten, schien etwas zu sein, was Leen lieber als ihr Geheimnis für sich behalten wollte, weswegen sie sämtliche Gedanken und Gefühle ihn betreffend in einer entlegenen Ecke ihres Selbsts versteckt hielt und nicht einmal ihrer Zwillingsschwester Zugriff darauf erlaubte. Es machte Heather ein wenig neidisch, wenn sie ehrlich war. Sowohl auf Alexander, der ihr die Schwester wegnahm als auch auf Leen selbst, die dieses Gefühl immerhin ebenfalls spürte. Dass es sich um Liebe handelte, wenngleich die ganz eigene Form der beiden, war ihr immerhin klar, auch wenn sie diese selbst nur aus Filmen kannte. Heather war es bislang nicht vergönnt gewesen und das senkte ihre Stimmung noch ein wenig mehr – bis wieder auf das Streitgespräch aufmerksam wurde, als plötzlich Anthonys Name fiel, da er von Alona als derjenige genannt wurde, der ihr überhaupt verraten hatte, dass Joel Monster für den Unterricht beschwor und sie kurz darauf auch alle anderen Probleme der letzten Zeit auf diesen Jungen schob. Heather dachte sich zwar, dass ihre Mutter es nicht so meinte und sie im Überschwang der negativen Gefühle lediglich einen Sündenbock brauchte – normalerweise musste Joel dafür herhalten – aber dennoch ließ sie das im Moment nicht los und machte es ihr erst recht unmöglich, zu schlafen. Er hatte ihre Warnung ignoriert und war nun mit Marc und Rena befreundet, schien ansonsten aber nicht weiter gefährlich bislang. Mit Sicherheit hatte er weder Joels Fähigkeiten absichtlich erwähnt, noch sonst in irgendeiner Art und Weise mit Fleiß für Ärger gesorgt. Und genau diese Aussage von Raymond sorgte schließlich dafür, dass der Streit endete, so wie er es stets tat: Alona rauschte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, wo sie die Tür zuwarf, während Raymond allein im Wohnzimmer zurückblieb, sich auf das Sofa setzte und leise seufzend ins Leere starrte – zumindest hatte er Letzteres oft genug bereits getan. Was ihm dabei durch den Kopf ging, wusste Heather nicht, aber sie wollte es sich auch gar nicht vorstellen, außerdem genügten ihr ihre eigenen Gedanken, die sich nicht beruhigen wollten und sich unablässig darum drehten, dass ihre Eltern sich möglicherweise hassten und nur noch wegen des äußeren Scheins verheiratet waren. In solchen Momenten blendete sie sogar alles aus, was glasklar dagegen sprach. Schließlich stand sie auf und zog sich wieder an. Sie war viel zu unruhig, um zu schlafen und nur im Zimmer auf und ab zu gehen würde ihrem Körper nicht genügen, sie musste nach draußen und frische Luft schnappen, ungeachtet der Mimikry, die dort herumstreunten. Im Notfall würde sie sich ohnehin verteidigen oder zumindest schnell genug fliehen können, da machte sie sich keine Sorgen. Da Raymond immer noch im Wohnzimmer saß, blieb ihr nichts anderes übrig als aus dem Fenster zu klettern. Dank des Baumes, der direkt hinter ihrem Fenster stand und seine Äste bei starkem Wind stets gegen ihre Scheibe klopfen ließ als wolle er hereinkommen, um dem Wetter zu entfliehen, war das auch kein größeres Problem. Als Kind hatte sie in windigen Nächten oft Angst bekommen und sich von der furchtlosen Leen beruhigen lassen müssen, aber seit sie älter war, schätzte sie sich glücklich, dass sie nie gebeten hatte, den Baum fällen zu lassen, immerhin war er nun äußerst praktisch für sie. Sie lief um das Haus herum, trotz des Risikos, dass Raymond sie entdeckte, wenn er zum falschen Zeitpunkt aus dem richtigen Fenster sehen würde. Mit ziemlicher Sicherheit wäre er dann herausgekommen, um sie anzuweisen, wieder ins Bett zu gehen. Aber ein kurzer Blick durch eines der Fenster verriet ihr, dass er bewegungslos auf dem Sofa saß und auf den Boden starrte. Sie verspürte den Impuls, wieder hineinzugehen, um ihn zu trösten, wandte sich dann aber doch ab und lief ziellos durch die verlassen wirkende Stadt. Wie jede Nacht waren die Straßen wie ausgestorben und das sogar ohne Ausgangssperre. Die besonderen Menschen bevorzugten es, sich in ihren Häusern – oder sonstigen Etablissements – aufzuhalten, wo sie auf jeden Fall sicher waren und die nicht so besonderen schienen auch ohne Warnung zu spüren, dass es besser war, sich nicht draußen aufzuhalten. Aber auch die Mimikry waren nicht zu sehen, obwohl eine gewisse Spannung in der Luft lag, als ob sie geladen wäre und nur noch ein Funken fehlte, um sie endlich explodieren zu lassen. Aber vielleicht haben sie genau davor Angst... Mächtige Menschen waren in der Stadt, Leen hatte es ebenfalls bereits bemerkt und daraufhin genervt mit der Zunge geschnalzt. Sie sah diesem unvermeidlichen Treffen wohl nicht sonderlich positiv entgegen, äußerte sich aber nicht einmal gedanklich dazu. Oder sie planen etwas. Eigentlich war es nicht die Art von Mimikry, zu denken und zu planen, sie agierten lediglich auf Instinkt – zumindest bislang. Vielleicht gab es nun eine übergeordnete Intelligenz, die sich ihrer angenommen hatte und ihre Schritte zur größeren Effektivität lenkte. Aber eigentlich war das eher ein Thema für ihren Vater, der ewig über solche Dinge theoretisieren konnte – etwas, was Alona ihm auch an diesem Abend wieder vorgeworfen hatte – und nicht für sie. Sie blieb stehen, als sie an den Wohnkomplexen der Schüler angekommen war und ließ den Blick schweifen als wollte sie in ihrer Rolle als Direktorentochter prüfen, ob auch alles in Ordnung war. Hinter den meisten Fenstern herrschte bereits tiefste Dunkelheit, lediglich vereinzelt waren noch Lichter zu sehen oder das Flimmern eines Fernsehers, der vermutlich nur zum Einschlafen gebraucht worden war. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie wütend ihr Vater werden würde, sobald er wieder die Stromrechnung mancher Wohnungen sah. Bei einem bestimmten Fenster blieb ihr Blick automatisch hängen. Dass dort noch Licht brannte, irritierte sie ein wenig, es war fast so als ob jemand wollte, dass sie in dieser Nacht noch mit dieser Person sprach – und wenn es nur dazu war, dass sie ihm tadelnd vorhielt, dass er noch nicht im Bett war. Wieder musste sie daran denken, dass ihre Mutter ihm die Schuld für alles gegeben hatte. Für den heutigen Streit, die Häufung der Mimikry, der Spannung in der Luft – und Raymonds ständigem Blick in die Ferne, seine Entfernung von ihr, sein andauerndes Planen. An allem wäre nur Anthony Schuld, so sagte sie, wenn auch nur im Zorn. Es kostete Heather nach diesem Gedanken nur einen Moment, dann ging sie entschlossen auf den Eingang des Gebäudes zu, um bei ihm zu klingeln. Sie erwachte aus dem Halbschlaf, als ihr plötzlich der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee entgegenschlug. Erst blinzelte sie verwirrt auf die Tasse, die plötzlich vor ihr stand, dann hob sie den Kopf und entdeckte einen sanft lächelnden Russel, der ebenfalls noch eine Tasse in seiner Hand hielt, was ihr verriet, dass sie ihr Getränk ihm zu verdanken hatte. Sie schenkte ihm einen koketten Augenaufschlag. „Danke, Russ, du denkst wirklich an alles.“ „Für dich immer.“ Seine Stimme klang anders als sonst, wenn er so etwas sagte, weniger arrogant und schleimerisch, eher ernsthaft und aufrichtig. Verbunden mit seinem aktuellen Lächeln erschien es Seline gar nicht so mehr so abwegig, dass sie sich damals in ihn verliebt hatte, auch wenn in diesem Augenblick der heldenhafte Schein um ihn herum fehlte. Aber sie dachte lieber nicht darüber nach, ob dieser Zustand der Verliebtheit immer noch anhielt, ehe sie sich in emotional verwirrenden Gedanken verstrickte, die sie im Moment nicht gebrauchen konnte. „Was macht deine Prinzessin?“ „Hör endlich auf, das zu sagen. Ich hab dir jetzt schon x-mal erklärt, dass wir nicht mehr zusammen sind. Ich bin also wieder frei für dich.“ Er zwinkerte ihr zu, aber sie winkte nur ab. „Was auch immer.“ Am Liebsten wäre sie auf diese Flirtereien eingegangen, aber sie wusste auch genau, wo das enden würde und im Moment war dafür einfach keine Zeit. Sie blickte wieder auf den Bildschirm, wo nach wie vor keine Änderung eingetreten war. Anthony saß noch immer auf seinem Sofa und betrachtete irgendetwas auf dem Monitor seines Computers. Da dieser aber so stand, dass die Kamera ihn nicht erfasste, konnte sie nicht sehen, was er da tat. Aber aufgrund seines konzentrierten Blicks, der sich mit Verwirrung und sogar ehrlichem Erstaunen abwechselte, recherchierte er wohl irgendetwas sehr Wichtiges, aber nicht sonderlich Emotionales. Sie sah wieder zu Russel, der seine Aufmerksamkeit ebenfalls dem Bildschirm zugewandt hatte. Er blickte selten so ernst und nachdenklich wie in diesem Moment, aber die Erinnerung an Kai schien ihm zuzusetzen. Seline wusste nicht, was er dachte oder fühlte, immerhin vermied sie dieses Thema lieber, um nicht irgendwelche Wunden aufzureißen, aber wenn es ihm so sehr zusetzte, konnte es nichts Gutes sein. Normalerweise war er ein eher gedankenloser, aber dafür fröhlicher Mann – zumindest seit ihrer gemeinsamen Reise miteinander. Bei ihrer ersten Begegnung und dem Beginn der Reise war er genauso gewesen wie in diesem Moment. Ernst, deprimiert, unnahbar. Es passte einfach nicht zu ihm. „Macht er das schon den ganzen Abend?“, fragte er plötzlich. „Seit er wieder zu Hause ist“, bestätigte Seline seufzend. „Ich wünschte, wir könnten sehen, was er da recherchiert. Vorhin hat er sehr erschrocken geschaut und einen hochroten Kopf bekommen.“ Natürlich hatte sie sich da bereits ihre eigenen Gedanken darum gemacht, aber sie konnte sich nicht denken, warum Anthony so etwas recherchieren würde. Bislang war er ihr aufgrund der Aufnahmen eher naiv und weltfremd vorgekommen. Aber Russel schien denselben Gedanken zu hegen. Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Vielleicht tut er ja, was jeder gesunde Kerl in seinem Alter tut und sieht sich was Gutes im Internet an.“ „Tja, wer weiß?“ Seline schmunzelte ein wenig – und sah dann wieder auf den Bildschirm, als sich dort endlich etwas zu regen schien. Anthony stand von dem Sofa auf und verschwand aus dem Erfassungsfeld der Kamera. „Vielleicht muss er nur ins Bad“, sagte Russel, immer noch mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Seline lachte darüber amüsiert. „Was du immer denkst, mein Lieber.“ Doch schon wenige Sekunden später kam Anthony wieder ins Wohnzimmer zurück – allerdings nicht allein. Die beiden Beobachter schmunzelten vergnügt. „Sieht aus als könnte es jetzt interessant werden“, sagte Russel, aber Seline schüttelte nur mit dem Kopf. „Ich glaube nicht – das ist die Tochter von Raymond Lionheart.“ Anthony konnte Heather nur verdutzt anstarren, während sie sich sich in der Wohnung umsah. Es war ihm ein wenig mulmig, dass sie einfach mitten in der Nacht auftauchte – besonders nachdem er all diese Dinge recherchiert hatte, statt zu schlafen und deswegen fürchtete, dass sie gekommen war, um ihn dafür zu tadeln, wie auch immer sie hatte herausfinden können, dass er das tat. Aber stattdessen schien es ihm als gäbe es etwas, was sie bedrückte und sie wäre deswegen hier. „Uhm... ist alles in Ordnung?“, fragte er schließlich, als ihr Schweigen ihm langsam unheimlich wurde. Sie ignorierte seine Frage und sah ihn nicht einmal an. „Du wohnst schon eine Weile hier... aber du hast noch unausgepackte Kartons.“ Sein Blick folgte dem ihren. An der entferntesten Wand des Wohnzimmers waren drei Kartons aufeinandergestapelt, die bereits Staub ansetzten. An seinem zweiten Tag hatte er dort hineingesehen, aber nichts gefunden, was es wert gewesen wäre, es auszupacken. Alte Schulbücher, Hefter, Stifte... Alles in allem nichts Interessantes. Seine Kleidung hatte er bereits in seinen Schrank geräumt und die Schneekugel – von der er keine Ahnung hatte, wann, warum und von wem er sie bekommen hatte – thronte in seinem Regal, dem Heather sich gleich darauf zuwandte, ohne darauf zu warten, dass er etwas erwiderte. Er trat neben sie, damit sie nicht vergaß, dass er auch noch da war und beobachtete sie aufmerksam, während sie die Schneekugel betrachtete. Im Inneren des runden Kristalls – oder Glas, da war Anthony sich nicht sicher –, der auf einem hölzernen und reich verzierten Podest befestigt war, befand sich eine ebenso kunstvoll verarbeitete Figur eines Drachen. Wenn man die Kugel schüttelte, stoben die darin befindlichen glitzernden Flocken hoch und ließen die Figur in einem leuchtenden Sturm verschwinden. Heathers Augen glühten für einen Moment regelrecht, als sie das beobachtete, während sie die Schneekugel ungefragt sacht schüttelte. „Ich wusste gar nicht, dass du so etwas Wertvolles besitzt.“ „Das ist wohl das einzig Wertvolle, was ich besitze“, erwiderte er, ohne dabei an die von Marc geschenkte Kette zu denken, die im Moment um seinen Hals hing. Vorsichtig, fast schon ehrfürchtig, stellte sie die Schneekugel wieder zurück und achtete sogar penibel darauf, dass sie ganz genauso dastand wie zuvor. Dann wandte sie sich ihm zu. „Was für eine Schande. Man sollte viele Dinge besitzen, die allein durch die Erinnerung, die an ihnen hängen, wertvoll sind.“ „Hast du denn viele?“ Sie antwortete nicht darauf, aber das war für ihn eine deutliche Aussage: Sie hatte das nur einmal gelesen, war sich darüber nicht wirklich sicher, aber davon so fasziniert, dass sie den Standpunkt ebenfalls vertrat. Vielleicht war sie nicht ganz so erfahren wie er immer gedacht hatte. Ohne ihn zu beachten setzte sie sich ungefragt auf das Sofa und warf einen Blick auf den Bildschirm seines Computers. Leicht irritiert hob sie die Augenbrauen. „Warum suchst du nach dem Wort Liebe im Internet?“ Mit heiß gewordenem Gesicht klappte er hastig den Computer zu, so dass sie nicht mehr auf den Bildschirm sehen konnte, aber selbstverständlich vergaß sie dadurch nicht einfach, was sie bereits gesehen hatte und blickte ihn fragend an. Unwillkürlich verschränkte er die Arme vor der Brust, genau wie Marc es immer tat und wandte das Gesicht ein wenig ab. „Uhm... na ja... Ich habe heute Marc und Rena beobachtet... und wollte wissen, wie man sich verliebt.“ Wenn er es so sagte, klang es selbst in seinen Ohren seltsam und falsch. Aber Heather lächelte daraufhin dennoch. „Ich glaube kaum, dass man das recherchieren kann.“ „Ja, so erscheint es mir auch...“ „Aber ich wette, du hattest einige sehr... interessante Ergebnisse.“ Sie lachte, während er noch einmal rot wurde. „J-ja, das könnte man so sagen.“ Im Moment wäre er am Liebsten im Boden versunken. Auch ohne sonderlich viel Ahnung zu haben, wusste er, dass dieses Thema nichts war, was man allzu offen besprach. Zumindest nicht mit Leuten, die einem nicht sonderlich nahestanden – und dazu gehörte Heather wohl kaum. Glücklicherweise bestand sie nicht darauf, dass er ihr noch irgendetwas erklärte, sondern dass er sich neben sie setzte. Obwohl es seine Wohnung war, hörte er direkt auf sie und nahm neben ihr Platz. Wenn er sich richtig erinnerte, war es das erste Mal, dass er neben ihr saß, nein, es war eigentlich allgemein das erste Mal, dass er neben einer weiblichen Person saß. Im Waisenhaus hatte es keine Mädchen oder Frauen gegeben und selbst seit er in Lanchest war hatte er unbewusst immer darauf geachtet, nicht neben ihnen zu sitzen. Genau genommen sprach er nicht einmal wirklich mit ihnen, wenn er es vermeiden konnte. Es machte ihn... nervös, wie er auch in diesem Augenblick bemerkte. Seine Handflächen wurden leicht schwitzig, sein Magen rumorte ein wenig, genau wie vor seinem ersten Schultag in Lanchest. Aber all seine Gedanken und Überlegungen verflogen, als er wieder Heather ansah. Irgendwann hatte sie ohne, dass er es bemerkte, den Blick abgewandt. Sie sah auf den geschlossenen Computer hinunter und wirkte wieder so bedrückt wie zuvor. „Was ist denn los? Warum bist du eigentlich mitten in der Nacht hier?“ Er erwartete nicht, dass sie etwas sagen würde, immerhin waren sie genau genommen Fremde, die nur zufällig in dieselbe Klasse gingen. Aber entgegen seiner Erwartungen sprach sie tatsächlich: „Du hast meiner Mutter erzählt, dass Mr. Chandler Monster beschwört...“ Also war es tatsächlich ein Fehler gewesen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er ihre tonlose Stimme hörte. „Das war nur ein Versehen, tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass ich das nicht darf.“ „Mich verwundert mehr, dass du wusstest, dass er sie beschwört. Alle anderen scheinen das immerhin nicht zu wissen oder es ist ihnen egal.“ Als sie das sagte, hob sie tatsächlich wieder den Blick und sah ihn direkt an. „Ich weiß nicht, woher ich es wusste. Es war mir einfach klar – und Mr. Chandler sieht nach dem Unterricht auch nicht sonderlich gesund aus, das sprach auch dafür.“ Sie nickte bedächtig und ging nicht weiter auf dieses Thema ein. „Meine Eltern haben sich gestritten.“ So plötzlich wie sie das sagte und so distanziert und tonlos wie ihre Stimme dabei klang, glaubte Anthony im ersten Moment, sich verhört zu haben oder dass sie nur einen Scherz gemacht hätte. Aber sie blickte ihn weiterhin ernst an, bis er sich remütig entschuldigte, da er das Gefühl hatte, Schuld daran zu sein. Sie schüttelte allerdings sofort mit dem Kopf. „Es ist okay. Es war nicht das erste Mal und... J-jetzt schau nicht so entsetzt!“ Plötzlich wirkte sie erschrocken, als sie bemerkte, dass er das Gesicht verzog. „Sie werden sich schon wieder versöhnen, das tun sie immer.“ „Streiten sie sich denn oft?“ „Nein, aber dafür ist es dann immer besonders schlimm, weil sie sich dann alles vorwerfen, was sie sonst als nicht so schlimm empfinden. Aber ich denke, das ist normal so... ich streite mich selten.“ Anthony hatte sich bislang auch noch nie mit jemandem gestritten, deswegen konnte er dazu nichts sagen, aber sie schien das auch nicht zu erwarten. Möglicherweise genügte es ihr, sich das von der Seele zu sprechen, denn ohne eine Erwiderung von ihm, begann sie plötzlich, ihm zu erzählen, wie sehr sie die Nach-dem-Streit-Atmosphäre ihrer Eltern belastete und was sie an der Beziehung zwischen Leen und Alexander störte. Er wusste nicht, was sie bewog, ihm das alles zu erzählen, er glaubte, dass sie das nicht einmal selbst wusste. Deswegen unterbrach er sie kein einziges Mal, aus Furcht, dass sie dann bemerken würde, dass es keinen Grund gab, ihm das alles zu sagen, sondern lauschte ihr eingehend. In den letzten Tagen hatten ihm bereits Marc und Alona mehr über sich selbst erzählt, da erschien es ihm gar nicht mehr so verkehrt, dass auch Heather das tat. Vielleicht war er einfach gut darin, Leuten zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, dass er sie verstand oder zumindest nicht verurteilte. Aber bei Heather erschien es ihm gleich wie auf einer ganz anderen Ebene. Selbst die kurze Zeit, die er sie nun kannte, hatte ausgereicht, um ihn wissen zu lassen, dass sie weder emotional, noch darin geübt war, über ihre Gefühle zu sprechen. Zumindest in diesem Moment aber schienen die Worte wie von selbst zu kommen und er entdeckte eine gänzlich andere, eine verletzliche, Seite an ihr, die seine Nervosität langsam fortspülte – und in ihm den Wunsch weckte, sie zu beschützen. Etwas, was er noch nie zuvor, jedenfalls nicht in dieser Ausprägung, gespürt hatte und was ihn deswegen verunsicherte. Vor allem kannte er sie doch kaum, aber sie brauchte seinen Schutz mit Sicherheit nicht, so wie er sie kennengelernt hatte. Aber während ihrer Erzählung betrachtete er ihr Gesicht, das anders als sonst überraschend weich war, ihre Augen glitzerten leicht als würde sie jeden Moment zu weinen beginnen, die Tränen aber erfolgreich zurückhalten. Sie war derart arglos, dass es der perfekte Augenblick gewesen wäre, der fremden Stimme in seinem Inneren zu gehorchen und sie umzubringen. Selbst in dieser Nacht war die Stimme da, wiederholte immer wieder Töte sie wie ein Mantra, aber es war so leise und von seinen eigenen Gefühlen und Wünschen verdeckt, dass er sie kaum bemerkte und deswegen erfolgreich ignorieren konnte. Außerdem brauchte er seine ganze Willenskraft, um sich davon abzuhalten, Heathers Haar zu berühren, um festzustellen, ob es so seidig und gepflegt war, wie es immer aussah, nur um seine Hand dann zu ihrem Gesicht gleiten zu lassen, um zu erfahren, ob sie sich ebenfalls so warm anfühlte wie er sich im Moment. Plötzlich stoppte sie in ihrer Erzählung, sie hatte alles gesagt, was sie wollte, sich sogar ein paarmal im Überschwang der Emotionen wiederholt und war nun zu der Überzeugung gekommen, dass es besser war, nichts mehr zu sagen. Dafür wirkte sie plötzlich verlegen, als sie ihn wieder direkt ansah. „Tut mir Leid, wenn ich dich genervt habe.“ „Das hast du nicht“, erwiderte er. Sie musterte ihn skeptisch, suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er log, fand offenbar aber keine, denn sie lachte gleich darauf. „Vielleicht solltest du Gesprächstherapeut werden. Bei dir habe sogar ich das Gefühl, dass man dir alles sagen kann, ohne sich Sorgen machen zu müssen.“ Eine solche Karrieremöglichkeit war ihm bislang nicht in den Sinn gekommen, vielleicht sollte er darüber tatsächlich nachdenken, wenn es einmal Zeit dafür wurde. „Dann hat dir das geholfen?“ Sie nickte lächelnd, ein ehrliches Lächeln, das ihr Gesicht zum Leuchten zu bringen schien – und sein Herz fast im selben Moment zum Rasen brachte. Das eingetretene Schweigen darauf war nicht... unangenehm. Es war gänzlich anders als die Zeiten, wenn Marc und er ins Schweigen verfielen, er konnte nicht sagen, was daran anders war, aber es war schön. Plötzlich schien Heather ein Gedanke zu kommen. „He! Warum erzählst du mir nicht mal etwas über dich? Ich habe dir jetzt immerhin fast meine gesamte Familiengeschichte erklärt.“ Es war das erste Mal, dass jemand etwas über ihn erfahren wollte, keiner der anderen hatte bislang Fragen gestellt und selbst jene von Raymond waren wohl lediglich für sein Theoretisieren gebraucht worden. Es störte ihn nicht, dass er nie nach seiner Vergangenheit gefragt wurde, er wollte eigentlich auch nicht darüber sprechen, zumindest nicht mit Marc oder Rena oder sonst irgendwem – aber bei Heather erschien ihm das plötzlich anders, es musste dasselbe Gefühl gewesen sein, das sie dazu veranlasst hatte, ihm alles zu erzählen. „Es ist nicht sonderlich interessant“, erwiderte er dennoch. Sie lehnte sich allerdings zurück und sah ihn auffordernd an. „Es wird schon dadurch interessant werden, dass du darin mitspielst. Also erzähl mir, woran du dich erinnerst.“ Deutlich entspannter lehnte er sich ebenfalls zurück, mit dem Rücken gegen die Lehne, so dass sie sich beide wieder direkt ansehen konnten. „Wenn du darauf bestehst...“ Und so erzählte er ihr von seinen Jahren im Waisenhaus und den wenigen Momenten, an die er sich erinnerte. Seine nach vorne so freundlichen Erzieher, der anstrengende Unterricht bei seinen Lehrern, das nächtliche Wolfsheulen – und auf der positiven Seite der klare Sternenhimmel mit seinen Myriaden von glühenden Leuchtkörpern; dem hell leuchtenden Mond, der einem so nahe zu sein schien, dass man glaubte, ihn berühren zu können, wenn man die Hand danach ausstreckte; das endlos erscheinende blaue Firmament, das in einem den Wunsch weckte, herauszufinden, was sich jenseits davon befand und auch die ein oder andere Erinnerung an seine Träume. Heather lauschte ihm genauso aufmerksam wie er ihr zuvor, er fragte sich, ob er gerade ebenfalls verletzlich wirkte, fuhr aber dennoch immer weiter fort, bis sie beide irgendwann von der Müdigkeit übermannt wurden und schließlich nebeneinander einschliefen. Kapitel 27: Wie ein Gerücht entsteht ------------------------------------ Wasser. Das Geräusch davon war alles, was er in dem Moment identifizieren konnte, als er aufwachte, sich aber noch im Dämmerschlaf befand. Es klang ein wenig dumpf fast so als käme es aus einem anderen Raum. Aber das war doch unmöglich, oder? Er müsste eigentlich allein sein. Ein regelmäßiges und so früh am Morgen fast schon nervenzerfetzendes Klingeln war es, was ihn aber erst geweckt hatte. Mit nur leicht geöffneten Augen griff er nach dem auf dem Tisch liegenden Handy. Etwas daran war anders als sonst, aber in seinem Dämmerzustand konnte er nicht genau sagen, was, deswegen konnte er auch nicht lesen, was auf dem Display stand. Er nahm den Anruf an und begrüßte seinen ihm bislang nicht bekannten Gesprächspartner mit einem müden „Hm?“. Die panische Stimme, die ihm antwortete, hätte ihn beinahe von seinem Sofa – ihm war entfallen, warum er überhaupt auf diesem schlief – fallen lassen: „Heather!? Ist alles in Ordnung!? Wo bist du!?“ Heather? Ehe er antwortete, hielt er das Handy ein wenig von seinem Ohr weg, um es näher zu betrachten. Es war zwar genau dasselbe Modell wie seines und war genau wie dieses auch rot, aber an jenem, das er im Moment in der Hand hielt, war ein ihm unbekannter Anhänger befestigt. Unwillkürlich erinnerte er sich wieder an die letzte Nacht. Heather war plötzlich vor seiner Tür gestanden, sie hatten sich unterhalten, bis sie beide eingeschlafen waren – und dann musste sie auch diejenige sein, die gerade im Badezimmer duschte. Bei diesem Gedanken ertappte er sich dabei, wie er sich vorstellte, wie das wohl aussah, rief sich aber sofort selbst wieder in die Wirklichkeit zurück. Irgh, das ist alles die Schuld dieser Videos. „Heather!“ Raymond – Anthony hatte ihn trotz der ungewohnten Panik in der Stimme natürlich längst identifiziert – wiederholte ihren Namen erneut, worauf Anthony das Handy wieder näher an sein Ohr hielt. „Tut mir Leid, sie ist gerade nicht da.“ Er konnte regelrecht vor sich sehen, wie Raymond verdutzt schweigend ins Leere sah, während er darüber nachdachte, was das bedeuten sollte. Doch der Direktor fasste sich gewohnt schnell wieder, räusperte sich und fragte dann misstrauisch: „Was macht das Handy meiner Tochter bei dir?“ „Sie hat hier geschlafen und-“ „Sie hat bei dir geschlafen?“ Raymonds Stimme war überraschend kalt und jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken, er war nur froh, dass er ihm im Moment nicht gegenüberstand. Anthony war sich sicher, dass er etwas Falsches gesagt hatte oder er falsch verstanden worden war, weswegen er hastig noch etwas hinzufügte: „D-das ist nicht so wie Sie denken! Wir haben uns nur miteinander unterhalten.“ Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Anthony hoffte, dass Raymond ihm glauben würde, er konnte es sich immerhin nicht leisten, sich beim Direktor unbeliebt zu machen – nicht zuletzt, weil dieser ihm noch ein paar Antworten schuldete. Die Stille dauerte an, so dass Anthony bereits vor sich sah, wie er im hohen Bogen von der Schule fliegen würde – wenn er nicht vorher bei einer besonders schweren Mission, die ihm von dem Direktor zugeschustert werden würde, von einem Monster gefressen wurde. Doch noch während er sich fragte, ob riesige Ungetüme einem erst den Kopf abbissen oder einen leiden ließen, erklang Raymonds Stimme wieder, dieses Mal hörte es sich an als ob er sich wirklich beruhigt hätte. „Geht es ihr gut?“ „Ja, keine Sorge.“ Es sei denn, sie wäre in der Dusche gestürzt und würde nun langsam verbluten, während er sich am Telefon mit ihrem Vater unterhielt – aber das konnte er sich nicht vorstellen. Er konnte deutlich hören wie Raymond aufatmete. „Gut. Mhm... ich nehme an, dass sie dann gemeinsam mit dir zur Schule kommen wird, oder?“ „Ich denke schon.“ Auch ohne etwas mit ihr besprochen zu haben, war ihm nach einem Blick auf die Uhr bewusst, dass es sich für sie nicht lohnen würde, erst nach Hause zu gehen. „Sag ihr bitte, sie soll sich dann bei mir im Büro melden, ja?“ „Natürlich. Ah, Mr. Lionheart, ich-“ „Tut mir Leid“, unterbrach Raymond ihn abweisend. „Ich habe im Moment keine Zeit, ich bin ohnehin schon zu spät dran. Melde dich bitte bei meiner Sekretärin, wenn es wichtig ist.“ „Uhm, sicher...“ Er fragte lieber nicht, ob Alona ihm gesagt hatte, dass er ihm noch Antworten schuldete, immerhin fiel ihm wieder ein, dass Heather von einem Streit zwischen ihren Eltern erzählt hatte und er wollte Raymond nur ungern ebenfalls daran erinnern. So wichtig ihm Erklärungen auch waren, er wollte dafür nicht den einzigen verärgern, der ihm diese liefern könnte. Sie verabschiedeten sich knapp voneinander und legten beide auf. Erst wollte er das Handy wieder auf den Tisch legen, aber dann konnte er seine Neugier doch nicht zügeln. Nach einem kurzen Lauschen, ob das Wasser noch lief – was es auch tat – rief er ihr Telefonbuch auf. Weder sein Name noch seine Nummer allein war eingespeichert, was ihn aus ihm unerfindlichen Gründen ein wenig störte. Einem Impuls folgend nahm er sich die Freiheit heraus, seinen Namen und seine Nummer einzuspeichern, dann legte er es wirklich wieder auf den Tisch zurück und stand auf, um in die Küche zu gehen. Er war sich nicht sicher, ob er genug zum Frühstücken für sie beide hatte, er würde unbedingt einmal einkaufen gehen müssen, am besten wäre es, er nahm Marc mit, damit dieser ihm erklären könnte, wie das alles ablief. Er war noch in den Anblick seines fast vollständig leeren Kühlschranks vertieft, als das Geräusch von Wasser stoppte – und nur einen Moment später die Badezimmertür aufging. Zuerst widerstand er der Versuchung, nachzusehen, ob ihr die Zeit zwischen Abdrehen des Wassers und Verlassen des Raumes auch gereicht hatte, um sich wieder anzuziehen – aber dann hörte er bereits, wie sie ihn ansprach: „Guten Morgen, Anthony. Bist du endlich wach?“ Sein Sinn für Höflichkeit war wesentlich ausgeprägter als sein Vorhaben, sie nicht anzusehen, das in diesem Moment bereits vergessen schien, so dass er ihr den Blick zuwandte. „Guten Mor-“ Die Worte blieben ihm schlichtweg im Hals stecken, als er sie ansah. Sie war nicht vollkommen unbekleidet, aber das um ihren Körper geschlungene Handtuch ließ ihm nicht gerade viel Spielraum für seine Fantasie. Ihre Haut war noch nass, aber ihr Haar bis auf die feuchten Spitzen vollkommen trocken – und Anthony bereute in diesem Moment seine Recherchen von letzter Nacht. Früher wäre er niemals auf solche Gedanken gekommen wie in diesem Moment, in dem seine Ohren heiß zu werden begannen und er nur hoffen konnte, dass sie es nicht bemerkte. „Ist etwas?“, fragte sie verwundert. Er gestikulierte ein wenig hilflos. „W-warum hast du nichts an?“ Die offensichtliche Verwirrung auf ihrem Gesicht über seine Frage wandelte sich schon bald in ein amüsiertes Schmunzeln. „Ich habe geduscht – da ist es durchaus praktisch, keine Kleidung zu tragen.“ „U-und was ziehst du jetzt an?“ Nicht, dass es ihn gestört hätte, wenn sie den Rest des Tages so bei ihm herumgelaufen wäre, aber sie mussten immerhin auch in die Schule. „In deinen unausgepackten Kartons sind ein paar Kleidungsstücke, die dir wohl nicht mehr passen. Ich bediene mich daran, ist das okay?“ Er nickte nur hastig, obwohl er sich nicht entsinnen konnte, ob das wirklich so war und sah ihr hinterher, als sie ins Wohnzimmer ging. Zu seinem Erstaunen schaffte sie es, ihren eigenen Duft zu bewahren, obwohl sie sein Duschgel benutzt hatte. Ein geradezu verführerischer Geruch, der ihn dazu zu verleiten versuchte, sie in seine Arme zu ziehen und – So hastig wie er nur konnte, verdrängte er den Gedanken wieder und verfluchte noch einmal seine Recherche des letzten Abends. Warum muss sie auch so vor mir herumlaufen? Selbstverständlich erwartete er keine Antwort auf seine gedankliche Frage – und erschrak deswegen umso mehr, als er doch tatsächlich ein Seufzen in seinem Inneren hörte, gefolgt von Kais dezent genervter Stimmer: „Du bist so naiv, Junge. Das Mädchen vertraut dir, deswegen ist sie neben dir eingeschlafen und läuft jetzt auch so vor dir herum.“ Er sträubte sich gegen diese Erklärung. Immerhin kannten sie sich beide noch nicht sonderlich lange und Heather wirkte nicht wie jemand, der schnell Vertrauen fasste – und nachdem Leen ihm so viel Misstrauen entgegenbrachte, hätte er erwartet, dass ihre Zwillingsschwester sich dem aus Solidarität anschloss. „Es ist ungewöhnlich“, gab Kai zu. „Aber manche Menschen verlassen sich nicht auf die Einschätzung anderer, sondern bilden sich ihre eigene Meinung – oder sie überdenken diese nach dem ersten Eindruck. Du scheinst sie letzte Nacht beeindruckt zu haben.“ Anthony fragte sich, womit er sie wohl derart beeindruckt haben könnte, aber statt sich damit zu beschäftigen, wunderte er sich eher über Kai. Du scheinst heute wacher zu sein als sonst. „Morgens ist es für mich leichter, weil ich mich nachts nicht anstrengen muss.“ Er wollte fragen, was ihn so sehr anstrengte, aber da kam bereits Heather wieder in die Küche zurück, was seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf sie lenkte. Die Jeans, die ihr nur bis an die Fußknöchel reichte und das kurzärmelige Kapuzenshirt – ihre neue Kleidung – hatte er zuletzt vor zwei oder drei Jahren getragen wie er sich erinnerte. Es war äußerst ungewohnt, beides nun an ihr zu sehen, aber es gefiel ihm, das musste er schon sagen. „Wer war denn eigentlich am Telefon?“ Ihre Frage riss ihn aus seinen Gedanken – nicht zuletzt deswegen, weil er sich fragte, ob sie das Handy in der Dusche gehört hatte oder ihr aufgefallen war, dass das Telefon anders auf dem Tisch lag als zuvor – aber zum Glück musste er gar nicht erst lange darüber nachdenken, das wäre sonst noch peinlicher geworden als sein ewiges Starren. „Dein Vater.“ „Oh... klang er besorgt?“ Er nickte nur knapp und richtete ihr aus, dass sie ihn im Direktorat aufsuchen sollte, wenn sie in der Schule ankämen, worauf der Anflug eines schlechten Gewissens auf ihrem Gesicht erschien. „Klar. Aber erst einmal habe ich Hunger.“ Sie lächelte wieder. „Was gibt es zum Frühstück?“ Raymond stürmte geradezu in das Café hinein, wobei er das Geschlossen-Schild am Eingang ignorierte. Er ging um den Tresen herum in den hinteren Bereich, wo er Ryu in einem kleinen Raum vorfand. Der Direktor hatte sich so schnell bewegt, dass er dem Kellner nicht einmal die Gelegenheit gelassen hatte, hinauszurufen, dass noch geschlossen war. „Ah, guten Morgen, Raymond. Was gibt es?“ Er atmete tief durch, in einem Versuch, sich zu beruhigen, aber er war noch immer viel zu aufgewühlt. „Ich muss wissen, was letzte Nacht in Anthonys Wohnung geschehen ist!“ Ryu runzelte die Stirn. „Seline hatte Dienst. Du solltest sie fragen – falls du dich traust, sie zu wecken, sie schläft erst seit ein paar Stunden.“ Normalerweise hätte Raymond bei dieser Aussicht lieber darauf verzichtet, aber es ging immerhin um eine für ihn sehr wichtige Frage, deswegen wandte er sich dankend ab und ging die Treppe hinauf. Als Jugendlicher hatte er viel Zeit in diesem Café verbracht, da Ryu über einige Ecken mit ihm verwandt war und er deswegen immer gern hier gewesen war, wenn er sich einsam gefühlt hatte oder es ihm nicht gut gegangen war, er aber nicht Joels Mutter hatte belasten wollen, die sich sonst liebend gern um ihn gekümmert hatte. Die Tür zu Selines Zimmer war, wie so oft, wenn sie tagsüber schlief, geöffnet, so dass Raymonds Blick direkt auf ihr Bett fiel. Seine Entschlossenheit schwand für einen Moment. Seline war nicht allein, neben ihr lag ein ihm unbekannter grünhaariger Mann, der einen Arm um sie gelegt hatte, während sie sich mit einem Lächeln im Schlaf an ihn schmiegte. Beide waren angezogen, hatten dafür aber auf jegliche Decke verzichtet, vermutlich waren sie todmüde ins Bett gefallen. Normalerweise war die Luft um Seline immer geladen, aufgeregt und in gewisser Weise sogar bedrohlich, weswegen Raymond nicht mehr Zeit als nötig mit ihr verbrachte, obwohl er sie und ihre fröhliche Art eigentlich mochte. Aber in diesem Augenblick war alles so angenehm friedlich und entspannt, dass Raymond sich liebend gern neben das Bett gesetzt hätte, um es zu genießen. Dafür war allerdings keine Zeit. Als er wieder an Heather zurückdachte, klopfte er laut gegen den Türrahmen. „He, Seline, wach auf.“ Er sprach nicht sonderlich laut, aber es wirkte dennoch. Seline gab ein leises Murren von sich, das weniger empört klang als wenn man sie sonst weckte. Sie setzte sich auf, gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. „Was ist denn? Weißt du, wie früh es ist?“ „Was ist letzte Nacht in der Wohnung von Anthony geschehen?“, fragte er, ohne ihrer zweite Frage auch nur einen Gedanken zu widmen. Beim Nachdenken legte sie den Kopf leicht in den Nacken und ließ den Blick an die Decke schweifen. „Erst hat der Kleine irgendwas recherchiert, dann kam Heather vorbei und dann sprachen sie viele, viele Stunden lang, bis sie einschliefen.“ Das beruhigte Raymond zumindest ein wenig. Also war Anthony seiner Tochter nicht zu nahe gekommen und er müsste ihm nicht den Hals umdrehen, wenn auch nur in Gedanken. Es war für ihn ja schon schlimm genug, dass er bei den Treffen von Alexander und Leen nicht Mäuschen spielen konnte. Aber den beiden traute er auch nicht wirklich zu, dass sie etwas taten, was ihn die Stirn runzeln lassen würde. Bei Anthony und Heather war er sich da nicht so sicher. Sie war zwar oberflächlich gesehen weniger emotional als andere Mädchen in ihrem Alter, aber er und Alona waren in ihrem Alter ebenfalls so gewesen – und er durfte ja am besten wissen, was sie damals alles getan hatten. Und Anthony war vielleicht naiv, aber im Endeffekt auch nur ein männlicher Jugendlicher. „Worüber haben sie gesprochen?“, fragte er weiter. Seline wirkte ein wenig verwirrt und stieß dann den noch immer schlafenden Mann neben ihr an. „He, Russ... worüber haben die Kinder gesprochen?“ „Ihre Eltern haben sich gestritten“, brummte er. „Sie war total deprimiert und dann hat er irgendwas von seiner Vergangenheit erzählt. Bla bla bla...“ Er murrte noch etwas Unverständliches, ehe er sich auf die Seite drehte und sich damit wieder aus dem Gespräch ausklinkte. Raymond entfuhr ein leises Stöhnen, als er an den Streit der letzten Nacht zurückdachte. Bislang hatte er sich nie Gedanken darum gemacht, wie seine Töchter darauf reagieren würden. Fortan, so beschloss er, würde er eher versuchen, Kompromisse mit Alona einzugehen und sich öfter einmal auf die Zunge zu beißen, damit sie nicht mehr so sehr streiten müssten – oder er würde ganz anders versuchen, ihre Konflikte zu lösen. Vorerst aber war ihm doch wichtiger, was bereits passiert war. „Also ist nichts geschehen?“ „Es wäre wesentlich aufregender gewesen, wenn irgendetwas vorgefallen wäre, glaub mir.“ Die ihn durchströmende Erleichterung erinnerte ihn wieder daran, dass er ein überaus ungebetener Gast an diesem Morgen war. Hastig entschuldigte er sich, sie geweckt zu haben und wandte sich ab, um nicht nur das Café zu verlassen, sondern auch endlich zur Akademie weiterzugehen, denn inzwischen war er wirklich zu spät dran, während Seline sich einfach wieder hinlegte und innerhalb kürzester Zeit wieder eingeschlafen war. „Hast du denn alles in deinem Spind, dass du keine Tasche brauchst?“ Heather nickte, während er die Tür hinter sich schloss. „Und das, was ich nicht habe, kann ich mir einfach von Leen borgen. Ein Vorteil, wenn man eine Zwillingsschwester hat. Aber ich glaube, bei Freunden kann man sich auch etwas ausleihen...“ Bei diesen Worten wirkte sie ein wenig nachdenklich. Sie hatte nicht sonderlich viele Freunde, darüber war Anthony sich sicher. Ihre Art trug wohl ihren Teil dazu bei, aber wenn man sie genauer kannte, ein wenig, so wie er nun, war sie gar nicht... so übel. Sie liefen gemeinsam den Gang hinunter, schweigend, wieder einmal. Auch das karge Frühstück hatten sie in aller Stille eingenommen, aber zumindest schien Heather es für nicht so schlimm zu befinden, dass es kaum etwas gab. Auf ihrem Gesicht war die ganze Mahlzeit hindurch ein Lächeln gewesen – so dass es für Anthony überraschend schwer gewesen war, selbst zu essen. Dieses Mal hielt das Schweigen aber nicht für lange, denn plötzlich konnte Anthony eine überraschte Stimme hinter sich hören: „Eh? Anthony und Heather?“ Keiner von ihnen musste sich umdrehen, um Ethan zu erkennen, der gleich darauf neben ihnen lief, die blauen Augen vor Überraschung geweitet, während er sie beide musterte. „Heather! Was hast du bei Anthony gemacht?“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Noverre“, erwiderte Heather kühl, ohne ihn weiter zu beachten. Da er bei ihr nicht weiterkam, wechselte Ethan an Anthonys Seite. „He, Mann, was hat sie bei dir gemacht? Sag mir nicht, du bist der Erste, der bei ihr nicht abgeblitzt ist.“ „Ich weiß nicht einmal, was das bedeuten soll“, bemerkte Anthony nur als Antwort. Deutlich genervt über diese Abweisung runzelte Ethan die Stirn und sah nun ebenfalls nach vorne, wich den beiden aber nicht von der Seite als ob er hoffte, dass sie vergaßen, dass er da war und sich verraten würden. Doch sie schwiegen selbst dann noch, als sie die Treppe hinunterliefen und auch von den anderen Schülern neugierig begutachtet wurden, denen Ethan sich dann um einiges lieber anschloss, um mit ihnen darüber zu sprechen. Anthony fühlte sich unter den Blicken der anderen ein wenig unwohl, es war immerhin eine Weile her, seit er zuletzt wegen irgendetwas angestarrt wurde. Dass selbst eine Freundin für einen solchen Effekt sorgen könnte, hätte er allerdings nicht gedacht. Marc und Rena, die bereits vor dem Haus warteten, zeigten sich nicht minder überrascht, als sie Anthony gemeinsam mit Heather aus der Tür traten sahen. Entgegen seiner Erwartung blieb sie sogar stehen, als er es tat, um seine Freunde zu begrüßen. Verdutzt erwiderten sie den Gruß, ehe sie sich Heather zuwandten. „W-was hast du hier gemacht?“, fragte Marc, immer noch perplex. „Geschlafen“, antwortete Heather. Er wollte noch etwas fragen, hatte sogar bereits den Mund dafür geöffnet, doch Rena ergriff hastig seinen Arm. „L-lass gut sein! Gehen wir lieber zur Schule.“ Marc stimmte zu und warf Anthony dann einen Blick zu, den dieser als „Erzähl es mir später“ auffasste – und im selben Moment wunderte er sich darüber, dass er das erkennen konnte. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, begaben sie sich in Richtung der Akademie, auch wenn Marc deutlich anzumerken war, dass er immer noch von der Neugier gequält wurde und auch Rena offenbar zu gern gewusst hätte, was los war. Anthony verstand nicht, was die Neugier sollte. War es normal, dass alle anderen immer alles so ganz genau wissen wollten? In der Eingangshalle verabschiedete Heather sich von ihnen, um das Direktorat aufzusuchen, Marc zog den verwirrten Anthony sofort beiseite. „Okay, ich will Details! Warum war sie bei dir? Was habt ihr gemacht?“ Der Befragte warf einen um Hilfe heischenden Blick zu Rena hinüber, aber sie sah ihn genauso neugierig und abwartend an, also gab er nach. „Wir haben gar nichts gemacht. Sie ist letzte Nacht zu mir gekommen und wir haben uns miteinander unterhalten.“ „Warum ist sie zu dir gegangen?“, hakte Rena nach. Anthony zuckte mit den Schultern. Er hatte Heather nicht gefragt, warum ihr Weg sie ausgerechnet zu ihm geführt hatte, aber genau wie alles andere, was sie getan hatte, wüsste sie wohl keine Antwort darauf. Er gab sich gar nicht erst der Illusion hin, dass sie im festen Vorsatz zu ihm gekommen war, vermutlich war es nur ein Zufall gewesen – ein guter aber, wie er fand. „Ihr habt also wirklich nur geredet?“ Misstrauisch kniff Marc die Augen zusammen. Anthony fand es ziemlich schwer, darunter nicht einzubrechen und seinem Freund zu erzählen, dass sie zufällig gerade gekommen war, nachdem er all diese seltsamen Sachen im Internet gesehen hatte und dass sie am Morgen nur mit einem Handtuch bekleidet durch seine Wohnung gelaufen war. Einerseits wollte er es ihm sagen, aber andererseits schien es ihm als wäre das eine Sache nur zwischen ihm und Heather, was niemand sonst erfahren musste. „Wirklich nur geredet“, bestätigte Anthony daher. Marc seufzte. „Wie enttäuschend. Ich hatte gehofft-“ „Warum sollte er dir überhaupt so etwas erzählen?“, fragte Rena und unterbrach ihn damit. „Ihr seid Freunde, schätze ich mal, aber das ist doch ein wenig privat, oder?“ „Klar, aber...“ Marc seufzte noch einmal und weckte damit Anthonys Mitleid, aber Rena lief bereits weiter und gab ihnen den Rat, sich ebenfalls zu bewegen, wenn sie nicht zu spät kommen wollten. Nach einem letzten ausgetauschten Blick folgten sie ihr schließlich, der eine immer noch enttäuscht über die mageren Infos, der andere verwirrt über das vermehrte Interesse an der letzten Nacht. Dabei hatte er noch nicht einmal bemerkt, dass das Gerücht, dass er und Heather ein Paar wären, bereits die Runde in der Akademie machte. Sie atmete mehrmals tief durch, sah die Tür vor ihr an als hoffte sie, dass diese ein absolut unüberwindbares Hindernis darstellen und ihr somit den Weg zu ihrem Vater verwehren würde. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, was ihr Verschwinden anging, aber das bedeutete nicht, dass sie sich ihm erklären und sich von ihm sagen lassen wollte, was für Sorgen sie ihm bereitet hätte und dass sie das ja nie wieder tun sollte. Ihr blieb aber keine andere Wahl, also klopfte sie und betrat direkt danach das Büro. Raymond hob den Blick von den Unterlagen, an denen er bis dahin gearbeitet hatte und stand sofort auf, als er sie erkannte. Mit schnellen Schritten kam er um den Tisch herum und umarmte seine Tochter im nächsten Augenblick bereits. „Gott sei Dank, du bist wieder da. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ Sie erwiderte die Umarmung nicht, nuschelte aber eine Entschuldigung und wartete darauf, dass er sie fragte, warum sie verschwunden war. Doch zu ihrer Überraschung tat er das nicht. Er löste sich wieder von ihr und lächelte leicht. „Das nächste Mal schickst du mir aber bitte eine kurze Nachricht, wo du bist, ja?“ Heather nickte knapp, wollte ihn fragen, warum er nicht wissen wollte, warum sie verschwunden war oder was sie bei Anthony getan hatte – doch im selben Moment kam ihr der Gedanke, dass er ihr einfach vertraute und das freute sie. Sie wollte nicht fragen, ob das wirklich so war, aus Furcht, dass er es verneinen und ihr eine Erklärung liefern könnte, die sie wütend machen würde. Deswegen lächelte sie sofort darauf. „Aber natürlich, Papa. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.“ An seinem erleichterten Blick stellte sie fest, dass es genau das Richtige war, was sie hätte sagen können, doch gleich darauf wurde er wieder ernst. „Aber es wäre mir lieber, wenn du nicht wieder zu Anthony gehen würdest. Zumindest nicht allein.“ „Warum?“ Ihre Frage brachte ihn in Erklärungsnot, er suchte nach Wörtern – musste das aber nicht lange machen, denn als sein Gesicht von einem leichten Rotschimmer überzogen wurde, wusste Heather genau, was er sagen wollte: „Papa, was denkst du eigentlich? Wir sind nicht einmal Freunde.“ „Und dann schüttest du ihm dein Herz aus?“ Er hatte den Satz noch nicht ganz beendet, da zuckte er bereits ertappt zusammen. „Woher weißt du davon?“, fragte Heather skeptisch. Es war gut möglich, dass Anthony ihm am Telefon davon erzählt hatte, aber Raymonds Reaktion, als er sich verraten hatte, passte nicht dazu. Nein, es musste etwas anderes, ein Geheimnis, sein, das es ihm ermöglicht hatte, davon zu erfahren. Er versuchte, sich herauszuwinden, seine Nervosität wuchs deutlich sichtbar an und es war ihm nicht einmal mehr möglich, ihr in die Augen zu sehen. „Ähm, du solltest langsam in den Unterricht gehen. „Papa?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und gab damit deutlich zu verstehen, dass sie nicht vorhatte, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren, ehe er ihre Frage nicht beantwortete. Das war schon immer sehr effektiv gewesen, weswegen Raymond auch in diesem Augenblick wieder zusammenbrach – nicht zuletzt, weil er wohl auch noch seelisch von dem Streit am Abend zuvor geschwächt war – und erzählte ihr in knappen Worten von einer Kamera in Anthonys Wohnung, um diesen ausgiebig zu beobachten, wenn er allein war. Er erklärte ihr zusätzlich, dass sie auch letzte Nacht belauscht worden war, nur um sicherzugehen, dass ihr nichts geschehen würde. „Du weißt doch, dass er unter Umständen gefährlich sein kann. Und dass er möglicherweise nicht immer allein in der Wohnung ist.“ Was sie aus alldem schloss, gefiel ihr nicht, ganz und gar nicht. Es zerstörte das schöne Gefühl, dass in ihr erwacht war, als sie geglaubt hatte, er würde ihr vertrauen und deswegen auf all die Fragen verzichten. „Dann hast du heute Morgen einfach jemanden gefragt, was wir letzte Nacht getan haben? Du hast mir nicht vertraut, dass ich dir eine ehrliche Antwort geben würde, wenn du mich selbst fragst?“ Er nickte reumütig, sie wusste, dass dieser Gesichtsausdruck, in dem sich sein gesamtes schlechtes Gewissen widerspiegelte nicht log und er im Moment innere Qualen durchlitt – aber das war ihr dennoch nicht genug als Strafe. „Die Beobachtung endet bei Sonnenaufgang?“ „Ja. Ab dem Zeitpunkt ist keine Gefahr mehr gegeben, denken wir.“ Ihre Lippen kräuselten sich zu einem schwachen Lächeln. „Gut, dann hat zumindest das Interessanteste niemand gesehen.“ Die Röte verschwand so schlagartig aus seinem Gesicht und hinterließ eine derart ungesunde Blässe, dass es so aussah als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen, was sie mit absoluter Genugtuung erfüllte. Was seine Töchter anging, war er eben doch ein Übervater, dem es am Liebsten wäre, sie würden bis zur Hochzeit nicht einmal mit dem anderen Geschlecht sprechen. „Was meinst du damit?“, fragte er plötzlich heiser. „Oh, das weißt du genau“, zwitscherte sie vergnügt als Replik, ehe sie sich wieder in Richtung Tür wandte. „Ich muss los, sonst komme ich zu spät zum Unterricht.“ „Was? Nein, Heather, warte!“ Ohne darauf zu hören, lief sie weiter zur Tür und verließ das Büro, um dann den Weg in ihr Klassenzimmer zurückzulegen und das alles mit einem ungewohnt breiten Grinsen auf dem Gesicht, das den ein oder anderen Schüler, der ihr entgegenkam zu irritieren schien. An dieser Aussage würde er noch eine Weile zu knabbern haben und sie fand das ganz gut so. Vielleicht würde er dann lernen, dass es besser war, seiner Familie zu vertrauen. Ungewohnt vergnügt lief sie weiter – und bemerkte dabei nicht, dass dieses Verhalten den bereits entstandenen Gerüchten neue Nahrung verschaffte. Kapitel 28: Hell lodernd wie eine Flamme ---------------------------------------- Drei Tage später war Anthony deutlich irritiert von den Gerüchten, die ihm zu Ohren kamen, immerhin war es das erste Mal, dass er mit solchen in Kontakt kam. Besonders erschrocken zeigte er sich über diese Vielfalt und dass sich im Kern alle um das Gleiche drehten. Mal hieß es, er und Heather wären ein Paar; dann wieder, dass sie beide nur so miteinander geschlafen hätten; wieder andere meinten, sie hätte nur ihren Eltern eines auswischen wollen und deswegen mit ihm geschlafen; einige behaupteten sogar, er wäre nur wegen ihr nach Lanchest gekommen und stammte eigentlich gar nicht aus dem Peligro Waisenhaus. Und plötzlich schien sogar Marc bei seinen Mitschülern äußerst beliebt zu sein, erhoffte man sich von ihm doch irgendwelche Fakten, die eines oder mehrere der Gerüchte unterstützten. Allerdings konnte er auf jede Frage nur mit den Schultern zucken, da er nichts über Anthonys Vergangenheit wusste, was in ihm den Verdacht erweckte, dass sein bislang einziger Freund möglicherweise doch etwas verbarg, nicht zuletzt die Beziehung zu Heather. Und das wiederum sorgte dafür, dass er seinem Freund ebenfalls immer wieder Fragen zu diesem Thema und seiner Vergangenheit stellte – Letzteres möglicherweise aber nur, um sich bei den anderen beliebter zu machen, indem er wirklich mit Fakten dienen könnte, weswegen Anthony sich standhaft weigerte, etwas zu sagen. Aber langsam setzte ihm das alles erheblich zu. Am ersten Tag hatte Anthony noch alles abgestritten und erwidert, dass nichts geschehen war. Am zweiten Tag hatte er jedes Mal, wenn die Sprache wieder darauf gefallen war, leise geseufzt oder den Kopf gegen die nächstgelegene Wand gelegt als wollte er sein Haupt dagegenschlagen. Am dritten Tag war er einfach nur froh, dass Samstag war und er sich in seiner Wohnung einigeln konnte, ohne die Absicht ans Telefon zu gehen, das immer mal wieder klingelte oder die Tür zu öffnen, an der auch immer wieder geklingelt wurde. Zumindest das Handy konnte er umgehen, indem er endlich lernte, wie man es ausschaltete, gerade rechtzeitig, ehe er keinen anderen Weg fand als es gegen die Wand zu werfen. Ist es normal, dass Menschen so viele Gerüchte spinnen? „Ich denke, es macht ihnen Spaß.“ In den letzten Tagen war Kai immer wacher geworden als ob es nichts mehr gab, was ihn anstrengen würde, zumindest nicht sonderlich. Anthony war darum ganz froh, denn so war er immerhin nicht ganz allein, wenn er sich nicht einmal darauf verlassen konnte, dass Marc hinter ihm stand. „Menschen brauchen etwas, um sich etwas von ihrem Alltag abzulenken, sie versuchen, mehr über andere herauszufinden und weil das nicht geht... erfinden sie Dinge, um die Lücken zu füllen.“ Woher weißt du das? Kai schwieg für einen Moment, Anthony glaubte fast, ihn vor sich zu sehen, wie er nachdenklich ins Leere starrte, während er über seine Antwort nachzudenken versuchte. „Keine Ahnung. Ich weiß es einfach. Reicht dir das nicht?“ Ähm... doch, eigentlich schon. Tut mir Leid. Er konnte es sich nicht leisten, es sich mit Kai zu verscherzen, wenn dieser im Moment seine einzige Bezugsperson war. „Keine Sorge, das wird auch wieder aufhören, wenn sie ein besseres Thema gefunden haben.“ Wie lange dauert so etwas? „Unterschiedlich. Ich weiß von Gerüchten, die sich selbst über den Tod der entsprechenden Person hinaus hielten. Vielleicht solltest du ihnen lieber ein besseres Thema bieten.“ Anthony bedachte diesen Vorschlag nicht einmal mit einer Antwort. Etwas so Unsinniges wollte er nicht einmal mit dem geringsten Gedanken quittieren, dabei war Kai ihm bislang vernünftiger vorgekommen. „Aber was stört dich denn an den Gerüchten?“ Dass sie nicht der Wahrheit entsprechen? Ich habe weder mit ihr geschlafen, noch sind wir ein Paar. „Heather scheint sich nicht daran zu stören.“ Das konnte Anthony sich auch nicht erklären, er hätte erwartet, dass gerade sie sich am meisten darüber aufregen würde. Vielleicht stimmte das Gerücht, dass sie ihren Eltern eines auswischen wollte aber tatsächlich, nur dass sie das tat, indem sie eben diese Dinge in die Welt setzte. Vielleicht war sie nur deswegen in jener Nacht in seine Wohnung gekommen, möglicherweise war alles, was sie gesagt hatte, nur eine Lüge gewesen und sie war lediglich eine verdammt gute Schauspielerin. Ich glaube, ich will nicht mehr in Lanchest bleiben... Wenn Gerüchte sich wirklich derart lange halten konnten, dürfte er nicht damit rechnen, dass er am Montag wieder seine Ruhe haben würde. Und er wusste wieder einmal nicht mehr, wem er vertrauen konnte und wem nicht. Vielleicht hatte sogar Marc ihn angelogen, als er von seiner Vergangenheit sprach? Möglicherweise lachte er sich gerade halbtot, wenn er sich vorstellte, dass Anthony ihm jedes einzelne Wort geglaubt hatte. Selbst als er die von Marc geschenkt bekommene Kette hervorzog, konnte er ihm nicht mehr wirklich vertrauen. Welche Jungen trugen denn schon Freundschaftsketten? Dennoch konnte er die Kette nicht abnehmen und auch nicht aufhören, sie zu betrachten. Allerdings stellte er stirnrunzelnd fest, dass der schwarze Stein begonnen hatte, sich zu verfärben, ein grüner Schimmer lag nun darauf, aber er redete sich ein, dass es lediglich am Lichteinfall lag. „Du willst abhauen? Findest du das nicht irgendwie... kindisch?“ Ich darf das, ich komme aus dem Peligro Waisenhaus, wir sind nicht so reif wie andere, wir sind nur gemein und bösartig. „Ich habe gehört, du kommst gar nicht von dort.“ Kais Versuch, lustig zu sein, endete darin, dass Anthony beschloss, ihn fortan ebenfalls zu ignorieren, zumindest solange die Gerüchte weiter anhielten. Stattdessen beschloss er, dasselbe zu tun wie andere, wenn sie abschalten wollten – und begann fernzusehen. Marc schnalzte derweil genervt mit der Zunge. „Er hat sein Handy ausgeschalten.“ „Wundert dich das?“ Die ihm gegenübersitzende Rena beobachtete ihn bereits seit einer Weile mit wachsendem Unbehagen, während er versuchte, Anthony anzurufen. Sie hielt die Arme vor ihrer Brust verschränkt, so wie Marc es sonst tat, dabei ignorierte sie alle anderen Kunden des Fast-Food-Lokals, die ebenfalls die neuesten Gerüchte austauschten, in denen wieder einmal Anthony und Heather vorkamen. Die aktuellste Version beinhaltete sogar, dass Raymond den Jungen als zukünftigen Schwiegersohn auserkoren und ihn deswegen aus dem Peligro Waisenhaus geholt hatte, damit seine Tochter einen Mann bekam, der genau wie er war – und die Hochzeit somit beschlossene Sache war. Ehrlich erstaunt blickte Marc sie an. „Warum sollte mich das wundern?“ „Ist dir mal aufgefallen, wie du ihn seit Mittwoch behandelst? Du bist genau wie die anderen und stellst ihm dauernd Fragen, obwohl er dir gesagt hat, dass am Dienstag nichts geschehen ist und dass er nicht über seine Vergangenheit sprechen will.“ „Aber wir sind Freunde“, erwiderte Marc. „Ich habe ihm auch von meiner Vergangenheit erzählt.“ „Ja, nur mit einem Unterschied.“ Rena beugte sich vor und nahm ihm sein Handy aus der Hand, um in seinem virtuellen Telefonbuch zu blättern, was ihren Verdacht bestätigte. „Anthony hat es für sich behalten, während du jede Erzählung nur brühwarm deinen neuen Freunden unterbreiten willst.“ Sie knallte das Handy mit erstaunlicher Wucht auf den Tisch, so dass es ein leises Knacken von sich gab, aber nicht kaputtging. „Das hatte ich nicht vor“, wies er empört von sich. „Ich dachte nur, ich könnte ihm besser beistehen, wenn ich mehr über seine Vergangenheit weiß.“ Doch Rena glaubte ihm nicht und ließ ihn das auch deutlich spüren, als sie ihre Stirn runzelte und ein leises Schnauben von sich gab. „Als ob. Du willst dich nur bei allen anderen wichtig machen. Gah, ich wette sogar, du hast dich nur mit Anthony angefreundet, weil er der Einzige war, der dich nicht kannte und daher nichts gegen dich hatte und du Angst davor hast, einsam zu sein und nicht, weil du ihn magst – und jetzt, da du bei allen anderen plötzlich gefragt bist, ist dir sein Wohlergehen komplett egal.“ Tatsächlich wirkte Marc für einen Augenblick überrascht und gleich darauf besorgt. „D-das stimmt so überhaupt nicht... also... nicht ganz. Ich meine...“ Er verstummte, offenbar fand er keine Worte, um auszudrücken, was er sagen wollte und Renas Ungeduld wurde größer und größer. Es war nicht unbedingt so, dass sie Anthony mochte, immerhin sprach er kaum mit ihr und ließ ihr so kaum Gelegenheit, ihn irgendwie wirklich sympathisch finden zu können. Aber sie fühlte einerseits eine Art von Verbundenheit mit ihm und andererseits tat er ihr auch Leid. Er erinnerte sich nicht an seine Eltern, war in einem herzlosen Waisenhaus aufgewachsen und dann kam er aus dem Nirgendwo direkt in eine Großstadt, wo er mit normalen Jugendlichen interagieren sollte, die ihn wohl größtenteils lediglich als Neuen betrachteten, den man besser ignorierte. „Ich habe nie behauptet, dass ich ihn nicht mag“, sagte Marc schließlich. „Ich meine, er ist okay. Ein bisschen naiv, ein bisschen weltfremd, eher wenig unterhaltsam, aber ich mag ihn trotzdem irgendwie... Aber ich bin von Haus aus misstrauisch, was Leute angeht, die ungern über ihre Vergangenheit sprechen.“ „Was denkst du denn eigentlich?“, fragte sie verärgert. „Du hast nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wie seine Vergangenheit war und warum er nicht darüber sprechen will und machst ihm daraus einen Vorwurf? Nur weil du so freigiebig mit den Erzählungen über deine Vergangenheit bist, gilt das nicht für alle anderen! Hast du ihn denn mal vor diesem Ereignis gefragt, was er in seiner Vergangenheit gemacht hat?“ Er schüttelte mit dem Kopf, worauf sie wieder schnaubte. „Dachte ich es mir.“ „Ja, aber, das habe ich nur getan, weil ich dachte, er will nicht darüber sprechen. Aber nach dieser ganzen Sache bin ich eben... misstrauisch. Was ist so schlimm daran?“ „Schlimm ist, dass er denkt, du seist sein Freund und dass er dir vertraut hat. Ich wette, im Moment wird er sich denken, dass es bescheuert von ihm war und er besser nie wieder jemandem vertraut, so wie die anderen ehemaligen Peligro Schüler. Herzlichen Glückwunsch, Campbell, du hast erfolgreich bewiesen, dass deine Eltern dich wunderbar erzogen haben!“ Als sie das sagte, wurde Marc augenblicklich blass, seine Augen begannen ein wenig zu glitzern und das war normalerweise der Punkt, an dem Rena dazu überging, das Thema zu wechseln, um ihn wieder zum Lächeln zu bringen. Doch dieses Mal war sie derart wütend und auch enttäuscht, dass sie aufstand und ohne jedes weitere Wort davonging. Er rief ihr nicht einmal hinterher, dass sie warten sollte, als sie das Restaurant verließ und den Weg ins Einkaufszentrum antrat. Nach dieser kleinen Diskussion war sie derart wütend und geladen, dass sie das mit einer Tour durch die dortigen Läden kompensieren müsste, egal wie klischeehaft sie das fand, weswegen sie es normalerweise zu vermeiden versuchte. Sie hoffte, Marc würde die Gelegenheit nutzen, über sein Verhalten nachzudenken, was er sonst eher selten tat, wie sie wusste. Aber vielleicht würde er sie einmal positiv überraschen – und solange würde sie einfach einkaufen gehen. Wie lange sie schlussendlich unterwegs gewesen war, wurde ihr erst klar, als sie aus dem Einkaufszentrum trat und bemerkte, dass es bereits dunkel geworden war. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es weit nach acht Uhr war und Nigel sicherlich bereits ungeduldig mit dem Essen auf sie wartete, weswegen sie sich hastig auf den Weg nach Hause machte. Um die Einkäufe musste sie sich glücklicherweise keine Gedanken machen. Normalerweise wurden sie von Marc getragen, aber da er nicht dabei war, hatte sie veranlasst, dass ihr alles geliefert wurde. Sophie wäre bestimmt äußerst verwundert darüber, wenn an diesem Tag nur eine Person bei ihnen zu Abend essen würde. Butler Nigel, Küchenmädchen Sophie und Gärtner Dillon waren ihr sozusagen von ihren Eltern vererbt worden. Die drei Bediensteten waren bereits im Haus der Chessts, seit sie noch ein Kind gewesen war, deswegen fühlten sie sich alle vier wie eine Familie und das war wohl auch der Grund, warum die drei nach dem Tod ihrer Eltern blieben, obwohl sie ihnen in Aussicht gestellt hatte, sie über kurz oder lang nicht mehr bezahlen zu können. Bislang war dieser Fall allerdings noch nicht eingetreten, das verdankte sie dem Geld ihrer Eltern und dem besten Anlageberater, den Lanchest bieten konnte – dafür war er allerdings auch der Teuerste. In Gedanken bereits bei all den Köstlichkeiten, die Sophie mit Sicherheit wieder zubereitet hatte, bemerkte sie gar nicht, dass die Straße immer leerer zu werden schien, während sie auf dem Heimweg war. Aber es hätte sie auch nicht weiter verwundert, immerhin war es geradezu normal, um diese Uhrzeit nicht mehr viele Leuten auf den Straßen vorzufinden als ob sie sich alle irgendwann einmal miteinander abgesprochen hätten, dass es besser war, abends zu Hause zu bleiben. Ein plötzliches Gefühl von Unsicherheit ließ sie innehalten. Außer ihr war niemand zu sehen, aber sie glaubte, deutlich jemanden spüren zu können. Es war hinter ihr, neben ihr, direkt vor ihr, aber da war niemand. Nur um sicher zu gehen, streckte sie den Arm aus, um die freie Luft vor sich zu berühren – und erstarrte, als sie tatsächlich den Eindruck bekam, gegen etwas gestoßen zu sein. Nein, nicht gestoßen Ihre Hand griff durch etwas hindurch als ob sie in Gelee greifen würde, ihre Haut prickelte an jenen Stellen unangenehm als versuchten kraftlose Nadeln hineinzustechen. Hastig zog sie ihren Arm wieder zurück und ließ ihren Blick umher springen, in der Hoffnung, endlich etwas zu entdecken, aber nach wie vor war nichts zu sehen. Sie hoffte, glaubte, redete sich ein, dass es nur ihre angespannten Nerven waren, die ihr einen Streich zu spielen versuchten, ihr schlechtes Gewissen Marc gegenüber, das sie antreiben wollte, ihn aufzusuchen, um sich zu entschuldigen und ihn dann zu Anthony zu schleppen, damit er diesen um Verzeihung bitten könnte. Aber sie konnte sich nicht bewegen, sie war vor Furcht gelähmt, zitterte bereits bei dem Gedanken auch nur einen Schritt in irgendeine Richtung zu machen, aus Angst, sie könnte direkt in diese unsichtbare Masse hineinlaufen und möglicherweise nie wieder hinauskommen. Noch während ihr das in den Sinn kam, glaubte sie plötzlich, unzählige Geräusche zu hören, die sie umbrandeten, auf sie eindrangen und versuchten, ihr letztes bisschen Motivation zu zerstören. Kraftlos sank sie in die Knie und legte sich die Hand auf die Ohren, wippte mit dem Oberkörper leicht vor und zurück, in Erwartung, dass jemand kommen würde, um sie zu beruhigen und ihr zu sagen, dass alles gut werden würde. Ohne zu wissen, von wem oder was sie da umgeben war, war sie sich vollkommen sicher, dass diese Wesen nur darauf warteten, sie töten zu können. Möglicherweise war dies die Rache für das, was ihre Eltern getan hatten, für ihren Mord an Thomas, für die Rettung Marcs... vielleicht waren es Geister, die gekommen waren, um sie zu sich zu holen. „N-nein! Das darf nicht einmal denken!“, rief sie mit zitternder Stimme, um sich zumindest diesen Gedanken auszureden. Aber es funktionierte nicht im Mindesten. Ihr Körper zitterte trotz ihres Einspruchs wie Espenlaub und verhinderte, dass sie klar denken konnte. „Das zeichnet dich zwar als Mensch aus, aber versuch trotzdem, tapfer zu sein.“ Plötzlich erklang eine Stimme, direkt aus dem Nichts. Rena horchte auf und hob den Blick wieder ein wenig. Sie hörte sie in ihrem Inneren widerhallen, es war eine Frau und Rena glaubte, sie zu kennen. Aus ihren Träumen vielleicht oder möglicherweise... „Du musst mutig sein, hell lodernd wie eine Flamme.“ Ihre Furcht schwand nicht völlig, aber sie fühlte, wie sie zu entspannen begann, wie sie ruhiger wurde, sie war nicht allein, auch wenn sie nicht wusste, wer oder was da bei ihr war. Ein helles Leuchten ließ sie die den Blick heben. Direkt vor ihr war ein goldener Ring in der Luft erschienen, das rote Juwel darauf glitzerte verheißungsvoll als ob sich ein Feuer in seinem Inneren befinden würde. Sie konnte spüren, wie die Wesen um sie herum furchtsam zurückwichen und dabei leise Geräusche ausstießen, die von ihrer Angst zeugten. Ein Impuls veranlasste sie dazu, den Arm zu heben, um den Ring an sich zu nehmen. Doch noch bevor sie ihre Hand darum schließen konnte, verschwand das Schmuckstück wieder. Das Licht überschattete ihre Sicht, so dass sie die Augen zusammenkniff, in rasender Abfolge stürzten Erinnerungen wie ein Wasserfall über sie herein und ließ ihr damit nur die Gelegenheit, wenige Eindrücke festzuhalten, von denen sich ihr allerdings nur immer wieder die Stimme der Frau von zuvor einprägte. „Hattest du schon einmal das Gefühl, dass dir etwas Großes bevorsteht? „Warum... hat er das getan? „Das darfst du nicht! Das wird bestimmt gefährlich.“ „Ich dachte immer, nichts wäre ewig?“ Zuletzt spürte sie einen heftigen Schmerz in ihrem Genick, schlimmer als bei jedem Migräneanfall, den sie bislang in ihrem Leben zu spüren bekommen hatte. Als das wieder nachließ, öffnete sie vorsichtig ihre Augen und blickte auf ihre rechte Hand, an der dieser Ring nun plötzlich erschienen war. Er passte wie angegossen, als wäre er nur für sie angefertigt worden und während sie ihre Hand betrachtete, glaubte sie, diesen Anblick schon einmal gesehen zu haben. Aber ihre Aufmerksamkeit wurde sofort auf etwas anderes umgelenkt. Als sie sich dieses Mal umsah, entdeckte sie, dass sie nicht mehr allein war. Unzählige schleimige Wesen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, waren um sie herum versammelt, zu viele, um sie zu zählen, was ihr sofort verriet, dass eine Flucht wirklich zwecklos war. Aber mit diesem Ring an ihrer Hand spürte sie plötzlich keine Furcht mehr, sie war erfüllt von der wohltuenden Ruhe, die Menschen empfanden, wenn sie wie hypnotisiert in die tanzenden Flammen starrten. Und gleichzeitig spürte sie das Feuer in ihrem Innerem rumoren, wie es sich wünschte, mit einem Schlag befreit zu werden, um zu wüten und sie zu beschützen. Sie gab diesem Verlangen nach, hob die Hand mit dem Ring ein wenig, betrachtete dessen helles Leuchten – und fühlte im nächsten Moment wie sie von tosenden Flammen eingehüllt wurde, ohne von diesen verzehrt zu werden. Das Feuer tat ihr nichts, versengte ihr nicht einmal die Haarspitzen, stattdessen schien es sie zu trösten und ihr Mut zuzusprechen, während es sich durch die Reihen der ihr unbekannten Wesen fraß, sie zerstörte und zersetzte als wären sie trockenes Papier, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb. Es dauerte nur Sekunden, bis schließlich keines der Wesen mehr zu sehen war und sie vollkommen allein schien. Das Feuer erlosch wieder und Rena ging erneut in die Knie. Schwer atmend schlang sie die Arme um ihren Körper, während die Ereignisse sie einholten. „Was war das? Was war das? Was war das?“ Sie wiederholte die Frage immer wieder und wippte dabei erneut mit dem Oberkörper vor und zurück. Das konnte alles nicht wirklich passieren, mit Sicherheit träumte sie das nur, sie musste irgendwo eingeschlafen sein, das alles war einfach nicht möglich. Und gleich wache ich wieder auf, Marc wird mir gegenübersitzen und grinsend sagen, dass ich beim Schlafen süß aussehe. Ein wilder Schrei vor ihr, riss sie wieder aus diesem Gedanken. Irritiert hob sie den Blick, nur um ein weiteres Wesen zu sehen, das ihr vorher nicht aufgefallen war. Dieses allerdings schien eine richtige Form zu besitzen und zwar die eines Wolfs, der leicht vornübergebeugt auf zwei Beinen lief. Aber auch sein Körper schien aus dieser schleimigen Substanz zu bestehen, die roten Augen blickten allerdings wesentlich bedrohlicher als jene der Wesen zuvor. Rena wollte aufstehen und fliehen, sie wollte kämpfen, erneut das Feuer beschwören, doch sie konnte sich nicht rühren, es war als ob die Augen sie zu hypnotisieren versuchten und sie nicht einmal mehr den Blick abzuwenden schaffte. Das Wesen gab erneut einen Schrei von sich und stürzte sich auf sie. Der Moment erschien ihr wie in Zeitlupe, sie sah wie es sprang, wie es in der Luft zu schweben schien, sich ihr näherte – und in diesem Moment durchzuckte sie wieder die Erinnerung an ihr letztes Gespräch mit Marc, wie sie danach aufgestanden und gegangen war, ihn mit dem Glauben zurücklassend, dass sie von ihm angewidert wäre. Sie sah sein Gesicht vor sich, seinen erschrockenen Blick, als sie Thomas erschossen hatte, seinen traurigen Blick, als sie ihn an diesem Nachmittag verlassen hatte und sein Lächeln – und gleichzeitig wünschte sie, er wäre da, um ihr zu helfen, auch wenn sie sich sicher war, dass er genausowenig hätte ausrichten können wie sie. Aber mit ihm an ihrer Seite hätte sie sich zumindest wesentlich sicherer gefühlt. Er hätte mit seiner unnachahmlichen Art ihre Hand ergriffen und ihr zuversichtlich mitgeteilt, dass alles gut werden würde, selbst wenn er es selbst nicht glaubte. Aber nun war sie vollkommen allein. Sie kniff ihre Augen zusammen, erwartete den Schmerz, der unweigerlich eintreten müsste – aber alles, was kam, war ein weiterer Schrei dieses Wesens, ehe die Aura davon verschwand. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen wieder und hob den Blick. Einen kurzen Moment hatte sie den Eindruck, Marc vor sich zu haben, doch schon gleich darauf klärte sich das Bild von selbst und sie erkannte, dass die Person vor ihr nicht einmal Ähnlichkeit mit ihrem Freund hatte. Der Mann stand noch immer in derselben Haltung da, in der er das Monster besiegt hatte, den Degen in seiner Hand weiterhin vorgestreckt, fast schon heldenhaft. „M-Mr. Valentine...“, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor. Vincent wandte ihr den Blick zu. „Alles okay mit dir?“ Sie konnte nur ein abgehacktes Nicken von sich geben, das kaum als solches zu identifizieren war. Er steckte den Degen wieder ein, so dass Rena bemerken konnte, dass die Waffe Teil seines Schirms war – und er ihn deswegen wohl neulich selbst im Buchladen bei sich gehabt hatte. Als er ihr die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen, fiel ihr auf, dass er ebenfalls einen Ring trug, aber an seinem war ein schwarzer Stein zu sehen. Auch diesen kannte sie sehr genau, sie verband eine ferne Erinnerung damit, die im Zusammenhang mit jenen von zuvor standen. Nur zögernd ergriff sie seine Hand und ließ sich von ihm wieder auf die Füße ziehen. „Danke.“ Sein Blick fiel seinerseits auf ihren Ring, ging dann aber sofort wieder zu ihrem Gesicht zurück. „Mir scheint, mein Spaziergang führte mich direkt zu einer wichtigen Entdeckung.“ Hastig entzog sie ihm ihre Hand. „Schön für Sie. Ich habe aber keine Zeit mehr für irgendetwas... ich muss nach Hause.“ Sie spürte keinerlei Gefahr von diesem Mann ausgehen, aber es war ihr unmöglich, klar zu denken. Im Moment wollte sie nur noch nach Hause, dort war sie sicher und behütet und müsste sich nicht mehr mit diesen Dingen herumplagen. Auch nicht mit diesen widersprüchlichen Gefühlen in ihrem Inneren, die sie einerseits anwiesen, den Mann vor sich wie einen alten Bekannten zu umarmen und auf der anderen Seite ein wenig vor diesem eigentlich Fremden auf der Hut zu sein. „Ich bringe dich nach Hause“, bot er sofort an. „Du solltest jetzt nicht allein unterwegs sein.“ Sie wollte ablehnen, aber die Vernunft war stärker und sagte ihr, dass es wichtig war, von jemandem begleitet zu werden, der sie im Notfall beschützen könnte. Was immer diese Wesen waren, es war gut möglich, dass noch mehr davon existierten und sie wieder plötzlich auftauchen könnten. Also bedankte sie sich murmelnd und lief gemeinsam neben ihm her. Vincent bemühte sich, extra langsam zu laufen, damit sie Schritt halten könnte. „Das Erwachen zehrt am Anfang stark an den Kräften“, sagte er unvermittelt. Sie wandte ihm den Kopf zu, er sah weiterhin stur nach vorne. „Erwachen?“ „Als der Ring erschien, hattest du ebenfalls diese Erinnerungen, oder? Sie stammen aus deinem letzten Leben, als du diesen Ring getragen hast und im Kampf gestorben bist.“ Schweigend sah sie ihn weiterhin an, die Worte machten nicht viel Sinn für sie, sondern drehten sich nur immerzu im Kreis, bis der Satz sich auflöste und neu zusammensetzte, so dass er noch weniger verständlich war. Er bemerkte das deutlich. „Es bringt nichts, heute darüber zu sprechen. Du solltest dich erst einmal ausruhen, morgen wäre es einfacher für dich, es zu verstehen.“ In jeder anderen Situation hätte sie nun aufbegehrt und verlangt, es sofort zu erfahren, aber aktuell fühlte sie sich schwach und kraftlos, sie wollte nur noch ins Bett. Den Rest des Weges brachten sie schweigend hinter sich. Erst an der Eingangstür ihres Hauses, wandte sie sich noch einmal an Vincent. „Wohin soll ich morgen kommen?“ „Komm im Laufe des Vormittags in das Café der Silverburghs. Kennst du das?“ Gleichzeitig mit diesem Ort kam ihr direkt wieder Marc in den Sinn. Er war unheimlich gern dort, nicht zuletzt wegen der recht entspannten Atmosphäre, sondern auch wegen den Steaks, die er geradezu liebte. Doch statt weiter darüber nachzudenken, nickte sie. „Natürlich.“ „Ich hoffe, du schläfst besser als ich nach meinem Erwachen. Gute Nacht.“ Damit fuhr er herum und verschwand innerhalb kürzester Zeit in der Nacht, so dass Rena für einen kurzen Moment glaubte, dass sie das alles nur fantasiert hätte, doch ein neuerlicher Blick auf ihren Ring sagte ihr nur erneut, dass alles wirklich geschehen war. Sie seufzte noch einmal leise, dann drehte sie sich um und betrat das Haus, um endlich sicher zu sein. Kapitel 29: Freundschaft zerbricht nicht ---------------------------------------- Den ganzen restlichen Samstag hörte Marc nichts mehr von Rena, was in ihm den Vorsatz entstehen ließ, etwas zu unternehmen, um ihr zu zeigen, dass er Anthony nicht nur ausnutzen wollte, sondern ihm etwas an der Freundschaft lag. Da Anthonys Telefon aber auch am Sonntag immer noch aus war und er auch nicht im Mindesten auf das Klopfen und Klingeln reagierte, musste Marc sich anders behelfen – und das tat er am Einfachsten, indem er bei Ethan klopfte, der direkt nebenan lebte. Enthusiastisch öffnete sein Mitschüler, nur um ihn mit gerunzelter Stirn verdutzt anzusehen, als er Marc erkannte. „Campbell, was willst du denn?“ Es war kein Geheimnis, dass er Marc nicht sonderlich mochte, auch wenn dieser nicht wirklich wusste, weswegen eigentlich, früher waren sie immerhin mal so etwas wie Freunde gewesen, damals, kurz nach Marcs Wechsel auf die Akademie. Irgendwann hatte Ethan aber anscheinend beschlossen, sich nicht mehr mit ihm abgeben zu wollen und Marc gebeten, seine Nummer aus seinem Handy zu löschen und nicht mehr mit ihm zu sprechen, ohne jede Erklärung. Inzwischen war Marc recht gut darüber hinweg, auch wenn er an jenem Tag sehr verdutzt und deprimiert gewesen war. Aber immerhin schien er nicht direkt ausspucken zu wollen, wenn er Marc sah, deswegen war dieser ganz froh, dass Ethan direkt neben Anthony wohnte und nicht irgendjemand anderes. „Kann ich mal auf deinen Balkon?“ Ethan hob verwundert die Augenbrauen. „Warum das denn? Der ist genauso groß wie deiner und eignet sich auch nicht für Grillpartys – ich hab's ausprobiert, glaub mir.“ „Darum geht es mir nicht.“ Marc schob Ethan beiseite und drängte sich in die Wohnung hinein. Sein Mitschüler konnte ihm nur verdutzt hinterhersehen, als er mit sicheren Schritten durchs Wohnzimmer lief und den Balkon betrat. Er hatte selbst eine solche Wohnung in einem anderen Gebäude, aber die von Ethan lag einige Stockwerke weiter oben, so dass der Wind ungewohnt scharf um seinen Kopf wehte und trotz des ansonsten warmen Frühsommerwetters kühl war. Marc blickte zu dem Balkon hinüber, der zu Anthonys Wohnung gehörte. Er müsste nur dort hinüberkommen, es war ein kleiner Katzensprung, sein Freund würde ihn mit Sicherheit nicht einfach vor der Tür stehenlassen, so war er einfach nicht. Er besaß ein gutes Herz und viel, viel Mitleid, das konnte Marc bereits sagen und das war etwas, was er an ihm auch mochte, denn mit Sicherheit war es dieses Herz, das dafür sorgte, dass er sich weiter ihm abgab, statt sich ebenfalls fernzuhalten. Gut, ich mache es! Marc ergriff das Gelände und wollte gerade mit seinem Fuß nachziehen, um hochzusteigen, als er Ethans Stimme hörte: „Was hast du vor, Campbell?“ Er lehnte gegen den Rahmen der offenen Balkontür, die Arme abwartend vor der Brust verschränkt, der Blick eine einzige, deutliche Missbilligung, der deutlich zeigte, dass er genau wusste, was Marc tun wollte und er das nicht gutheißen konnte. „Ich will auf Tonys Balkon hinüber, damit ich da klopfen kann. Wenn ich auf dem Balkon bin, wird er mich da nicht einfach stehenlassen.“ Ethan schloss sichtlich genervt die Augen. „Bist du vollkommen wahnsinnig geworden, Campbell? Hast du mal gesehen, wie weit die Balkone voneinander entfernt sind und wie tief du fällst, wenn du es nicht schaffst? Du würdest dir jeden einzelnen Knochen brechen, ehe du schließlich stirbst.“ Bislang hatte Marc das absichtlich ausgeblendet, aber als Ethan das erwähnte, blickte er erneut zu dem anderen Balkon hinüber. Zuvor hatte er nah gewirkt, aber nun schien es ihm als wäre er ein gutes Dutzend Meilen entfernt und als wäre es absolut unmöglich, dort heil hinüberzukommen, selbst wenn man eine Katze war. Nach dieser Feststellung wanderte sein Blick hinunter. Von dieser Höhe sahen die unten herumlaufenden Schüler alle geradezu winzig aus. Nicht wie Ameisen, aber immer noch klein genug, dass es ihm unmöglich war, Einzelheiten zu erkennen. Ethan hatte recht, die Entfernung zum Balkon war zu groß und wenn er fiel, würde er ungebremst in die Tiefe stürzen und könnte nur noch hoffen, zuerst mit dem Kopf aufzukommen, damit es so schnell wie möglich vorbei sein würde. Was tue ich hier eigentlich? Er wollte das Geländer loslassen, zurückweichen, sich bei Ethan für die Störung entschuldigen und dann hastig die Wohnung verlassen. Aber in dem Moment kam ihm wieder Rena in den Sinn, wie angewidert sie ihn ansah, als sie ihm all diese Vorwürfe machte und direkt danach sah er Anthony vor sich, wie dieser den Kopf gegen die Wand legte, als Marc ihn zum wiederholten Mal fragte, was zwischen ihm und Heather vorgefallen war. Nein, er konnte jetzt nicht aufgeben, er musste diesen Plan durchziehen, ungeachtet der Gefahr. Entschlossen griff er das Geländer wieder fester und wollte sich erneut hochziehen. „W-warte!“, rief Ethan erschrocken. „Mann, du bist echt bescheuert oder wie!?“ Marc wandte ihm den Blick zu, worauf sein Mitschüler erschrocken zurückzuckte. „Ich muss da rüber!“, rief er leidenschaftlich aus. „Mein bester Freund braucht mich!“ Er stellte sich vor, wie heldenhaft diese Szene in einem Film mit der passenden Musikuntermalung und noch einigen Tränen seinerseits ausgesehen hätte. Aber Ethan schien sich davon nicht einnehmen zu lassen, sondern schnaubte leise. „Alter, weißt du eigentlich, wie das wirkt?“ „Wohl nicht sehr heldenhaft?“, erwiderte Marc geknickt. Ethan schüttelte seufzend mit dem Kopf. „Na, wenn Heather und Rena da mal nicht eifersüchtig werden... Aber was auch immer, Mann. Ist es dir echt ernst?“ Marc nickte entschlossen, worauf sein Gegenüber mit den Schultern zuckte. „Fein, von mir aus, ich werde keinen aufhalten, der vor Leidenschaft brennt und in Flammen steht. Aber kannst du mir vorher einen Gefallen tun?“ „Klar, was denn?“ „Kannst du mir vorher unterschreiben, dass ich dich weder dazu gezwungen, noch dich runtergeschubst und stattdessen versucht habe, dich davon abzuhalten?“ Marc sah ihn nur stumm an und wartete auf eine weiterführende Erklärung oder darauf, dass der andere sagte, dass es nur ein Witz gewesen war und er nun springen könnte. Da aber nichts von beidem folgte, beschloss er, nachzuhaken: „Weswegen?“ „Na ja, ich will nicht, dass ich einen schrecklich unvorhersehbaren Unfall erleide, weil deine Familie meint, das wäre alles meine Schuld.“ Erneut trat eine kurze Zeit des Schweigens ein, ehe Marc wieder etwas sagte: „Du bist ein Arsch.“ „Sag das nicht mir, sag das deiner Familie. Ich renne nicht durch die Gegend und bringe Leute um.“ Wütend ließ Marc das Geländer aus, um sich Ethan gänzlich zuzuwenden. „Mir reicht das endlich! Ja, meine Familie ist bösartig und für viele Tote verantwortlich, aber sie haben auch genug Gutes getan zwischendurch! Sie haben die Modernisierung einiger Krankenhäuser finanziert-“ „Um ihre verletzten Mitglieder stilgerecht wieder zusammenflicken zu lassen“, warf Ethan ein, aber Marc ließ sich davon nicht stören: „Sie unterstützen die Krankheitsforschung mit mehr als einer Millionen Dollar im Jahr-“ „Weil eines ihrer Mitglieder schwer krank geworden ist.“ „Und sie unterstützen verschiedene Tierheime-“ „Weil die Tiere deren Besitzer sie umbringen ein neues Heim brauchen.“ Marc knurrte leise und wollte gerade noch etwas sagen, als er plötzlich hörte, wie die Balkontür nebenan aufging und Anthony hinaustrat. Er wirkte verstimmt, so wie man ihn selten sah und bedachte beide mit einem kühlen Blick. „Könnt ihr euch nicht drinnen weiterstreiten?“ „Anthony!“, rief Marc freudig aus, der Ärger war sofort wieder vergessen. „Genau zu dir wollte ich.“ Der Blick des anderen wurde ein wenig weicher, aber die Skepsis war immer noch deutlich zu sehen. „Über den Balkon?“ „Wenn du deine Tür nicht aufmachst“, erwiderte Marc gespielt vorwurfsvoll. Anthony knickte seufzend ein. „Fein, dann mach ich eine Ausnahme.“ Das war ja einfach, ich sage doch, er hat ein gutes Herz. Er verschwand wieder in seiner Wohnung, Marc ging an Ethan vorbei, um zu dessen Wohnungstür zu kommen. Doch bevor er diese öffnen könnte, sagte der andere noch einmal etwas: „He, Campbell.“ Marc wandte ihm den Blick zu. Zu seiner Überraschung wirkte Ethans Mimik entschuldigend. „Das war grad ziemlich fies von mir, ich geb's zu. Nimm's mir nicht übel, Mann. Ich hab was gegen deine Familie, nicht gegen dich.“ „Ich weiß, dass du Anthony gesagt hast, dass ich ein schlechter Umgang bin“, erwiderte Marc unbeeindruckt. „Wegen deiner Familie. Du weißt genauso gut wie ich, dass sie es nicht gern sehen, wenn du dich mit Freunden umgibst, die ihnen nicht passen.“ „Nein, das wusste ich bislang nicht.“ Ethan verzog sein Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass er wohl zu viel gesagt hatte, aber Marc war bereits klar geworden, weswegen sein Gegenüber damals so abrupt den Kontakt abgebrochen hatte. „Lass uns ein andermal genauer darüber sprechen. Jetzt muss ich erstmal mit Anthony reden.“ „Oh, wegen mir kannst du dir ruhig Zeit lassen, bis deine Eltern ins Gras gebissen haben und der andere Erbe dich ignoriert.“ Ethan zuckte mit den Schultern und öffnete die Tür, eine unverwechselbare Geste, die Marc zeigen sollte, dass er nicht mehr willkommen war. Ohne jede Verabschiedung trat er auf den Gang hinaus und ging zu Anthonys Wohnung hinüber. Die Tür war inzwischen ein wenig geöffnet, so dass Marc einfach eintreten konnte. Der Bewohner saß demonstrativ desinteressiert auf seinem Sofa und starrte auf den Fernseher, wo gerade irgendeine Werbung zu sehen war. Allerdings war der Ton ausgeschalten, es sah nicht so aus als ob Anthony das kümmern würde. Marc setzte sich neben ihn. „He... ich weiß, dass du wütend bist.“ „Gut, dann muss ich es dir ja nicht erst sagen.“ In der kurzen Zeit, in der sie sich kannten, hatte Marc ihn noch nie so erlebt, es war ungewohnt, aber gleichzeitig verriet es ihm auch, dass selbst Anthony sich zu einem normalen Menschen entwickeln konnte. „Ich bin auch gekommen, um mich zu entschuldigen. Statt mich diesen Gerüchten anzuschließen und zu neugierig zu sein, hätte ich dir eher beistehen und den anderen ihre Grenzen aufzeigen sollen.“ Er hatte bis zum Einschlafen und während des Frühstücks über diese Worte nachgedacht und überlegt, was er zu Anthony sagen sollte, bis er schließlich zufrieden gewesen war. Nun blieb ihm nur zu hoffen, dass sein Freund auf diese Worte anspringen und ihm vergeben würde. Tatsächlich schien Anthony seinem mitleidigen Herzen nachzugeben, sein Blick wurde noch ein wenig weicher. Marc spannte dennoch seinen Körper wieder an. „Okay, Tony, versprochen, ich werde dich das nur noch einmal fragen und danach nie, nie wieder: Als Heather bei dir übernachtet hat, ist wirklich nichts zwischen euch geschehen?“ Statt zu seufzen, nickte er. „Richtig. Wir haben uns nur unterhalten.“ „Und du bist aus dem Peligro Waisenhaus.“ „Ich wünschte, ich wäre es nicht.“ Aus Anthonys Stimme sprach Bitterkeit, die Marc nur zu gut kannte und die ihn immer wieder überfiel, wenn er an seine eigene Vergangenheit dachte. „Aber ich bin es, das ist nicht gelogen.“ Marc nickte verstehend und lehnte sich ein wenig zurück. „Dass ich einmal gesagt habe, dass ich dich um deine toten Eltern beneide, tut mir Leid...“ „Es ist okay. Bei deinen Eltern wäre ich wahrscheinlich auch froh darum.“ Marc winkte hastig ab. „Na ja, es ist ja nicht so, dass ich sie hassen würde. Ich hatte nie wirklich viel mit ihnen zu tun, immerhin waren sie immer beschäftigt, aber sie wären ganz in Ordnung, wenn sie keine Verbrechen begehen würden, denke ich. Aber manchmal wünschte ich, ich würde mich auch nicht an sie erinnern, so wie du.“ Anthony schien etwas einzufallen, plötzlich wirkte er wie unter Strom gesetzt und schaltete auch hastig den Fernseher aus, ehe er sich wieder an Marc wandte. „Ich habe mich neulich wieder an sie erinnert!“ Seine Stimme zitterte geradezu vor Aufregung und aus irgendeinem Grund glaubte Marc plötzlich, selbst aufgeregt zu sein als ob er gerade ein brisantes Gerücht aus erster Hand aufgeschnappt hätte. „W-was? Wirklich? Woran hast du dich erinnert?“ „Ihre Namen waren Adam und Eve“, erklärte Anthony sofort als hätte er diese Worte für unglaublich lange Zeit aufgespart und nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, es jemandem zu erzählen. „Mein Vater kannte außerdem Mr. und Mrs. Lionheart und meine Mutter kannte zumindest Mr. Lionheart.“ Marc blinzelte verdutzt. Solche Verbindungen kannte er eigentlich nur aus Filmen oder Comics – Bücher las er ja nur, wenn er musste – aber hier war er direkt in einem Verschwörungsthriller gelandet schien es ihm. Mit diesem Fakt schien es ihm noch wesentlich wahrscheinlicher, dass Raymond ihn nicht nur wegen irgendwelcher Noten oder versteckter Potentiale nach Lanchest geholt hatte, nein, es musste mit Anthonys Eltern in Verbindung stehen – und das teilte Marc seinem Freund auch sofort mit. Zu seiner Überraschung nickte er bereits. „Das denke ich auch, aber auch Leens Erinnerungen und Kai haben etwas damit zu tun.“ Marc neigte fragend den Kopf und ließ sich darüber aufklären, dass Leen offenbar die Reinkarnation einer Kriegerin war, die gemeinsam mit Kai, der in Anthonys Inneren lebte und auch für das Ereignis in der Lagerhalle verantwortlich war, gekämpft hatte. Gespannt lauschte er der Erzählung und bemerkte dabei eine erstaunliche Veränderung, die mit Anthony vorzugehen schien. Der sonst so schüchterne und zurückhaltende Junge, redete immer weiter, schien geradezu vor Eifer zu glühen, während er sich all das von der Seele sprach. Er stand sogar auf und hielt die Hände vor sich als wollte er ein Netz dazwischen spinnen, möglicherweise sah er dort sogar ein imaginäres vor sich. „Alles ist miteinander verbunden – und ich bin irgendwo in der Mitte davon.“ Marc rieb sich über die schmerzende Stirn. „Ich muss zugeben, dass ich nicht alles davon verstanden habe, aber ich denke, ich habe den Kern erfasst. Es scheint, dass du wirklich der Dreh- und Angelpunkt einiger Dinge bist, die hier geschehen. Würde mich nicht wundern, wenn auch die Mimikry mit dir in Verbindung stehen würden. Was schaust du so? Das war ein Witz.“ Anthony setzte sich wieder und blickte Marc so direkt in die Augen, dass dieser nicht anders konnte als sich ein wenig zurückzubeugen aus Furcht, dass er gleich von Flammen verschlungen werden würde. „Wenn man Mimikry tötet“, begann Anthony, „verlassen die Seelensplitter, die sie vorher geerntet haben ihre Körper und verschwinden. Die Wesen, die Mr. Chandler beschwört scheinen etwas mit diesen Splittern zu tun zu haben, jedenfalls fühlt es sich so an, wenn sie sterben.“ „Du kannst das spüren?“, fragte Marc irritiert. Anthony nickte heftig, scheinbar ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sein Freund das unheimlich finden könnte. Glücklicherweise musste er das bei Marc auch nicht, denn dieser fühlte weniger Furcht, eher... Überwältigung. Er verstand nur die Hälfte von der Tragweite all dieser Dinge, er wusste über den Drachenkrieg, Fleera und Kai nur das, was er im Geschichtsunterricht lernte – und das war zugegeben nicht viel – über Mimikry wusste er noch weniger, aber er war sich darüber im Klaren, dass Anthony ein wahrhaft außergewöhnlicher Junge war. Wenn er das allen anderen erzählte... Er stoppte sich selbst bei diesem Gedanken. Anthony hatte ihm das nicht erzählt, damit er es weitertrug, das alles war ihm anvertraut worden, im festen Glauben, dass er es für sich behalten würde. Und genau das hatte er sich doch gewünscht, dass Anthony ihm vertraute und ihm alles erzählte, so wie er ihm Dinge erzählte, die andere nichts angingen. Also musste er beweisen, dass das Vertrauen in ihn nicht umsonst war, dass er nichts von seinen Eltern geerbt hatte außer vielleicht das Aussehen. Also lächelte er. „Du bist echt außergewöhnlich, Tony, weißt du das?“ Anthony nickte, plötzlich wieder ein wenig verunsichert. „Das scheint mir auch so. Aber ist das gut oder schlecht?“ „Das ist cool“, sagte Marc. „Lass dir von niemandem etwas anderes einreden. Du bist gut so wie du bist.“ Seine Worte erfüllten ihren Zweck und ließen Anthony erleichtert aufatmen. „Gut. Uhm... jetzt habe ich irgendwie... Hunger.“ Es war deutlich, dass er, nachdem er sich all das von der Seele geredet hatte, erst einmal über etwas anderes sprechen wollte und das wohl das erste Thema war, das ihm eingefallen war. „Hast du nichts mehr zu essen hier?“ Anthony nickte und erklärte ihm, dass er eigentlich mit ihm hatte einkaufen gehen wollen, bis diese Sache dazwischen gekommen war. „Gut, weißt du was? Lass uns etwas essen gehen – ich wäre für Steak und kann sogar selbst bezahlen ausnahmsweise – und dann können wir einkaufen gehen.“ „Klingt nach einem guten Plan“, stimmte Anthony lächelnd zu. Von einem solch guten Ausgang des Gesprächs hätte Marc nicht einmal zu träumen gewagt, aber das war nun umso besser. Ihre Freundschaft schien ihm nun um einiges stärker als zuvor und auch Anthony wirkte wesentlich gefestigter und ausgeglichener. Dennoch nahm er sich vor, es sich nie wieder auch nur für einen Tag mit Anthony zu verscherzen. Sein Freund brauchte ganz deutlich jemanden, mit dem er offen sprechen konnte, besonders in einer solchen Zeit – und er selbst wollte sich nie wieder vorwerfen lassen müssen, dass er jemandem das Messer in den Rücken rammte. Wurde nur noch Zeit, dass Rena davon erfuhr. Als sie Anthonys Wohnung verließen, wusste er noch nicht, dass sie es früher erfahren würde als er gedacht hätte. Kapitel 30: Wiedervereinigung ----------------------------- Als Rena am nächsten Morgen die Augen aufschlug, hoffte sie, die Ereignisse des Vortages nur geträumt zu haben. Sie war schon oft von Albträumen heimgesucht worden, in denen die Geister von Menschen, die von ihren Eltern ermordet worden waren, ihr nachgestellt hatten und bei jedem einzelnen war die Furcht genauso greifbar gewesen wie bei den Geschehnissen der letzten Nacht. Für einen Moment gab sie sich dieser Hoffnung hin, doch dann blickte sie auf ihre rechte Hand hinab und erkannte dort den Ring an ihrem Finger. Ihre Hoffnung zerfiel zu einem glänzenden Scherbenhaufen, den sie später zusammenkehren würde. Zuerst einmal würde sie aufstehen und frühstücken und dann würde sie wohl tun, was dieser Vincent ihr gesagt hatte und das Café aufsuchen. Sie war daran interessiert, zu erfahren, was eigentlich vor sich ging, denn die Erinnerungen, die bruchstückhaft zu ihr zurückkehrten und vollkommen aus dem Kontext gerissen keinen Sinn machten, gaben ihr keine Antwort. Dennoch konnte sie nicht aufhören, diese Erinnerungen zu betrachten und zu versuchen, hinabzugreifen in die Unendlichkeit ihres Unterbewusstseins und dort weitere Fragmente hervorzuholen, um sie näher zu erkunden. Selbst als sie unter der Dusche stand, konnte sie nur an solche Dinge denken, weswegen sie mehr Zeit darunter verbrachte als sonst. In frischer Kleidung und die noch nassen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, ging sie schließlich zum Frühstücken ins Esszimmer. Es war nicht groß genug, um als Speisesaal bezeichnet zu werden, aber der große Tisch und der Geschirrschrank, sowie die direkte Anbindung an die Küche gaben genug Auskunft über den Zweck dieses Raumes. Zwei Personen standen an der Tür, die zur Küche führte. Die Person in der schwarzen Diener Livree schien in all den Jahren nicht gealtert zu sein. Sein Gesicht war noch immer faltenfrei, sein schwarzes Haar fern jeder grauen Strähne, die braunen Augen leuchteten immer noch voll innerer Wärme. Er wandte sich Rena lächelnd zu. „Guten Morgen, junge Dame.“ „Guten Morgen, Nigel.“ Dann blickte sie das Küchenmädchen neben Nigel an. Sie trug keine Uniform, aber eine weiße Kochjacke, das strohblonde Haar wurde von einem Kopftuch zurückgehalten. Sie war nur unwesentlich älter als Rena, aber eine unnachahmliche Köchin. „Guten Morgen, Sophie.“ „Guten Morgen, Rena.“ Sophie verneigte sich spöttisch. Sie tat das nicht, um sich über Rena lustig zu machen, sondern weil sie diese höflichen Umgangsformen nicht mochte. Als Renas Eltern noch gelebt hatten, war sie von diesen darauf trainiert worden, aber seit deren Tod verhielt sie sich wie sie selbst es für angemessen hielt. „Bereit fürs Frühstück?“, fragte das Küchenmädchen. Rena nickte. „Absolut.“ Sie setzte sich an den Tisch und ließ die Angestellten das Essen hereinbringen, ehe sie sich ungefragt zu ihr setzten. Es war inzwischen üblich, dass sie zusammen aßen, was besonders Renas eher dürftigem Appetit sehr zuträglich war. Der Gärtner, Dillon, frühstückte nicht mit ihnen, er zog es vor, lange zu schlafen und Rena gönnte ihm das auch. Er arbeitete jeden Tag hart und verdiente es sich daher durchaus. Wie üblich unterhielten sie sich über alle möglichen Dinge, doch an diesem Tag war Rena nicht ganz bei der Sache, ihre Gedanken kehrten immer wieder zu den Ereignissen am Vortag zurück und gleichzeitig wuchs in ihr die Ungeduld. Daher beendete sie das Frühstück schneller als gewöhnlich und verabschiedete sich dann von der besorgten Dienerschaft, die ohne Antwort auf die Frage, was mit ihr sei, zurückbleiben musste. Obwohl sie Juli hatten und es bereits auf die Sommerferien zuging, war die Luft so früh am Morgen noch derart frisch, dass es sie fröstelte und sie bereute, nicht zumindest eine leichte Jacke angezogen zu haben. Aber sie war bereits so weit gelaufen, dass sich eine Rückkehr nicht mehr lohnte, daher ging sie einfach ein wenig schneller, um früher anzukommen. Nichts auf den Straßen deutete darauf hin, dass nachts unmenschliche Wesen, die sie weder aus Biologie- noch aus Märchenbüchern kannte, diese heimsuchten und doch war die Erinnerung daran so nah als wäre es eben erst geschehen, selbst die empfundene Angst saß ihr noch immer im Nacken. Da sie davon ausging, dass das Café um diese Zeit noch geschlossen war, ging sie direkt zum Hintereingang. Während die Straße vor dem Gebäude eine saubere Einkaufspassage war, in der einem die verschiedenen Schaufenster der Geschäfte alles Glück der Welt versprachen, sofern man geneigt war, dafür zu zahlen, war die hintere Straße ein trostloses Pflaster, ein enger Pfad nur zwischen den Häuserreihen, vollgestellt mit zahlreichen Mülltonnen, die wie üblich bis an den Rand gefüllt waren. Früher einmal hatte sie sich stets einen Spaß daraus gemacht, die Mülltonnen dieser Gasse nach interessanten Dingen zu durchwühlen, bis sie einmal von Seline erwischt und deswegen getadelt worden war – weil sie sich hatte erwischen lassen, nicht wegen der Aktion an sich. Danach hatte sie es nicht mehr getan, aber es war ohnehin nie etwas Wertvolles unter ihren Fundstücken gewesen. Vor der Hintertür des Cafés hielt sie wieder inne, nicht zuletzt weil dort auch der Weg an einer massiven Steinmauer endete. Das anschließende Gebäude war breiter, seine Hintertür befand sich erst in der nächsten Querstraße, aber so war es ihr auch immer möglich gewesen, sofort die richtige Hintertür zu finden. Sie wollte gerade die Hand heben, um zu klopfen, als sie eine Stimme hörte, die ihren Namen rief und sie sich dieser zuwandte. Normalerweise mochte er Sonntage, immerhin dienten sie auch ihm der Regeneration und boten ihm ein wenig Zeit, die er mit der Familie verbringen konnte. Aber genau das war an diesem Sonntag etwas, das er nicht tun wollte. Die Stimmung zwischen ihm und Alona war immer noch eisig und er sah keine Hinweise dafür, dass sich das so bald ändern würde. Deswegen zog er selbst an diesem Tag einen Anzug an, statt Jeans und Shirt und machte sich bereit, in die Schule zu gehen. Genug Arbeit würde er haben, sein Schreibtisch wurde praktisch nie leer und vielleicht wäre ein Ausflug in die Quartiere der Schüler, die im Wohntrakt der Schule untergebracht waren, zur Abwechslung gar nicht so verkehrt. „Was tust du da?“ Er hielt beim Binden der Krawatte – womit er hoffnungslos überfordert war – inne und blickte zu Alona, die mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn in der Tür stand. „Das sieht man doch“, antwortete er. „Ich gehe zur Arbeit. Dürfte dir ja ganz recht sein.“ „Ist es auch.“ Trotz ihrer Worte schritt sie auf ihn zu, brachte ihn dazu, seine Hände wegzunehmen und band nun an seiner statt die Krawatte. „Das kann man ja nicht mitansehen, wie du dich anstellst. Man sollte meinen, jemand mit deiner Intelligenz wäre fähig, sich die Krawatte zu binden.“ „Ich denke nicht, dass das etwas mit Intelligenz zu tun hat“, erwiderte er, die Augen niedergeschlagen, damit er sie nicht ansehen musste. „Was auch immer.“ Sie trat wieder einen Schritt zurück. „Wegen mir kannst du ruhig in der Schule übernachten, du musst nicht zurückkommen.“ „Vielleicht tue ich das sogar.“ Ohne eine Verabschiedung ging er an ihr vorbei und verließ schließlich das Haus. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn verfluchte, kaum dass die Tür hinter ihm geschlossen war, aber im Moment kümmerte ihn das nicht weiter, als er sich auf den Weg in Richtung der Akademie machte. Schon nach wenigen Schritten wurde seine Ruhe von seinem Handy gestört. Lustlos holte er dieses aus seiner Tasche, da er ohnehin glaubte, dass es ein vorwurfsvoller Anruf von Alona wäre, doch stellte er überrascht fest, dass es eine unbekannte Nummer war, die ihn da anrief. Er nahm den Anruf an und meldete sich mit seinem Namen. „Wie gut, dass ich Sie erreiche“, konnte er eine erleichterte Stimme hören, die er als jene von Anthony erkannte, allerdings war da etwas, was ihn nachdenklich stimmen müsste, ihm fiel nur partout nicht ein, worum es sich dabei handelte. „Was ist denn los?“, fragte Raymond. „Mr. Lionheart, ich bräuchte Ihre Hilfe in einer dringenden Angelegenheit...“ Die Stimme des Jungen klang ein wenig heiser, fand Raymond, aber er fragte sich nicht, woran das liegen könnte. „Reicht das nicht noch morgen?“ „N-nein, ich fürchte nicht. Könnten Sie vielleicht in meine Wohnung kommen? Bitte...“ Er war geneigt, abzulehnen, aber etwas in der Stimme des Jungen war so dringlich, dass es ihm verriet, wie wichtig ihm dieses Anliegen war, daher gab er nach. „In Ordnung, ich bin schon auf dem Weg.“ Anthony bedankte sich und legte auf. Raymond steckte das Handy mit einem Seufzen wieder ein und begab sich auf den Weg zu den Wohnhäusern, um den Jungen zu besuchen und herauszufinden, worum es sich bei diesem vermeintlichen Notfall handelte. Anthony ahnte derweil nicht, dass jemand versuchte, den Direktor in seine Wohnung zu locken. Er befand sich immer noch gemeinsam mit Marc auf den Weg ins Café, auch wenn ihm nach der Hälfte etwas einfiel: „Ist es möglicherweise nicht zu früh, das Café aufzusuchen? Haben sie denn schon geöffnet?“ Marc zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, aber selbst wenn... Normalerweise lassen sie manche Personen auch mal früher rein und immerhin wollen wir ja bezahlen.“ Zur Demonstration führte Marc ihn über die Gasse hinter dem Gebäude zum Hintereingang, vor dem allerdings schon jemand stand. „He, das ist ja Rena!“, entfuhr es Marc. Das Mädchen wandte sich ihnen zu und blickte verdutzt. „Was macht ihr denn- Ah, Moment mal! Habt ihr euch etwa versöhnt?“ „Hast du daran gezweifelt?“, fragte Marc amüsiert. „Wir sind doch Freunde.“ Anthony nickte zur Bestätigung, als er ihren ungläubigen Blick bemerkte. Doch schließlich lächelte sie erleichtert. „Ah, das ist wirklich gut. Aber was macht ihr hier?“ „Wir wollen essen. Was tust du hier?“ Sie schien gerade antworten zu wollen, als plötzlich die Hintertür geöffnet wurde. Für einen kurzen Moment war es Anthony als würde ihm die Luft wegbleiben, kaum dass er die Person, die dort stand, sah. Es war ein grünhaariger Mann, er war sich sicher, diesem noch nie zuvor begegnet zu sein und doch war da dieses Gefühl in seinem Inneren als kannte er ihn schon seit vielen Jahren. „Russel...“ Der Name kam ihm aus dem Nichts in den Sinn und tatsächlich reagierte der andere darauf. Allerdings blickte er ihn finster an, obwohl Anthony sich nicht entsinnen konnte, ihm etwas angetan zu haben. „Dieses Mal bist du aber sicher der Richtige.“ Fragend neigte Anthony den Kopf, worauf Marc zur Erklärung einsprang: „Letztes Mal hielt er mich für dich.“ Russels Anspannung ließ urplötzlich nach, seine Lippen kräuselten sich zu einem oberflächlichen Lächeln. „Zumindest scheinst du im Moment nicht gefährlich zu sein. Kommt rein.“ Er winkte alle drei mit sich herein. Anthony folgte dieser Aufforderung nur widerwillig. Im Inneren führte Russel sie in einen kleinen Raum, in dem sich bereits Vincent, Ryu und zwei blonde Frauen aufhielten. Die Atmosphäre war gedrückt, nicht zuletzt durch das anhaltende Schweigen und das karge Licht, das durch die geschlossene Jalousie fiel. Anthony musterte die beiden Frauen, die ihm unbekannt waren. Die mit den Locken und den gelben Augen, die ihn angstvoll musterten, kam ihm durchaus entfernt bekannt vor, genau wie es bei Russel der Fall gewesen war. Durch einen Nebelschleier kam ihm ihr Name in den Sinn. Maryl... Dann wanderte sein Blick zu der anderen Frau. Sie wirkte wesentlich selbstsicherer, ihre blauen Augen glitzerten sogar amüsiert, während sie ihn musterte. Bei ihrem Anblick kam ihm kein Name in den Sinn, dafür aber ein Gefühl als würde jemand seinen Körper mit einer Klinge durchstoßen. „Erinnerst du dich an mich?“, fragte sie. Er schüttelte schweigend mit dem Kopf, worauf sie ihm die Hand reichte. „Mein Name ist Seline de Silverburgh. Es freut mich, dich kennenzulernen, Anthony Branch.“ Ein wenig zaghaft erwiderte er ihren Händedruck, dann lächelte sie. „Du bist wirklich ein ganz anderer als früher.“ „Ein ganz anderer als früher?“, fragte er ratlos. „Ihr solltet euch alle setzen“, schlug Russel vor. „Die Unterredung wird ein wenig dauern.“ Diesen Vorschlag setzten die drei Nachzügler sofort um und sie nahmen gegenüber den anderen Platz. Lediglich Russel blieb stehen und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen, Anthony fühlte sich als würde ihm damit der Fluchtweg abgeschnitten werden. „Worum geht es hier?“, fragte Marc. „Du hast doch in der Schule sicherlich etwas über den Drachenkrieg gelernt, oder?“ Ryus sanfte Stimme brachte alle Anwesenden dazu, ihn anzusehen. „Die hier Versammelten, abgesehen von dir, Marc, sind Reinkarnationen der Krieger, die für die Drachenmenschen kämpften.“ Rena blinzelte verdutzt. „Ich auch?“ „Der Ring an deiner Hand ist Zeugnis genug dafür. Du warst einst die Lady des Feuers, Lain.“ Sie schwieg verdutzt, blickte auf den Ring hinab und selbst für Anthony war es offensichtlich, dass sie versuchte, alte Erinnerungen hervorzukramen, um diese Behauptung zu bestätigen. Ryu deutete auf Vincent. „Er war Damian, der Lord der Dunkelheit.“ Seine Hand zeigte auf Maryl. „Lady Maryl, die Lady der Erde. Und Russel ist der Lord des Windes. Ich wiederum bin Ryu, der Lord des Blitzes.“ Marcs Augen weiteten sich erstaunt. „Moment! Dann bist du wirklich der Kaiser der Drachenmenschen? Ich dachte immer, das wäre nur ein Scherz.“ Ryu lachte, ein freudloses Lachen, das Anthony einen Schauer über den Rücken jagte. „Der Titel ist nur noch Schau, ich bin schon lange kein Kaiser mehr.“ Anthony wusste nicht so recht, was das bedeuten sollte. Trotz einiger Geschichtsstunden, denen er inzwischen schon beigewohnt hatte, war er immer noch ahnungslos, was die Geschichte der Drachenmenschen anging und Kai schwieg ebenfalls. Ryu fuhr fort: „Anthony wiederum ist die Reinkarnation des Göttlichen Kai.“ „Was hat es damit auf sich?“, fragte Anthony, die Gelegenheit nutzend. Doch es war Seline, die ihm dieses Mal antwortete: „Wie du vielleicht weißt, beten die Drachenmenschen einen Gott namens Ladon an. Dieser Gott wurde vor etwas mehr als hundert Jahren von einem seiner Untertanen getötet – doch er wurde als Kai reinkarniert. Der Göttliche sollte die Drachenmenschen in ein neues Zeitalter führen.“ „Aber er stellte sich als Verräter heraus“, schloss Russel für sie. Eine Welle von Empörung überkam Anthony, ausgehend von Kai, aber bevor er etwas sagen konnte, schaltete Ryu sich noch einmal ein: „Wir hatten doch beschlossen, dass wir ihm eine Gelegenheit geben, sich zu erklären.“ „Ich finde, er braucht keine Erklärung“, erwiderte Russel. „Er hat uns immerhin verraten, da kannst du sagen, was du willst.“ Die Welle der Empörung verstärkte sich plötzlich, traf ihn mit einer solchen Wucht, dass er darunter regelrecht einknickte. Er schloss die Augen – und als er sie wieder öffnete, waren sie blassgrün. Er klingelte nicht, als er an der Haustür angekommen war. Stattdessen nutzte er seine Schlüsselkarte, um die Tür zu öffnen und dann ins Stockwerk hochzugehen, das Anthony bewohnte. Es war so ruhig und still im Haus, wie es nur an einem Sonntag Vormittag oder an Schultagen sein konnte. Fast kam es einem vor als würde seit Langem niemand mehr in den Apartments leben und diese rotteten nun still vor sich her, stumme Zeugen unzähliger Schicksale, die in ihnen geschehen waren. An der Tür angekommen, die zu Anthonys Apartment führte, hielt er wieder inne. Er überlegte, ob er klopfen oder die Tür einfach öffnen sollte, immerhin wusste er nicht, um welchen Notfall es sich handelte. Während er noch unentschlossen die Tür anblickte, fiel ihm auf, dass diese einen Spalt geöffnet war, was ihm die Entscheidung abnahm. Er drückte die Tür auf, einen Tadel bereits auf der Zunge, dass er vorsichtiger sein sollte, aber das Gefühl, dass etwas Schlimmes ihn in dieser Wohnung erwartete, schnürte seine Kehle zu. Sein Nackenhaar stellte sich auf, er erinnerte sich deutlich, dieses Gefühl bereits einmal durchlebt zu haben. Damals war es sein eigenes Apartment gewesen, das er nach einem Eindringling durchsucht hatte und obwohl er damals überzeugt gewesen war, dass sich außer ihm niemand darin befand, wusste er natürlich, dass es ganz anders gewesen war. An diesem Tag aber durfte er das Gefühl nicht ignorieren, denn es ging nicht um sein Leben, sondern um das Anthonys, diesen konnte er allerdings nirgends entdecken, egal welchen Raum er aufsuchte. Genausowenig fand er aber jemand anderen vor. Bin ich zu spät? Er wollte nach seinem Handy greifen, um Anthony anzurufen, überlegte es sich aber wieder anders. Wenn er in Gefahr ist, wird er den Anruf ohnehin nicht annehmen können. Plötzlich spürte er die andere Person direkt hinter sich und er spürte auch deren feindliche Absichten so deutlich, dass es wirkte als würde der andere sich gar keine Mühe machen, es zu verbergen. Er wirbelte herum, den Arm erhoben, um einen Angriff abzufangen und ihn dann zu erwidern, aber sein Feind schien das vorausgesehen zu haben. Er versetzte Raymond einen schmerzhaften Schlag in den Nacken, der ihn zu Boden gehen ließ. Die Schmerzen schossen ihm direkt vom Nacken in den Kopf und ließen seine Sich verschwimmen, seine Brille stürzte wenige Meter entfernt von ihm auf den Teppich, wo sie mit einem erstaunlich lauten Klirren zerbrach. Er versuchte, sich aufzurichten, aber die Schmerzen ließen Übelkeit in ihm aufsteigen, was dazu führte, dass er mit einem Ächzen wieder zu Boden sank. Dennoch versuchte er, den Blick zu heben, um die andere Person zu erkennen. Doch in seiner verschwommenen Sicht war es ihm lediglich möglich, die Aura des anderen als bedrohlicher schwarzer Fleck wahrzunehmen. Schließlich gab er dem Drängen seines Körpers nach und schloss die Augen. Ehe er in die Ohnmacht hinübersank, hörte er noch die Stimme des anderen, die ihm erschreckend vertraut war: „Endlich kommt wieder zusammen, was zusammen gehört, mein Bester.“ Kapitel 31: Verräter oder nicht? -------------------------------- „Ich kann vollauf verstehen, dass du wütend bist“, sagte ich zu Russel, der mich immer noch wütend anstarrte. „Aber lass mich doch erklären.“ Ich konnte ihn wirklich verstehen, aber das änderte nichts daran, dass diese ganze Annahme vollkommen falsch war und möglicherweise wurde es Zeit, dass ich endlich alles aufklärte. Dabei ging es mir weniger um mich, sondern mehr um den Jungen, in dessen Körper ich lebte und der unter alldem zu leiden hatte. „Fein.“ Russel klang beleidigt, zeigte aber auch, dass er gewillt war, mir zuzuhören, wofür ich dankbar war. „Möglicherweise ist es vonnöten, weiter auszuholen“, begann ich und lehnte mich zurück. „Der Dämon, gegen den wir gekämpft haben, war nicht einfach nur irgendein bösartiges Wesen aus der Anderswelt. Er war ein Teil jener Entität, die ihr unter dem Namen Ladon kennt.“ Der Junge, der den Namen Marc trug, blieb davon unbeeindruckt, aber die anderen Versammelten sogen erstaunt die Luft ein. Russel neigte den Kopf. „Ladon? Aber ... du bist doch seine Reinkarnation! Wie kann es da noch einen Teil geben?“ „Ich kann es dir auch nicht wirklich erklären“, gab ich zu. „Ladon starb in einer anderen Welt als seiner, getötet von einer Person, die er geliebt hat. Dadurch muss sich sein Hass von seinem normalen Geist gespalten haben und beides wurde in unterschiedlichen Form reinkarniert.“ Ein trauriger Schimmer erschien in Selines Augen, sie ergriff eine ihrer Haarsträhnen und zwirbelte sie zwischen ihren Fingern. Es war mir kaum möglich, den Blick von ihr zu nehmen, auch wenn ich nicht so recht wusste, weswegen. Ich selbst verspürte keinerlei Verlangen nach ihr, aber es war gut möglich, dass der ruhende Teil von Ladon in mir da anderer Ansicht war. „Noch einmal langsam“, meldete Vincent sich und riss meine Aufmerksamkeit nun doch brutal von Seline fort. „Du sagst also, Melzesa war in Wirklichkeit ein Teil von Ladon? Woher weißt du das?“ Ich war empört darüber, dass er mir eine derartige Frage stellte, obwohl ja bereits längst festgestellt war, dass ich die Reinkarnation des Gottes war und damit solche Dinge eben wusste. Aber gleichzeitig verstand ich auch, dass er skeptisch war. „Fleera könnte es besser erklären, wenn sie hier wäre.“ Nach der letzten Begegnung des Jungen mit dem Mädchen war ich mir aber sicher, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie sich wieder genau an jenes Detail erinnerte, das ich für diese Erklärung benötigte. Deswegen blieb mir nichts anderes übrig als selbst fortzufahren: „Aber unsere Resonanzen und Schwingungen sind dieselben. Daran ist eindeutig auszumachen, dass er und ich eigentlich ein Teil des Ganzen sind. Und ...“ Ich zögerte, unsicher ob ich diese Erklärung wirklich hinzufügen sollte, weil sie mich wieder ins Spektrum eines Verräters einordnen könnte. Aber vielleicht war Ehrlichkeit in diesem Moment auch wichtig. „Melzesa hat es mir außerdem gesagt.“ Russel und Vincent zogen sofort wieder die Brauen zusammen, um mich misstrauisch anzusehen. „Er hat mit dir gesprochen?“, fragte Rena rasch und lenkte mich von den beiden Männern ab. „Ich erinnere mich nur ungenau, aber ... als ich ihm gegenüberstand, hat er kein Wort gesagt.“ Ich schüttelte mit dem Kopf, hielt dann aber auch gleich wieder inne. „So direkt hat er das nicht, nein. Aber ich konnte ihn in meinen Träumen sehen und dort sagte er mir das.“ „Warum?“, fragte Ryu tonlos. „Wollte er dich damit zu einem Verräter machen?“ Ich hob die Schultern. „Vielleicht. Er hat es mir nicht gesagt, nur, dass wir zwei Seiten derselben Medaille wären und deswegen zusammenhalten müssten. Ich habe ihm nicht geglaubt, aber Fleera hat es bestätigt.“ Die anderen nickten verstehend, bis auf Maryl, die mich immer noch ratlos ansah. „Aber was hat das nun damit zu tun, dass du uns verraten hast?“ Auf diese Frage hatte ich gewartet, weil sie mich zu dem Thema führte, von dem ich nicht wusste, wie die anderen darauf reagieren würden. Aber es führte kein Weg darum herum. „Ihr erinnert euch sicher an das, was geschrieben stand? Dass es nur eine einzige Sache gab, die helfen würde, Melzesa zu töten?“ „Der Götterhauch“, sagte Vincent sofort. „Was ist das?“, fragte Marc, der sich im Moment sicherlich absolut fehl am Platz fühlte, da er an dieser ganzen Sache nicht beteiligt gewesen war und nichts darüber wusste. Seline übernahm es glücklicherweise, ihn sanft lächelnd aufzuklären: „Der Götterhauch ist eine Fähigkeit, die nur dem Göttlichen, Ladons Reinkarnation, zusteht. Es heißt, sie soll alles Böse vernichten und die Menschen in ein Zeitalter des absoluten Friedens führen.“ Bei ihrer Erklärung wirkten die anderen geradezu verträumt, ich dagegen verkrampfte regelrecht, als ich das wieder einmal hörte und mir bereits vorstellte, wie ich gleich alle Hoffnung zerschmettern müsste. Mit leuchtenden Augen blickte Marc mich wieder an. „Warum hast du das nicht gemacht? Das klingt zu schön, um wahr zu sein!“ „Ist es auch“, erwiderte ich trocken, worauf die Gesichter der anderen sofort einfroren. „Habt ihr euch wirklich nie gefragt, wie ein Zeitalter des absoluten Friedens aussehen würde? Bei eurer Reise habt ihr damals selbst erlebt, wie verschieden Menschen sind und über welche Kleinigkeiten sie in Streit geraten können. Was denkt ihr, was es brauchen würde, um in solche Zustände Frieden einkehren zu lassen?“ Bis auf Ryu und Seline warfen sich alle verwirrte Blicke zu. Er war es, der schließlich, erschreckend gleichgültig, antwortete: „Man bringt sie einfach alle um. Wenn es keine Menschen mehr gibt, existiert immerhin endlich Frieden.“ Ich nickte. „Exakt. Der Götterhauch ist nur eine schöne Umschreibung für die vollständige Vernichtung der Menschheit.“ Für einen Moment waren tatsächlich alle still, bis auf Ryu und Seline sahen auch alle schockiert aus, sogar Marc. Ich dagegen war erleichtert, dass es endlich draußen war und mir auch alle zu glauben schienen – bis auf Russel, der plötzlich den Kopf schüttelte. „Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Warum sollte Ladon, gerade Ladon, das tun wollen? Er hat damals genau gegen solche Umstände gekämpft!“ Ich spürte ein Ziehen in meinem Herzen, es war eine geradezu traurige Freude, als ob ein alter Freund einen an fröhliche Zeiten erinnerte, die einen nun unglücklich stimmten. Ladon mochte im Augenblick schlafen, aber er reagierte zweifelsohne auf viele Dinge. „Ich kann dir nicht sagen, was ihn dazu bewogen hat, aber sein Plan sah vor, mich dazu zu bringen, den Götterhauch anzuwenden und alle Menschen auszulöschen ...“ Mein Blick fiel unvermittelt wieder auf Seline, deren Lächeln endgültig erloschen war. „Was könnte er dadurch erreichen?“, fragte Maryl ratlos. „Warum sollte er all seine Anhänger auslöschen wollen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Aber es kümmert mich auch nicht weiter. Mein einziger Plan ist es, ihn davon abzuhalten, es umzusetzen. Deswegen musste ich Melzesa versiegeln, denn nur so konnte ich mit ihm verschmelzen, Ladon wieder zusammensetzen und die Kontrolle über ihn gelangen.“ Es kam mir vor als würden meine Worte noch nachhallen, als ich wieder den Mund schloss. Die anderen sahen mich schweigend an und ich glaubte regelrecht, sehen zu können, wie sie ihre Meinung über mich und meine letzte Tat änderten oder wie sie geradezu krampfhaft versuchten, weiter daran festzuhalten. Besonders Russel schien mir nach wie vor nicht glauben zu wollen, aber es gab nichts mehr, was ich von meiner Seite aus hätte tun können, um seine Bedenken weiter zu zerstreuen. Fleera könnte mehr dazu sagen, wenn sie erst einmal vollständig erwacht war, aber das könnte, wie ich ja bereits festgestellt hatte, noch eine Weile in Anspruch nehmen. „Du hast Ladon also unter Kontrolle?“, fragte Vincent schließlich und brach damit die Stille wieder. Es verwunderte mich ein wenig, dass gerade er mir zu glauben schien, aber vielleicht hatte er auch nur beschlossen, das vorerst einmal zu tun, bis er Grund zur Annahme fand, dass ich log. Als ich nickte, schaltete sich der besorgte dreinblickende Marc ein: „Geht es Tony dabei gut?“ Ich lächelte ihm versichernd zu. „Ja, keine Sorge. Anthony bekommt gar nichts von dem mit, was ich in seinem Inneren tue.“ Marc atmete wieder auf – und dann fiel ihm wohl noch eine Frage ein: „Aber eines verstehe ich nicht so ganz ... wer bist du denn überhaupt?“ Kaum wandte das Gespräch sich nur noch der Klärung von Marc Fragen bezüglich Kais Identität zu, beschloss Seline, die Gruppe zu verlassen. Mit einem halbherzigen Lächeln stand sie auf und ging die Treppe hinauf, um ihr Zimmer aufzusuchen. In ihrem Inneren rumorte ein Sturm aus Sorge und Schuldgefühl und sie wollte nicht, dass die anderen davon etwas mitbekamen. Nicht nur weil sie einen großen Teil dieser Leute nicht einmal – wirklich – kannte, sondern auch weil keiner von ihnen ihre Beherrschung und Autorität in Frage stellen sollte, nachdem sie so lange für ihren Ruf gearbeitet hatte. Nie wieder wollte sie als das schwache Prinzesschen angesehen werden, das bei jedem Schritt beschützt werden musste und das wollte, dass man ihm die Hand hielt. Aber das, was sie nun erfahren hatte, drohte geradewegs, sie wieder in diese Situation hineinzuschleudern. Erst in ihrem Zimmer blieb sie wieder stehen, sie machte sich nicht einmal die Mühe, die Tür zu schließen, da sie genau hörte, dass jemand hinter ihr stehenblieb – und sie musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, wer das sein könnte. „Es ist alles meine Schuld“, murmelte sie. „Alles nur meine, genau wie damals.“ „Wie kommst du denn darauf?“ Russels Stimme klang genauso sanft und beruhigend, wie damals, wann immer er ihr erneut versichert hatte, dass er sie wieder nach Hause bringen würde. Und damit trug er im Moment ebenfalls dazu bei, dass sie sich wieder an früher erinnert fühlte. „Ladon hat es mir gesagt, bevor ich ihn getötet habe“, erklärte sie. „Er sagte, dass er die Menschen auslöschen und mit mir als seine Gefährtin eine neue Rasse errichten will.“ „Aber dann ist es doch nicht deine Schuld.“ Sie zog die Schultern hoch, wollte seine Worte aussperren, um sich nicht trösten zu lassen. „Doch, ist es!“ Obwohl sie es nicht wollte, schrie sie fast. „Wenn ich nicht wäre, wenn ich nicht diesen Pakt geschlossen hätte, dann hätte er niemals diesen Plan gefasst! All diese Personen wären nicht gestorben und dann-“ Es gelang ihr nicht den Satz zu beenden. Sie musste überrascht innehalten, als Russel sie plötzlich von hinten umarmte und sein Gesicht in ihrem Haar vergrub. In den letzten Tagen hatte er sie oft umarmt oder zumindest versucht es zu tun, aber niemals hatte sie so sehr das Gefühl, ihm nah zu sein wie in diesem Moment und zum ersten Mal verspürte sie auch nicht den Impuls, ihn mit irgendeinem Spruch wieder auf seinen Platz zu verweisen, nur um ihm zu zeigen, dass sie auch ohne ihn zurechtkam und er sich mehr nach ihr verzehrte als sie sich nach ihm. „Es ist nicht deine Schuld“, murmelte er schließlich undeutlich. Sein Atem tanzte auf ihrem Haar und ließ einen wohligen Schauer auf ihrer Haut entstehen. „Du hast getan, was du konntest, um deinen Bruder zu retten. Es ist Ladons Schuld, dass er das alles überhaupt geplant und von dir verlangt hat. Niemand macht dir Vorwürfe.“ „Ich mache sie mir aber!“, beharrte sie. „Ladon wollte den Menschen bereits schaden, bevor es dich gab. Deswegen haben die anderen Götter gegen ihn rebelliert. Aber ... ich hatte bislang immer geglaubt, dass es dafür einen anderen Grund gab.“ Sie erinnerte sich deutlich an jene Zeit zurück, in der Russel sich wieder an seine gemeinsame Vergangenheit mit Ladon erinnert hatte, an seinen Schmerz, als er den Wandel seines einstigen Freundes bemerkt hatte. „Ich hoffe immer noch, dass es eine Erklärung gibt, warum er sich gegen jene stellt, die an ihn glauben. Auch wenn Kai sie mir nicht geben konnte, hoffe ich weiter.“ Er drückte sie ein wenig fester an sich. „Und du solltest dir keine Sorgen oder Gedanken mehr machen. Wir werden herausfinden, was in Ladon vorgeht, aber bitte mach dir keine Vorwürfe mehr.“ Sie wusste, dass diese Worte nicht nur ihrer Beruhigung dienen sollten, sondern auch seiner eigenen. Dass er ebenfalls jemanden benötigte, der ihn einfach umarmte und ihm versicherte, dass alles gut werden würde. Also hob sie die Hände so gut es ihr möglich war und legte sie auf seine Arme, ehe sie die Augen schloss. „Ja, wir werden das zusammen schaffen, ganz sicher. Ab sofort werden wir uns nicht mehr trennen.“ Sofort schien es ihr, als würde die Anspannung von ihm abfallen, sie glaubte sogar, ein leises, gehauchtes Danke hören zu können und lächelte ein wenig darüber. An der Möglichkeit ihres Vorhabens zweifelte sie keine Sekunde. Sie beide könnten sogar Ladons wahre Hintergründe aufdecken, davon war sie überzeugt – und sie freute sich sogar schon darauf, da es immerhin versprach, dass sie beide viel Zeit miteinander verbringen und neue Abenteuer erleben würden. Aber bevor sie bereits in die Zukunft schweifte wollte sie diese besinnliche Zweisamkeit genießen, solange sie anhielt und sich dabei an all die guten Zeiten erinnerten, die sie zusammen verbracht hatten. Kapitel 32: Vergebliche Suche ----------------------------- Alona war sich unschlüssig, ob sie wütend sein oder Furcht empfinden sollte, als sie in Raymonds leerem Büro stand. Keine Spur war von ihm zu sehen, der Computer war kalt, also war er seit dem Vortag nicht benutzt worden, die Dokumente lagen noch immer ungeordnet auf dem Tisch, was ebenfalls darauf schließen ließ, dass Raymond nicht hier gewesen war, um zu arbeiten. Natürlich war seine Sekretärin an einem Sonntag auch nicht anwesend, deswegen konnte sie diese nicht fragen, ob er zumindest kurz hier gewesen war und dann zu irgendeinem Notfall in den Schülerquartieren gerufen worden war. Allerdings ging er nicht ans Telefon, als sie versuchte, ihn anzurufen, was sie zuerst an jene Situation vor wenigen Tagen erinnerte. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie daran dachte, all die Sorgen, die am Ende umsonst gewesen waren. Aber diesmal glaubte sie nicht daran. Sie war direkt von zu Hause hergekommen, deswegen konnte sie ausschließen, dass er nun dort war. Viel eher wollte sie glauben, dass er absichtlich nicht abhob und sich stattdessen ganz woanders befand, gesund und munter. Bestimmt ist er zu Joel gegangen, dachte sie verärgert. Da komme ich extra her, um mich zu entschuldigen und dieser Kerl hat den Nerv, bei seinem Freund herumzuhängen, wegen dem wir uns überhaupt erst gestritten haben! Dieser Gedanke schaffte es vorerst, die Sorge zu vertreiben, dafür brodelte ihr Inneres regelrecht, als sie Joel einfach anrief, um sich bei ihm abzureagieren. Sie gratulierte ihm gedanklich, dass er tatsächlich abhob, fauchte ihn aber sofort an, noch bevor er sich melden konnte: „Wo ist Raymond, Chandler?!“ Joel seufzte und machte sich keine Mühe, das zu verbergen. „Keine Ahnung. Er ist dein Ehemann, oder? Du solltest es doch besser wissen.“ Ihm gegenüber gab sie nur ungern zu, dass sie es nicht wusste, aber sie musste es knirschend tun, nur um dann noch etwas hinterherzuschieben: „Aber du versteckst ihn doch nicht vor mir, oder?“ „Ray ist mein bester Freund – aber ich tue sicher nicht noch mehr, um deinen Zorn auf mich zu ziehen. Also warum sollte ich ihn hier verstecken und dann auch noch so blöd sein, ans Telefon zu gehen, wenn du anrufst?“ Da war etwas dran, wie sie zugeben musste. Aber vielleicht handelte es sich dabei auch nur um eine clever ersonnene Taktik, um sie mit verdrehter Logik auszubooten. Ganz sicher konnte sie sich nicht sein, aber die Sorge nahm bereits wieder die Oberhand über ihre Gefühlswelt ein, weswegen sie nicht weiter darauf eingehen konnte und ihm stattdessen einfach glaubte. „Dann weißt du auch nicht, wo er ist?“ Sie hasste sich regelrecht dafür, dass ihre Stimme in diesem Moment zitternd und ängstlich klang. Aber zu ihrem Glück reagierte Joel anders, als sie befürchtet hatte. Er nutzte dies nicht als weiteren Angriffspunkt gegen sie, sondern klang plötzlich voller Anteilnahme, wie sie es bei ihm noch nie zuvor gehört hatte: „He, hör mal, ich bin sicher, mit ihm ist alles in Ordnung. Du weißt doch, was er alles kann.“ „Ich weiß aber auch, dass es Leute gibt, die genau deswegen hinter ihm her sind.“ Joel schwieg einen kurzen Augenblick, sie wusste nicht, worüber er nachdachte, ihr gingen allerdings viel zu viele Gedanken durch den Kopf, so dass diese sogar für ihn gereicht hätten. Sie stellte sich vor, wie Raymond gerade irgendwo von jemandem festgekettet oder gar gequält wurde, wie man ihn einer Gehirnwäsche unterzog ... es schauderte sie regelrecht. Selbst nach all den Streitereien der letzten Tage wollte sie nicht, dass ihm so etwas geschah und dass er dann möglicherweise ihr Feind sein müsste. „Das ist neu für mich“, sagte Joel und riss sie damit aus ihren trüben Gedanken. „Woher weißt du denn davon?“ „Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte sie. „Und der Großteil davon würde dich auch nicht interessieren, also sollten wir lieber nicht darüber reden.“ „Wenn du das sagst.“ Zum ersten Mal glaubte sie, zu hören, dass er sie fürchtete, aber auch sie verzichtete darauf, einen Vorteil aus dieser Erkenntnis zu ziehen. „Ich werde ihn weitersuchen“, sagte sie stattdessen. „Falls du etwas von ihm hörst-“ „Gebe ich dir sofort Bescheid, natürlich.“ Sie bedankte sich halblaut bei ihm und hoffte fast schon, dass er das nicht mitbekam. Er räusperte sich leise, was ihr verriet, dass er es doch gehört hatte und fügte dann gleich noch etwas hinzu: „Was auch immer du tust: Sei vorsichtig.“ Ehe sie darauf reagieren konnte, hatte er bereits aufgelegt, so dass ihr nichts anderes übrigblieb, als ebenfalls aufzulegen und das Handy dann wieder in ihre Tasche zu stecken. Vor Joel hatte sie noch recht zuversichtlich gewirkt, aber eigentlich wusste sie gar nicht, wo sie Raymond sonst noch suchen sollte. Normalerweise war er nur zu Hause, im Büro, bei Joel oder ... Ihr Gesicht verdüsterte sich augenblicklich, als sie an die letzte Alternative dachte. Dort wollte sie ihn eigentlich am Allerwenigsten sehen, da wäre ihr vermutlich sogar die Hand des Feindes um einiges lieber gewesen. Da sie die Nummer dieser Person nicht auf dem Handy hatte, beschloss sie, umzudrehen und das Café aufzusuchen, in dem die Geschwister dieser Frau arbeiteten, dann würde sie voraussichtlich ein wenig mehr erfahren. Sie hoffte nur, dass es dann noch nicht zu spät sein würde für Raymond. Der Gesuchte erwachte derweil an einem gänzlich anderen Ort. Noch bevor er die Augen öffnete, spürte er, dass er auf einem unbequemen, harten Stuhl saß und sogar an diesen gefesselt war. Die Seile schnitten unangenehm in seine Handgelenke, als er sich zu bewegen versuchte. Es war nichts zu hören und das einzige, was er riechen konnte, war kalter Rauch, was ihm keinen Anhaltspunkt für seinen Aufenthaltsort gab. Also öffnete er die Augen und blinzelte dann immer wieder, um seine verschwommene Sicht ein wenig zu klären. Es lag nicht an der Abwesenheit seiner Brille, dass er kaum noch etwas sehen konnte, sondern vielmehr an seinem schmerzenden Kopf. Undeutlich erinnerte er sich an einen Schlag in den Nacken, nach dem er ohnmächtig geworden war. Aber da war noch etwas gewesen, ein Mann, den er nicht hatte erkennen können, dessen Stimme ihm aber durchaus bekannt vorgekommen war. Und je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde seine Erinnerung. Er sah wieder einen Mann mit langem, grauen, zu einem Pferdeschwanz gebundenem Haar, einem spitz zulaufenden Kinn, das allerdings selten beachtet wurde, weil die meisten Leute stets auf seine goldenen Augen achteten, die einen amüsiert durch eine grau gerahmte Brille betrachteten – und schon im nächsten Moment sah er sich genau diesem Mann gegenüber. Er saß ebenfalls auf einem Stuhl, war allerdings nicht gefesselt, stattdessen hatte er sogar lässig ein Bein über das andere geschlagen. Sein warmes Lächeln hätte möglicherweise so manchen getäuscht, aber Raymond sah die schwarze, wabernde Aura, die den Mann umgab und verriet, dass es sich bei ihm um einen abgrundtief bösartigen Menschen handelte. Wenn er überhaupt ein Mensch ist ... So sicher war Raymond sich nämlich nicht, denn er kannte diesen Mann noch aus seiner Kindheit und damals hatte er schon genauso ausgesehen. Nicht eine einzige Falte war hinzugekommen, nichts war an seinem Lächeln anders, seine Frisur sah immer noch exakt so aus wie damals. „Master ...“ Er musste nicht erst die Stimme des Mannes hören, um zu wissen, dass es sich bei ihm um den Direktor des Waisenhauses handelte, in dem er so lange Zeit gelebt hatte – und in dem er darauf gedrillt worden war, gegen übernatürliche Wesen zu kämpfen. Der Mann freute sich offenbar darüber, dass er erkannt worden war, sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Wie schön, du ersparst es mir, mich vorzustellen – und es sagt mir außerdem, dass du dich noch an meine Lehreinheiten erinnerst.“ „Mir wäre es lieber, ich würde mich nicht erinnern.“ Es war nicht mehr so deutlich wie in seiner Jugendzeit und er träumte auch nicht mehr jede Nacht davon, aber manchmal wurde er noch davon übermannt und das waren meistens die Tage, an denen er sich mit Alona stritt. Es war dann wie ein innerer Drang und inzwischen fehlte ihm nur noch die Bestätigung, warum das so war – glücklicherweise erhielt er diese auch sofort: „Leider musste ich feststellen, dass du etwas durcheinandergebracht hast. Ich gab dir den Auftrag, das Herz einer Hexe zu stehlen, wortwörtlich, nicht, es zu erobern und eine Familie mit ihr zu gründen.“ Die Erinnerung an diesen Auftrag war nur dunkel, aber da war tatsächlich etwas gewesen, dafür war er ausgebildet worden ... aber er wusste nicht, warum. Welchen Sinn sollte es machen? Vor allem nach allem, was er von Alona wusste. „Du hast dich nicht gut an meine Anweisungen gehalten, dafür sollte ich dich eigentlich bestrafen.“ „Eine noch schlimmere Strafe, als hier festgebunden zu sein?“ Er erwartete eine Zurechtweisung von Master, doch dieser lächelte noch immer milde. Er faltete die Hände in seinem Schoß und stieß ein leises, müdes Seufzen aus. „Oh, Raymond, wer hat dir nur beigebracht, solche Widerworte zu geben? Das werde ich dir wieder austreiben müssen.“ „Was hast du vor?“ „Als ob ich dir das erzählen würde.“ Master lächelte nun wirklich vergnügt, fast wie ein kleines Kind. „Aber du wirst schon sehen, was ich tun werde, wenn ich erst damit anfange, immerhin haben wir das früher oft getan.“ In einer finsteren Ecke seines Gedächtnisses, sah Raymond sich selbst, wie er als Kind in einer Ecke kauerte und dabei mit weit aufgerissenen Augen das Bild eines furchtbaren Monsters betrachtete. Etwas ging von diesem Wesen aus, aber er konnte nicht genau sagen, was es war, denn je mehr er sich darauf zu konzentrieren versuchte, desto stärker wurden seine Kopfschmerzen. Gepeinigt schloss er die Augen und hörte nur noch das amüsierte Lachen seines Gegenübers, ehe er noch einmal in die Bewusstlosigkeit versank. Alona war mehr als nur überrascht, das Café so früh am Vormittag so voll vorzufinden. Besonders dass es hauptsächlich Personen waren, die sie sogar kannte – und einer von ihnen war noch dazu derjenige, der ebenfalls ein Streitgrund für sie und Raymond gewesen war. An seinen Augen war etwas anders als sonst, ganz zu schweigen von seiner Stirn, auf der dieses seltsame Zeichen erschienen war. Aber sie hatte keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen. „Was ist los, Alona?“, fragte Ryu, nachdem die allgemeinen Begrüßungsfloskeln ausgetauscht worden waren. „Ich suche nach Raymond“, erklärte sie, mit glücklicherweise fester Stimme diesmal. Die anderen blickten sich ein wenig irritiert an, Ryu runzelte aber die Stirn. „Wie lange hast du nichts mehr von ihm gehört?“ „Seit heute Morgen, er ist nirgends aufzutreiben.“ Und es erfüllte sie mit ohnmächtiger Wut, dass sie nichts tun konnte, um das zu ändern, obwohl sie eine Hexe war. „Ich hatte gehofft, er wäre hier oder bei Joy.“ Dass er nicht hier war, konnte sie inzwischen sehen, Ryu schüttelte dennoch mit dem Kopf. „Ich glaube nicht, dass er bei Joy ist. Sie ist gar nicht in der Stadt, weil sie außerhalb zu tun hat.“ Obwohl sie sich das bereits gedacht hatte, war es dennoch wie ein Schlag in ihren Magen. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren damit wahr geworden, Raymond war verschwunden, höchstwahrscheinlich befand er sich in Gefahr und sie wusste nicht einmal, wo genau und damit gab es nichts, was sie tun könnte. Dennoch bedankte sie sich bei Ryu für diese Information, ohne sich etwas anmerken zu lassen. „Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Lionheart“, sagte Rena plötzlich. „Mr. Lionheart taucht bestimmt wieder auf, vielleicht hat er bei der Inspektion der Quartiere nur die Zeit vergessen.“ Das war ihr allerletzter Hoffnungsschimmer, das einzige, woran sie sich nun noch klammern konnte, weswegen sie dankbar war, dass Rena es vorgebracht hatte. Sie nickte ihr zu und entschuldigte sich dann für die Störung. „Wahrscheinlich reagiere ich wirklich nur über. Ich gehe wohl besser erst einmal nach Hause.“ Damit verabschiedete sie sich von den Anwesenden und verließ das Café wieder, um tatsächlich den Weg nach Hause einzuschlagen. Der kleine Hoffnungsschimmer war nur fahl, erlaubte kaum, dass sie sich an ihn klammerte, weswegen sich das ungute Gefühl in ihrem Inneren mit jedem Schritt verstärkte und sie schließlich nach ihrem Handy griff. Wenn es schon das einzige war, was sie nun tun konnte, war es besser, es auch direkt in die Tat umzusetzen. Also wählte sie erneut Raymonds Nummer und hielt sich das Handy danach ans Ohr – nur um zum wiederholten Mal an diesem Tag von seiner Mailbox begrüßt zu werden. Kurz nach dem Besuch dieser Frau beschlossen wir, die Versammlung aufzulösen. Es war alles geklärt worden und das mit dem, zu diesem Zeitpunkt, besten Ergebnis, wie ich fand. Die anderen glaubten mir, deswegen würde ich Unterstützung gegen Fleeras misstrauische Reinkarnation haben, wenn ich sie benötigte – besser hätte es gar nicht laufen können. Da ich noch immer die Vorherrschaft über Anthonys Körper hatte, begleitete Marc mich zu der Wohnung des Jungen, damit ich auch sicher dort ankommen würde. Aber mir ging nicht aus dem Kopf, was diese Frau gesagt hatte. Dieser Mann, der Direktor der Schule, war verschwunden und sie konnte ihn nirgends finden. Ich glaubte nicht, dass Rena mit ihrer Vermutung recht hatte, sondern war mir tatsächlich sicher, dass etwas ganz anderes dahintersteckte. Die Aura beider Personen, sofern ich sie durch Anthony mitbekommen hatte, war außergewöhnlich, deswegen zweifelte ich nicht daran, dass es irgendjemanden gab, der einen Nutzen daraus ziehen könnte, den Mann an sich zu reißen. Die Frage war für mich nur, wer davon profitieren könnte und wie. Marc, der neben mir lief, beschäftigte sich dafür mit einer ganz anderen Frage: „Anthony kommt aber wirklich wieder, oder? Also, ich meine, ich habe mich eben erst mit ihm versöhnt.“ „Natürlich wird er wiederkommen. Ich bin nicht stark genug, um ihn für immer zurückzuhalten – und ich habe auch absolut kein Interesse daran.“ Ich wollte immerhin nicht ins Leben zurück, ich plante ganz andere Dinge, um Anthony am Ende, hoffentlich, allein in seinem Körper lassen zu können. Aber das musste ich ihm ja nicht erzählen, er hätte es ohnehin nicht verstanden. Meine Worte beruhigten ihn jedenfalls sofort. „Dann bin ich froh. Aber wirst du noch oft auftauchen? Nicht, dass du mich nerven würdest, aber ...“ „Keine Sorge. Dieses Erscheinen ermüdet mich meistens, deswegen ... werde ich es nicht oft tun. Zumindest nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“ „Und heute ließ es sich nicht vermeiden?“ „Ich musste heute meinen Ruf verteidigen und Erklärungen liefern, da lässt es sich nicht vermeiden.“ Marc nickte, als ob er wirklich verstehen würde, was ich meinte – aber vielleicht tat er es tatsächlich. Bei dem, was ich von seiner Familiengeschichte wusste, war das nicht wirklich abwegig. Wir schwiegen, bis wir endlich bei Anthonys Wohnung ankamen und Marc mir die Tür geöffnet hatte. „So, den Rest schaffst du sicher allein“, sagte er dann lächelnd. Ich bedankte mich rasch, ehe ich mich verabschiedete und in die Wohnung trat. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, stieß ich ein Seufzen aus. Ich war müde und erschöpft, der ganze Tag, so kurz er bislang auch gewesen sein mochte, zehrte an mir, so dass ich ohne weitere Umschweife ins Bett fiel und sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf versank. Kapitel 33: Kampfansage ----------------------- „Und du erinnerst dich an absolut gar nichts mehr?“, fragte Marc am nächsten Morgen, als er gemeinsam mit Anthony und Rena im Klassenzimmer saß und alles mit den beiden noch einmal durchgegangen war. Anthony schüttelte mit dem Kopf. „Nichts. Und Kai kam auch nicht dazu, mir zu sagen, was geschehen ist, weil er schläft. Aber danke für die Erklärungen.“ Auch wenn sie für Kai vermutlich ohnehin nützlicher waren, als für ihn selbst. Er verstand immerhin nicht so recht, was das eigentlich alles zu bedeuten hatte. Und insgeheim hoffte Anthony auch, dass das so bleiben würde. Er hatte schon genug mit seiner eigenen Vergangenheit, die ihm so fremd war, zu kämpfen, da konnte er es nicht noch gebrauchen, sich mit der von Kai auseinanderzusetzen. Je länger er mit Rena sprach, desto mehr fiel ihm auch auf, dass er der einzige zu sein schien, dessen letzte Inkarnation so abgespaltet und losgelöst von seinem jetzigen Ich lebte – und er fragte sich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Er äußerte seine Bedenken allerdings nicht, da er nicht glaubte, dass es wichtig für die anderen war und noch dazu kam gerade in diesem Moment Leen ins Klassenzimmer, die ihnen wie üblich die kalte Schulter zeigte und sie nicht einmal beachtete, als sie sich neben Heather setzte. Marc und Rena verstummten und sahen zu ihr hinüber, offenbar machte es ihnen genauso Gedanken, in ihrer Gegenwart über derartige Dinge zu sprechen. Die anderen Schüler dagegen hatten sie bislang nicht gestört, aber von denen hatte auch keiner zugehört, bei Leen dagegen ... es schien, als lauschte sie aktiv nach ihnen, ihre angespannten Schultern verrieten auf jeden Fall, dass sie auf etwas wartete. Marc begriff das anscheinend ebenfalls, weswegen er als erstes beschlossen, das Thema zu wechseln: „Hatten wir eigentlich Hausaufgaben?“ „Ein bisschen spät, das zu fragen, oder?“, erwiderte Rena. Anthony kümmerte sich nicht weiter um die möglichen Hausaufgaben und sah stattdessen lieber zu Heather hinüber. Zuvor war dafür keine Gelegenheit gewesen, da er in sein Gespräch vertieft gewesen war. Woran er sich vom Vortag noch erinnerte, war der Besuch von Alona, als sie vom Verschwinden ihres Mannes berichtet hatte. Die Zwillinge ließen sich davon aber nichts anmerken. Sie blickten so neutral wie eh und je, als ob sie im Moment gar nichts kümmern würde, nein, es schien ihm plötzlich sogar noch ein wenig schlimmer, da er inzwischen wusste, dass Heather anders sein konnte und nun wieder zu ihrem früheren Ich zurückgekehrt war. So traute er sich noch weniger, sie anzusprechen. Dabei musste er besonders an diesem Tag mit einem von beiden sprechen – und eigentlich sollte er das so schnell wie möglich machen, wie er musste. Da Leen absolut keine Option war, blieb ihm aber nur Heather. Also entschuldigte er sich knapp bei Marc und Rena, die inzwischen in ein Gespräch vertieft waren und ging zu Heather hinüber. Dort beugte er sich ein wenig vor, ehe er sie leise darum bat, kurz im Gang mit ihr sprechen zu dürfen. Sie stellte, zu seinem Glück, keine Frage und schloss sich ihm sofort an. Die anderen sahen ihnen verwirrt hinterher, aber für den Moment kümmerten ihn die möglicherweise neu entstehenden Gerüchte nicht im Mindesten. Vor der Tür war es etwas ruhiger, nur wenige Schüler liefen noch umher, die meisten unterhielten sich miteinander, keiner von ihnen beachtete sie. Also konnte er relativ offen mit ihr sprechen, nahm er an. „Ich wollte dir das hier zeigen.“ Er griff in die Tasche seiner Jacke, die er trotz der Wärme noch trug, und zog eine Brille hervor. Die Brillengläser waren zerbrochen, was ihn zumindest mit großer Sorge erfüllte. Heather musste nur einen kurzen Blick darauf werfen, dann wurde sie blass und sog erschrocken die Luft ein, was ihn nur in seiner Vermutung bestätigte. „Die gehört meinem Vater! Wo hast du sie gefunden!?“ Sie nahm ihm die Brille ab und betrachtete sie weiterhin, während Anthony ihr erklärte, dass er sie am Morgen in diesem Zustand auf dem Boden seiner Wohnung gefunden hatte. „Aber wie kommt sie dahin?“ „Ich weiß es nicht. Aber es heißt, dass Mr. Lionheart in meiner Wohnung gewesen sein muss.“ Heather runzelte die Stirn und hob dann den Blick, um ihn anzusehen. „Das müssen wir meiner Mutter sagen!“ Ohne seine Antwort abzuwarten, lief sie bereits an ihm vorbei, so dass er Mühe hatte, ihr überhaupt noch folgen zu können. Kaum hatte er es geschafft, wieder gleichauf mit ihm zu laufen, sprach sie bereits weiter: „Wenn seine Brille zerbrochen ist und er in deiner Wohnung war, muss etwas mit ihm geschehen sein, wie meine Mutter befürchtet.“ „Aber was denn?“, hakte er nach. Auf diese Frage schwieg sie deswegen folgte er ihr einfach still weiter. Dabei wunderte er sich weiterhin, was das alles eigentlich zu bedeuten haben sollte. Als Anthony an diesem Tag im Kindergarten der Akademie ankam, waren tatsächlich Kinder an den Tischen, wo sie zu malen und zu basteln schienen und sich dabei lautstark unterhielten. Die Erzieherinnen saßen ebenfalls oder liefen geschäftig umher, von Alona war nichts zu sehen. Heather schien die Geduld zu fehlen, lange nach ihr zu suchen. „Mum!“ Sofort blickten alle auf und sahen zu ihnen herüber, aber das störte sie nicht weiter, im Gegensatz zu Anthony, der ein wenig zurückwich. Zu seinem Glück kam Alona gerade aus einem der angrenzenden Räume heraus und, bevor sie irgendwelche Fragen stellte, führte sie die beiden in den Gang zurück. Vor dem Kindergarten war es wesentlich ruhiger als vor den Klassenzimmern, hier lief niemand umher, weswegen es sich auch einfacher reden ließ. Erst als sie dort wieder stehenblieben, konnte Anthony die Frau genauer betrachten – und stellte dabei irritiert fest, dass etwas mit ihren Augen nicht stimmte. Normalerweise waren sie von einem gleichmäßigen dunklen Braun, aber an diesem Tag war zumindest das linke heller als gewöhnlich und erinnerte mehr an ... Karamell. Es irritierte ihn, aber er sprach es lieber nicht an. „Was ist los?“, fragte Alona ungeduldig. „Ihr solltet doch im Unterricht sein.“ Heather reichte ihr die Brille und erklärte ihr dabei, was Anthony ihr zuvor gesagt hatte, weswegen er sich fragte, warum er eigentlich dabei war. Alonas Gesicht schien sich derweil nicht entscheiden zu können, ob es besorgt oder wütend sein sollte, also beschränkte es sich auf zusammengezogene Brauen und mit Tränen schimmernde Augen. „Also ist es jetzt passiert.“ „Was ist passiert?“, fragte Anthony ratlos. „Worum geht es hier überhaupt?“ „Das frage ich mich auch“, stimmte Heather zu. Er warf ihr einen Blick zu, fast schon dankbar darüber, dass er sich nun nicht mehr so allein fühlen musste. Solange er nicht der einzige war, der nicht verstand, was vor sich ging, schien ihm alles irgendwie ... einfacher. Alona drehte die Brille in ihren Händen umher und lief einige Schritte auf und ab, als kämpfte sie mit sich selbst und der Frage, ob sie wirklich darüber reden sollte – und endlich kam sie zu einer Entscheidung, die zu Anthonys Gunsten ausfiel. Als sie allerdings wieder innehielt, schien ihr Blick noch ernster als zuvor zu sein und er war direkt auf Anthony fixiert. „Ich war schon am Anfang dieser ganzen Sache ein wenig skeptisch, denn im Gegensatz zu sonst, wurdest du uns geradezu aufgezwungen. Als ob der Direktor des Waisenhauses sicherstellen wollte, dass du auf jeden Fall zu uns kommst. Im Normalfall ist so etwas nicht üblich, die Akademien suchen sich selbst unter den Bewohnern des Waisenhauses jemanden aus, den sie für geeignet halten.“ „Ich weiß, dass das bei mir anders war“, erwiderte Anthony. „Man wollte mich loswerden, weil es in meiner Gegenwart zu seltsamen Vorkommnissen gekommen ist. Die anderen Schüler und das Personal hatten deswegen Angst und das sollte beendet werden.“ „Ist so etwas denn mal passiert, seit du hier bist?“, fragte Alona. Er musste gar nicht lange darüber nachdenken und schüttelte deswegen sofort mit dem Kopf. „Nein, bislang nicht.“ Etwas flammte in ihren Augen auf, verschwand aber sofort wieder. „Man hat uns Informationen und Dokumente über deine Familie zukommen lassen und kaum wusste Raymond, wer deine Eltern sind, war es keine Frage mehr, ob er dich herholt, sondern wann er es tut.“ „Dann kannte er meine Eltern?“ „Sie waren Erzieher und Lehrer des Peligro-Waisenhaus.“ Das erklärte natürlich, weswegen er sich daran zu erinnern glaubte, dass er gemeinsam mit seinen Eltern dort gewesen war. Wenn sie dort gearbeitet hatten, war es nur natürlich, in der ganzen Umgebung gab es immerhin keinerlei andere Gebäude oder gar Städte. „Raymond hing sehr an ihnen“, erklärte Alona weiter, „deswegen war es absolut klar, dass er jemanden zu uns holen würde, sobald er davon wusste, dass diese Person mit ihnen verwandt wäre. Es war eine Falle, in die er mit offenen Augen gerannt ist.“ Das erklärte nun endgültig, weswegen er selbst überhaupt in diese Stadt gekommen war und nicht irgendwo anders hin, aber nicht, was das mit Raymonds Verschwinden zu tun hatte. Heather sah das wohl ebenfalls so: „Was hat das denn jetzt mit Dad zu tun?“ Alona sah auf die Brille hinunter, als sie weitersprach: „Schon als ich Raymond das erste Mal, während eines Kampfes, begegnet bin, wusste ich, dass er außergewöhnlich ist. Er ist definitiv anders, als andere Drachenmenschen und ich habe lange Zeit nicht verstanden, inwiefern. Ich weiß es immer noch nicht wirklich – aber ich bin mir sicher, dass es mit dem Direktor des Waisenhauses und auch dir zu tun hat. Weil du jetzt hier bist, Anthony, sind alle Teile in Position und was auch immer der Plan beinhaltet, kann beginnen.“ „Aber du weißt nicht, was genau es bedeutet“, stellte Heather noch einmal sicher, dabei klang sie reichlich genervt. „Also war dieses ganze Gespräch jetzt total unnötig.“ Alona bedachte ihre Tochter mit einem tadelnden Blick. „Das war es nicht. Ich wollte euch damit nur darauf vorbereiten, dass es möglich ist, dass Raymond als unser Feind wiederkehrt.“ Anthonys Augen weiteten sich erschrocken. „Bedeutet das etwa, das Peligro-Waisenhaus dient nur dazu, Feinde auszubilden?“ Er konnte sehen, wie Heather einen Blick zu ihm warf und er achtete darauf, ob sie zurückwich, aber sie tat es, glücklicherweise, nicht, sondern wandte ihre Aufmerksamkeit dann direkt ihrer Mutter zu, die das erklären sollte. Alona hob aber nur die Schultern. „Ich kann es dir nicht sagen, ich weiß fast gar nichts darüber. Aber ich weiß, dass Raymond dazu ausgebildet wurde, gegen alle möglichen und unmöglichen Monster zu kämpfen. Das wurde bestimmt nicht ohne Grund gemacht.“ Heather sah wieder zu Anthony. „Wurdest du das auch?“ „Nicht, dass ich mich daran erinnern würde, nein.“ Das musste vielleicht nicht unbedingt viel bedeuten, da er immerhin wusste, dass es zu viele Dinge gab, an die er sich nicht erinnerte, aber das erschien ihm doch wie etwas Wichtiges. Und spätestens bei dem Kampf gegen den Drachen in der Lagerhalle wäre das doch sicher hilfreich gewesen und dort wäre es wieder in sein Bewusstsein gekommen. Aber das war nicht geschehen. Sie nickte zufrieden und senkte dann bedrückt den Kopf. „Wenn Dad wiederkommt und unser Feind ist, was werden wir dann tun?“ Er wusste darauf nichts zu sagen, aber es war auch eher Alonas Meinung gefragt. Sie schwieg allerdings, offenbar wollte sie nicht antworten, aber ihr finsteres, entschlossenes Gesicht, sprach mehr als tausend Worte und Anthony zweifelte nicht im Mindesten daran, dass sie tatsächlich zu kämpfen bereit wäre, wenn es sein müsste. Die ausgesprochene Antwort blieb sie allerdings schuldig, da im selben Moment plötzlich ein lautes Rauschen erklang. Fragend blickten die drei Anwesenden sich um, bis ihre Blicke auf einem Fenster zu liegen kamen, auf dem ein seltsames Flimmern zu sehen war. Anthony spürte, ausgehend von dem Glas, Schwingungen, die ihm bislang völlig unbekannt waren. Und er war damit nicht der einzige. „Seit wann ist die Scheibe ein Fernseher?“, fragte Heather leise. „Jemand versucht über Magie eine Verbindung herzustellen“, antwortete Alona mit gepresster Stimme. Um herauszufinden, ob das nur bei ihnen so war, warf Anthony einen Blick in den Kindergarten hinein und stellte dabei fest, dass sämtliche Scheiben dort drinnen ebenfalls dieselbe Reaktion zeigten. Er wollte nachfragen, was das zu bedeuten hatte, aber die nun gestartete Übermittlung kam ihm zuvor – und ließ allen drei ohnehin erst einmal die Luft wegbleiben. Auf dem Bildschirm war deutlich Raymond zu sehen. Er trug keine Brille, seine Augen waren ungewohnt eiskalt, er war in eine schwarze Uniform mit silbernen Tressen gekleidet, die Anthony noch nie zuvor gesehen hatte – und doch kam sie ihm bekannt vor. „Das ging schnell“, murmelte Alona. „Damit hatte ich nicht gerechnet.“ Ehe Anthony nachhaken konnte, begann Raymond zu sprechen und selbst seine Stimme klang plötzlich vollkommen anders, viel autoritärer, als er es von dem Direktor gewohnt war: „Dies ist eine Warnung von Raymond Lionheart an die Bewohner von Lanchest.“ Alona presste die Lippen so sehr aufeinander, dass sie nur noch ein weißer Strich waren, was selbst in Anthony ein schlechtes Gefühl hervorrief, obwohl er bislang noch keine wirkliche Bedrohung sah. „Lange haben wir, aus dem Peligro-Waisenhaus, darauf gewartet, dass es zu diesem Tag kommt. Heute werden wir die Gewalt über diese Stadt an uns reißen!“ Verhaltener Jubel hallte durch das Gebäude, der von den früheren Waisenhausbewohnern stammen musste. Anthony konnte sich dem aber nicht anschließen. Falls es einen Plan in dieser Richtung gegeben haben musste, so war er nie von diesem unterrichtet worden, was ihn noch ratloser sein ließ, weswegen er hier unbedingt benötigt worden war. „Diese Stadt wird allerdings nur der Anfang sein. Von hier aus wird der Rest der Welt von uns gereinigt werden. All jene, die nicht an Ladon glauben, werden dafür bestraft werden, sollten sie nicht doch noch die wahre Botschaft annehmen.“ Das erklärte es dann schon eher, wenn er wirklich glauben wollte, dass er die Reinkarnation von Ladon war. Seine genaue Rolle blieb ihm aber dennoch unklar. „Ich fordere euch, meine Brüder, auf, jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken – und vor allem: Bringt mir die Hexen Alona, Heather und Leen! Und zwar lebend!“ Anthony fragte sich, wohin sie gebracht werden sollten, aber diese Information blieb Raymond schuldig, denn nach seinem letzten Satz verschwand das Bild und eine verwirrte Stille übernahm die gesamte Akademie. Vermutlich ging Raymond davon aus, dass jeder wusste, wohin er die Gefangenen bringen müsste. Die Gefangenen ... Erschrocken sah er zu Alona und Heather hinüber, doch nur die Tochter schien von der Nachricht auf dem Bildschirm überrascht zu sein, die Mutter blickte lediglich finster, die Stirn war gerunzelt, als würde sie darüber nachdenken, was sie nun tun sollte. Doch während sie noch darüber nachdachte, brach die Stille und ein geradezu betäubender Lärm entbrannte. Alona schien leise zu fluchen, aber er konnte sich bei dieser Geräuschkulisse auch täuschen. Sie wandte sich sofort an ihre Tochter. „Heather, sieh zu, dass du hier wegkommst! Du musst dich irgendwo verstecken, wo es sicherer ist, als hier.“ „Bist du sicher, dass das nötig ist?“ Alona vollführte eine Handbewegung, die das Gebäude einschließen sollte. „Ein Drittel aller Schüler hier stammt aus dem Peligro-Waisenhaus und wenn auch nur die Hälfte von denen Raymonds Ruf folgt, könnte es selbst für dich schwer werden.“ Anhand des Lärms war es schwer zu beurteilen, wie viele Leute ihm gefolgt waren und wie sie sich gerade gegen jene schlugen, die ihnen Widerstand leisteten – oder ob überhaupt jemand das tat, was Raymond verlangte. Die Worte ihrer Mutter überzeugten Heather dann aber wohl doch, denn sie widersprach nicht weiter. „Und wo soll dieser sichere Ort sein?“ Bislang hatte Anthony geglaubt, dass es nichts geben könnte, was sie irgendwie aus der Ruhe brachte, aber in diesem Moment zitterte Heathers Stimme und er konnte deutlich eine Spur von Panik in ihren Augen sehen. Noch dazu war Alona gerade ein wenig ratlos, was diesen sicheren Ort anzugehen schien, denn sie schwieg nachdenklich. Alles Dinge, die ihn schließlich dazu brachten, einen Vorschlag zu machen: „Ich kümmere mich um sie.“ Woher genau das gekommen war, konnte er nicht genau sagen, aber er hatte dieses dringende Bedürfnis, ihr zu helfen und das ging wohl nur über diese Methode. Beide Frauen sahen ihn gleichermaßen überrascht an, aber zumindest lachten sie nicht. Schließlich nickte Alona. „Das klingt eigentlich wie eine gute Idee.“ „Was?“ Heather sah ihre Mutter ungläubig an. „Meinst du das ernst?“ „Ich denke, ihr braucht gerade beide jemanden, der auf euch aufpasst. Leen ist bei Alexander sicher, aber du hast gerade keine große Auswahl.“ Zu hören, dass sie nur zustimmte, weil es keine Alternative gab, gefiel ihm zwar nicht sonderlich, aber im Moment sagte er nichts mehr dazu, weil es keine Zeit dazu war, zu diskutieren. Schließlich nickte Heather ein wenig widerwillig. „Okay. Aber sei vorsichtig, Mum.“ Alona schenkte ihr einen zuversichtlichen Blick, widmete Anthony dann einen warnenden und ging wieder in Richtung des Kindergartens davon. Er sah ihr hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war und atmete dann durch. Ich hoffe nur, das war jetzt die richtige Entscheidung. Doch ehe er sich selbst in Zweifel versenken könnte, spürte er, wie Heather nach seiner Hand griff. „Lass uns gehen. Ich glaube nicht, dass dieser Gang noch lange sicher ist.“ Er nickte ihr zu und fuhr dann herum, damit sie durch den Haupteingang gehen könnten, bevor dieser versperrt war. Dabei ließ er ihre Hand nicht los und hoffte weiterhin, dass alles gut werden würde. Alona durchquerte derweil den Kindergarten und achtete dabei kaum auf die anderen Anwesenden. Im Vorbeigehen gab sie den anderen Erzieherinnen Anweisungen, auf die Kinder zu achten, dann verließ sie das Gebäude durch die Tür, die in den Garten führte. Sie verließ den Bereich durch eine Tür, die lediglich in einen weiteren quadratischen Hinterhof führte, der aber stets menschenleer war. Ein Torbogen führte auf die Straße hinaus, eine Tür in die Küche, die Mülltonnen, die hier standen verbreiteten auch keinen sonderlich angenehmen Geruch, so dass niemand gern hier sein wollte. Dort hielt sie wieder inne und stieß ein wütendes Knurren aus, das die Kinder nicht hören sollten. „Wie kannst du es wagen, mir meinen Mann zu stehlen?“ Die Worte waren an niemand gerichtet, da sie vollkommen allein war, aber dennoch musste sie es einfach sagen – und eine Ahnung in ihrem Inneren verriet ihr, dass der Empfänger sie dennoch mitbekommen würde. „Das werde ich bestimmt nicht zulassen! Und meine Töchter bekommst du auch nicht!“ Ihre Augenfarbe wurde noch ein wenig heller, als ihre Kleidung sich änderte. Der dunkelblaue Kittel, den jede Kindergärtnerin über ihrer Alltagsgarderobe trug, verschwand, gemeinsam mit dem Kleid, das sie an diesem Tag getragen hatte. Dafür erschien die robuste Montur, die sie zu ihren Jägerzeiten getragen hatte. Hose und Pullover bestanden aus einem groben, aber dafür resistenten, dunklem Stoff, der die Wucht von Angriffen mindern sollte. Die Jacke und der Schal dienten der Magieabwehr und kleineren Spielereien und die Handschuhe sollten letztendlich ihre Finger vor Verletzungen schützen, besonders wenn sie mit dem Katana kämpfte, das von ihrem Gürtel herabhing. Kaum war sie wieder in dieser vertrauten Montur, kam es ihr vor, als wäre sie niemals anders gekleidet gewesen. Ihr Körper lechzte richtiggehend danach, etwas zu jagen, ihre Kräfte einzusetzen und zu zerstören, was auch immer sich ihr entgegenstellte. Ohne noch länger zu zögern, sprintete sie los und durchquerte den Torbogen, um auf die Straße zu gelangen. Ein einziger, nicht sonderlich kraftvoller, Sprung genügte, dass sie auf einem Vordach landete und von dort aus weiter auf eines der Häuser gelangte. So konnte sie von Dach zu Dach huschen, was ihr einen wesentlichen Vorteil verschaffte, wenn sie nur den Verkehr bedachte. Dabei folgte sie einem weiteren Gefühl in ihrem Inneren, das sie direkt zu ihrem ersehnten Ziel zu führen schien. Halte aus, Ray! Diesmal werde ich diejenige sein, die dich rettet! Auf der Straße, weit außerhalb der Akademie, war es wesentlich ruhiger, weswegen Anthony es sich dort wieder erlaubte, Heathers Hand loszulassen. Hier herrschte lediglich Verwirrung, was die Nachricht des Direktors anging, was sogar den Verkehr zum Erliegen gebracht hatte. Offenbar war niemand aus dem Peligro-Waisenhaus unterwegs – außer Anthony, der aber nach wie vor nicht verstand, was vor sich ging. Heather tat das genausowenig. Durch die Nacht, die sie bei ihm verbracht hatte, glaubte er, sie einigermaßen gut zu kennen, aber derart deprimiert wie sie gerade an ihm vorbeilief, hätte er sie niemals eingeschätzt. Er konnte das nicht wirklich nachvollziehen – aber vielleicht wäre es ihm genauso gegangen, wenn sein Vater für den Feind arbeitete. Als sie bemerkte, dass er sie aus den Augenwinkeln heraus immer wieder ansah, wandte sie sich ihm zu. „Kannst du das irgendwie erklären?“ Sie klang so verzweifelt, dass er am liebsten bejaht und einfach irgendetwas gesagt hätte. Er hatte einfach das Gefühl, dass sie nicht so hoffnungslos sein durfte, aber es gab nichts, was er tun konnte. Also schüttelte er mit dem Kopf. „Nein. Falls das hier eine allgemeine Sache für Peligro-Bewohner ist, hat man vergessen, mir das mitzuteilen.“ Für diese Bemerkung schenkte sie ihm ein kurzes Lächeln, das aber sofort wieder erlosch. „Ich verstehe nicht, wie du auf die Idee gekommen bist, auf mich achten zu wollen.“ Zur Antwort zuckte er mit den Schultern. „Aber da deine Mutter das alles abgesegnet hat ...“ „Was wird sie jetzt eigentlich tun?“ Er war fast versucht, ihr eine scharfe Antwort zu geben, da er keine Ahnung hatte, was ihre Mutter nun eigentlich tun wollte. Aber er schaffte es, das wieder hinunterzuschlucken und stattdessen noch einmal mit den Schultern zu zucken. Sie nahm ihm das offenbar nicht übel, sondern seufzte. „Ich weiß, ich verlange hier Sachen von dir ... tut mir leid.“ „Mach dir nichts daraus.“ Ihm schien, dass sie noch etwas sagen wollte, als allerdings plötzlich jemand seinen Namen rief und damit die Unterhaltung unterbrach. Anthony fuhr herum und entdeckte Marc und Rena, die beide auf sie zugelaufen kamen. Heathers Gesicht verfinsterte sich ein wenig, aber sie demonstrierte nicht im Mindesten und es kam ihm auch nicht so vor, als ob sie sie das wollte. Vor ihm blieben die beiden wieder stehen, keiner von ihnen schien außer Atem, was nur für ihr gutes Training sprach. Aus einem für Anthony unerfindlichen Grund kam ihm das gerade wie eine Bedrohung vor, aber er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken und schob es darauf, dass er noch nicht wusste, was die beiden von ihm wollten. „Dachten wir uns doch, dass wir dich hier finden“, sagte Rena. „Wie sieht es in der Schule aus?“, fragte Heather, ohne Anthony zu Wort kommen zu lassen. „Besser als man glauben könnte“, antwortete Marc. „Es gibt nicht allzu viele Peligro-Schüler, die gerade bei uns auf der Schule sind. Die meisten konnten schon kurz nach dieser Nachricht überwältigt werden. Aber Mr. Chandler meint, dass es hier draußen zu Problemen kommen könnte. Er sagte, dass die Mimikry reichlich unruhig seien, obwohl es Tag ist und hat uns deswegen hinter euch hergeschickt.“ Also war Joel zumindest in der Schule und achtete durchaus darauf, dass alles in geordneten Bahnen verlief, das beruhigte Anthony ein wenig. Eine Gefahrenquelle war damit bereits ausgeschlossen, auch wenn das ihre Flucht nun weniger bedrohlich erscheinen ließ. „Was ist mit Leen?“, fragte Heather weiter. „Wir haben sie nicht gesehen“, sagte Rena. „Und Alexander auch nicht. Ich nehme an, sie haben beide ein sicheres Versteck oder sonst etwas in der Art gefunden. Mach dir keine Sorgen.“ Ihre Miene änderte sich nicht, weswegen Anthony das fragte, was sie wohl beschäftigte: „Wie genau sollt ihr uns eigentlich helfen, wenn wir angegriffen werden?“ Marc machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das sollen wir nicht. Mr. Chandler wollte nur, dass wir euch wegen der Aktivität warnen. Aber wenn wir schon hier sind, können wir euch auch gleich begleiten, oder?“ Heather zuckte mit den Schultern. „Ja, von mir aus. Die Frage ist nur, wo wir überhaupt hingehen sollen. Wir hatten bislang noch keine Idee.“ Marc wirkte plötzlich so, als hätte er einen Einfall, aber Anthony blendete es unwillkürlich aus, als sein Freund mit Rena zu sprechen begann. Sein Blick wurde mechanisch von etwas angezogen, das einen dunklen Schatten über die Stadt warf, aber von niemandem außer ihm bislang bemerkt worden war. Das Gebilde war riesig und doch bewegte es sich lautlos durch den Himmel, das schwarze Material, aus dem es bestand und das eine Pyramide formte, schien jegliches Sonnenlicht geradewegs aufzusaugen, um es niemals wieder abzugeben. Zum wiederholten Mal an diesem Tag verstand er nicht im Mindesten, was gerade in ihm vorging, aber er wusste ganz genau, dass er dort hingehen musste. Etwas rief ihn dorthin, lockte ihn mit geradezu süßer Verführungskraft, ohne dass er sich dagegen wehren konnte – nicht, dass er es gewollt hätte. „Dort ...“ Seine eigene Stimme klang ihm plötzlich fremd, als würde er sie zum ersten Mal von außen hören. Die anderen blickten sofort zu ihm hinüber und dann selbst zu der Pyramide, genau wie alle Personen, die in ihrer Nähe standen, so als wären sie erst um einiges später auf die Anwesenheit dieser Neuheit aufmerksam geworden. „Was ist das?“, fragte Marc ratlos. „Ich würde darauf tippen, dass es das ist, was die Mimikry so nervös macht“, sagte Heather und blickte dann wieder genau Anthony an. „Denkst du gerade dasselbe, was ich denke?“ Das wusste er nicht – woher auch? Aber er konnte auch nicht wissen, dass man das einfach so sagte – allerdings spürte er in seinem Inneren, dass es wichtig war, dorthin zu gehen. Es war, als ob jemand ihn dorthin rief und er dem folgen müsste, es stellte sich nur noch die Frage, wie er das den anderen begreiflich machen könnte, nachdem er versprochen hatte, Heather in Sicherheit zu bringen. Doch sie schien ebenfalls daran interessiert, herauszufinden, was sich dort befand, denn plötzlich griff sie nach Anthonys Jacke, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Dad ist bestimmt da drin! Wir müssen dort auch hin!“ Eigentlich erwartete er, dass die anderen sie daran zu erinnern versuchten, dass es gefährlich und deswegen keine gute Idee war, doch Rena nickte sofort. „Es geht um deinen Vater, natürlich gehen wir dorthin.“ „Was war das vorher mit dem Versteck?“, wandte Anthony an Stelle der anderen ein. „Sollten wir sie nicht dorthin bringen, statt sie direkt zum Feind zu führen?“ Er widersprach nicht gern, da etwas in seinem Inneren ihm sagte, dass er eigentlich zufrieden sein müsste, dass die anderen unbedingt dorthin wollten, aber der rationale Teil seines Gehirns ließ ihn das dennoch machen. So sehr dieses Etwas ihn rief, umso stärker war sein eigentlicher Wunsch, von diesem Ding fortzubleiben und nie zu erfahren, was darin vorging. In allen anderen schien es aber genau das gegenteilige Verlangen auszulösen. Rena holte ihr Handy heraus, während Marc den Kopf ein wenig neigte. „Heather hat eine gute Ausbildung durchgemacht, sie schafft das bestimmt – und wir sind ja alle bei ihr.“ Rena nickte zustimmend. „Alle ist sogar eine sehr gute Bezeichnung. Vincent schreibt, dass er und der Rest der Gruppe ebenfalls dorthin gehen. Also wird sie dort ziemlich sicher sein.“ Es war ihm unbegreiflich, warum sie beide sie bei einer solch unvorsichtigen Handlung zu unterstützen versuchten, weswegen er sie nur verwirrt ansehen konnte. Heather schnaubte, als sie seine Unentschlossenheit bemerkte. „Wahrscheinlich versteht man das nur, wenn man selbst einmal Eltern hatte.“ Das war der letzte Funke, der benötigt wurde, dass sein rationales Denken aussetzte. „Fein, dann gehen wir dorthin. Auch wenn ich es immer noch für eine schlechte Idee halte.“ Die beiden Mädchen setzten sich sofort in Bewegung, während Anthony noch eine Weile stehenblieb und einfach nur leise seufzte. Marc stieß ihn vorsichtig an. „He, mach dir keine Sorgen. Es wird bestimmt alles gut werden. Denk daran, wir sind alle ausgebildete Söldner.“ „Ich nicht“, erwiderte Anthony. Die wenigen Wochen, die er jetzt an der Akademie war, reichten seiner Meinung nach nicht aus, um es als Ausbildung durchgehen zu lassen. Aber Marc ließ sich davon nicht beeinflussen, er lächelte nach wie vor. „Komm schon, vertrau uns ein bisschen, ja? Heather macht sich Sorgen um ihren Vater – und wie ich die Lage einschätze, ist man dort wahrscheinlich sicherer vor den Mimikry als irgendwo sonst, genau wie Rena sagt.“ Anthony verstand seine Begründung nicht, aber gleichzeitig schmerzte sein Kopf furchtbar und der Drang, zu dieser Pyramide zu gehen, wurde noch dazu immer stärker, als würde er Durst leiden und dabei vor einem Glas Wasser sitzen, das er nicht berühren durfte. Das half ihm nicht gerade, sich darauf zu konzentrieren, dass diese Sache einfach falsch war und das Verhalten der anderen nicht vernünftig. Also konnte er nur hoffen, dass es funktionieren würde, wie die anderen es sich vorstellten und stimmte mit einem Nicken, ehe er sich Marc anschloss und dabei weiterhin hoffte, dass das alles irgendwie gut ausgehen würde. Kapitel 34: Die Hexe und ihr Ritter ----------------------------------- Die schwarze Pyramide erschreckte Alona kaum. Sie kannte dieses Gebäude, auch wenn sie inzwischen keine guten Erinnerungen mehr damit verband. Es verwunderte sie nur, dass das Gebilde sich wirklich bewegen konnte und nun auch noch hier war, obwohl es das nicht sollte. Er muss das alles wirklich von sehr langer Hand vorbereitet haben. Und er muss sehr geduldig sein, wenn er derart lange warten konnte. Sie mühte sich erst gar nicht mit dem Vordereingang ab, sondern kletterte an der schwarzen Fassade hinauf, wobei ihr der Schal zur Hilfe kam, da er ihren Hals verließ und dann stets seine Form veränderte und es ihr dabei erlaubte, ihn als Fußstütze oder als Greifhilfe zu missbrauchen. Es war so lange her, dass sie diese Kleidung zuletzt gebraucht hatte und doch war ihr alles darüber noch äußerst gut im Gedächtnis, sie herrschte darüber, als wäre es nie anders gewesen – und als wäre nicht einst ihre Seele gerettet worden. Erst oben angekommen kehrte der Schal wieder an seinen Platz um ihren Hals zurück. Sie öffnete eines der Fenster und trat in das Gebäude hinein, wo sie sofort von einem Gefühl der Kälte ergriffen wurde. Es war als ob jegliche, positive Emotion direkt aus einem herausgezogen wurde, weswegen sie sogar zu zittern begann. In diesem Moment war ihr unbegreiflich, dass sie diesen Ort einst als ihr Zuhause bezeichnet hatte. Aber davon war ohnehin nicht mehr allzu viel übrig. Statt der Quartiere, in denen die GS-Mitglieder geschlafen hatten und die damals schon bar jeder Persönlichkeit gewesen waren, stand sie in einem Raum, in dem lediglich Maschinen standen, deren Zweck ihr unbekannt waren. Im Moment schienen sie aber auch nicht zu funktionieren, jedenfalls waren sie still und nicht erleuchtet. Aber egal in wie vielen Zimmern sie nachsah, überall war es dasselbe. Nach mir gab es wohl keine GS-Mitglieder mehr. Sie war selten auf der Website gewesen, daher wusste sie nicht, welche Mitglieder dort noch verzeichnet gewesen waren, aber außer ihr schien niemand anwesend zu sein. Dieser Ort war schon immer einsam gewesen, aber nun fühlte man sich hier wie der letzte Mensch auf Erden. Doch statt sich mit diesem deprimierenden Gedanken aufzuhalten, durchquerte sie den Gang, auf der Suche nach der Person, wegen der sie überhaupt gekommen war. Ihre Schritte hallten auf dem dunklen Marmorboden und kündigten jedem an, dass sie auf dem Weg war, was sie allerdings nicht im Mindesten störte. Wer sie erwartete, sollte ruhig auf ihren Zorn vorbereitet sein. Schließlich erreichte sie die Tür am Ende des Ganges und öffnete diese, worauf sie in einem wesentlich größeren Raum als denen zuvor landete, wovon der Großteil aber im Dunkeln lag. Er erinnerte an einen Thronsaal, ein dunkelblauer Teppich führte sogar zu einem Thron, auf dem eine Gestalt saß, die sie eigentlich nie mehr hatte sehen wollen. Der Großteil jener, die ihn kannten, bezeichneten ihn als Master, sie aber wusste davon nichts, sie kannte ihn nur als- „Garou ...“ Er lächelte amüsiert, wobei seine goldenen Augen geradewegs zu blitzen schienen. „Alona, es ist so lange her. Ich war richtig enttäuscht, als du beschlossen hast, uns zu verlassen. Aber noch viel mehr enttäuscht mich, dass du noch am Leben bist.“ „Ich verstehe das nicht.“ Er wedelte mit der Hand, als wolle er etwas verscheuchen. „Nicht weiter wichtig. Für dich ist nun wesentlich bedeutsamer, dass du diesen Ort nicht mehr verlassen wirst.“ Diese Drohung erschreckte sie nicht, stattdessen ließ sie den Blick schweifen, soweit sie es konnte. „Wo ist Raymond?“ Sie würde nicht ohne ihn gehen, aber sobald sie ihn erst einmal hatte, könnte es nichts mehr geben, das sie an diesem Ort hielt. Nie mehr. Doch das neuerliche amüsierte Lachen von Master, verriet ihr, dass es nicht so einfach werden würde. Eigentlich hatte sie sie ihn noch nie leiden können, alles an ihm musste Menschen einfach abstoßen. Dass er die Garou Society gegründet und versucht hatte, Mimikry zu bekämpfen, war auch nicht förderlich für seinen Ruf, wenn er das mit derartig unmenschlichen Methoden umzusetzen versuchte. Inzwischen verstand Alona auch durchaus, weswegen Joy so viel Abscheu für diesen Mann empfand. „Rufst du nach deinem Ritter, Hexe? Das dürfte dir nichts bringen, er wird nämlich dein Untergang sein.“ Damit winkte er jemandem in der Dunkelheit zu. Es war tatsächlich Raymond, der, dieser Aufforderung folgend, ins Licht trat. Er trug noch immer dieselbe Uniform wie auch während seiner Kampfansage zuvor, dazu hing das Drachenschwert an seiner Hüfte – aber wirklich irritiert war sie von seinem rechten Auge, das nicht länger blau, sondern golden war. Im Grunde genommen wollte sie auf ihn zugehen, seine Hand ergreifen und ihn mit sich ziehen, um von hier zu verschwinden. Aber sie spürte, dass es eine schlechte Idee war. Raymonds Aura war immer ein wenig außergewöhnlich gewesen – oft hatte sie sich gewünscht, seine Fähigkeit zu besitzen, einfach nur, um sehen zu können, wie seine Aura aussah, statt sie nur zu spüren – doch nun war es, als wäre sie vollständig verschwunden. Er bewegte sich noch, er atmete noch, aber wenn man von seiner nicht mehr vorhandenen Ausstrahlung ausging, war er bereits tot. „Ray, du wirst nicht ...“ Ihr blieb keine Gelegenheit, diesen Satz zu beenden. Master schnippte mit den Fingern, worauf Raymond ohne jedes Wort das Schwert zog. Alona wich zurück, legte ihre Hand aber auf den Griff ihres eigenen Schwertes. Sie wollte nicht gegen ihn kämpfen – auch weil sie durchaus wusste, dass seine Fähigkeiten ihre bei weitem überstiegen – aber so wie es im Moment aussah, würde sie nicht darum herum kommen. „Enttäusche mich nicht länger, Raymond“, sagte Master. „Bring mir endlich das Herz dieser verdammten Hexe!“ Im selben Atemzug, in dem ihr Feind sich auf sie zubewegte, sprang Alona zurück. Sie verließ den Raum und bewegte sich rückwärts durch den Gang, um von Raymond fortzukommen. Er setzte ihr nach, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Sie wusste, dass er nur darauf wartete, dass sie einen Fehler machte – und dass sie Zeit benötigte, um zu überlegen, was sie tun sollte. Sie streckte die freie Hand aus, worauf Wellen durch den Gang zu laufen schienen. Doch Raymond ließ sich davon nicht beirren, stattdessen erwiderte er mit einer eigenen Schockwelle, die ihre nicht nur negierte, sondern sie auch noch selbst zurückwarf. Irgendwie schaffte sie es, nicht zu stürzen und wieder auf den Füßen zu landen, aber für eine Sekunde war sie unfähig, Luft zu holen, was Raymond erlaubte, wieder zu ihr aufzuschließen. Sie wich seinem Schwert und dann auch seiner Hand aus, damit er sie nicht packen könnte. Noch zu gut erinnerte sie sich daran, wie mühelos er sie bei ihrem letzten Kampf, damals, vor gut zwanzig Jahren, hatte in die Luft heben können, diesmal wollte sie der Situation aber entgehen, denn sie wusste, er würde bei dieser Gelegenheit nicht zögern. Wieder wich sie zurück und zog nun doch ihr Katana, um sein Schwert abzufangen. In dem Augenblick, in dem sie in dieser Pattsituation waren, wagte sie es, ihn anzusprechen: „Ray! Hör endlich auf mit dem Unsinn! Dieser Kampf führt doch zu nichts!“ Seine einzige Reaktion bestand darin, dass er noch mehr Kraft in seinen Schwertarm legte, weswegen sie nachgeben und wieder zurückweichen musste. Nachdem sie ein wenig Abstand zwischen sie beide gebracht hatte, schossen zahlreiche Wurzeln aus dem Boden und schafften damit eine Barriere, die ihr für kurze Zeit Schutz bieten könnte. „Ich weiß, dass du wütend bist, Ray“, versuchte sie es noch einmal. „Es tut mir auch leid, dass ich wegen dieser Sache ausgerastet bin. Also beruhige dich endlich.“ Es war lediglich Verzweiflung, die sie dazu bewog, es auf diese Weise zu versuchen, denn sie glaubte nicht, dass sie damit zu ihm durchdrang. Sein neutraler Blick änderte sich nicht im Mindesten, das goldene Auge, das einen Schauer in ihrem Inneren erzeugte, war unablässig auf sie gerichtet, er sagte nach wie vor kein Wort. Dafür begann er, mit dem Schwert auf die Wurzeln einzuschlagen, um die Barriere zu vernichten und endlich zu ihr zu kommen, um seine Tat zu vollenden. Darauf wollte sie aber nicht warten. Sie wirbelte herum und rannte weiter den Gang hinab, in der Hoffnung, dass ihr noch eine bessere Idee kommen würde. Das letzte Mal war er aus diesem seltsamen Zustand erwacht, weil er ohnmächtig geworden war. Aber damals war seine Aura ganz anders gewesen, damals war er noch Raymond gewesen, nun schien er niemand mehr zu sein, sie zweifelte daran, dass er nach einer Bewusstlosigkeit einfach wieder der alte sein würde. Allerdings war sie der festen Meinung, dass sie etwas tun musste. Sie konnte ihn nicht einfach sich selbst und seinem Schicksal überlassen, sie müsste nach jedem Strohhalm greifen, selbst wenn sie dafür gegen ihn kämpfen müsste. Sie hielt inne, als sie am Ende des Ganges angekommen war und sich vor einem offenen Schacht wiederfand, aus dem warme Luft strömte. Nichts in ihrer Erinnerung wies auf diesen hin, weswegen sie nicht wusste, was sie nun tun sollte. Sollte sie zurückgehen und riskieren noch einmal in eine Sackgasse zu laufen? Um hinabzublicken, beugte sie sich über den Schacht, aber sie konnte den Boden nicht erkennen, er verlor sich in der Dunkelheit, sie konnte nicht einmal feststellen, ob er überhaupt vorhanden war. In diesem Gebäude hätte es sie nicht im Mindesten überrascht, wenn der Schacht direkt in die Unterwelt führte. Schritte hinter ihr, sorgten dafür, dass sie sich wieder aufrecht hinstellte und sich umdrehte. Raymond lief, mit geduldigen Schritten, auf sie zu, offenbar im festen Glauben, dass es ohnehin keinen weiteren Fluchtweg für sie geben würde. Sie stand bereits so weit am Rand, dass sie nicht mehr zurückweichen konnte, nur ein Schritt und sie würde in den Schacht stürzen; sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Eine weitere Schockwelle auszusenden wagte sie nicht, denn sobald er mit einer eigenen kontern würde, wäre ihr Schicksal besiegelt. Aber wenn er sie angreifen würde ... Es war ihr nicht möglich, den Gedanken zu beenden, denn im selben Moment stürmte Raymond wieder auf sie zu, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben. Sie hätte einfach ausweichen können, ihn in die Tiefe stürzen lassen, doch es gelang ihr nicht. Allein der Gedanke, ihn seinem Schicksal zu überlassen, fiel ihr so unendlich schwer, dass sie es nicht über sich bringen konnte, zur Seite zu treten. Stattdessen machte sie einen Schritt zurück – und war im nächsten Moment absolut schwerelos. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie tatsächlich, dass der warme Luftstrom verhinderte, dass sie fiel, doch schon einen Atemzug später, setzte die Schwerkraft ein und sie stürzte hinab. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass Raymond ebenfalls in den Schacht gesprungen war und so wie er sie ansah, war er immer noch entschlossen, sie zu töten. Wie verdammt ungeduldig er manchmal sein kann – als ob ich das hier überleben könnte. Dennoch tat sie ihm den Gefallen und begab sich, mit einiger Mühe wieder in eine aufrechte Position. Somit schaffte sie es, seinem Schwert auszuweichen, aber nicht seiner folgenden Schockwelle, die sie direkt gegen die Wand schleuderte. Der Schal verformte sich und bildete einen Schutz, damit ihr Rücken nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie nutzte die Möglichkeit, um sich mit den Füßen von der Wand abzustoßen und Raymond nun selbst anzugreifen, doch er wehrte, selbst im Flug ihren Angriff noch mit Leichtigkeit ab, nur um sie erneut von sich zu schleudern. Aus Verzweiflung versuchte sie, einen Halt irgendwo im Schacht zu finden, doch die Wand war vollkommen glatt, er schien nicht einmal einen Zweck zu erfüllen, er existierte einfach nur. Raymond machte sich offenbar weniger Gedanken darum, er warf ihr nur eine neue Schockwelle entgegen, die sie dieses Mal nach unten drückte. Inzwischen konnte sie durchaus ein Licht ausmachen, das unter ihr immer heller wurde, also gab es durchaus ein Ende dieses Schachts. Auch der Schal konnte ihr in diesem Moment nicht mehr helfen und bildete erneut einen Schutz in ihrem Rücken, während sie sich auf den kommenden Aufprall vorbereitete. Raymond schien sich dagegen nicht einmal im Mindesten darum zu kümmern, dass er bald vollkommen schutzlos aufkommen würde und obwohl sie ihm helfen wollte, gelang es ihr während dieses Sturzes nicht einmal, einen klaren Gedanken für nur einen Zauber zu finden. Alona schloss die Augen, als das Licht noch heller wurde und hoffte, dass irgendein Wunder eintreten würde. Rena hatte recht behalten, die andere Gruppe, angeführt von Russel und Seline, war tatsächlich ebenfalls an der Pyramide eingetroffen. Das Gebäude selbst schwebte mehrere hundert Meter über dem Boden, aber eine durchsichtige, glitzernde Treppe, führte direkt zum Haupteingang hinauf. Vincents Blick war auf diesen gerichtet. „Ist es wirklich sicher, dort hineinzugehen?“ „Du kannst ja hier warten“, erwiderte Russel. „Wir brauchen dich ohnehin nicht.“ „Ich glaube nicht, dass er das kann“, sagte Maryl. „Spürst du das nicht?“ Anthony wollte sie fragen, ob sie dasselbe fühlen konnte, wie er, aber als er zu Heather hinübersah, bemerkte er, dass er keine Zeit dafür hatte. Ihr Fuß stand bereits auf der ersten Stufe, sie wollte unbedingt dort hinauf und warte, wie es aussah, rein aus Höflichkeit darauf, dass die anderen sich ihr anschlossen. Zu ihrem Glück blieb sie damit nicht allein, denn Ryu brachte schon die ersten drei Stufen hinter sich, dann blieb er wieder stehen und wandte sich ihnen zu. „Was auch immer es ist, wir müssen da rein. Immerhin geht es um Raymond ... und die ganze Stadt.“ Seline hatte den Arm in die Hüfte gestemmt und blickte mit gerunzelter Stirn ebenfalls hinauf. „Ich muss Vincent recht geben, ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Aber wir müssen etwas unternehmen, das ist wahr.“ „Worauf warten wir dann noch?“, fragte Heather ungeduldig. Anthony seufzte innerlich und beschloss dann, dem Drang nachzugeben, statt sich dagegen zu wehren. Er lief an ihr vorbei und griff dabei nach ihrer Hand, um sie mit sich zu ziehen. Sie wehrte sich nicht dagegen und folgte ihm stattdessen, vermutlich sogar noch glücklich darüber, dass endlich jemand das tat, was sie wollte. Er blickte sich nicht nach den anderen um, hörte aber schon kurz danach, dass sie ihm folgten, was seinen Schritten einiges an Sicherheit verlieh. Gleichzeitig versuchte er, Kai in seinem Inneren zu ertasten, doch der andere schwieg und meldete sich nicht. Im Moment machte er sich allerdings keine Sorgen darum, sondern ging einfach davon aus, dass er vom gestrigen Tag noch zu erschöpft war und deswegen schlief. So blieb ihm nur zu hoffen, dass dies heute wirklich der sicherste Ort der Stadt war, denn er würde sich bestimmt nicht verteidigen können. Als er den Eingang hinter sich ließ, trat er in eine großzügige Eingangshalle, die vollkommen in goldenen Farben gehalten war. Fremdartige, aber nicht laufende, Apparaturen waren an den Wänden angebracht und ließen Anthony sich fragen, welchen Zweck sie erfüllten. Viel mehr als diese Gerätschaften, deren Schläuche und Rohre sich in der Wand verloren, war im Moment nicht zu sehen, aber als er den Kopf hob, entdeckte er einen Schacht in der Decke. Direkt vor ihnen konnte er eine Treppe entdecken, die nach oben führte, im entsprechenden Gang herrschte ein bläuliches Licht, das einen Kontrast zu dem sonstigen Gold bildete. Es herrschte eine seltsame Form von Stille, die nicht einmal von den Schritten der Gruppe wirklich verdrängt werden konnte. Vielmehr war es so, als ob sie es nur schafften, dass die Geräuschlosigkeit beiseite huschte und sofort wieder an ihren alten Platz zurückkehrte, sobald sie weitergelaufen waren. Schließlich blieben sie allerdings stehen und schafften damit tatsächlich eine vollkommene Stille. „Alles hier ist von einer unheilvollen Aura umgeben.“ Maryls Stimme klang derart fremdartig an diesem Ort, dass Anthony unwillkürlich schaudern musste. „Geschmack hat er jedenfalls keinen“, stimmte Seline zu. Ein leises Geräusch lenkte die Blicke aller auf den Schacht zurück. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass etwas aus diesem herunterfiel und dann – mit einer hellen Lichtexplosion – auf dem Boden aufkam. Skeptisch blickte die Gruppe auf das dunkle Bündel, das sich gleich darauf zum Sitzen aufrichtete und enthüllte, dass es sich um einen Menschen handelte, der es allerdings nicht mehr schaffte, gänzlich aufzustehen und stattdessen sitzenblieb. Anthony glaubte, die Person erkennen zu müssen, aber Heather kam ihm bereits zuvor: „Mum!“ Sie löste ihre Hand von Anthonys und rannte auf Alona zu, musste jedoch sofort anhalten, als Vincent mit einem Sprint vor sie gelangte und den Schirm ausstreckte, um sie aufzuhalten. „Warte! Das ist gefährlich!“ Es schien, als wolle sie ihn anfauchen, aber im nächsten Moment baute sich ein Netz, bestehend aus unzähligen roten Splittern, vor ihnen auf und verhinderte, dass sie weitergehen könnten. Ein Funkenschlag zwischen zwei Splittern verriet, dass so etwas wie Elektrizität darauf lag. Erst als Heather wieder ein wenig zurückwich, ließ Vincent den Schirm sinken. „Was geht hier eigentlich vor?“ Sie hatte erwartet, Schmerz zu spüren, nachdem sie unten aufschlug – aber stattdessen war jegliches Gefühl in ihren Beinen verschwunden. Obwohl der Schal ihren Sturz gebremst hatte, war der Aufprall so heftig gewesen, dass sie nicht mehr aufstehen und deswegen nur zurück kriechen konnte, damit Raymond sie bei seiner Landung nicht einfach aufspießte. Derart konzentriert auf ihn, bemerkte sie nicht, dass sich außer ihr noch mehr Menschen hier befanden, genausowenig wie das Netz, gegen das sie fast geprallt wäre. Wie aus weiter Ferne glaubte sie, jemanden rufen zu hören, aber sie schob das erst einmal fort und blickte weiter auf den Schacht. In der nächsten Sekunde kam Raymond bereits herunter, aber statt aufzuschlagen, so wie sie, wechselte er die Position, so dass er mit den Beinen voraus fiel – und dann entstand unter ihm eine Schockwelle, die ihm eine sanfte Landung ermöglichte. Warum bin ich da nicht drauf gekommen? Gut, sie war wegen der ganzen Situation in Panik und Zweikämpfe waren, trotz ihrer Erziehung, ohnehin nie wirklich ihr Metier gewesen, da konnte sie natürlich nicht an alles denken. Er schien allerdings entschlossen, diesen Kampf sofort zu beenden und lief wieder auf sie zu. Sie hatte nicht darauf geachtet, was mit ihrem Katana geschehen war, weswegen sie keine Waffe mehr besaß, um sich gegen ihn zu verteidigen und auch ihre Magie könnte ihr nicht helfen, da diese inzwischen darauf konzentriert war, ihre Verletzungen zu heilen. Als er vor ihr wieder stehenblieb, blickte er noch immer mit unbewegter Miene auf sie hinab, aber zumindest glaubte sie, etwas in seinem goldenen Auge flackern zu sehen. Sie nutzte diesen Umstand sofort. „Ray! Das ging jetzt wirklich lang genug! Komm endlich zu dir!“ Er reagierte nicht darauf und wenn ihr Verdacht stimmte und seine Wut auf sie dazu beitrug, dass die Gehirnwäsche derart gut funktionierte, dann war dieser Ansatz vollkommen verkehrt. Nichts, was sie sich ausdenken konnte, würde erfolgreich sein. Sein Zorn war sicher berechtigt, in gewisser Weise und es war ihr nicht einmal möglich, ihm das übel zu nehmen. Dennoch gab es da Dinge, die sie ihm sagen musste, ehe es zu spät war. Also senkte sie den Blick, um ihn nicht länger ansehen zu müssen. „Ray ... kann ich wirklich verlangen, dass du es nicht tust? Wir haben uns nur kennen gelernt, weil ich versucht habe, dich umzubringen und du hast dich nie wirklich darüber beklagt. Das muss so lange an dir genagt haben.“ Ihre Stimme brach ein wenig ein, als sie das sagte, er rührte sich nicht. „Ich mag oft undankbar erschienen sein und das tut mir wirklich leid, aber ich möchte, dass du eines weißt.“ Auch während sie diese Pause machte, rührte er sich immer noch nicht, sie konnte sehen, dass das Schwert nach wie vor nach unten zeigte. Mit einem leisen Schluchzen hob sie den Kopf wieder, um ihn nun doch anzusehen, obwohl die plötzlich aufsteigenden Tränen alles vor ihr verschwimmen ließen. „Du hast mich endlich wieder träumen lassen.“ So lange war ihr das nicht möglich gewesen. Als Jägerin in der GS war sie ein halber Mimikry gewesen und das hatte es ihr unmöglich gemacht, zu träumen, das wusste nicht nur Anthony, sondern auch Raymond, weswegen er verstehen dürfte, was sich hinter ihren Sätzen verbarg, das, was sie eigentlich sagen wollte. Sein goldenes Auge flackerte wieder, aber dennoch hob er das Schwert. Mit einem leisen, entsetzten Laut, senkte sie den Blick wieder, um nicht sehen zu müssen, was er als nächstes tat. Ihr Herz zog sich bei der Vorstellung zusammen, dass sie absolut nichts erreicht hatte, dass sie ihm nun den Schmerz auflasten würde, sie zu töten und vor allem, dass sie ihre zwei Töchter damit am Ende allein ließen. Besonders der Gedanke an ihre Töchter ließ sie bereuen, derart unvorbereitet in diesen Kampf gestürmt zu sein. Sie spürte, wie er das Schwert schwang, hörte, wie es durch die Luft schnitt – und im nächsten Moment erklang ein lautes Geräusch hinter ihr. Dann war da nichts mehr. Nach ein wenig Wartezeit, ob nicht doch noch etwas geschehen würde, hob sie vorsichtig den Blick. Raymond stand, vornübergebeugt vor ihr, das Schwert immer noch in der Hand, doch die Klinge war in das Netz hinter ihr versenkt, statt in ihren Körper. Sie sah in Raymonds Gesicht und stellte erleichtert fest, dass es endlich wieder einen Ausdruck hatte, einen fassungslosen, besorgten zwar, aber immerhin war es keine Maske mehr. Sein rechtes Auge war endlich wieder blau. „Alona ...“, flüsterte er, ließ das Schwert sinken und kniete sich dann neben sie. Das Netz zerbrach derweil, ohne dass sie es weiter beachtete. Ihre Augen waren einzig und allein auf Raymond vor ihr gerichtet. Noch immer ungläubig, hob sie ihre Hände, um sie auf seine Wangen zu legen. Seine Haut fühlte sich warm an, in seinen Augen war keinerlei Feindseligkeit, sondern nur Sorge zu erkennen. Als sie derart festgestellt hatte, dass er wirklich wieder er selbst war, schlang sie hastig die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung. Das Schwert fiel zu Boden, er zog sie ebenfalls in seine Arme und schwieg dabei, wofür sie ihm im Moment ziemlich dankbar war. Das hier wollte sie eigentlich nur im Stillen genießen – doch das endete bereits eine Sekunde später, als Schritte erklangen, die sich um sie herum versammelten. Sie glaubte bereits an weitere Feinde, aber dann spürte sie, wie jemand anderes sich neben sie kniete und nun auch die Arme um sie schlang. „Mum!“ Sie hörte Heathers Stimme, konnte es aber nicht so recht glauben. „Dad!“ Endlich hob Alona den Blick wieder und musterte die Anwesenden, wobei sie feststellte, dass es sich dabei um die gesamte Gruppe handelte, die sie auch am Tag zuvor im Café gesehen hatte. Eigentlich wollte sie fragen, was sie alle hier taten, aber ihr Interesse konzentrierte sich lediglich auf Heather, die sie immer noch umarmte. „Was tust du hier?“, fragte Alona. „Du solltest dich doch in Sicherheit bringen.“ Dabei warf sie einen vorwurfsvollen Blick zu Anthony, der allerdings die Schultern hob. „Es war nicht meine Idee.“ „Ich bleibe jetzt ja auch bei euch“, sagte Heather rasch. „Die anderen können machen, was sie wollen, ich bleibe hier.“ „Was wollen die anderen denn?“, fragte Raymond und blickte zu ihnen. Ryu deutete nach oben. „Wir gehen hoch und reden mit dem, der hier das Sagen hat. Da gibt es ein paar Fragen, die er uns noch zu beantworten hat.“ Alona hielt das für keine sonderlich gute Idee, aber vielleicht gab es nichts anderes, was sie tun könnten, um dieses ganze Gebäude wieder loszuwerden und die Situation beizulegen. „Wie sieht es draußen aus?“, fragte sie. „Alles bestens“, antwortete Marc. „Mr. Chandler hat die ganze Sache unter Kontrolle gebracht.“ Es erstaunte sie, dass Joel das wirklich zustandebekommen hatte – aber vielleicht zollte sie ihm tatsächlich weniger Anerkennung, als er eigentlich verdiente. Sie hoffte nur, dass sie diesen Gedanken später wieder vergessen hätte, damit er nichts davon erfuhr. „Dann geht endlich“, sagte Raymond plötzlich. „Er wartet bestimmt nicht ewig.“ Die Gruppe nickte und lief dann los, um die Treppe nach oben zu erreichen. Heather ließ Alona und Raymond derweil los und seufzte zufrieden. „Heißt das jetzt, ihr streitet euch nicht mehr?“ Das Ehepaar wechselte einen Blick miteinander und lächelte sich dann an. „Vorerst nicht mehr“, sagte Raymond. „Keine Sorge.“ Alona hoffte, dass dieses vorerst sehr lange anhalten würde und schmiegte sich dann wieder an ihren Mann, während der Heilzauber weiter seine Wirkung tat. Endlich waren sie wieder zusammen und nun würde sie nicht mehr zulassen, dass so etwas noch einmal geschah. Doch während sie zufrieden war, erklang irgendwo im Gebäude ein leises Rumoren, das verriet, dass gerade eine Maschine in Gang gesetzt wurde. Kapitel 35: Nur ein Opfer ------------------------- Ein Stockwerk weiter oben hielt die Gruppe wieder inne. Nicht, weil es ein Hindernis gab, sondern sie das merkwürdige Rumoren ebenfalls hören konnten. „Was ist das?“, fragte Marc leise. „Ein Begrüßungskomitee, nehme ich an“, antwortete Seline. „Wenn unser Gastgeber nur halb so hinterhältig ist wie das Original, von dem er abstammen will, dann hat er etwas Nettes für uns vorbereitet.“ Anthony hätte gut darauf verzichten können. Vor allem weil es ihm unbegreiflich war, dass etwas sie hierher lotste, nur um sie dann zu bekämpfen – jedenfalls interpretierte er Selines Worte auf diese Weise. Anders konnte er sich nicht erklären, warum sie die Stirn gerunzelt hatte. Russel lief einige Schritte voraus und hob dabei die Schultern. „Soll er ruhig. Wir kommen schon daran vorbei, sobald ...“ Er verstummte allerdings schnell wieder, als sich plötzlich Türen in den Wänden öffneten und mit einem lauten Scheppern Gestalten herauskamen. Es waren Roboter, die entfernt an Menschen erinnerten und sogar Kleidung trugen, sich aber nicht im Mindesten so geschickt bewegen konnten wie ein echtes Lebewesen. All ihre Bewegungen waren von einem mechanischen Klang begleitet, das Anthony schon nach wenigen Sekunden in den Ohren schmerzte. Er glaubte, diese Roboter kennen zu müssen, aber er war ihnen noch nie zuvor begegnet. Allerdings irritierte ihn doch mehr, dass es sich anfühlte, als besäßen sie Seelen. Keine vollständigen Seelen, eher als ... Als hätten sie Seelensplitter von den Mimikry gestohlen. Aber wieso sollten sie das machen? Er würde das diesen Mann fragen müssen, wenn sie ihn trafen, aber vorher galt es, dieses Hindernis zu überwinden. Die Roboter stellten sich allesamt in einer geraden Linie vor ihnen auf und bildeten somit eine undurchdringbare Wand, machten sonst aber erst einmal keine Anstalten, irgendetwas zu tun. „Wir könnten jetzt Lionet gebrauchen“, sagte Vincent. „Ein wenig Wasser könnte die Gesellen zum Rosten bringen – oder einen Kurzschluss verursachen.“ „Dafür brauchen wir ihn nicht“, erwiderte Ryu, während er vortrat. Er hob die Hand mit dem Ring, dessen violetter Stein sofort zu glühen begann. Aus dem Nichts erschienen Blitze, die in die Roboter einschlugen. Sie stürzten zu Boden und rührten sich kein bisschen mehr, nicht einmal mehr ein Scheppern war zu vernehmen. Ryu ließ die Hand wieder sinken und bewegte sich weiter, durch die Reihen der Gefallenen hindurch, ohne ihnen noch einen Blick zu widmen. Anthony kam es dagegen zu misstrauenserweckend vor, dass es so einfach vorbei sein sollte. Wer immer sie erwartete, wusste doch sicher, über welche Fähigkeiten sie verfügten und dass es für den ein oder anderen ein Leichtes sein würde, derartige Feinde zu besiegen. Doch ihm blieb keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn Marc schob ihn bereits vorsichtig voran. „Komm schon, Tony, wir müssen gehen.“ Erst als er sich in diesem Moment umsah, bemerkte er, dass die anderen schon vorausgegangen waren und am Fuß der nächsten Treppe standen. Um den anderen keinen Ärger zu bereiten, überwand er sich und lief nun von selbst weiter. Dabei trat er vorsichtig zwischen den Robotern auf den Boden auf, aus Furcht, dass sie direkt wieder aufspringen würden. Immerhin, besonders so aus der Nähe, sahen sie nicht so aus, als wären sie kaputt. Er versuchte, sich nicht mehr zu sehr darauf zu konzentrieren und blickte dafür geradeaus, hinter sich konnte er Marcs Schritte hören, als dieser ihm folgte. Die anderen unterhielten sich derweil über ein Thema, das er auf die Entfernung nicht ausmachen konnte, aber die Blicke, die sie immer wieder in seine Richtung warfen, versicherten ihm, dass es entweder um ihn oder um die Roboter gingen. Das hilft mir nicht gerade, um mich abzulenken. Plötzlich glaubte er, eine weitere Bewegung hinter sich ausmachen zu können. Doch bevor er sich umsehen konnte, spürte er, wie Marc ihm einen heftigen Stoß in den Rücken versetzte, der ihn zu Boden gehen ließ. Im selben Moment hörte er ein leises Zischen, gefolgt von einem Schmerzensschrei – und dann kam es Anthony so vor, als würde die Zeit langsamer verlaufen. Während er versuchte, sich wieder aufzurichten, landete Marcs Körper neben ihm auf den Boden, gleichzeitig erhoben sich die Roboter wieder und formten einen Kreis um sie herum. Einem der Wesen rauchte die Hand, was Anthony noch nicht wirklich verstehen konnte. Erst als er Renas Stimme hörte, die von außerhalb des Kreises Marcs Namen rief, blickte er auf seinen Freund hinab und stellte fest, dass dieser sich nicht mehr rührte und das galt auch für seinen Brustkorb. Es war allerdings keine Verletzung zu erkennen. Anthony legte eine Hand an die Schulter seines Freundes und schüttelte ihn leicht, dabei wiederholte er seinen Namen mehrmals – aber Marc öffnete seine Augen nicht, seine Atmung setzte nicht wieder ein. Für einen kurzen Moment fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt, er sah seinen Vater neben sich bewegungslos in einer Blutlache liegen und egal wie oft Anthony an seiner Schulter rüttelte, die starren Augen wandten sich ihm nicht zu. Der Erinnerungsfetzen verschwand wieder, in seiner Brust baute sich dafür ein Druck auf, der ihm unter anderen Umständen Angst gemacht hätte, ihm im Moment aber nur willkommen war. Er spürte, wie jemand außerhalb des Kreises einen Zauber wirkte, der allerdings ohne Wirkung blieb, dafür begannen nun die Hände der anderen Roboter zu glühen. Gleichzeitig wurde der Druck in seiner Brust geradezu unerträglich. „Gib. Endlich. Nach“, verlangte eine ihm unbekannte Stimme in seinem Inneren mit Nachdruck. Darüber machte er sich keine Gedanken, es war einfach zu verlockend, diesem Drang einfach nachzugeben. Deswegen legte er den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und stieß einen Schrei aus, der ihm Befreiung verschaffen sollte. Rena versuchte, sich mit Händen und Füßen gegen Vincent zu wehren, der sie weiterhin mit aller Gewalt festhielt und dabei etwas sagte, das sie nicht einmal verstand. Ihr Blick war auf die Roboter fokussiert, zwischen ihnen konnte sie Marcs leblosen Körper erkennen, der – das wusste sie einfach – tot war. Sie wusste, sie könnte nichts mehr tun, aber dennoch wollte sie zu ihm, als könnte sie ihn damit einfach wiederbeleben. Sie wollte nicht akzeptieren, dass er tot war, einfach fort, nur weil sie ihn in dieses Gebäude gezogen hatte, statt ihm zu sagen, dass er besser in der Schule bleiben und dort aufpassen sollte. Nur weil sie sich gewünscht hatte, dass er sie begleitete, um ihr ein wenig mehr Sicherheit zu verleihen. Irgendwo nebenbei bemerkte sie, dass Ryu wieder versuchte, einen Zauber zu wirken, aber diesmal schien er keinen Einfluss mehr auf die Roboter, die sich wieder aufgerichtet hatten, zu besitzen. Ihre Versuche, sich gegen Vincents Griff zu wehren, endeten erst, als Anthony den Kopf in den Nacken legte und einen Schrei ausstieß, der aus den Tiefen einer gequälten Seele zu stammen schien. Die anderen hielten ebenfalls inne und beobachteten, was weiter geschah. Ein blassgrüner Wirbel entstand um Anthony herum, vereinnahmte die Roboter und sorgte dafür, dass sie sich in glitzernde Funken auflösten. Vincent ließ sie dennoch nicht los, was sie durchaus verstehen konnte. Auch wenn die Feinde nun fort waren, existierte nun eine Macht an diesem Ort, die ihr geradewegs die Luft abzuschnüren schien. Es war eine uralte Kraft, die ihr bekannt vorkam und ihr gleichzeitig Furcht einjagte, als müsste sie damit eine schreckliche Erinnerung verbinden, die sie aber glücklicherweise vergessen hatte. Keiner der Anwesenden rührte sich in diesem Moment, auch nicht als Anthony aufstand und, ohne ihnen Beachtung zu schenken, an ihnen vorbei, die Treppe hinauflief. Die anderen wichen sogar zur Seite aus, als er an ihnen vorüberging. Keiner richtete das Wort an ihn und er schien nicht einmal zu wissen, dass sie da waren. Seine grauen Augen, die Rena sehen konnte, als er an ihr vorbeilief, waren starr geradeaus gerichtet. Es war nicht Kai, dieser hatte immerhin blassgrüne Augen, so viel konnte sie sagen, aber sie wusste nicht so recht, wer es sonst sein könnte – und eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen. Allein das Gefühl, in seiner Nähe zu sein, war zu grauenvoll. Kaum war er fort und hatte die furchterregende Aura mit sich genommen, ließ Vincent sie los, worauf Rena sofort zu Marc hinüberstürzte. Doch als sie endlich neben ihm kniete, wagte sie es kaum, ihn anzufassen. Sie wusste, seine Wärme würde bald schwinden und sie wollte nicht spüren, wie kalt er sich anfühlen würde. Vielleicht könnte sie die Realität damit noch ein wenig hinauszögern, wenn sie nur nicht akzeptierte, dass er tot war. Hinter sich hörte sie die Gruppe darüber diskutieren, welche Entität das eben gewesen war, aber es kümmerte sie nicht weiter. Sie konnte nicht anders, als weiter Marc anzustarren und dabei zu hoffen, dass er gleich wieder die Augen öffnen und ihr sagen würde, dass es alles gut war. Sie wollte über diesen Verlust weinen, ihn beklagen und am besten nie wieder von seiner Seite weichen. Aber die Tränen kamen einfach nicht. Plötzlich spürte sie, wie jemand sich neben sie kniete und sie vorsichtig in die Arme nahm. Als sie den Kopf wandte, bemerkte sie, dass es sich dabei um Maryl handelte, die sie traurig anlächelte. „Warum ist das passiert?“, fragte Rena und wunderte sich darüber, wie zerbrechlich ihre Stimme klingen konnte. Maryls Lächeln wurde ein wenig hilflos. „Marc hat nur versucht, seinem Freund zu helfen.“ Einem Freund, der nun vollkommen verändert durch dieses Gebäude lief, während die anderen nur darüber diskutieren konnten, wie sie nun vorgehen sollten. Während Seline, Ryu und Russel weitergehen und Anthony folgen wollten, sprach Vincent sich dafür aus, dass sie Marc nehmen und erst einmal zurückgehen sollten, nur um sicherzugehen. Rena war es vollkommen gleich, was die anderen tun wollten, sie würde keinen einzigen Zentimeter von Marcs Seite weichen. Etwas an seinem Oberkörper lenkte plötzlich ihren Blick auf sich. Unter seinem Hemd leuchtete etwas blassgrün, was sie nun doch dazu bewegte, ihn zu berühren, um seine Kette hervorzuziehen. Es war der einstmals schwarze Anhänger, der nun in einem sanften, grünen Licht glühte und dabei Energie absonderte, die sie einen Moment zuvor bereits bei Anthony gespürt hatten – nur mit dem Unterschied, dass es diesmal eine gute Form eben dieser war. Es war keine, die zerstören, sondern erschaffen wollte. Maryl bemerkte das ebenfalls und lenkte die Aufmerksamkeit der anderen mit einem heiseren Ausruf sofort darauf. Rena nahm nicht einmal den Blick von Marc, während sein Körper von diesem grünen Licht eingehüllt wurde und der Stein das Glühen langsam wieder verlor. Kaum war der Anhänger wieder vollkommen schwarz, erlosch das Licht, das Marc umgeben hatte, ebenfalls wieder. Rena verstand nicht, was geschehen war, aber zu ihrem Glück ging es den anderen wohl ebenso, denn als die Gruppe sich um sie versammelt hatte, hörte sie lediglich, wie Seline leise flüsternd fragte, was eigentlich gerade vor sich ging. Plötzlich bewegte sich Marcs Brustkorb wieder, worauf Rena einen überraschten Ruf ausstieß. Im nächsten Moment sog er fast schon panisch die Luft ein und schlug die Augen wieder auf. Sein Blick ging fragend umher und blieb dann an Rena hängen. „Oh“, sagte er und klang dabei so wie immer, „was habe ich verpasst?“ Als er sich aufrecht hinsetzte, konnte Rena sich nicht entscheiden, ob sie ihm einen Schlag verpassen oder ihn einfach umarmen sollte, weswegen sie sich kein bisschen rührte und auch keinen Ton von sich gab. Sie bemerkte aber durchaus, wie Maryl, Russel, Seline, Vincent und Ryu sich wieder von ihnen entfernten, um weiter, mit gedämpften Stimmen, über diese ganze Sache zu diskutieren. Offenbar waren sie genauso verwirrt über das Geschehen wie sie. Er sah verwirrt zu ihnen hinüber und konzentrierte sich dann wieder auf Rena. „Was ist denn los? Worüber diskutieren die? Und wo ist Tony?“ „Du hast keine Ahnung, was gerade geschehen ist?“, fragte sie. „Absolut keine.“ Statt ihm zu erklären, geschehen war, beugte sie sich ein wenig vor, um ihn wortlos zu umarmen. Sie spürte, dass er weiterhin verwirrt war, aber er legte dennoch die Arme um sie. „Ist ja schon gut.“ „Ja, jetzt wieder“, erwiderte sie. Es war besser, wenn er nicht erfuhr, dass er für kurze Zeit nicht mehr am Leben gewesen war, beschloss sie. Falls er es sich nicht selbst zusammenreimte, wollte sie nicht diejenige sein, die ihm eine solche Botschaft mitteilte. Zumindest jetzt noch nicht. Schließlich lösten sie sich aber wieder voneinander. Noch einmal sah er sich um und stieß dann ein frustriertes Seufzen aus. „Wo ist denn Tony nun?“ „Er ist weitergegangen.“ Sie deutete die Treppe hinauf. Marc wurde augenblicklich blass und richtete sich auf, wobei er Rena ebenfalls mit sich nach oben zog. „Worauf warten wir dann noch? Wenn es hier wirklich gefährlich ist, können wir ihn doch nicht einfach allein hier herumlaufen lassen.“ Statt ihn dafür zurechtzuweisen, dass es seine Schuld war, dass sie immer noch hier standen, nickte sie lächelnd. „Du hast recht, wir sollten gehen.“ Damit schlossen sie sich wieder der restlichen Gruppe an, um den Weg endlich fortzusetzen, wobei jeder von ihnen hoffte, dass kein weiteres ihrer Mitglieder bei dieser Unternehmung zu Schaden kommen würde. Anthony lief derweil durch das Gebäude, ohne wirklich Einfluss auf sein eigenes Handeln zu nehmen. Jeder weitere Feind, der ihm begegnete – immer mehr von diesen Robotern – wurde von ihm mit einer einfachen Handbewegung mühelos beiseite gewischt. Es war ... eigenartig, derart fremdbestimmt zu werden und dennoch zu wissen, dass es etwas tief in seinem Inneren war, das ihn dazu antrieb, das alles zu tun. Etwas, das seine ganze Wut und Trauer in jeden einzelnen Angriff entlud und damit den Gedanken an Marcs leblosen Körper stets weiter fortscheuchte. Gleichzeitig wurde der schwarze Schleier vor seinen Augen immer dichter, aber noch schaffte er es, bei Bewusstsein zu bleiben. Nichts hinderte ihn daran, jedes Mal die Treppe in das nächste Stockwerk zu nehmen, bis er schließlich ganz oben war. Das Gefühl, gerufen zu werden, war an diesem Ort besonders stark und Feinde gab es hier ebenfalls keine mehr. Wer immer hier auf ihn wartete, war vielmehr erfreut darüber, dass er endlich gekommen war. Schließlich betrat er den Thronraum, in dem auch Alona zuvor schon gewesen war. Der Mann saß immer noch auf dem Thron und blickte ihm amüsiert entgegen. „Endlich hast du es bis hierher geschafft, mein Lieber.“ Anthony wollte ihn fragen, weswegen er ihm Hindernisse aufgebaut hatte, wenn er ihn doch erwartete, doch das andere Ich sagte nichts und starrte seinen Gegenüber nur an. Eine enorme Macht ging von diesem Mann aus, die Anthony nur noch mehr ermüdete und den Schleier noch einmal verstärkte. Er wollte zurückweichen und weglaufen, aber das andere Ich ließ es nicht zu und wies ihn an, einfach stehenzubleiben. Sein Gastgeber erhob sich und lief einige Schritte auf ihn zu. „Aber jetzt, da du endlich hier bist, werde ich vollständig sein können. Dann werde ich deinen Plan verwirklichen und alle Ungläubigen auslöschen.“ Er hob die Arme und legte den Kopf in den Nacken. Es hätte nur noch gefehlt, dass er in manisches Gelächter ausgebrochen wäre. Unzählige Schauer liefen über Anthonys Rücken, noch nie zuvor hatte er sich so sehr Unterstützung gewünscht, wie in diesem Moment. Da er immer noch schwieg, stellte Master sich wieder normal hin und kam weiter auf ihn zu. „Na komm. Du weißt genausogut wie ich, dass es jetzt Zeit wird.“ Als er die Arme nach ihm ausstreckte, als wolle er Anthony an sich ziehen, wurde der schwarze Schleier schließlich undurchdringlich und sein Bewusstsein verschwand endgültig in die Tiefen. Kapitel 36: Einseitige Konfrontation ------------------------------------ Der Weg nach oben verlief ohne weitere Zwischenfälle. Jemand hatte die anderen Roboter bereits beseitigt, nur ein wenig Schrott übrig gelassen, der immer noch in unregelmäßigen Abständen Funken sprühte. Seline, die gemeinsam mit Russel voranlief, betrachtete das nachdenklich. „Glaubst du, das war Anthony?“ Er streifte diese Roboter nur mit einem kurzem Blick, ohnehin schien es ihr, als würden seine Schritte immer schneller werden, je weiter sie nach oben kamen, so dass es ihr langsam Mühe bereitete, überhaupt noch gleichauf mit ihm laufen zu können. „Ich gehe davon aus, dass es jemand anderes durch Anthony war“, antwortete er schließlich. Sein Gesichtsausdruck war dabei derart ernst, dass sie ihn lieber nicht ansehen wollte, da er ein ungutes Gefühl in ihrem Magen erzeugte. Ein Blick über ihre Schulter verriet ihr immerhin, dass die Gruppe noch vollzählig war. Ryu und Vincent liefen hinter ihnen, während Rena und Marc gemeinsam mit Maryl das Schlusslicht bildeten und sich dabei angeregt zu unterhalten schienen. Worum sich das Gesprächsthema drehte, konnte Seline nicht hören, aber ihr Interesse galt bereits wieder ihrer Umgebung, als sie endlich ganz oben angekommen schienen. In diesem Stockwerk konnte sie es spüren. Die Anwesenheit des Mannes, der sie seit ihrer Jugend immerzu verfolgte und den sie bereits totgeglaubt hatte. Dieses Stockwerk war erfüllt von seiner Kälte, die er unter einem Deckmantel von Wärme zu verstecken versuchte, und von überall schienen Hände nach ihr zu greifen, um sie in die Dunkelheit zu ziehen und sie nie wieder gehenzulassen, endlich das einzufordern, was sie vor langer Zeit in ihrer Verzweiflung einmal versprochen hatte. In einem ersten Impuls wollte sie näher zu Russel treten, damit er sie beschützen könnte, aber dann flammte ihr eigener Ehrgeiz wieder in ihr auf. Sie hatte sich geschworen, nie wieder die Damsel in distress zu sein, nie wieder nur auf die Hilfe anderer zu vertrauen und sich hinter ihnen zu verstecken. Sie würde selbst kämpfen und auch tapfer vorangehen. Das tat sie auch bereits und schaffte es endlich mühelos, Russel zu überholen, um als erstes dort anzukommen, wo ihr Gastgeber sie erwartete. Der Thronsaal schließlich war viel dunkler, als sie geglaubt hätte. Es war Seline nur möglich, wenige Meter weit zu sehen, ehe sich alles in Dunkelheit verlor, aber zumindest bemerkte sie eine Gestalt, die im Halbdunkel auf dem Boden lag – und sie kam zu demselben Schluss wie Marc, der diese als erstes bemerkte: „Anthony!“ So schnell er konnte, lief er zu der Gestalt hinüber. Im Dunkeln war wohl sein Gesicht nicht zu erkennen, denn er tastete den Oberkörper entlang und fuhr urplötzlich zurück. Als er sich den anderen zuwandte, wirkte er verwirrt. „Das ist nicht Tony.“ Neugierig geworden, ging Seline näher, um die Gestalt ebenfalls zu betrachten. Dabei schlossen sich ihr Russel und Rena an, letztere schaffte es, mit ihrem Ring eine kleine Flamme zu erschaffen, die für ausreichend Licht sorgte, um die Person zu erkennen. Es war wirklich nicht Anthony, aber dafür sog Russel scharf die Luft ein. „Das ist der Master!“ Seline runzelte die Stirn und musterte die Gestalt genauer. Das lange, silberne Haar schien angesengt, als wäre es kurzzeitig größer Hitze ausgesetzt worden, die goldenen Augen starrten blicklos in die Dunkelheit, aber er schien vollkommen unverletzt. Dennoch lebte er nicht mehr. „Wie ist das geschehen?“, fragte Rena leise. Noch bevor Seline sich irgendeine Theorie zurechtlegen konnte, erklang ein leises Lachen aus der Dunkelheit, worauf die ganze Gruppe sich diesem Geräusch zuwandte. Seline spürte, wie die Anwesenden ihre Ringe aktivierten, um sofort kampfbereit zu sein, während in ihr alles wieder dazu riet, einfach wegzurennen und zu hoffen, dass die anderen ihn lange genug ablenken könnten, bis ihr die Flucht gelungen war – aber noch immer weigerte sie sich, zu fliehen. Sie spannte ihren Körper an, bereitete sich auf die unvermeidliche Konfrontation vor. Die Dunkelheit zog sich langsam zurück, als verschwände sie in Ritzen und Nischen, ängstlich abwartend, was geschehen würde. Der Thron wurde langsam sichtbar und auf diesem, als könne ihn kein Wässerchen trüben, saß Anthony. Oder jemand, der aussah wie Anthony, aber nicht er war, wie sie sofort sehen und auch spüren konnte. Seine Augen waren nicht länger blau, sondern blassgrün und blickten erstaunlich kalt auf sie alle hinab, obwohl ein spöttisches Lächeln sein Gesicht zierte. Seine gesamte Aura, nein, sogar sein Blick, entsprach jenem Mann, dem Seline bislang immer hatte entfliehen konnte und der nun zurückgekehrt war, um sie zu holen: „Ladon ...“ Für einen kurzen Moment spürte sie, wie die Augen aller Gruppenmitglieder auf ihr ruhten, ehe sie wieder zu ihm hinübersahen. „Das ist Ladon?“, fragte Vincent. „Ist er etwa erwacht?“ Der Schock durch Marcs Tod musste stark genug gewesen sein, Anthony nachgeben zu lassen, zumindest stellte Seline sich das so vor. Aber wieder kam sie mit ihren Theorien nicht weit, da Ladon noch einmal zu lachen begann. „Das ist richtig. Ich bin erwacht und nun hier, um endgültig Frieden über die Menschheit zu bringen.“ Eine Vorstellung, die Seline derart lächerlich fand, dass sie am liebsten gelacht hätte, wäre die Furcht in diesem Moment nicht noch ein wenig größer gewesen. Sein Blick wanderte über die Anwesenden, dann runzelte er die Stirn. „Es stimmt mich sehr unzufrieden, dass zwei von euch fehlen. Aber was soll's?“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie zögern nur das Unvermeidliche hinaus.“ Dann schlug er die Beine übereinander und lächelte wieder, was eiskalt und geradezu höhnisch wirkte. „Aber nun widme ich mich einfach euch, meine Freunde. Es ist so lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben.“ Mit eine einzigen, gelangweilten Handbewegung, wehrte er einen Blitz ab, der von Ryu geschickt worden sein musste, direkt gefolgt von einem Feuerball von Rena, beides vollkommen unbemerkt von Seline. Schließlich schüttelte er mild amüsiert den Kopf. „Ist es so schwer zu verstehen, dass eure Zauber mir nichts anhaben können? Ich habe euch allen eure Fähigkeiten erst gegeben – deswegen gehorchen sie mir.“ Diesen Worten folgte eine weitere Handbewegung. Schwarze Seile schossen aus dem Nichts heraus, schlangen sich um Ryu und Rena und hielten sie an der Stelle gefesselt. Elektrische Funken sprühten von den Fesseln, gingen auf die Gefangenen über und ließen diese mit schmerzverzerrten Gesichtern innehalten. Als Seline sie genauer zu mustern versuchte, stellte sie fest, dass es aussah, als wären sie wirklich gelähmt. Russel zögerte nicht länger, zog sein Schwert und stürmte auf den Thron zu, gleichzeitig wirkte er einen Zauber, der zahlreiche Blüten um ihn wirbeln ließ. Ein Seil schoss aus dem Nichts auf ihn zu, wollte ihn ebenfalls ergreifen, doch Vincent schritt sofort ein und zerschnitt dieses mit seinem Degen, ehe es Schaden anrichten konnte. Geschickt wirbelte er umher und wehrte damit auch jedes weitere Seil ab, das nun nach ihm zu greifen versuchte. Russels Schwert traf derweil auf ein hell leuchtendes Schild, das sich direkt vor Ladon aufgebaut hatte, die Spitze war gerade einmal fünf Zentimeter vom Gesicht des Gottes entfernt. Aber dieser lächelte nur amüsiert. Eine knappe Kopfbewegung von ihm genügte, um Russel fortzuschleudern. Die Blüten verflüchtigten sich, nachdem sie einen großen Teil der Wucht abgefangen hatten, Russel selbst wurde von aus den Boden schießenden Ranken daran gehindert, hart auf dem Boden aufzuschlagen. Dankbar nickte er Maryl zu, die diese Geste nur knapp erwiderte. „Ihr langweilt mich“, bemerkte Ladon, der nun einen Ellenbogen auf die Armlehne stützte, um seine Schläfe auf seiner Faust ruhen zu lassen. „Es wird Zeit, dass ihr lernt, wo euer Platz ist.“ Er hob die ungenutzte rechte Hand, worauf der Raum plötzlich von diesen schwarzen Seilen erfüllt war, was es unmöglich machte, ihnen auszuweichen oder sie abzuwehren. Ein heiserer Schrei verriet Seline, dass Maryl ergriffen worden war, während Vincent und Russel noch immer versuchten, sie abzuwehren – nur um schlussendlich zu scheitern. Die Fesseln schlangen sich um ihre Hand- und Fußgelenke, so dass sie keine Angriffe mehr verwenden konnten, dann wurden sie von mehreren Stromstößen ruhiggestellt. Kaum war das geschehen, schwanden die verbliebenen Fesseln wieder und Seline stand allein da, wenn man von Marc absah. Sie presste die Kiefer aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten, in einem Versuch, sich weder von der Furcht, noch von der Wut übermannen zu lassen. Wenn sie nur einen falschen Schritt machte, waren die Leben der anderen in Gefahr, das wusste sie, auch ohne dass Ladon es ihr erst sagen musste. Seine folgenden Worte galten nämlich erst einmal den Gefangenen: „Um euch kümmere ich mich später, sobald ich Fleera und Lionet auch eingefangen habe. Vorerst würde ich gern meine Tochter begrüßen.“ Sein Blick fokussierte sich wieder auf Seline, traf direkt mit ihrem zusammen und ließ sie ein wenig schwerer atmen. Sie wusste, was er wollte und dass er von ihr verlangte, es freiwillig zu tun, noch bevor er es aussprechen würde. Doch jede Faser ihres Körpers weigerte sich und wollte verhindern, dass sie nachgab, egal wie sehr sie unter diesem Blick leiden müsste. Wieder spannte sie den Körper an, sammelte Magie um sich, damit sie einen Zauber sprechen könnte, doch leises Keuchen, das von allen Gefangenen gleichzeitig zu kommen schien und damit zu einem unüberhörbaren Chor von gequälten Stimmen wurde, ließ sie wieder innehalten. „Tu lieber nichts Unüberlegtes“, riet Ladon ihr spöttisch. „Sonst überlege ich es mir anders und lasse die anderen doch schon direkt hier sterben.“ Sein überhebliches Lächeln, der Spott in der Stimme, die eigentlich Anthony gehörte, all das verriet ihr, dass er die anderen nur am Leben gelassen hatte, um sie zu erpressen – und dass es sinnlos wäre, ihm zu trotzen, um die anderen zu retten, wenn das doch gleichzeitig deren Tod bedeutete. Es war dieser Moment der Erkenntnis, der sie unschlüssig sein ließ, wie sie weiter verfahren sollte. Marc, der immer noch neben der Leiche stand, ging augenblicklich einen Schritt vor. „Tony, warum tust du das? Was ist geschehen?“ Endlich schwenkte Ladon seinen Blick von ihr zu Marc, behielt sie dabei aber immer noch im Auge, so dass sie genau wüsste, dass es immer noch unsinnig war, etwas tun zu wollen. „Hast du es immer noch nicht begriffen?“, fragte Ladon. „Anthony ist nicht mehr hier. Dieser Körper gehört nun mir, genau wie es sein sollte. Er war lediglich dafür gedacht, mich zu diesem Punkt zu bringen – und die anderen gleich mit.“ Er machte eine ausholende Handbewegung, mit der er die Gefangenen alle einschloss. Sein Blick galt nun Marc, aber in ihrem Rücken spürte sie ebenfalls eine Präsenz, die sie daran erinnerte, dass sie weiterhin beobachtet wurde, von wem oder was auch immer, und dass jede unbedachte Bewegung den anderen schaden könnte. Deswegen hielt sie weiterhin widerwillig still und überlegte, was sie tun sollte, um das alles hier zu beenden. „Ich weiß nicht, wie du den Tod überwinden konntest“, sagte Ladon zu Marc. „Aber du hast meinen Respekt dafür. Hoffentlich verstehst du dennoch, dass ich das nicht so stehen lassen kann.“ Er hob die Hand und deutete damit auf Marc, der ihn nur ungläubig ansehen konnte. „Bleib da nicht stehen!“, rief Seline. „Du musst verschwinden! Los!“ Aber er schien sie nicht einmal zu hören, er schüttelte den Kopf. „Nein ...“ Ladon runzelte, vermutlich über den Mangel an Furcht irritiert, runzelte die Stirn. „Was ist los mit dir, Mensch? Du solltest weglaufen oder zittern und um dein Leben flehen.“ „Das werde ich nicht“, erwiderte Marc ruhig, er klang dabei wie jemand, der ohnehin bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte – oder für den es nichts mehr zu verlieren gab. Seline kam nicht umhin, ihn ein wenig für seinen Mut zu bewundern und sich gleichzeitig über seine Dummheit zu ärgern. Wenn er nicht bald floh, würde er nie wieder etwas tun können. An ein Wunder, das sie retten würde, glaubte sie schon nicht mehr. Aber er zumindest war noch nicht verloren. Sofern sie danach gemeinsam mit Ladon sterben würde, könnte noch alles gut werden. „Ich glaube fest daran, dass Tony noch da ist“, fuhr Marc fort, „und ich vertraue ihm. Er würde mir niemals etwas antun. Deswegen glaube ich nicht, dass du mich töten wirst.“ Ladon schnaubte amüsiert. „Zu schade, dass dein Glaube dir hier nicht weiterhelfen wird.“ Energie sammelte sich um seine Hand, manifestierte sich in grauen Funken, die um seinen Arm herum tanzten und zwischen seinen Fingerspitzen wirbelten. Selines Blick war wie gebannt darauf gerichtet, nur aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Marc noch immer entschlossen in die Augen des Gottes starrte. Und in diesem Moment, in dem der Zauber seine höchste Konzentration erreichte, verschwanden die Funken schlagartig wieder. Ladon gab ein schmerzerfülltes Keuchen von sich. Seline blinzelte mehrmals, als ihr das endlich wieder möglich war, und betrachtete den Gott verwirrt, als dieser in die Knie ging und sich den Kopf hielt. „W-was ist das?“, brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Marc überlegte da gar nicht lange: „Das muss Tony sein! Ich wusste doch, dass er noch lebt!“ Dennoch ging Seline zu ihm hinüber und stellte sich schützend vor ihn. „Du solltest vorsichtiger sein und jetzt lieber hier verschwinden.“ Doch er schüttelte rasch den Kopf. „Nein! Tony braucht mich!“ Er blickte über ihre Schulter hinweg wieder zu Ladon. „Hörst du, Tony?! Ich bin hier!“ Gerade wollte sie erwidern, dass das nichts bringen würde, als der Gott nur ein weiteres Keuchen ausstieß, aus dem sie undeutlich „Lass das endlich“ heraushören konnte. „Es bringt doch etwas“, stellte sie ungläubig fest. Vielleicht war das ein neuer Hoffnungsschimmer, um die Menschheit zu retten. Und sie selbst auch. „Mach weiter, Marc.“ Auf diese Worte hin nickte er zufrieden und ließ sich nicht ein zweites Mal bitten: „Tony! Komm wieder zu dir! Wir brauchen dich hier! Tony!“ Kapitel 37: Du musst an dich glauben. ------------------------------------- Er hörte seinen Namen wie aus weiter Ferne an sein Ohr dringen. Aber eigentlich wollte er dem gar nicht zuhören, er fühlte sich viel zu wohl in dieser angenehm warmen Umarmung, die eigentlich keine solche war. Er spürte keine Arme um sich, aber dennoch hatte er das Gefühl, dass jemand ihn gerade sanft wiegte, damit er schlafen könne. Die Stimme, die an sein Ohr drang, war die von Marc, das konnte er erkennen. Aber dennoch war es ihm nicht möglich, auszumachen, was sein Freund sagte. Er klang nur so sorgenvoll, dass ihm die Brust eng wurde, während er ihm lauschte. Doch plötzlich schwand die bis dahin empfundene Wärme, die Umarmung wurde gelöst und wer immer ihm Trost und Halt gegeben hatte, war verschwunden. Er fragte sich, was er getan hatte, um das zu verdienen, warum er alleingelassen worden worden war. Doch noch in diesen Fragen versunken, spürte er plötzlich eine Hand an seiner Schulter, gefolgt von einer anderen Stimme, die er auch gut kannte: „Anthony, wach auf.“ Widerwillig öffnete er endlich die Augen und erblickte Kai, so wie er ihn damals – eigentlich erst vor kurzem und doch erschien es ihm gerade wie eine Ewigkeit – in seinem Traum gesehen hatte. Er wollte ihn fragen, was er hier machte, bekam dann aber das Gefühl, dass er viel eher fragen müsste, wo er überhaupt war. Sich umsehend erkannte er, dass sie sich auf einem scheinbar endlosen Feld befanden. Das knöchelhohe Gras wehte in einem nicht spürbaren Wind, die vereinzelten Bäume besaßen keinerlei Laub mehr, ihre kahlen Äste waren wie Finger, die sich hilfesuchend nach dem lavendelfarbenen Himmel ausstreckten, nur um ignoriert zu werden. Ein Anblick, der Anthony seltsamerweise mit Melancholie erfüllte, statt mit einem Gefühl von Furcht, wie es eigentlich sein sollte – glaubte er jedenfalls. „Du fragst dich bestimmt, wo du bist?“, kam Kai seiner Frage zuvor und half ihm dabei auf die Füße. „Das hier ist dein Unterbewusstsein. Schön hier, oder?“ Anthony wollte gerade zustimmen, als er hinter sich blickte und überrascht zurückwich. Ein Kokon, gesponnen aus silber-weißen, hauchzarten Fäden, befand sich an dieser Stelle. Er war verwurzelt in der Erde, während ein dicker Ast ihm als oberer Halt diente. Und er war aufgebrochen, als wäre etwas aus seinem Inneren herausgekommen. Aber er glaubte nicht, dass es sich dabei um einen Schmetterling handelte. „Was ist das denn?“, fragte er. „Ein Kokon“, antwortete Kai ruhig. „In dem hast du bis eben geschlafen. Ladon muss dich dort eingesperrt haben, damit er in Ruhe handeln kann.“ Anthony wandte sich ihm wieder zu, das Gesicht vollkommen farblos. Allein sich vorzustellen, dass er darin geschlafen hatte, dass die Wärme, die er bislang gespürt hatte, nur von diesem Kokon herrührte, erfüllte ihn mit einem Gefühl von Abneigung. Aber auch noch mit etwas anderem: Erkenntnis. Er wollte sich dafür entschuldigen, dabei versagt zu haben, den Gott weiter zu unterdrücken – was wohl seine Aufgabe gewesen war, wie er zu spüren glaubte – aber Kai schnitt ihm das Wort ab: „Wir müssen uns jetzt beeilen, um zu dem Ort zu kommen, wo er sich gerade aufhält.“ Wenn er schon sagte, dass sie sich beeilen müssten, wollte Anthony erst einmal nicht noch mehr Zeit verschwenden, also schloss er sich Kai ohne Umschweife an, als dieser sich in Bewegung setzte. Woher auch immer er wusste, in welche Richtung sie laufen mussten, denn für Anthony sah alles hier vollkommen gleich aus. Endlose Grasflächen, kahle Bäume, keine weiteren Kokons, aber Kais Richtung war absolut zielsicher, quasi als spüre er, wohin es gehen sollte, während es Anthony unmöglich war, das Gefühl ebenfalls zu spüren. Deswegen zweifelte er daran, dass sie sich wirklich auf dem richtigen Weg befanden. Doch je weiter sie liefen, desto mehr änderte sich die Umgebung. Der Himmel färbte sich golden, das Gras verschwand, wurde ersetzt durch Stahl und Messing und schon bald befanden sie sich im Inneren eines Uhrwerks. Zahlreiche riesige Zahnräder waren hier angebracht, drehten sich immerzu und griffen nahtlos ineinander. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um eine Plattform in einiger Höhe zu entdecken. Wenn er sich nicht täuschte, befand sich ihr Ziel ganz dort oben – zumindest fühlte es sich so an, als würde eine Energie von dort oben herabströmen, stärker als alles, was er jemals zuvor gespürt hatte. „Was ist das denn hier?“, fragte Anthony irritiert. „Wer weiß?“, erwiderte Kai. „Vielleicht eine Versinnbildlichung des Verstandes, immerhin ist ein Uhrwerk gut dafür geeignet, wenn du mich fragst.“ Er lächelte ihm zu, doch Anthony stand nicht der Sinn danach, es zu erwidern. Also wandte Kai sich wieder ab und fort: „Aber nichtsdestotrotz sollten wir nach oben gehen. Er ist dort.“ „Was sollen wir denn tun, wenn wir ihn treffen?“ Anthony konnte nicht verhindern, dass er dabei ein wenig verzweifelt klang. Die Aussicht, einem Gott zu begegnen, erfüllte ihn nicht gerade mit Zuversicht, selbst wenn sie eigentlich ein Teil von eben diesem waren und damit im Grunde über dieselben oder zumindest ähnliche Kräfte verfügen müssten. Kai wandte sich ihm noch einmal zu, sah ihn aber nur schweigend an. Je länger er das tat, desto unangenehmer fühlte Anthony sich. Am liebsten hätte er sich direkt irgendwohin verkrochen, nur um diesem Blick ausweichen zu können. Rasch entschuldigte er sich daher bei ihm, worauf Kai sich zufriedengab und seinen Weg fortsetzte. Anthony folgte ihm wieder und betrachtete dann interessiert, wie geschickt es dem anderen gelang, die Zahnräder zu nutzen, um sich einen Weg nach oben zu bahnen. Dabei sprang er stets zwischen den zwei Gerüsten mit den Rädern hin und her, um nicht aus Versehen zerquetscht zu werden. Er selbst glaubte nicht, das wirklich schaffen zu können, er war bei weitem nicht derart elegant. Schon allein bei dem Anblick fühlte er sich unglaublich schwer und ungeschickt. Noch während er das dachte, hörte er plötzlich Kais Stimme, als stünde er noch immer neben ihm: „Das hier ist dein Innerstes. Wenn du denkst, dass du es nicht schaffst, wirst du es auch nicht. Du musst an dich glauben.“ Aber wie sollte er das, wenn er überzeugt war, untauglich hierfür zu sein? „Kannst du nicht einfach allein gehen?“, fragte Anthony. „Ich bin sicher, du kannst das auch allein.“ „Warum macht dich das so sicher?“ „Du hast schon viel mehr gekämpft als ich.“ Es war irgendwie surreal, eine Unterhaltung mit jemandem zu führen, der bereits ganz oben, in mindestens hundert Meter Höhe, auf der Plattform saß und nur noch zu ihm herabsah, sich dabei aber anhörte, als wäre er keine zwei Meter entfernt. „Und wenn ich dir sage, dass ich auch kaum gekämpft habe?“ Skeptisch zog Anthony die Brauen zusammen. Ganz offensichtlich konnte er das nicht glauben und wollte ihn das auch wissen lassen, auch wenn er daran zweifelte, dass Kai das sehen konnte. Doch er konnte es scheinbar, denn er neigte ein wenig den Kopf. „Warum glaubst du mir nicht? Du solltest wissen, dass es mir, gerade hier, nicht möglich ist, dich zu belügen. Ich sage die Wahrheit. In meinem Leben habe ich genausowenig gekämpft wie du. Es kommt nur darauf an, dass du an dich glaubst – und dass du weitermachst.“ Aber wie sollte er an sich glauben, wenn er sein ganzes Leben lang gelernt hatte, dass er es nicht tun sollte? Dass er schwach und hilflos war. Auch wenn er sich nicht an viel aus seiner Zeit im Waisenhaus erinnerte, so war ihm doch die Hilflosigkeit noch gut im Gedächtnis. Kai stand nicht auf, um ohne ihn weiterzugehen, und er schalt ihn auch nicht. Stattdessen nickte er sogar verstehend. „Wenn du nicht an dich selbst glauben kannst, musst du nur an jene denken, die an dich glauben. Es gibt mindestens eine solche Person hier ganz in der Nähe.“ Anthony nahm an, dass er von sich selbst sprach, aber da echote plötzlich eine ganz andere Stimme durch das Reich: „Ich glaube fest daran, dass Tony noch da ist und ich vertraue ihm. Er würde mir niemals etwas antun. Deswegen glaube ich nicht, dass du mich töten wirst.“ Es war Marc, ganz eindeutig. Anthony erkannte die Stimme sofort, auch weil er ihn zuvor im Kokon gehört hatte. Aber es war vollkommen unmöglich. Er hatte selbst gesehen, wie Marc gestorben war. Bildete er sich seine Stimme dann vielleicht nur ein? „Marc glaubt an dich“, sagte Kai. „Du kannst ihn jetzt nicht einfach im Stich lassen.“ Wieder wollte er erwidern, dass es sinnlos war, dass er niemandem helfen konnte, selbst wenn Marc an ihn glaubte. Aber da spürte er bereits ein warmes Gefühl in seinem Inneren. Wieder kam es ihm vor, als wäre er in eine Umarmung gehüllt worden, die ihn diesmal nicht mehr gehen lassen wollte. Er spürte die Gedanken zahlreicher Menschen in seinem Inneren. All jener, die ihn in dieses Gebilde begleitet hatten, jene von Raymond und Alona, die längst in Sicherheit waren, jene von Joel und Ethan, die in der Akademie waren und dort die Schüler beschützten, jene von Leen und Alexander, die versuchten die ehemaligen Peligro-Bewohner zu bändigen – und ganz besonders jene von Heather, die bei ihren Eltern saß und ihn darum bat, vorsichtig zu sein und bald zurückzukommen. Das warme Gefühl erfüllte seinen Körper und gab ihm die Illusion, so leicht zu sein, dass er es schaffen müsste, den Weg nach oben hinter sich zu bringen. Und wie eine Bestätigung erklang direkt neben seinem Ohr noch eine andere Stimme, die einer Frau, die er zuletzt in seinen Träumen gehört hatte: „Ich weiß, dass du das kannst, Tony. Du kannst alles schaffen, was du dir nur vornimmst.“ „Du bist die Hoffnung, die viele Menschen schon aufgegeben haben“, stimmte eine andere, männliche Stimme, die er ebenfalls kannte, zu. Er wusste, würde er nachsehen, wäre nichts zu sehen, denn sie waren auch in seinem Kopf nicht wirklich da. Aber zu wissen, dass sie ihm Unterstützung gaben und ebenfalls an ihn glaubten, ließ seinen Körper derart leicht werden, dass er fast zu schweben glaubte. Seine Eltern lösten die Umarmung wieder, ohne ihm das Gefühl der Wärme zu nehmen. Nach einem leichten Stoß in den Rücken, den er, wie er glaubte, sicher seiner Mutter zu verdanken hatte, machte er sich auf den Weg nach oben. Genau wie Kai zuvor, sprang er leichtfüßig und behände von Zahnrad zu Zahnrad, ohne jedes Anzeichen von Furcht oder Versagensangst. Er wusste , dass er es schaffen konnte, also gab es keinerlei Grund, auch nur für eine einzige Sekunde zu zweifeln. Nicht einmal der Blick nach unten schaffte es, ihn glauben zu lassen, dass er das nicht könnte. Und nur wenige Sekunden nachdem er begonnen hatte, befand er sich bereits oben auf der Plattform, gemeinsam mit Kai. Dieser hatte sich inzwischen aufgerichtet und lächelte ihn anerkennend an. „Siehst du? Ich wusste doch, dass es geht.“ Statt etwas zu sagen, nickte Anthony nur lächelnd. Sein Blick wanderte über die Fläche, auf der sie sich befanden, hin zu einem großen, kreisförmigen Platz. In der Mitte desselben befand sich ein weiterer Kokon, dieser war aber noch nicht geöffnet. Die Außenhülle wirkte geradewegs perfekt und glitzerte in einem einfallenden Licht, dessen Ursprung Anthony unbekannt war, da es hier auch keinerlei Quelle dafür gab. Der Himmel jedenfalls verfügte über keine Sonne oder ähnliches. Die von dem Kokon ausgehende Energie war derart machtvoll, dass Anthony sich nur ehrfürchtig nähern konnte. „Ist er da drin?“ „Du kannst ihn doch spüren“, erwiderte Kai. „Wir sollten uns dem jetzt jedenfalls annehmen.“ Damit trat er bereits vor und ließ in derselben Bewegung eine blassgrüne Klinge aus Licht in seiner Hand entstehen. Mit dieser erschuf er in Sekundenschnelle einen Riss im Kokon, worauf sich eine Kaskade von blendender Helligkeit aus diesem ergoss. Anthony kniff die Augen zusammen und wartete darauf, dass es nachließ, doch bevor das geschehen konnte, hörte er noch einmal Marcs Stimme: „Hörst du, Tony?! Ich bin hier!“ Das entlockte ihm ein Lächeln und erfüllte ihn erneut mit Hoffnung und Kraft. Er ging ebenfalls näher an den Kokon heran, so dass er durch den Riss hineinsehen konnte. Ein Gesicht mit geschlossenen Augen war darin zu sehen, ein Mann, wenn er sich nicht täuschte. „Tony! Komm wieder zu dir!“, erklang Marcs Stimme erneut. „Wir brauchen dich hier! Tony!“ Kaum war seine Stimme verstummt, atmete Anthony tief durch – und im selben Moment schlug Ladon seine Augen auf. Mit einem erschrockenen Schrei fuhr Anthony wieder zurück. Auch Kai wich einen Schritt nach hinten, als der Kokon sich weiter öffnete, diesmal ohne Licht zu entlassen. Ladon stieg vorsichtig und gleichzeitig überraschend elegant heraus, so als hätte er bis eben nicht darin geschlafen. Der Gott sah aus wie Kai, nur mit zwei Ausnahmen: Sein Haar war vollkommen weiß und seine Augen silbern. Seine Kleidung bestand aus einer grauen Hose und einer ebenso grauen Robe, die im Schritt gespalten war, so dass sie an beiden Körperseiten herabfiel. „Was tut ihr hier?“, fragte er, mit einer Stimme, die Ehrfurcht verlangte. „Wir sind hier, um dich aufzuhalten“, erwiderte Kai, ohne ihm den Gefallen zu tun, ihm dieses Gefühl zu zeigen. Ladons Augen durchbohrten ihn, aber er gab nicht im Mindesten nach. Also widmete der Gott sich Anthony, der sich durchaus eingeschüchtert fühlte, aber nicht gewillt war, wirklich nachzugeben. Stattdessen erwiderte er den Blick von Ladon. „Ich stimme Kai zu. Wir werden verhindern, dass du etwas tust, das den Menschen schadet.“ „Warum interessierst du dich für die Menschen?“, fragte Ladon. „Du bist in einem Waisenhaus aufgewachsen, wenn ich mich recht erinnere. In dem dir dieser Kerl, der behauptet hat, ich zu sein, versucht hat, auszutreiben, Menschen zu mögen.“ „Das war wohl nicht sehr erfolgreich.“ Ladon runzelte die Stirn. „Wie kann es nur sein, dass ich in jemandem wie euch wiedergeboren werde? Alles, was ich will, ist, eine neue Ordnung zu schaffen, die allen Menschen zugute kommt.“ „Indem du alle anderen dafür opferst“, sagte Kai. „Genau das ist es, was wir nicht zulassen können.“ „Sentimentalität wird euch nirgendwohin führen. Aber bitte, wenn ich das Recht des Stärkeren erst durchsetzen muss ...“ Damit entstand in seiner Hand ebenfalls eine Klinge aus Licht, die allerdings silbern war. Anthony dagegen trat erneut einen Schritt zurück, um dem Kampf nicht im Weg zu stehen. Und bei der Geschwindigkeit, in der dieser stattfand, hätte er garantiert nicht helfen können. Es war ihm lediglich möglich, Lichtblitze zu sehen, die aufeinander trafen und wieder voneinander abprallten, nur um sich erneut gegenseitig anzuziehen. Aber einfach nur zuzusehen gefiel Anthony nicht, deswegen blickte er sich suchend um, in einem Versuch, herauszufinden, ob er auch irgendetwas tun könnte. Er durfte nicht zulassen, dass Ladon seinen Plan verwirklichte, auch wenn er diesen noch nicht verstand. Das hier war rechtmäßig sein Körper, also müsste es in seiner Macht stehen, etwas zu erschaffen, das Ladon auch in diesem einsperrte und ihn handlungsunfähig machte. Er konzentrierte sich, versuchte eine Lösung zu finden – und daraufhin entstand ein großes Tor mitten auf der Plattform. Es sah nicht so aus, als ob es irgendwohin führen und damit hilfreich sein würde, aber er wusste, dass es genau so war, weil er es wollte. Am Rand des Kampfplatzes, auf dem immer noch farbige Blitze gegeneinander zu kämpfen schienen, entlanglaufend, kam er bei dem Tor an, das er ohne Umschweife öffnete. Wie er sich erhofft hatte, war dahinter nicht mehr die Plattform zu sehen, sondern eine gänzlich andere Welt. Es mutete wie eine Höhle an, mit einem hellen Kristall ab der Decke, der für ausreichend Licht sorgte, dazu mehrere kleine Inseln aus schwarzem Sand im dunklen Wasser. Es wirkte wie ein geeignetes Gefängnis für einen Gott, der keine Macht mehr über einen haben sollte. Als ihm das bewusst wurde, fuhr er zu den beiden Kämpfenden herum. Da sie sich in einem Patt befanden, war es ihm sogar möglich, sie zu sehen. Ihre Waffen schienen regelrecht ineinander verhakt, so verbittert standen sie sich gegenüber. Ladon befand sich mit dem Rücken zu ihm und konnte das Tor daher nicht sehen. Anthony wollte Kai ein Zeichen geben, doch der andere verstand nach einem kurzen Blick auch so, was zu tun war. Seine weiteren Angriffe, mit wesentlich mehr Kraft durchgeführt als jene zuvor, dienten dazu, Ladon weiter zurückzudrängen. Der Gott, vollkommen eingenommen von seiner Hybris, bemerkte das nicht einmal und ließ daher sogar zu, dass dies geschehen könnte. Schließlich, nur noch wenige Meter vom Tor entfernt, ließ Kai seine Klinge verschwinden, packte Ladon an den Schultern und riss ihn mit sich in dieses neu erschaffene Gefängnis. Der Gott stieß einen wütenden Schrei aus und versuchte sich wieder loszureißen, doch Kais Griff blieb eisern. „Schließ das Tor, Anthony!“, befahl er stattdessen. Aber er zögerte. Wenn er das wirklich tat, wäre Kai mit Ladon eingeschlossen, möglicherweise für immer. Er wusste nicht, ob er das wirklich verantworten konnte, besonders wenn der Gott so wütend blieb, wie im Moment. Er tobte, schrie und ließ sogar Funken sprühen, die Kais Gesicht aufschnitten, als wären es Glassplitter. „Tu es!“, forderte er noch einmal. „Mach dir keine Sorgen um mich, ich schaffe das. Dafür wurde ich geboren, schon vergessen?“ Auch das wollte Anthony ablehnen, ihm sagen, dass es noch viel mehr Gründe gab, weswegen er bei ihm war, aber es gelang ihm nicht. Kais Blick war derart eindringlich, dass er nur noch nicken konnte. Dann begann er, das Tor, das plötzlich um so viel schwerer wirkte, wieder zu schließen. Kurz bevor es gänzlich geschlossen war, konnte er noch einen letzten Blick auf Kai erhaschen, der ihn anlächelte. „Lebe, Anthony.“ Dann fiel das Tor zu und verschwand so plötzlich, wie es gekommen war. Nun vollkommen allein, sah er sich um, fragte sich, was er tun sollte. Stück für Stück löste sich dann auch die restliche Umgebung auf, indem sich glitzernde Splitter von ihr ablösten und nach oben in den Himmel verschwanden. Schließlich stand er in weißen Nichts, umgeben von Nebel, der ihm jegliche Sicht nahm. Er legte den Kopf in den Nacken und stieß ein leises Seufzen aus. „Ich schätze, ich muss dann wohl ... einfach vertrauen.“ Anthonys Körper fiel zu Boden und blieb reglos liegen. Im selben Moment fielen die Fesseln von allen Gefangenen ab, die auch sofort wieder die Möglichkeit fanden, sich zu bewegen. Marc befand sich zuerst an Anthonys Seite und kniete sich neben ihn. Seline kümmerte sich derweil um Russel, der leise seufzte und seinen Nacken ein wenig lockerte. „Das war nicht unbedingt das, was ich unter einem guten Auftritt verstehe.“ Lächelnd klopfte sie ihm auf die Schulter. „Ich finde, du hast dich großartig geschlagen. Du hast eine ganze Weile länger durchgehalten als manch andere Person.“ Bei diesen Worten sah sie zu Ryu hinüber, der sich in einigem Abstand zu Anthony aufhielt und ihr daher keine Aufmerksamkeit widmete. Vincent stand neben ihm und beäugte den reglosen Körper ebenfalls misstrauisch, während Rena und Maryl sich bereits zu Marc begeben hatten. Ein leises Dröhnen fuhr durch das Gebäude, erschütterte es bis in die Grundfesten. Seline ließ den Blick ein wenig schweifen, aber obwohl nichts zu sehen war, wusste sie bereits, was das bedeutete: „Wir sollten gehen, dieses Ding ist nicht mehr sicher.“ Russel nickte ihr zu und sah dann zu den anderen. „Ist Anthony noch am Leben?“ Marc reagierte sofort: „Ja, ist er! Wir nehmen ihn doch mit, oder?“ „Natürlich“, sagte Rena, bevor einer der anderen antworten konnte. „Wir lassen Anthony doch nicht einfach hier. Was wären wir denn dann für Freunde?“ Seline musste unwillkürlich lächeln und auch Vincent schien dieser Beweis an Treue zu imponieren, denn er begab sich sofort neben Anthony, um diesen auf seinen Rücken zu nehmen. Als er sich wieder erhob, nickte er den anderen zu. „Wir können gehen.“ Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht ging Seline voraus, um den Weg zu ebnen, sollte es noch eventuell vorhandene Feinde geben. Aber eigentlich war sie sich ziemlich sicher, dass der Rückweg wesentlich unkomplizierter verlaufen würde, als der Weg nach oben. Heather schlang die Decke ein wenig fester um ihren Körper, während sie betrachtete, wie das fremdartige Gebilde über der Stadt zu verschwinden begann. Stück für Stück lösten sich Teile, die dann in den Himmel schwebten und spurlos verschwanden. „Sie haben es wirklich geschafft“, stellte Raymond fest. Er saß auf einer Transportliege für Kranke, direkt neben dem dazugehörigen Wagen. Der Sanitäter kümmerte sich derweil um Alona, die sich eine Schnittwunde am Arm zugezogen hatte, obwohl sie darauf bestand, keine Behandlung zu benötigen. Sie saß auf dem Boden des Fahrzeugs, auf der Kante und bemerkte immer wieder, dass es vollkommen unnötig wäre, sich um sie zu kümmern. Der Mann besaß aber eine engelsgleiche Geduld und ließ sich davon nicht im Mindesten stören. „Das ist doch großartig, oder?“, fragte Heather. „Ich meine ... jetzt wird doch alles gut.“ Sie sah zu ihrem Vater hinüber, der noch immer die Stirn gerunzelt hatte. Aber anhand ihrer langen Erfahrung mit ihm, konnte sie sagen, dass er nicht skeptisch war, sondern nur darüber nachdachte, ob er dafür Belohnungen verteilen müsste und falls ja, in welchem Umfang. Schließlich erwiderte er ihren Blick allerdings. „Ja, ich denke, davon können wir ausgehen.“ Heather lächelte zufrieden. „Anthony hat dann wohl gute Arbeit geleistet.“ Und damit hatte er sogar ihre Erwartungen übertroffen. Hoffentlich würde er nun aber endlich einsehen, dass er nicht so schlecht war, wie er oft zu glauben schien. Raymond neigte den Kopf ein wenig. „Warum denkst du, dass es Anthony war?“ Sie wandte den Blick ab, sah wieder zu dem verschwindenden Gebäude hinüber und tippte sich an die Nase. „Nenn es weibliche Intuition, Dad~. Ich weiß es eben.“ An einem gänzlich anderen Ort, der von den Ereignissen unberührt schien, standen gläserne Särge mit Bildschirmen daneben, in einem mit Metall verkleideten Keller. Die Neonröhren flackerten und erhellten den Raum in einem hellen kalten Licht. Der Großteil der gut ein Dutzend Särge, die sich an die Wand reihten, war leer. Bei manchen von ihnen war das Glas gesplittert, was sie vollkommen unbrauchbar machte. Die Bildschirme dieser Särge waren deaktiviert. Lediglich einer war noch vollkommen intakt und mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt, die keinerlei Blick hinein erlaubte. Der Bildschirm daneben zeigte funktionierende Vitalfunktionen. Ohne ersichtlichen Grund wurde dieses Motiv allerdings plötzlich durch die einfache Schrift Phase 2 eingeleitet ersetzt. Im selben Moment wurde die Flüssigkeit abgelassen, der Sarg öffnete sich. Und nur einen Atemzug später erschien eine Hand auf dem Rand des Sargs, gefolgt von einem leisen, röchelnden Husten. Kapitel 38: Wahrheiten ---------------------- Bereits eine Woche nach diesen Ereignissen schien alles schon wieder seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Jedenfalls für alle außer Anthony, der nur von den Wiederherstellungsvorgängen hörte, während er im Krankenhaus lag. Dort war er schließlich aufgewacht, nachdem er in seinem eigenen Unterbewusstsein ohnmächtig geworden war. Dr. Dumont, Alexanders Vater, hatte ihm zwar bescheinigt, dass es ihm so weit gut ginge, aber nur um ganz sicher zu sein, musste er noch eine Weile zur Beobachtung bleiben. Er störte sich nicht daran, schon allein weil er regelmäßig Besuch von allen bekam, die er kannte, und sich so nicht einmal einsam fühlen konnte – aus irgendeinem Grund war er nämlich in einem Einzelzimmer untergebracht worden. Sogar Vincent kam an einem Tag vorbei, um nach ihm zu sehen, womit er jedenfalls nicht gerechnet hatte. Es war ein wenig seltsam gewesen, mit ihm zu sprechen, nachdem ihre letzten Treffen nicht so gut gelaufen waren, und Vincent hatte das wohl genauso gesehen, denn lange war er nicht geblieben. Noch seltsamer war nur Russels Besuch gewesen, da er de ganze Zeit damit beschäftigt gewesen war, sich für sein vorschnelles Urteil zu entschuldigen, nachdem er von den Ereignissen gehört hatte, denen sie ihre Rettung verdankten. Heather kam sogar jeden Tag vorbei, obwohl sie manchmal nicht einmal miteinander sprachen, sondern nur gemeinsam das Fernseh-Programm begutachteten. Er mochte diese Zeiten ganz besonders. Sie waren zusammen, ohne dabei grundsätzlich etwas miteinander reden zu müssen. Es war angenehm. Anders als bei dem ein oder anderem Besucher. Inzwischen waren die meisten Schäden in der Stadt wieder beseitigt worden, wie ihm nicht nur berichtet wurde, sondern wie er auch in den Nachrichten sehen konnte. Glücklicherweise hatte der Ausnahmezustand nicht lange angehalten, weswegen die Schüler aus Peligro nicht dazu gekommen waren, sonderlich viel anzurichten. Noch dazu waren, dank der schnellen Reaktion von Joel, viele von ihnen auch direkt zu Beginn gefangen genommen worden. Der größte Schaden war durch eine Massenhysterie angerichtet worden, die von der Polizei hatte beendet werden müssen. Und das war relativ schnell gegangen – etwa drei Stunden. Ob das wirklich schnell war, konnte Anthony nicht sagen, er verließ sich auf die Nachrichten. Aber nun, eine Woche danach, sah es fast so aus, als wäre nie etwas vorgefallen. Auch Anthony konnte es nur wirklich glauben, weil er Kais Präsenz in seinem Inneren nicht mehr spüren konnte. Er war hinter diesen Toren, gemeinsam mit Ladon – und das vermutlich für immer, um einen ewigen Kampf mit ihm auszufechten. Und wegen dem, was seine Freunde darüber noch mitteilten, war er auch noch sicher, dass alles wirklich geschehen und nicht nur ein eigenartig realistischer Traum gewesen war. „Ich verstehe immer noch nicht, was in den paar Minuten passiert ist, in denen ich nicht da war.“ Marc lag quer über Anthonys Bett und damit auch über seinen Beinen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, während er an die Decke starrte. Anthony bemerkte dabei, dass Marc erschreckend leicht war, er spürte sein Gewicht kaum auf den Beinen. „Ich war bewusstlos, oder?“ „Das musst du mich nicht fragen. Ich war immerhin auch nicht da.“ Dabei erinnerte Anthony sich genau daran, dass Marc in seinen Armen gestorben war, und er selbst danach von Ladon übernommen worden war. Aber was sonst noch geschehen war … Für Marc, der offenbar von niemandem in Kenntnis gesetzt worden war, schien diese Antwort nicht sonderlich befriedigend zu sein. Er runzelte seine Stirn. „Mein Anhänger ist auch kaputt gegangen. Jetzt muss ich einen neuen kaufen.“ „Das übernehme ich“, erwiderte Anthony. „Als dein bester Freund sollte ich das erledigen.“ Ohne Marcs Hilfe wäre er immerhin auch gestorben. Entweder durch den Angriff der Roboter oder weil er in seinem Unterbewusstsein aufgegeben hätte. Erst durch die Stimme seines Freundes war es ihm möglich gewesen, genug Selbstvertrauen für den Angriff zu sammeln. Marc richtete sich wieder auf und sah ihn schmunzelnd an. „Danke, Mann~. Du weißt ja, wie es bei mir immer finanziell aussieht.“ Was noch ein Grund dafür war, dass er derjenige war, der diesmal den Anhänger bezahlen wollte. Außerdem hatte er das Gefühl, noch nicht sonderlich viel für ihn getan zu haben, obwohl sie Freunde waren, und er wollte das ein wenig ausgleichen. „Aber erst musst du hier mal wieder rauskommen und Freiheit schnuppern.“ Als ob er hier eingesperrt wäre. Aber Anthony war überzeugt, dass es für jemanden wie Marc ein Gefängnis sein musste. Genau wie es das für Kai gewesen war. „Bald sind Sommerferien“, fuhr Marc fort, „wir überlegen schon, wo wir hingehen wollen.“ „Was sind Ferien?“ Marc starrte ihn an, als hätte er gerade die Existenz von Wasser in Frage gestellt. „Hattet ihr m Waisenhaus keine Ferien?“ „Wir hatten jeden Tag Unterricht. Glaube ich.“ Inzwischen erschien ihm dieser Unterricht schon wie aus einem gänzlich anderen Leben, das wie die Erinnerung an einen Traum immer mehr verblasste. Er musste ihm aber nicht hinterhertrauern, denn sein jetziges Leben war um einiges besser. Marc räusperte sich theatralisch. „Ferien sind die Zeit im Jahr, in der keine Schule stattfindet und alle Schüler und Lehrer tun können, was sie wollen.“ „Ist das nicht ...“ Anthony suchte nach dem richtigen Wort, das erklären könnte, was er darüber dachte, ohne zu unhöflich zu sein – aber er fand keines. „ Ist das nicht Zeitverschwendung?“ „Nein!“ Marc hob belehrend einen Zeigefinger. „Ferien sind die Zeit des Jahres, in der die schwer gestressten Schüler – und Lehrer – sich endlich ausruhen und Dampf ablassen können. Wir laden unsere Batterien auf, damit wir im Anschluss noch besser lernen können. Das ist also eine Win-Win-Situation für jeden.“ Das Konzept klang für ihn immer noch nach einer puren Zeitverschwendung. Aber wenn es den anderen so sehr gefiel und sie es als sinnvoll erachteten, wollte er nicht mehr widersprechen. Marc erhob sich vom Bett und verschränkte wieder einmal locker die Arme vor dem Körper. Das hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr vor Anthony getan, aber dieser bemerkte, dass sein Freund das nur tat, weil er nachdenklich hin und her laufen wollte. „Wir haben überlegt, alle zusammen an den Strand zu fahren“, erklärte Marc dabei. „Renas Familie gehörte dort ein Hotel, weswegen wir günstig unterkommen könnten. Warst du schon mal am Strand?“ Anthony schüttelte mit dem Kopf. „Dafür hatten wir nie Zeit im Waisenhaus, wir mussten immer kämpfen oder lernen.“ Marc hielt wieder inne und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Hast du nicht einmal gesagt, du hast vorher noch nie gekämpft?“ Er erinnerte sich nicht, ob er das wirklich gesagt hatte. Oder ob sie in Peligro wirklich hatten kämpfen müssen. Alles in seinem Leben schien ihm immer verwirrender zu werden, wie sehr er auch versuchte, alles zu entwirren „Es ist alles sehr durcheinander in meinem Gedächtnis. Aber Fakt ist, das Heim steht mitten in der Savanne, da gab es nicht viele Möglichkeiten, einen Strand zu besuchen.“ Er kannte einen solchen und das Meer lediglich aus dem bisschen, was er bislang im Fernsehen darüber gesehen hatte. „Dann wird es einmal Zeit dafür“, meinte Marc gut gelaunt. „Ich werde Rena davon erzählen, dann machen wir das auf jeden Fall.“ Es schien, als wolle er noch etwas sagen, aber etwas ließ ihn innehalten. Erst als Anthony auch ganz genau hinhörte, fiel ihm auf, dass es sich dabei um Schritte handelte, die sich dem Zimmer näherten. Da es sich am Ende des Ganges befand, kam man nicht einfach auf dem Weg zu einem anderen Raum vorbei, für einen Besuch des Arztes war es aber eigentlich zu spät und für den einer Schwester zu früh, wie Anthony nach einem Blick auf die Uhr feststellte. Er antwortete auf das Klopfen – und war überrascht, als Raymond die Tür öffnete. Dieser trug eine Mappe unter seinem Arm, ein strahlend weißer Verband war um seine Stirn geschlungen. Vermutlich war er im Krankenhaus gewesen, um ihn ersetzen zu lassen und war deswegen nun auch hier. Er tauschte knappe Begrüßungen mit ihnen aus, ehe er sich an Marc wandte. „Campbell, ich würde gern allein mit Anthony sprechen.“ Es war keine Bitte, sondern ein Befehl – und Marc kam ihm auch sofort nach. Weiterhin fröhlich verabschiedete er sich von Anthony, versprach, bald wiederzukommen und verließ das Zimmer. Raymond zog sich derweil einen Stuhl an das Bett und setzte sich auf diesen. „Wie geht es dir?“ Anthony überlegte, ob diese Frage vielleicht nur aus Höflichkeit gestellt worden war, aber da er interessiert gemustert wurde, war sie wohl doch ernst gemeint. „Es geht mir eigentlich ziemlich gut. Und Ihnen?“ „Auch gut, danke der Nachfrage.“ Raymond legte die Mappe auf dem Bett ab, behielt aber seine Hand darauf. „Alona hat mir erzählt, dass du erfahren hast, wer deine Eltern sind.“ Schlagartig saß Anthony kerzengerade im Bett. Durch die sich überschlagenden Ereignisse – und auch durch Heather – hatte er schon wieder vergessen, dass Alona ihm versprochen hatte, mit ihrem Mann über dieses Thema zu sprechen. Dass sie nach allem noch daran gedacht hatte, rührte ihn. „Ich habe jetzt alles zusammengetragen, was du über die beiden wissen musst.“ Raymond nahm die Hand von der Mappe, stand aber noch nicht auf. „Aber vielleicht hast du im Vorfeld noch eine Frage an mich?“ Die Gedanken überschlugen sich in Anthonys Kopf. Dieses plötzliche Angebot, besonders nach den vorausgegangenen Ereignissen, ließ all seine sorgsam zurechtgelegten Fragen zerspringen, worauf sie sich zu vollkommen unsinnigen Sätzen neu zusammenfügten. Er müsste sich erst sammeln, aber er konnte sich nicht darauf verlassen, dass Raymond auch so lange blieb, also musste er vorher etwas anderes fragen: „Mrs. Lionheart sagte, sie kannten meine Eltern.“ Gut, das war keine Frage, dürfte aber wiedergeben, dass er etwas Bestimmtes erfahren wollte. Raymond verstand offenbar sofort, er griff sich ans Kinn. „Ich bin in dem Waisenhaus aufgewachsen, in dem sie gearbeitet haben. Gut, aufgewachsen ist vielleicht das falsche Wort, ich war dort vier Jahre, bis ich von Direktor Chandler nach Lanchest geholt wurde. Adam und Eve haben sich um mich gekümmert, weil sie so eine Art … Sozialpädagogen waren.“ Wie waren sie wohl überhaupt dort gelandet? Und warum hatten sie dann gemeinsam mit Anthony fliehen müssen? Auch wenn sie dabei offensichtlich nicht sehr erfolgreich gewesen waren. Raymond griff in die Akte und zog ein Bild heraus, das er Anthony zeigte. Darauf war ein Mann zu sehen, den er eindeutig als Adam wiedererkannte, neben ihm stand eine fröhliche dreinblickende Frau mit rosa Haar, das bis an ihre Schultern reichte, ihre grünen Augen wirkten glücklich, als sähen sie ihn direkt an und wäre froh über das, was aus ihm geworden war. Unwillkürlich griff Anthony sich an sein eigenes rosa Haar, verkrampfte für einen Moment die Hand darin, als könne er ihr damit näher sein. „Du sahst ihnen beiden so ähnlich, dass ich sogar ohne deinen Nachnamen wusste, dass du ihr Sohn sein musst.“ Raymond drückte ihm das Bild in die Hand. „Behalte es.“ „Danke.“ Es gelang ihm nicht, den Blick von den Gesichtern seiner Eltern abzuwenden. „Was ist mit ihnen geschehen?“ Wären sie noch am Leben, hätte er sie spätestens dann kennen gelernt, als er nach Lanchest gekommen war. Hier liefen sie immerhin nicht Gefahr, von irgendjemandem eingesperrt zu werden. Raymond lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Hände ineinander und platzierte sie auf seinem Schoß. Dennoch konnte Anthony sehen, dass er ein wenig zitterte. „Ich habe recherchiert und dabei festgestellt, dass Adam bei einem Autounfall starb. Jedenfalls wurde es in der polizeilichen Akte als ein solcher bezeichnet.“ Er löste die Hände für einen kurzen Moment voneinander, um auf die Mappe zu deuten. Anthony war sicher, dass es kein einfacher Autounfall gewesen war. Aber seine Erinnerung versagte ihm bei jeglichen Details den Dienst. „Eve wurde bei dem Unfall nicht getötet. Genau genommen lebt sie sogar in Lanchest.“ Endlich gelang es ihm, den Blick von dem Bild zu nehmen. Mit großen Augen sah er Raymond an. Warum war ihm das bislang von niemandem gesagt worden? Warum hatte sie ihn nicht besucht? Ob sie krank war? In einem solchen Fall sollte er sie unbedingt besuchen! Aber Raymond schüttelte mit dem Kopf. „Du hast sie bereits getroffen. Es wurde dir nur nicht bewusst. Kein Wunder, sie ist nicht mehr so, wie sie früher war.“ So viele Personen, die Anthony bislang in Lanchest getroffen hatte, gab es nicht. Aber wie sollte ihm das nicht bewusst geworden sein? Und was meinte er damit, dass sie nun anders wäre? „Wie ist sie dann jetzt? Was ist aus ihr geworden?“ Dieser Part schien Raymond wohl am schwersten zu fallen. Er richtete seine Brille, räusperte sich und prüfte sogar noch einmal, ob sein Verband richtig saß. Schließlich wurde ihm aber bewusst, dass es nichts mehr gab, das er tun könnte, um es hinauszuzögern, und auch Anthonys Blick immerzu auf ihn gerichtet war. „Erinnerst du dich an den Mimikry im Keller der Schule?“ Das tat er, aber er zog die Verbindung nicht sofort, sondern sah Raymond nur mit gerunzelter Stirn an. Dieser erwiderte den Blick mit sichtlichem Unbehagen – und dann verstand er plötzlich. „Meine Mutter ist ein Mimikry?“ Raymond nickte. „Ich fand sie kurze Zeit nach dem Autounfall bei dem Adam gestorben ist. Sie wanderte durch Lanchest, in dieser Form, aber ich erkannte ihre Aura, die sich nicht verändert hatte. Also nahm ich sie mit den Keller und sperrte sie dort zu ihrem Schutz ein.“ Anthony erinnerte sich gut an das Gefühl der Bedrohung, der Angst, das er dort unten im Keller gespürt hatte. Und da sollte er glauben, dass es sich dabei eigentlich um seine Mutter handelte? „Es mag dir unglaublich erscheinen.“ Raymond schien geradewegs seine Gedanken lesen zu können. „Aber es ist wirklich wahr. Es steht alles in den Unterlagen, falls du es lieber selbst nachlesen willst.“ Anthony blickte auf die Mappe hinab. Er würde es auf jeden Fall alles noch einmal selbst nachlesen. Er könnte sonst, ohne jeden Beweis, niemals glauben, dass es der Wahrheit entsprach. „Etwas verstehe ich daran noch nicht“, murmelte er dabei. „Und was?“ „Wenn sie jetzt ein Mimikry ist … was war sie dann vorher?“ Wieder griff Raymond erst nach seiner Brille, obwohl sie nicht im Mindesten verrutscht war. „Vorher war sie auch schon einer. Sie hatte sich derart weit entwickelt, dass sie menschlich war, nicht nur von ihrem Aussehen, sondern auch von ihrem Verhalten. Dieser Unfall muss sie dann derart viel Kraft gekostet haben, dass sie sich zurückentwickelt hat.“ Das erklärte es. Warum sie dann nach Lanchest gegangen war, musste er nicht fragen, dafür gab es viele Gründe, unter anderem den Zufall. Es war sinnlos, in der Richtung noch mehr Fragen zu stellen. „Das war alles, was ich wissen wollte.“ Am Abend, lange nachdem Raymond wieder gegangen war, machte Anthony sich über die Mappe her, die er behalten durfte. Es waren Berichte über seinen Vater, aber noch viel mehr über seine Mutter, die offenbar als ungewöhnlicher Mimikry lange Zeit von der GS beobachtet worden war, ehe sie verschwand – und dann als Eve wieder im Peligro Waisenhaus erschienen war. Genau wie Adam, der auf der Suche nach ihr – als Mimikry damals noch – ebenfalls verschwunden war. Aus welchem Grund sie als besonders gegolten hatte oder weswegen sie derart lange im Waisenhaus gewesen war, ließ sich in den vorliegenden Unterlagen nicht finden. Er ging davon aus, dass es sich um klassifizierte Informationen handelte, an die Raymond einfach nicht herankam – oder die nicht für seine Augen bestimmt waren. All das über seine Eltern zu lesen, weiterhin in dem Wissen, sie kaum gekannt zu haben und sich nicht einmal an das Bisschen erinnern zu können, erzeugte ein seltsam leeres Gefühl in seiner Brust. Es war kein Bedauern, aber auch keine Freude, dass er die Informationen noch nachträglich erhielt, es war einfach … nichts – und er hasste dieses Gefühl. Gut möglich, dass es auch nur daran lag, dass er sich nun als halber Mimikry erkennen musste und diese Einsicht ihn nachhaltig verwirrte. Im Grunde war er damit nicht anders als ein Mitglied der GS, ohne es jemals bemerkt zu haben. Vielleicht hatte Raymond auch deswegen Alexander angewiesen, ihm mehr über diese Wesen zu erzählen. Aber das war eine Frage für einen anderen Tag, die Unterlagen an sich waren erst einmal wichtiger. Zuguterletzt kam er auf Informationen, die ihn betrafen, auch wenn es nicht viele waren. Sein Name, sein Geburtstag, auch eine Einstufung seiner Kampffertigkeiten, weswegen er einen Moment lang glaubte, dass diese Informationen von Lanchest aufgestellt worden waren – bis ihm etwas anderes ins Auge fiel. Ein Abschnitt handelte davon, welche Verletzungen er durch einen dem Unfall folgenden Vorfall erlitten hatte. Die meisten der medizinischen Begriffe sagten ihm nichts, weswegen er diese nur überflog, aber etwas bestimmtes war es, das seinen Blick anzog: Patient ist durch Gehirntrauma und exzessiven Gebrauch von X im komatösen Zustand. In einer sauberen Handschrift hatte jemand mit Blockbuchstaben etwas dazugeschrieben: → möglicherweise vegetatives Stadium? Direkt darunter, wesentlich weniger gut lesbar, hatte jemand in einer anderen Handschrift etwas dazugekritzelt: Negativ. Patient zeigt Bewusstsein. Komatöser Zustand temporär. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals im Koma gelegen zu haben – aber soweit er wusste, erinnerte man sich auch nicht daran, und besonders nicht in Verbindung mit einem Gehirntrauma. Vermutlich erinnerte er sich deswegen auch nicht mehr an das, was davor geschehen war. Das schien jedenfalls schon einmal Sinn zu ergeben. Was er aber dann las, ließ ihn wieder mit mehr Fragen zurück als er Antworten bekommen hatte: Freigabe des Patienten für Projekt Sternensplitter. Wir erhoffen uns gute Ergebnisse, bis der Patient aus dem Koma erwacht. Kapitel 39: Ab in den Urlaub ---------------------------- Es war eigenartig. Zwischen ihm und Kai hatte es nie einen sonderlich großen Dialog gegeben, keine innige Bindung, die gemeinsame Zeit war kurz gewesen. Dennoch kam es Anthony vor als fehle ein wichtiger Teil seiner selbst. Erst nun fiel ihm auf, dass absolute Stille in den Gedanken eines Menschen herrschte, wenn dieser allein war. Früher hatte er stets etwas gehört, selbst bevor Kai ihm ins Bewusstsein gekommen war. Ein leises Summen, ein Atmen, da war immer die Ahnung gewesen, dass noch jemand da war, ein tröstendes Gefühl, wenn man ganz allein war. Nun war es fort, in der Stille war nur noch ein leises Rauschen, ausgelöst durch die Atmosphäre. Es flößte ihm Furcht ein, schon der Gedanke, allein zu sein, wurde unerträglich. Als er im Krankenhaus gewesen war, hatte er nichts davon bemerkt, denn dort war er ja nicht wirklich allein gewesen. Irgendwo war immer noch jemand gewesen, stets hatte er Schritte oder Stimmen hören können. Aber als er dann schlussendlich nach Hause gekommen war, hatte es nichts mehr gegeben, das ihn von der Einsamkeit ablenken könnte. Umso zufriedener war er darüber, dass er nun mit einer großen, lauten Gruppe im Zug saß. Es waren Sommerferien, und Rena hatte beschlossen, nach all dem Stress der letzten Zeit an den Strand zu fahren. Ursprünglich waren von ihr nur Marc und Anthony als Begleitung angedacht gewesen, aber er hatte – mit Renas Erlaubnis – Heather eingeladen, dann waren plötzlich auch Leen und Alexander dabei gewesen und schlussendlich hatten sich auf Raymonds Anweisung auch Joel und Leon angeschlossen. Sie waren als Wachhunde abgestellt worden, wie Marc lachend gesagt hatte. Anthony verstand es immer noch nicht, ungeachtet eines schwammigen Erklärungsversuchs seines Freundes. Genauer hatte er nicht werden können, da Leon sich bereits auf den freien Platz der Vierer-Sitze hatte fallen lassen. Heather, Leen und Alexander saßen auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, gemeinsam mit Joel, der in einer Zeitschrift blätterte. Leon wiederum, der neben Anthony saß, sprach fast ohne Pause, seit er sich hingesetzt hatte. „Es ist ewig her, seit ich zuletzt am Meer war. Da kommen mir die Ferien wie gerufen. Ich wollte schon ewig wieder schwimmen gehen. Früher war ich ja dauernd schwimmen, aber seit ich Lehrer bin habe ich kaum noch Zeit dafür und in Lanchest ist es auch-“ Rena lächelte leicht angesäuert über seine Worte, hielt sich mit den eigenen aber wohlweislich zurück. Marc, der neben ihr saß, nickte in regelmäßigen Abständen mit abwesendem Blick. Lediglich Anthony schien aufmerksam zuzuhören, schon allein deswegen, um sich von der inneren Stille und den Gedanken über die von Raymond vorgelegten Akten abzulenken. Deswegen begann er dann auch, sich in den Monolog einzuklinken, um einen Dialog daraus zu machen: „Warum sind Sie dann nicht einmal gegangen? Sie haben doch sicher öfter Ferien.“ „Schon, aber ich wollte nicht allein gehen. Das macht dann doch keinen Spaß.“ Also ging es ihm nicht nur um das Schwimmen an sich, sondern auch um den Spaß. Da fragte Anthony sich, ob das wirklich eine derart unterhaltsame Tätigkeit war. Er müsste sich vielleicht auch einmal darin versuchen, wenn sie dort waren – dabei konnte er gar nicht schwimmen. Vielleicht sollte er einen der anderen bitten, es ihm beizubringen. Oder könnte man das als seltsam erachten? Leon verfiel wieder in seinen Monolog, diesmal über seine letzten Ferien, die er an einem See verbracht hatte – in Ermangelung seiner Zeit, ans Meer zu fahren – weswegen Anthony es diesmal für sicher genug hielt, den Blick abzuwenden und die andere Gruppe zu beobachten. Dort herrschte Schweigen. Joel las noch immer sein Magazin, Alexander hatte sich derweil in ein kompliziert aussehendes Buch – allein der Titel Neue Alkalioxometallate über die Azid-Nitrat-Route sagte Anthony gar nichts – vertieft, die Zwillinge spielten derweil mit einem roten Faden, den sich Leen um die Finger gewickelt hatte, um daraus ein kompliziertes Muster zu bilden. Heather übernahm den Faden mit ihren eigenen Fingern, und formte dann ein neues Muster daraus. Dabei zog sie die Brauen ein wenig zusammen als erfordere es unglaublich viel Konzentration für dieses Spiel. Anthony ertappte sich selbst dabei, wie er ihre Finger nicht nur genau beobachtete, sondern auch feststellte, wie ungeheuer zierlich sie waren. Eigentlich unvorstellbar, dass sie eine ausgebildete Kämpferin war, die sich problemlos zur Wehr setzen konnte. Sie bemerkte wohl seinen Blick, da sie plötzlich ihren vom Faden abwandte, um ihn anzusehen. Er zuckte zusammen, als habe er gerade etwas Verbotenes getan, dann sah er rasch wieder zu Marc, der ihn wissend anlächelte, aber nichts sagte. Das verwirrte Anthony dann nur noch mehr, deswegen sah er lieber aus dem Fenster. Dort fand immerhin nichts Außergewöhnliches statt, dort gab es nur Leben. Weite Felder mit saftigem grünen Gras und Moos, das sich nicht nur auf dem Boden zu wachsen bequemte, sondern auch ganze Ruinen einnahm. Städte, die einst der Stolz der Architekten gewesen waren, zerstört von Soldaten und besiegt von der Natur, weil man nie die Zeit fand, die Trümmer zu beseitigen. Welch deprimierender Kreislauf. „Sieht cool aus, oder?“, fragte Marc. „Früher sind Schatzsucher gern in den Ruinen unterwegs gewesen. Aber inzwischen gibt es wohl nichts mehr zu entdecken.“ „Das sehe ich anders“, widersprach Rena. „Es gibt bestimmt schöne Anblicke dort unten, von denen es noch keine Bilder in Foto-Büchern gibt. Die würde ich gern auch mal sehen.“ „Riecht das nach einem Berufswunsch?“ Marc schmunzelte amüsiert. „Das klingt dir gar nicht ähnlich, weißt du?“ Rena seufzte. „Ach komm. Als würde ich mit einer Kamera da herumklettern wollen. Außerdem ist es illegal.“ „Wie kann es dann Fotobücher davon geben?“, fragte Anthony. „Man wird nur verhaftet, wenn man in flagranti ertappt wird“, erklärte Marc. „Ansonsten geht man straffrei aus, solange man nicht zu sehr damit prahlt, wie man dorthin gelangt ist.“ „Und manche Leute“, ergänzte Rena, „sind auch richtig gut darin, einfach nur etwaige Motive mittels Technik nachzustellen. Die kann man ja nicht verhaften.“ Das ergab durchaus Sinn, auch für ihn. „Schade, dass eure anderen Freunde nicht mitkommen wollten“, sagte Leon. „Mit mehr Leuten wäre es noch lustiger geworden~.“ Vor allem hätten sie dann sicher wesentlich mehr Lärm im Zug verursacht. „Die anderen mussten arbeiten“, klärte Rena ihn auf. Im Sommer brauchten Ryu und Seline sicher jede Hand im Café. Jedenfalls schienen Maryl und Russel bei ihrem letzten Besucht dort ebenfalls gearbeitet zu haben. Vincent wiederum machte aus seinen Tätigkeiten ein großes Geheimnis, aber er hatte wohl ebenfalls keine Zeit. Immer mehr dieser Ruinen, die einmal zu einer großen Stadt gehört haben mussten, waren überflutet. Die hohen Gebäude, wie Wolkenkratzer, ragten noch empor, die gläsernen Fassaden reflektierten das Sonnenlicht wie blank polierte Spiegel; von kleineren Häusern waren nur noch die Ziegeldächer zu sehen. Teilweise hatten Vögel sich darauf oder darin ihre Nester gebaut, ungetrübt von dem Lärm des vorbeirauschenden Zuges. Wenn er sich richtig an seinen Unterricht zurückerinnerte, bedeutete dies alles die Bildung eines neuen Biotops – und er hoffte, dass sich die dortigen Tiere wohler fühlten als die Menschen zu ihren Lebzeiten. „Jetzt dauert es nicht mehr lange“, sagte Rena, nachdem er einige hundert Meter lang das Wasser bewundert hatte. „Wir sind bald da.“ Bislang war Anthony nicht sonderlich aufgeregt gewesen. Aber nachdem sie das nun gesagt hatte, spürte er doch Vorfreude in seinem Inneren. Zum ersten Mal in seinem Leben könnte er selbst das Meer sehen und den Sand eines Strandes fühlen. Mit Sicherheit würde es aufregend werden. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, selbst Leon schien nun eher in den Anblick der Ruinen vertieft zu sein. Erst wenige Kilometer vor ihrem Ziel gab es schließlich keine mehr zu sehen, stattdessen erstreckten sich jenseits der Fenster Felder soweit die Augen reichten. Anthony wusste nicht, welche Pflanzen da angebaut wurden, aber sie waren derart saftig gelb, dass er am liebsten geseufzt hätte, um seinem Wohlgefühl Ausdruck zu verleihen. Allerdings gab er keinen Ton sich, auch nicht als sie alle ihr Gepäck nahmen und sich zu einer der Türen begaben. Allgemein schien jeder von ihnen äußerst leise zu sein, was Anthony auf Joels Anwesenheit schob. Keiner von ihnen wollte wohl, dass Raymond davon erfuhr. Erst als sie alle auf dem Bahnsteig standen, atmete Leon tief durch und sagte wieder etwas: „Alles klar, wir sind endlich angekommen~. Wir sollten sofort an den Strand gehen!“ „Nein“, widersprach Joel. „Wir bringen unser Gepäck ins Hotel – und dann können wir an den Strand gehen. Oder willst du, dass deine Sachen schon wieder geklaut werden?“ Die anderen sahen interessiert zu Leon, der verlegen lachte. „Das war ja nur einmal – und ich hatte auch gar nichts Wichtiges bei mir.“ „Ich hoffe, das ist diesmal anders. Du bist jetzt Lehrer. Sicher gibt es irgendwelche Unterlagen, die du dir als Unterrichtsvorbereitung mitgebracht hast.“ Derart viel Verantwortungsbewusstsein hätte Anthony Joel nicht zugetraut. Aber zumindest in den Ferien nahm er das Unterrichten wohl ernst. Leon gab schließlich nach. „Okay, wir gehen zuerst ins Hotel, wenn dir das eher zusagt.“ Zufrieden über diese Antwort, wandte Joel sich an Rena. „Gut, zeig uns, wie wir hinkommen.“ Unter ihrer Führung nahmen sie einen Shuttle-Bus, der sie direkt vor dem Hotel absetzte. Aber es sah nicht so aus, wie Anthony sich eines vorgestellt hatte. Es wirkte vielmehr wie ein großes Anwesen mit blank polierten Fenstern, zwei geschwungene Treppen führten nach oben, so dass man wohl auch von außen den ersten Stock erreichen konnte. Eine drehende Glastür führte in eine Lobby, davor stand aber ein Mann in einer roten Pagenuniform mit goldenen Knöpfen. Es sah nicht so aus wie ein praktisches Gebäude, das nur einem Zweck dienen sollte. Leon tippte Rena auf die Schulter. „Hey, wir sind doch wirklich eingeladen, oder? Ich kann mir den Aufenthalt hier nämlich ganz sicher nicht leisten.“ „Ich habe euch zwar nicht eingeladen, aber ich übernehme das schon, keine Sorge.“ Mit selbstsicheren Schritten ging sie voraus, die anderen folgten ihr nur zaghaft. In der Lobby herrschte eine ehrfurchtsvolle Stille, die nur von dem Klingeln eines Telefons hinter dem dunklen Tresen unterbrochen wurde. Der Boden bestand aus cremefarbenem Marmor, den Anthony interessiert musterte, da er wesentlich wertvoller aussah als alle anderen Materialien, die er bislang kennen gelernt hatte. Rena strebte direkt auf den Tresen zu und begann einige Worte mit der Frau dahinter auszutauschen. Der Rest der Gruppe wartete in der Zwischenzeit, Leen setzte sich sogar auf ihren Koffer als wäre es eine furchtbare Anstrengung für sie, stehenzubleiben. Alex vertiefte sich stehend wieder in sein Buch. Die anderen warfen nur Blicke umher, wobei besonders Leon aufgeregt wirkte. Vielleicht wollte er aber auch nur immer noch unbedingt an den Strand gehen und wippte deswegen so ungeduldig auf seinen Füßen vor und zurück. Anthony hatte bislang angenommen, dass sie allein in der Lobby waren, aber während er seinen Blick schweifen ließ, entdeckte er eine Sitzgruppe nicht weit von der Drehtür entfernt, direkt gegenüber eines großen Panoramafensters, das den Ausblick auf die Straße ermöglichte. Auf dem mit grünem Leder bezogenen Sofa saßen zwei Personen, von denen Anthony sich automatisch angezogen fühlte, weswegen er – ohne es wirklich zu wollen – plötzlich neben ihnen stand. Es waren zwei junge Männer, wie er dann erkannte; der eine mit braunem Haar und gütigen grünen Augen, auch wenn sein Lächeln eher traurig wirkte; der andere mit weißem Haar, das er unter einer schwarzen Wollmütze zu verbergen versuchte, seine goldenen Augen wirkten kühl und distanziert, außerdem kaute er gerade einen Kaugummi, wie Anthony bemerkte. Was ihn aber am meisten irritierte war die Tatsache, dass er das Gefühl hatte, er müsste die beiden kennen. Die Namen lagen ihm bereits auf der Zunge, aber es gelang ihm nicht, sie sich wieder ins Gedächtnis zurückzurufen oder sie gar auszusprechen. Der Braunhaarige wandte seinen Blick von dem Fenster und sah Anthony an, er lächelte immer noch. „Hallo. Alles in Ordnung?“ Die Stimme sprach etwas in seinem Inneren an, wie eine lange verschüttete Erinnerung, aber noch immer war sie unerreichbar für ihn. „Uhm …“ Anthony wich zurück. „Tut mir leid, ich wollte euch nicht stören. Ich war nur neugierig.“ Der Weißhaarige schmatzte missbilligend und warf ihm einen ebensolchen Blick zu. „Fein. Dann kannst du jetzt ja wieder verschwinden.“ „Sei nicht so unfreundlich, Lloyd“, wies der Braunhaarige ihn zurecht, ehe er sich wieder an Anthony wandte: „Wir warten gerade auf jemanden. Und du?“ Er deutete hinter sich, in Richtung des Tresens. „Ich warte darauf, dass wir, äh, eingecheckt haben.“ So hatten die Personen im Fernsehen es jedenfalls genannt, und ausgehend von dem verständnisvollen Nicken des Braunhaarigen dürfte es auch tatsächlich das richtige Wort gewesen sein. Anthony wollte es nicht sagen, aber die beiden sahen nicht aus wie Urlauber. Vor allem wirkten sie viel zu warm angezogen für einen Strandurlaub. Sie beide trugen Jacken und auch fest aussehende Hosen als wären sie eigentlich unterwegs, um zu arbeiten. Und plötzlich glaubte er, auch zu wissen, woher sie kamen: „Seid ihr aus Peligro?“ Selbst Lloyd widmete ihm nun seine ganze Aufmerksamkeit. „Du kennst es?“ „Ich war dort“, sagte Anthony, danach sah er ein hoffnungsvolles Glitzern in den goldenen Augen, doch direkt nach seinen folgenden Worten erlosch es wieder: „Ich erinnere mich aber nicht so wirklich daran. Und vor einer Weile wurde ich auch weggeschickt.“ Das war noch gar nicht so lange her, aber inzwischen schien es für Anthony wie aus einem gänzlich anderen Leben zu stammen, dass er erst einmal in Lanchest hatte ankommen müssen. Wieder desinteressiert, wandte Lloyd sich von ihm ab, sah lieber aus dem Fenster auf die Straße hinaus, obwohl dort gerade nichts zu sehen war. „Wir waren einmal dort“, sagte der Braunhaarige. „Aber das war vermutlich bevor du dort warst. Also kümmer dich einfach nicht um uns und genieße lieber deinen Urlaub. Wir sind auch bald wieder weg.“ Anthony wollte noch mehr wissen, ein paar Details erfragen, auch wenn selbst der Braunhaarige sich inzwischen von ihm abgewendet hatte. Aber in dem Moment, in dem er seinen Mund öffnete, wurde er von Marc gerufen. Die anderen warteten scheinbar nur noch auf ihn und er wollte das nicht zu sehr ausreizen. Also verabschiedete er sich knapp von den beiden, was keiner von ihnen mehr wirklich zu bemerken schien, denn keiner von ihnen wandte sich ihm noch einmal zu. Darum wandte er sich von ihnen ab und kehrte zu seiner eigenen Gruppe zurück – doch das nagende Gefühl, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte, konnte er nicht bei diesen beiden Fremden zurücklassen. Kapitel 40: Der erste Ferientag ------------------------------- Ohne Joel wäre die Aufteilung der Zimmer entweder nicht so schnell geregelt gewesen – oder sie wäre nicht so züchtig abgelaufen, wie er sie bestimmte. Was aber, wenn man Marc Glauben schenken durfte, nur wegen seiner Furcht vor dem Direktor geschehen war. Dabei waren die beiden Freunde. Anthony konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass Raymond sehr wütend auf Joel werden könnte. Alona war dann wieder ein anderes Thema. Am Ende standen Rena und die Lehrer je mit einem eigenen Zimmer da (was nur gerecht war, wenn man bedachte, wer ihnen das alles ermöglicht hatte) und Leen und Heather mit einem gemeinsamen Raum, genau wie Anthony, Marc und Alexander. Wenn letzterer davon genervt war, so zeigte er das nicht, sein Gesichtsausdruck änderte sich kein bisschen. Infolgedessen versuchte auch Marc, seine Enttäuschung zu verbergen, da er – wie er Anthony später mitteilte – Alexander nicht den Eindruck geben wollte, dass er störte. Anthony an sich verstand durchaus, weswegen es einfacher gewesen war, Alexander bei ihnen einzuquartieren, statt darüber zu diskutieren, wer von ihnen noch ein Einzelzimmer bekommen sollte. Ganz zu schweigen davon, dass nicht erwartet werden konnte, dass Rena ihnen überhaupt noch einen Raum bezahlte. Oder welche Übereinkunft auch immer sie mit dem Hotel getroffen haben mochte. Anthony bevorzugte es, einfach nur zufrieden über diese Gelegenheit zu sein. Im ersten Stock trennten sich daher die Wege der Gruppe, damit jeder von ihnen sein Zimmer aufsuchen konnte, mit dem Versprechen, sich in einer Stunde am Strand zu treffen. Marc übernahm es, die Tür mit einer seltsamen Karte zu öffnen, dann vollführte er eine einladende Geste für Anthony. „Bitte nach dir~. Du bist schließlich der einzige von uns, der noch nie in einem Hotel gewesen ist.“ Ein Blick zu Alexander, der ihm zunickte, verriet ihm, dass das tatsächlich der Wahrheit entsprach und er mit diesem Vorschlag einverstanden war. Also trat Anthony vor und drückte die nun angelehnte Tür auf, um als erster einzutreten. Im ersten Moment blieb Anthony glatt die Luft weg. Wenn man ins Zimmer trat, sah man sich direkt einer Fensterfront gegenüber, die einen Blick auf das Meer bot. Das Blau des Wassers und des Himmels war derart intensiv, dass er glaubte, vor einem Bild zu stehen. Marc musste ihn erst davon überzeugen, dass er später noch Zeit genug für den Anblick des Meeres hätte, um ihn wieder vom Fenster loszureißen. Im Gegensatz zum roten Teppich auf dem Gang, war im Zimmer ein blauer ausgelegt worden, der sich angenehm weich unter seinen Schritten anfühlte. In einer Ecke standen drei Sessel um einen kleinen Tisch herum, darüber war ein Flachbildfernseher angebracht. Eine unauffällige weiße Tür neben dem Schrank führte ins Bad. An der Wand gegenüber des Fensters standen drei Betten, die fast dreimal so groß waren, wie das von Anthony zu Hause. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie alle in ein Bett gepasst hätten und man damit Platz sparen könnte. Marc schien davon aber nicht begeistert zu sein, als Anthony das vorschlug. „Ich denke, es wäre unangebracht, wenn wir alle in einem Bett schliefen“, bemerkte auch Alexander. „Aber ihr beide seid so gut befreundet, ihr könntet das ja ausprobieren, wenn ihr wollt.“ „Ich verzichte.“ Marc schüttelte mit dem Kopf. „Außer ein Geist sucht unser Zimmer heim. Dann bringe ich mich in Tonys Bett in Sicherheit.“ Er zwinkerte ihnen zu, aber Anthony fragte sich nun, ob es hier wirklich Geister geben mochte. Falls ja, war es gut, dass sie derart große Betten hatten. Angst empfand er allerdings keine. Die creme-farbene Bettwäsche verbreitete einen angenehm frischen, aber unaufdringlichen Duft. „Riecht viel besser als bei mir zu Hause“, urteilte Marc, während er über eine der Decken strich. „Und sie fühlen sich auch viel besser an.“ Alexander stellte seine Tasche auf dem Bett ab, das am weitesten von Marcs entfernt war. Dadurch blieb Anthony nur das in der Mitte, aber ihn störte das nicht. Er legte ebenfalls seine Sachen auf seinem Bett ab. „Die anderen wollten, dass wir uns am Strand treffen, ja? Was zieht man dafür so an?“ Marc klopfte sich gegen die Brust. „Überlass das nur mir. Ich führe dich in die Kunst der Badebekleidung ein.“ Anthony war erleichtert darüber, dass er einen solchen Freund an seiner Seite hatte. Alexander sah das ganze ein wenig anders: „Es geht nur um etwas, in dem man schwimmen kann. Tu nicht so als wärst du ein halber Held.“ War das wirklich eine derart simple Sache? Nur weil es für ihn außergewöhnlich war, musste es das ja nicht für andere sein, so viel hatte Anthony bereits gelernt. Aber manchmal vergaß er dennoch, dieses Gelernte auch auf alles umzusetzen, besonders auf Marc. Dieser kümmerte sich aber nicht weiter um die Kritik. „Tony weiß schon, wie ich das meine. Also, sorgen wir dafür, dass wir dich angemessen ausstatten.“ „Ich bin das erste Mal in einem so großen Hotel“, erzählte Leon. „Und dann auch noch in einem so edlen, das ist echt wahnsinnig cool, findest du nicht?“ Joel nickte ergeben. Nachdem er seine Sachen abgestellt hatte, war ihm der Gedanke gekommen, die nächste Bar aufzusuchen, ihre Öffnungszeiten herauszufinden und dann später dort Position zu beziehen. Im Urlaub dürfte er sich doch sicher Alkohol gönnen. Doch er hatte kaum einen Schritt aus der Tür gewagt, da war ihm bereits Leon über den Weg gelaufen, der sich ihm dann ungefragt angeschlossen hatte auf dem Weg in die Lobby zurück. Er störte sich nicht zwingend daran, dass sein Kollege sehr gesprächig war, sein Enthusiasmus war das größere Problem. „Wir sollten unbedingt mindestens eine Sandburg bauen, denkst du nicht auch, Joel? Ein Strandurlaub wäre doch richtige Verschwendung, wenn man nicht mindestens eine Burg baut.“ „Das hast du mir schon bei unserem letzten Strandurlaub erzählt.“ Leon hielt einen kurzen Moment inne. „Oh ja, stimmt. Das ist schon wieder ein paar Jahre her, ich hätte es fast vergessen.“ Raymond und Joel kannten Leon, seit sie Jugendliche und er noch fast ein Kind gewesen war. Er war als Waisenkind an die Lanchest Akademie gekommen und so hatten die beiden Leon ein wenig unter ihre Fittiche genommen. Dementsprechend waren sie auch das ein oder andere Mal gemeinsam in den Urlaub gefahren. Aber der letzte war wirklich lange her. „Sorry. Es gab einfach immer so viel zu tun.“ Und auch viel zu verarbeiten. Ein Prozess, den er einfach nicht abschließen konnte. Leon schüttelte mit dem Kopf. „Ist schon okay. Ich hab kein Problem damit. Außerdem sollte es ohnehin mal Zeit werden, dass ich mir eine Frau suche und-“ Joel hörte ihm geduldig zu, während Leon darüber sprach, dass er durch daran interessiert war, eine Familie zu gründen, aber wie schwer sich das für ihn gestaltete. Joel zweifelte nicht daran, dass es auch daran lag, dass er einfach viel mehr redete als die meisten Frauen. Aber natürlich würde er ihm das nicht sagen. Am Ende des Ganges führte eine Tür auf die Galerie, von der man die Lobby überblicken konnte. Zwei Treppen führten auf einen Vorsprung und dann führte einfache, breite Stufen weiter hinab ins Erdgeschoss. Auf dem Vorsprung blieb Joel stehen, seine Aufmerksamkeit wandte sich einem Gemälde an der Wand zu. Es stellte eine blonde Frau da, sie lehnte an einem sonnigen Tag gegen einen Baum und lächelte dem Betrachter entgegen. Aber trotz dieser eigentlich positiven Atmosphäre, spürte Joel einen kalten Schauer auf seinem Rücken. Leon war neben ihm stehengeblieben und betrachtete das Bild ebenfalls. „Irgendetwas daran ist echt unheimlich.“ „Ja. Aber was?“ „Hmm.“ Leon runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. „Ich kann es echt nicht genau sagen. Aber ich habe gehört, dass es mit irgendeinem Spuk hier im Hotel im Zusammenhang steht.“ „Wo um alles in der Welt hast du denn jetzt schon etwas von einem Spuk hier gehört?“ Leon zuckte unschuldig mit den Schultern. „Internet.“ Er musste wirklich schnell darin sein, nach Dingen zu suchen, wenn er das in der kurzen Zeit in seinem Zimmer getan hatte. „Weißt du etwas Genaueres darüber?“ „Nein, noch nicht. Ich werde mir das noch genauer ansehen – und dann allen erzählen. Gruselgeschichten gehören schließlich zu einem richtig guten Urlaub.“ An einem Lagerfeuer vielleicht. Joel widersprach nicht. Stattdessen sah er noch einmal genauer auf das Porträt. Das Lächeln der Frau erschien ihm plötzlich falsch, verängstigt. Aber vielleicht irrte er sich in diesem Aspekt auch vollkommen, er war sich nicht sicher – und es interessierte ihn auch nicht genug, um dem wirklich nachzugehen. Er wandte sich ab, um die Treppe hinunterzugehen, dabei sah er automatisch auf den verglasten Eingang. Dort erhaschte er noch einen letzten Blick auf eine Frau, die gerade hinausging. Etwas an ihr, das er in der Kürze wahrnehmen konnte, kam ihm bekannt vor, aber er konnte nicht wirklich mit dem Finger darauf deuten. Schon allein, weil er kaum rothaarige Frauen wie diese kannte. Deswegen schob er den Gedanken auch rasch wieder fort und lief weiter die Treppe hinab. Leon schloss sich ihm sofort an. „Hey, weißt du was? Wir sollten unbedingt auch mal zusammen trinken gehen, wenn wir schon gemeinsam im Urlaub sind. Jetzt bin ich ja auch endlich im trinkfähigen Alter und das sollten wir feiern, meinst du nicht auch? Ich habe zu Hause auch schon geübt und ...“ Joel musste schmunzeln, während er weiter Leons enthusiastischen Erzählungen lauschte, und in Richtung Ausging ging. Anthony konnte kaum fassen, wie weiß der Sand dieses Strands war und wie fein er sich anfühlte, als er die Hände darin versank. Er war warm, fast unangenehm heiß, aber er war weich, und das war ihm gerade wesentlich wichtiger. Der Sand rund um Peligro war hart und schmerzhaft gewesen, nichts, was man anfassen wollte. Aber hier konnte er gut verstehen, warum er Leute sehen konnte, die sich sogar im Sand eingraben ließen. „Der Strand hier ist echt toll“, bekundete auch Marc, der neben ihm stand. „Und so sauber. Es gibt welche, die total verdreckt sind. Aber hier räumt man wohl echt gut auf.“ Anthony richtete sich wieder auf und ließ den Blick schweifen. Zwischen all den unbekannten Menschen, die sich am Strand oder im Wasser befanden, entdeckte er auch die Mädchen, mit denen sie hergekommen waren. Sie befanden sich bei einigen Liegen unter Sonnenschirmen und waren gerade damit beschäftigt ihre Arme und Beine mit Sonnencreme einzureiben, als Anthony, Marc und Alexander sich ihnen näherten. Kaum bei ihnen angekommen, seufzte Marc enttäuscht. „Ich hatte gehofft, mindestens eine von euch trägt einen Bikini.“ Tatsächlich trug jede von ihnen einen normalen Badeanzug. Der von Rena war rot, Leens und Heathers waren beide dunkelblau, fast schwarz. Alle drei Mädchen schienen äußerst genervt von seinem Kommentar zu sein. „Wir sind nicht zu deinem Amüsement hier“, bemerkte Rena. „Außerdem“, fügte Leen hinzu, „konnten wir nicht das Risiko eingehen, dass du ertrinkst, nur weil du uns die ganze Zeit anstarrst.“ Während Marc demonstrierte, legte Alexander sich auf die von Leen eroberte Liege und schlug sein mitgebrachtes Buch auf. Er hatte bereits im Zimmer angekündigt, nicht schwimmen gehen zu wollen. Deswegen trug er auch noch eine helle Jeans, deren Beine ein wenig hochgekrempelt waren, und ein weißes Hemd. Im Gegensatz zu Marc und Anthony, die beide knielange Schwimm-Shorts trugen, Marcs dunkelrot, Anthonys schwarz. Sie waren beide auf das Schwimmen vorbereitet – in gewisser Weise jedenfalls. Anthony konnte schließlich immer noch nicht schwimmen und er war sich nicht sicher, wann der richtige Moment war, um das anzusprechen. Die Mädchen erhoben sich schließlich von ihren Liegen. Dabei fiel Anthony das erste Mal auf, wie dünn sie alle waren. Fast schon … ungesund dünn, wie er fand. Aber vielleicht ging das nur ihm so. Wenn er immerhin an die Videos zurückdachte, die er im Internet gesehen hatte, mochten andere das offenbar. „Sind die Lehrer schon hier?“, fragte Marc. „Wir haben sie nirgends gesehen.“ Rena deutete in Richtung des Wassers. „Die beiden sind schon lange unterwegs. Leon konnte es kaum erwarten.“ Das sah ihm ähnlich, deswegen wunderte es weder Anthony noch sonst einen von ihnen. Rena fuhr sogar direkt fort: „Wir machen ein Wettrennen, Marc. Ich wette, ich bin schneller als du.“ „Na das will ich sehen. Ich bin Weltmeister im Rennen.“ Die beiden schmunzelten sich zu – und rannten dann ohne jedes weitere Signalwort los. Anthony sah ihnen hinterher, konnte aber nicht entscheiden, wer von den beiden denn nun gewonnen hatte, als sie sich in die Wellen warfen. Aber immerhin schienen sie Spaß zu haben. Leen hatte den beiden ebenfalls zugesehen, wandte sich nun aber ihrer Schwester zu. „Ich gehe auch ein wenig ins Wasser. Vielleicht finde ich eine Qualle.“ „Viel Erfolg.“ Heather wartete, bis Leen außer Hörweite war, dann sprach sie Anthony an. „Wollen wir auch mal ins Wasser? Oder bevorzugst du das trockene Land?“ Er warf einen Blick zu Alexander. Dieser wirkte zwar in sein Buch vertieft, aber dennoch gefiel es ihm nicht, so etwas vor ihm besprechen zu müssen. Heather griff sein Zögern auf und nickte in eine andere Richtung. „Lass uns ein wenig laufen. Wir sollten auch was vom Strand haben, wenn wir schon hier sind.“ Erleichtert schloss er sich ihr an, als sie loslief. Sie ließ eine gewisse Distanz zu Alexander entstehen, ehe sie das Thema wieder aufgriff: „Hey, neulich hast du mir so viel von dir erzählt und Peligro erzählt. Aber hattest du dort überhaupt Gelegenheit, schwimmen zu lernen?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Das ist mir aber erst im Zug klar geworden. Und dann war ich mir nicht sicher, wann man das am besten ansprechen sollte.“ Heather nickte langsam. „Ein Strandurlaub wäre nur halb so lustig, wenn man nicht schwimmen geht.“ Er verwies auf den lesenden Alexander, aber sie winkte ab. „Alex ist von Grund auf nur halb so lustig. Und das ist für ihn auch okay. Aber ich denke, du solltest doch lieber ein wenig mehr Spaß in deinem Leben haben. Besonders, wenn man bedenkt, wie du aufgewachsen bist.“ Dem wollte und konnte er nicht widersprechen. „Wirst du es mir dann beibringen?“ „Hmm, wir versuchen es mal. Wenn du dich als guter Schüler erweist, dürfte es nicht lange dauern. Wir sollten uns aber eine etwas abgelegenere Stelle dafür suchen.“ Deswegen war sie also losgelaufen. Gut, dass er mit ihr gegangen war. „Ich bin bereit dafür.“ „Gut.“ Sie lächelte ihn an. „Dann sorgen wir mal dafür, dass du in diesem Urlaub nicht ertrinken wirst. Uns allen würde sonst etwas fehlen.“ Die Sonne ging bereits unter, als sie das Lernen wieder einstellten. Anthonys Arme und Beine schmerzten, aber laut Heather war er gut genug, um am nächsten Tag wirklich schwimmen zu gehen. „Du musst nur vorsichtig sein, wenn die anderen zu sehr aufdrehen.“ Statt zu den Liegen der anderen zurückzukehren, saßen sie in einem einsamen Strandkorb und betrachteten den Sonnenuntergang. Die Sonne färbte den Himmel und das Wasser rot, doch je weiter sie entfernt war, desto mehr verblasste die Farbe zu einem sanften Orange, das Anthony nicht nur beruhigte, sondern ihn auch mit einem Gefühl von Freude erfüllte. Sie schwiegen beide für einen langen Moment, nur das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen war zu hören. So war alles in Ordnung, die Welt war perfekt. Heather brach das Schweigen schließlich wieder: „Ich habe es dir bislang noch nicht gesagt, aber ich war froh, dass du dich an jenem Tag um mich kümmern wolltest.“ „Oh, das ...“ Er war gar nicht dazu gekommen, wirklich etwas zu tun, aber er hatte ihr das zugesagt, daran erinnerte er sich. „Ich glaube, das wäre gar nicht wirklich notwendig gewesen. Du bist vermutlich stärker als ich.“ „Ja, ich hätte dir wahrscheinlich übelnehmen müssen, dass du mir die absprichst. Aber bislang haben alle in mir immer nur die starke und auch unnahbare Tochter des Direktors gesehen. Du allerdings nicht. Und das mag ich.“ Sie sah ihn lächelnd an. „Ich denke, bei dir kann ich sein, wie ich bin. Und das ist einiges wert, nicht wahr?“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Ich denke schon. Ich bin froh, wenn ich derjenige sein kann, der dir dieses Gefühl gibt.“ Sie sagte nichts mehr, hielt aber den Blickkontakt mit ihm aufrecht, was seinen Herzschlag ein wenig beschleunigte. Er hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas von ihm erwartete, er wusste allerdings nicht, was. Und der beschleunigte Rhythmus seines Herzens machte ihm das Nachdenken darüber auch nicht leichter. Nach etwa einer Minute Wartezeit, seufzte sie schließlich theatralisch. „Du bist wirklich ganz schön unschuldig, nicht wahr?“ „Hmm? Wo kommt das denn her?“ Sie sah wieder aufs Meer hinaus, und lachte amüsiert. „Oh, mir ist nur aufgefallen, dass du einige Dinge nicht so verstehst, wie andere es tun würden. Aber das finde ich besonders schön an dir. Damit fühle ich mich absolut sicher in deiner Anwesenheit.“ Hatte das auch etwas mit den Filmen zu tun, die er im Internet gefunden hatte? Er traute sich nicht zu fragen, sondern neigte einfach nur den Kopf. „Ich bin froh, dass du dich bei mir gut fühlst. Dann mache ich mir schon weniger Sorgen, dass ich dich nerve, weil ich nämlich auch gern Zeit mit dir verbringe.“ „Dann sind wir gerade beide zufrieden.“ Sie lächelte überraschend sanft, was ihn mit Frieden erfüllte, obwohl sie ihn immer noch nicht ansah. Er folgte ihrem Blick in Richtung des Ozeans, die Sonne war inzwischen so tief gesunken, dass sie kaum noch zu sehen war. Aber dennoch schlug keiner von ihnen vor, zurückzugehen, während sie diese gemeinsame Zeit genossen. Kapitel 41: Geistergeschichten ------------------------------ Das Abendessen hatte aus einem Buffet bestanden, an dem es hauptsächlich Meeresfrüchte gab. Marc jammerte darüber immer noch leise, als sie schon lange damit fertig waren und sich alle in Renas Zimmer versammelt hatten. Es bestand aus zwei Räumen – einem Schlafzimmer, das Anthony nicht sehen durfte, und einem Wohnzimmer – und einem luxuriösen Bad mit einer Whirlpool-Wanne. Jedenfalls bezeichnete Heather diese beeindruckt als solche. Das einzige, was Anthony sah, war eine Wanne mit verschiedenen Düsen, deren Zweck ihm unbekannt war. Das Wohnzimmer war dafür ein Raum, der so groß war wie Anthonys gesamtes Apartment. Der Boden war mit dunklem Parkett ausgelegt, so dass bei jedem Schritt ein angenehmes Klacken zu hören war. Neben zwei Sofas und zwei Sesseln (beide im passendem dunkelgrünen Polster), stand sogar ein massiver dunkler Schreibtisch hier. Darauf lagen Briefbögen des Hotels, hochwertige Umschläge, sowie ein wertvoll aussehender glänzender Füller. Anthony traute sich kaum, irgendetwas anzufassen. Nach der kleinen Besichtigung, in der es viel „Oooh“ und „Aaah“ aus allen Ecken getönt hatte, saßen sie versammelt auf den sich gegenüberliegenden Sofas im Wohnzimmer. Auf dem dazwischen stehenden Tisch – dessen massive Platte dunkelgrün marmoriert war – stand ein Tablett mit einer Kanne Kaffee und dem dazu passenden Teeservice und außerdem einem Teller mit Keksen. Marc, der direkt neben Anthony saß, bediente sich ausgiebig daran, da er beim Buffet nicht sonderlich viel gegessen hatte. Seine Lebensmittelvergiftung durch den Fisch vor seiner ersten Begegnung mit Anthony, musste ihm doch stärker in Erinnerung geblieben sein, als gedacht. „Ich denke“, eröffnete Leon, der zwischen Marc und Joel saß, plötzlich ein neues Gespräch, nachdem Nettigkeiten über dieses Zimmer ausgetauscht worden waren, „wir sollten uns ein paar Horrorgeschichten erzählen.“ „Warum?“, fragte Anthony. „Na, das macht man eben so, wenn man gemeinsam campen geht.“ „Aber wir sind nicht campen“, erwiderte Joel. „Wir haben nicht mal ein Lagerfeuer.“ Auch dieser Zusammenhang erschloss sich Anthony nicht, aber das erwähnte er nicht mehr. „Seht es als Ersatz für das Camping“, verteidigte Leon seine Idee. „Oder als High-End-Camping. Oder magisches Camping.“ Alexander rollte mit den Augen, sagte aber nichts. Rena zuckte mit den Schultern. „Wenn Ihnen eine Geschichte einfällt, können Sie ja eine erzählen, Mr. Oyuki.“ Darauf hatte er wohl nur gewartet, denn plötzlich zog er eine Taschenlampe hervor. Er schaltete diese ein und hielt sie direkt unter sein Kinn, um sein Gesicht von unten zu bestrahlen. Es sah ein wenig unheimlich aus – aber gleichzeitig auch lächerlich. Joel seufzte schwer. „Das Licht ist noch an, so bringt das nichts.“ „Oh, kein Problem.“ Rena klatschte zweimal in die Hände, schlagartig erlosch das Licht. Anthonys Blick fiel direkt auf die offenstehenden Fenster. Die dünnen weißen Vorhänge bauschten sich im Wind, jenseits davon war der dunkle Nachthimmel sichtbar. Nur wenige Sterne waren zu sehen, dafür konnte er das Rauschen der Wellen hören. „Wow“, entfuhr es Marc. „Sogar mit Klatschsensor! Dieses Zimmer ist so cool~.“ Durch die neuen Lichtverhältnisse war der Effekt der Taschenlampe tatsächlich erschreckend. Lediglich die vor kurzem gemachten Erfahrungen im Kampf gegen Ladon halfen Anthony, sich nicht zu sehr zu erschrecken. Leon räusperte sich. Dann begann er mit düster klingender Stimme zu sprechen: „Ein Mann suchte ein Hotel auf, so ähnlich wie dieses, um dort zu übernachten. Sein Zimmer war am Ende eines Ganges. Mitten in der Nacht wurde er von einem lauten Weinen aus dem Raum neben seinem geweckt. Entschlossen, das Problem selbst zu lösen, verließ er sein Zimmer und klopfte an die benachbarte Tür. Aber niemand antwortete ihm.“ Anthony spürte, wie Marc sich wieder entspannte. Er war sich sogar sicher, dass sein Freund lächelte. Kannte er die Geschichte bereits? „Neugierig geworden, warf der Mann einen Blick durch das Schlüsselloch. Er sah eine vollkommen weiße Frau, die mit dem Rücken zur Tür in einer Ecke stand. Doch egal wie sehr er weiter klopfte und mit ihr zu reden versuchte, sie öffnete nicht.“ „Was ist daran unheimlich?“, fragte Leen. „Ich würde auch nicht mit jedem reden wollen, der mitten in der Nacht vor meiner Tür steht. Und vielleicht ist sie Schlafwandlerin.“ Leon richtete den Strahl der Taschenlampe auf ihr Gesicht, sie kniff die Augen zusammen. „Würdest du auch einfach so in der Ecke herumstehen?“ „Vielleicht war das einfach die beste Stelle, um zu stehen.“ „Das wirklich Unheimliche kommt ja noch“, mischte Marc sich ein. „Das war erst die Hälfte.“ Leen warf ihm einen skeptischen Blick zu. Sie sagte aber nichts, deswegen stieß Joel ein Seufzen aus. „Erzähl einfach weiter, Leon. Und beachte die Kommentare nicht mehr, sonst kommen wir nie zum Ende.“ Zufrieden damit richtete Leon den Strahl wieder auf sein Gesicht. „Als der Mann am nächsten Tag an der Tür vorbeiging, konnte er sich seine Neugier nicht verkneifen. Er sah wieder durch das Schlüsselloch, doch diesmal war alles, war er erkennen konnte, nur rote Farbe.“ Er deutete den Strahl in Leens Richtung. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, sie war unbeeindruckt. Als er die Taschenlampe wieder auf sich richtete, waren deutlich seine herunterhängenden Mundwinkel zu sehen. Aber seine Stimme blieb enthusiastisch und mysteriös, als er weitererzählte: „Der Mann ging zur Rezeption, wo er danach fragte, was mit den Gästen im Raum neben seinem los war. Der Angestellte erklärte, dass niemand in diesem Zimmer lebe, seit der letzte Gast, der dort gewohnt habe, seine Frau eines Nachts getötet habe.“ Die allgemeine Anspannung in der Luft löste sich auf, erst in diesem Moment wurde Anthony bewusst, dass sie überhaupt existiert hatte. Die anderen wussten offenbar, wie die Geschichte ausging. Aber er, der keinerlei Erfahrung mit so etwas hatte, wusste es nicht. Deswegen lauschte er gespannt dem Ende der Geschichte. „Der Angestellte erzählte weiter, dass alle Gäste, die man danach in diesem Raum untergebracht hatte, von den lauten Geräuschen eines Streits und einer weinenden Frau geweckt worden waren. Die Beschwerden hatten sich gehäuft, bis man das Zimmer schließlich nicht mehr vergeben hatte. Der Mann, nervös geworden, fragte, wie die getötete Frau ausgesehen habe. Der Rezeptionist antwortete ihm, sie sei vollkommen weiß gewesen, abgesehen von ihren komplett roten Augen.“ Leon schmunzelte. Er sprach nicht weiter, also musste die Geschichte vorbei sein. Bedeutete das, die rote Farbe, die er gesehen hatte, war das Auge der Frau gewesen? Anthony war sich nicht sicher, er wollte aber auch nicht fragen. Jeder andere schien die Geschichte bereits zu kennen, sogar Alexander, der leise in die Stille hinein hustete. „Nett, aber schon sehr alt.“ Leon schnitt eine Grimasse. Der Schattenwurf auf seinem Gesicht verzerrte seine Konturen ins Unkenntliche. „Hey, ich finde die Geschichte immer wieder gut.“ „Hat nicht irgendjemand eine bessere?“ Heather saß im Dunkeln, dennoch war ihre Stimme deutlich heraushörbar. „Vielleicht eine, die man noch nicht zigmal gehört hat?“ Anthony kannte keine. Im Peligro erzählte man sich keine Gruselgeschichten, das Leben dort war eine, also benötigte man sie nicht. Aber es widerstrebte ihm auch, von dort zu erzählen, nur um eine solche Geschichte bieten zu können – schon weil er darin der Verursacher des Grusels wäre und in diese Rolle wollte er sich nicht vor allen begeben. Nach kurzem Schweigen war es wieder Leon, der die Stille durchbrach: „Okay, ich wollte damit eigentlich bis morgen warten, aber es gibt noch eine andere Geschichte, die ich erzählen wollte.“ „Ist die besser?“, fragte Leen skeptisch. „Wie gesagt, ich finde beide gut. Aber die hier ist besser, denn sie spielt in diesem Hotel. Und die Leute sagen, sie ist echt wahr.“ „Echt?“, fragte Rena. „Oder sagen Sie das nur, damit wir nicht wieder kritisieren?“ „Ich sage nur, was mir erzählt wurde.“ Leon räusperte sich. „Habt ihr euch alle das Gemälde auf dem Treppenvorsprung in der Lobby angesehen?“ Anthony hatte nicht explizit darauf geachtet, aber er erinnerte sich an das Bild. Es zeigte eine blonde Frau und einen Baum, wenn er sich nicht irrte. Sie nickten alle. „Es heißt“, fuhr Leon zufrieden fort, „die Frau, deren Name niemandem bekannt war, habe sich nach der Fertigstellung des Gemäldes das Leben genommen. Sie nahm sich einen Strick und erhängte sich an eben jenem Baum.“ Es musste an seiner mangelnden Lebenserfahrung liegen, Anthony verstand nämlich nicht, weswegen jemand sich selbst umbringen sollte. Aber er sah durchaus ein, dass er es nur nicht nachvollziehen konnte und es gute Gründe dafür geben konnte. „Die Leute erzählen, vor ihrem Tod habe sie den Maler und das Gemälde verflucht. Die ersten beiden Häuser, in denen das Gemälde hing, brannten bis auf die Grundmauern nieder und rissen ihre Besitzer in den Tod. Dann kam das Hotel an das Bild und hängte es direkt in der Lobby auf, damit es von jedem Gast gesehen werden kann.“ Diesmal spürte Anthony die entstehende Anspannung im Raum. Aber Marc schien vollkommen gelassen zu sein, weiter bekam er in der Dunkelheit nichts von den anderen mit. Dennoch fühlte er eine Änderung in der Atmosphäre, als verdichtete sie sich. Nur eine Nadel wäre notwendig gewesen, um sie platzen zu lassen. „Zuerst schien nichts weiter zu geschehen, man schrieb den Fluch des Gemäldes lediglich dummen Zufällen zu. Dann, eines Nachts, hängte ein neuer Mitarbeiter ein weißes Tuch über das Bild, weil er der Meinung war, die Augen der Frau verfolge seine Bewegungen. Am nächsten Morgen wurde dieser Mitarbeiter tot am Fuß der Treppe gefunden, das Tuch lag auf dem Boden.“ Er hörte jemanden scharf einatmen. Es kam von der anderen Seite. Leon stoppte einen Moment in seiner Erzählung. Diese Pause nutzte Anthony, um sich zu fragen, ob es so etwas wie Flüche wirklich gab oder ob all das nur Zufälle und Unfälle gewesen waren. „Danach nahmen die Merkwürdigkeiten im Hotel zu. Immer wieder klingelte das Telefon an der Rezeption, Geschirr ging zu Bruch, leises Murmeln war zu hören.“ Ein eiskalter Schauer lief über Anthonys Rücken. Ähnliche Dinge waren geschehen, als er noch in Peligro gewesen war, sie waren ihm angelastet worden. Allein diese Erinnerung genügte, dass ihm auch weiter kühl blieb, selbst während die unangenehm warmen Nächte sich wieder in den Vordergrund zu drängen versuchten. „Und dann, eines Tages entdeckte ein Gast etwas Furchtbares: Die Frau war aus dem Bild verschwunden.“ Wieder das scharfe Einatmen. Anthony blickte zur anderen Seite hinüber. Die Taschenlampe spendete weiterhin zu wenig Licht, um zu zeigen, wer es gewesen sein mochte. „Zur selben Zeit schallte ein lauter Schrei durch das Hotel. Die Mitarbeiter, die sofort zur Quelle des Geräusches vorstießen, fanden einen verängstigten, weinenden Gast vor. Dieser erzählte später, eine Frau habe an seine Tür geklopft und ihn weinend darum gebeten, ihr bei der Suche nach ihrem Namen zu helfen. Da es spät war und ihm diese Bitte seltsam vorkam, habe er sie nicht hereingelassen, aber da ging sie einfach durch seine Tür und erhängte sich dann in seinem Schrank.“ Ein klagendes Seufzen ertönte. Anthonys Augen huschten wieder auf die andere Seite. Niemand schien besonders mitgenommen zu sein. Die Atmosphäre erzeugte ein Prickeln auf seiner Haut. Fahrig wischte er mit einer Hand über seinen linken Arm. „Am nächsten Tag wurde der Mann, der dem Geist nicht geholfen hatte, erhängt in der Dusche gefunden. Und die Frau war wieder im Gemälde, als wäre sie nie fortgewesen. Seitdem erzählt man sich, dass die Frau jede Nacht aus dem Bild steigt und durch das Hotel wandert, immer auf der Suche nach jemandem, der ihren wirklichen Namen kennt.“ „Nein …“ Es war nur ein Flüstern, aber die Stimme war derart klirrend, dass es Anthony schien als wäre sie von unzähligen zerbrechenden Eissplittern begleitet. Gleichzeitig spürte er, wie eine eiskalte Hand nach seiner Schulter griff und ihn erstarren ließ. Die Eissplitter klirrten weiter in seinen Ohren, verdrängten alle anderen Geräusche. Sein Gehirn weigerte sich, Befehle zu übermitteln, die ihn aus dieser Situation retten könnten. Er konnte sich nicht bewegen. Etwas näherte sich seinem Gesicht von der Seite, trat langsam in sein Blickfeld – da ließ ein schriller Schrei als Nadel die aufgeladene Atmosphäre platzen. Schlagartig schwand das Klirren, er gewann die Kontrolle über seinen Körper zurück. Jemand klatschte, worauf das Licht wieder anging. Marc war ein wenig von ihm weggerutscht, sah ihn nun aber besorgt an. „Alles klar?“ Anthony nickte. Die anderen, die ihm gegenübergesessen hatten, waren allesamt aufgestanden, ihre Blicke waren auf Leen gerichtet, die wiederum auf ihn zeigte. „Ich habe es genau gesehen! Es war neben ihm!“ „Bist du sicher?“, fragte Rena. „Ich habe nichts gesehen. Vielleicht hast du es dir nur eingebildet?“ „Wir haben schließlich gerade Horrorgeschichten gehört“, schloss Heather sich dem an. In Leens Augen konnte Anthony regelrecht das Verstehen aufblitzen sehen, als sie die Dinge kombinierte. Sie deutete anklagend auf Leon. „Was hast du getan?!“ Er war derart perplex, dass er noch nicht einmal die Taschenlampe ausgeschalten hatte. „Was?“ Seine Verwirrung hielt sie nicht von ihren Anschuldigungen ab: „Du hast doch irgendetwas getan, damit die ganze Sache gruseliger wird! Gib es zu!“ Hilflos hob er die Hände. „Ich habe gar nichts getan. Ich wüsste ja nicht mal, wie.“ Noch einmal dieses Blitzen. Ihr Finger zeigte auf Joel. „Dann warst du es! Du kannst sowas!“ Der nun Angeklagte winkte ab. „Warum sollte ich ihm mit so etwas helfen? Ich opfere doch nicht meine wertvolle Lebensenergie für einen Streich. Ganz zu schweigen, dass eure Mutter mich umbringen würde, wenn sie das herausbekäme. Und so lebensmüde bin ich nicht.“ Dieses Argument überzeugte sie wohl in gewisser Weise; obwohl sie ihn immer noch misstrauisch ansah, ließ sie den Finger sinken. Anthony nutzte diese kurze Pause und wandte sich Marc zu. „Was hat sie denn eigentlich gesehen?“ „Du hast wirklich nichts mitbekommen? Leen sagt, der Geist – oder etwas, das sie dafür hielt – sei neben dir gestanden.“ Ein Geist? Gut, wenn es sogar Götter und mit Erinnerung behaftete Seelen gab, sollte eigentlich kein Zweifel für ihn bestehen, dass auch Geister existierten. Dennoch konnte er es sich kaum vorstellen, weil es ihm so … verrückt erschien. Gedankenverloren griff er an seine Schulter. Sie fühlte sich immer noch kalt an. Joel erhob sich von seinem Platz. „Ich denke, wir sollten diese Versammlung für heute dann mal beenden. Es ist schon spät, Kinder, ihr solltet schlafen.“ Es erfolgte kein Widerspruch, dafür zog angespanntes Schweigen ein. Die Gruppe tauschte mehrere Blicke miteinander. Anthony sah die unausgesprochene Furcht auf den Gesichtern, selbst bei Alexander war zumindest ein Teil davon zu sehen. „Ihr könnt auch alle heute Nacht hier in meinem Zimmer schlafen“, bot Rena schließlich an. „Wirklich?“, fragten Heather und Leen hoffnungsvoll. Zuerst darüber überrascht, nickte Rena schnell. „Ja, klar. Wir könnten eine Übernachtungsparty veranstalten. Und das Bett ist ohnehin groß genug.“ „Aber dann steht das eine Zimmer ja leer“, gab Heather zu bedenken, „und du hast dafür gezahlt.“ „Das ist schon in Ordnung. Dadurch werde ich nicht arm.“ Rena sah die anderen an. „Was ist mit euch? Ihr könntet im Wohnzimmer schlafen.“ Joel wehrte ab. „Ich bevorzuge mein Zimmer.“ Leon schloss sich dem direkt an, so blieben nur noch Anthony und die anderen beiden übrig. Er war sich nicht sicher, aber glücklicherweise antwortete Alexander: „Ich denke, wir sind alt genug, um auch allein klarzukommen. Oder?“ Er sah zu den anderen. Marc nickte. „Klar. Außerdem sollten wir nicht bei euch schlafen, wenn Anthony der neue Liebling des Geistes ist, sonst kriegt ihr am Ende noch mehr Angst.“ Dafür erntete er einen finsteren Blick von Rena, daran störte er sich aber nicht. Nach einer kurzen Verabschiedung zogen sich alle in ihre eigenen Zimmer zurück. Im Gang stellte Anthony fest, dass es später sein musste, als er gedacht hatte, denn es herrschte vollkommene Stille. Selbst hinter den Türen belegter Räume war nichts zu hören. Obwohl ihr eigenes Zimmer sehr großzügig war, kam es ihm im Vergleich zu Renas fast winzig vor. Dennoch fühlte es sich wie eine Heimkehr an. Weiter spürte er aber auch Nervosität, die hauptsächlich von Marc zu kommen schien. Alexander zog sich ohne sichtbare Probleme nämlich um und begab sich ins Bett, genau wie Anthony. Lediglich Marc stand noch etwas unschlüssig neben seinem Bett, nachdem er sich seinen Pyjama angezogen hatte. Das Licht war bereits aus, deswegen konnte Anthony nur seine Silhouette erkennen. Plötzlich stieß Marc ein Seufzen aus, dann fuhr er herum und kroch – ohne große Überraschung – in Anthonys Bett. „Das geht schon“, versicherte er ihm. „Ich will nur sicherstellen, dass der Geist dich heute Nacht nicht entführt, weißt du?“ Anthony glaubte eher, dass Marc sich doch fürchtete, sprach es aber nicht aus. Das Bett war immer noch groß genug für sie beide – sogar so sehr, dass er selbst dann nichts von dem anderen bemerkte, als er sich auszubreiten begann –, also störte er sich auch nicht daran. „Gute Nacht“, murmelte Anthony. Von Marc bekam er eine leise Antwort, Alexander dürfte ihn nicht gehört haben – aber dennoch bekam er noch ein weiteres „Gute Nacht“, das von einer Frau zu stammen schien. Sofort gefror alles in Anthonys Inneren wieder. Er spürte aber keinerlei Gefahr von ihr ausgehen und keiner der anderen beiden schien sie bemerkt zu haben, deswegen entspannte er sich wieder. Die fremde Präsenz entfernte sich, bis sie den Raum endgültig verlassen hatte. Erst dann fiel er in einen ruhigen, tiefen Schlaf, in dem er nicht von Geistern oder Hotelkorridoren träumte. Kapitel 42: Blau wie das Meer im Sonnenschein --------------------------------------------- Am nächsten Morgen fand Joel sich mit allen anderen im Frühstücksraum wieder. Obwohl es gerade einmal neun Uhr war (normalerweise schlief er an freien Tagen bis Mittag), war der große Raum, der eher an einen Saal erinnerte, bereits mit einer Unzahl an Menschen gefüllt, die sich am aufgestellten Büfett bedienten. Die dabei geführten Unterhaltungen kamen nur als ein Durcheinander von Stimmen bei ihm an. Also konzentrierte er sich lieber auf den eigenen Tisch, an dem er mit all seinen Reisebegleitern saß. Die Schüler unterhielten sich miteinander, Leon verspeiste seine Brötchen, Rühreier und Speck; nichts deutete mehr darauf hin, dass in der Nacht zuvor noch Angst vor einem Geist geherrscht hatte. Die Mädchen schienen sich nun wesentlich besser zu verstehen. Waren sie zuvor noch distanziert miteinander umgegangen – jedenfalls was die Zwillinge und Rena jeweils gegenüber anging – so waren sie an diesem Morgen in ein anregendes Gespräch darüber vertieft, welche Läden in der nahen Stadt wohl vorhanden wären. Die drei Jungs warteten mit demselben Thema auf, allerdings schien es ihnen um ganz andere Läden zu gehen. Die Mädchen interessierten sich für die Antiquitäten-Läden, die Jungs eher für Schwimmkleidung. Joel wurde aus den heutigen Jugendlichen einfach nicht schlau. Er sehnte sich vielmehr nach seiner eigenen Jugend zurück. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu Christine, der dieser Urlaub mit Sicherheit gefallen hätte. Aber kaum dachte er an sie, sah er auch wieder ihren toten Körper vor sich, aufgespießt von ihren eigenen Ketten, mit denen sie ihn und Ray hatte beschützen wollen. Er verscheuchte den Gedanken, nahm einen Schluck Kaffee. Zu schade, dass die Hotelbar erst am Nachmittag öffnete. So schwebte das Bild immer wieder vor seinem geistigen Auge umher, so sehr er es auch zu ignorieren versuchte. Um sich abzulenken, sah er zur Seite. Eine der Wände bestand komplett aus Glastüren, die auf eine Terrasse hinausführten, allerdings war diese nur für besondere Events geöffnet. Dahinter erstreckte sich der Strand, dann das Meer, das sich am Horizont mit dem Himmel traf, und mit diesem verschmolz. Erst als Leon seinen ganzen Teller geleert hatte, fand er seine Stimme wieder. Dabei hatte Joel sich gerade daran gewöhnt, ihn nicht sprechen zu hören. „Hast du heute auch außergewöhnliche Pläne?“ „Klingt als hättest du welche“, erwiderte Joel. „Woraus bestehen die?“ Leon strahlte sofort. „Ich werde alle Restaurants im Ort probieren – und danach wieder schwimmen gehen.“ „Hast du keine Angst, dass du einen Krampf bekommst?“ „Nö. Ich bin der geborene Schwimmer, mir wird schon nichts passieren.“ Bei jeder anderen Person wäre dieses Selbstvertrauen Versicherung genug gewesen, dass wirklich nichts geschehen könnte. Bei Leon erreichte es jedoch genau das Gegenteil. Zumindest in Joel. „Ich werd dann wahrscheinlich auch meine Zeit am Strand verbringen. Mich interessieren die Läden hier nicht, also habe ich sonst nichts zu tun.“ Jedenfalls bis die Bar aufmachte. Vielleicht sollte er auch schwimmen gehen, es könnte sicher nicht schaden. Sicher würden keine skorpion-artigen Wesen aus den Tiefen auftauchen, wie in diesem Märchen. Falls doch .. wäre es auch nicht so schlimm. „Vielleicht trifft man sich später dann ja dort. Ich glaube, die anderen gehen da später auch hin.“ Die Schüler hatte ihre Gespräche inzwischen beendet, genau wie ihr Frühstück, und erhoben sich von ihren Plätzen. Während der Großteil von ihnen bereits dem Ausgang zustrebte, kam Rena zu ihnen herüber. „Wir gehen jetzt alle in die Stadt. Ist das okay?“ Er war sich im Klaren, dass sie die Frage eigentlich nur noch aus Höflichkeit stellte, weil die Antwort schon längst feststand. Da er nicht der Spielverderber sein wollte, nickte er. „Sicher. Seht nur zu, dass ihr heute Abend wieder zurück seid. Ich will euch nirgendwo aufsammeln müssen. Und haltet euch vom Alkohol fern.“ Rena salutierte vor ihm, er ließ ihr durchgehen, dass die Geste ein wenig spöttisch aussah. Er wünschte ihnen viel Spaß, worauf sie herumfuhr und den anderen hinausfolgte. Ihm blieb nur zu hoffen, dass keiner von ihnen irgendwelchen Ärger machte. Aber sie hatten Alexander bei sich, der normalerweise immer sehr verantwortungsvoll war. Es würde schon alles gutgehen. Leon trank einen Schluck Kaffee und sah dabei auf seine Uhr. „Ich werde demnächst auch aufbrechen. Werde mir wieder Hunger anlaufen müssen, nachdem das Frühstück so üppig ausfiel.“ „Warum hast du überhaupt so viel gefrühstückt, wenn du doch schon wusstest, was du vorhast?“ Der darauf folgende Blick konnte nur als ernsthafte Frage interpretiert werden, wo er da einen Zusammenhang sähe. Aber Leon ließ sich mittels anhaltendem Schweigen auch zu einer richtigen Antwort bewegen: „Das Essen hier ist gratis und köstlich. Darauf verzichte ich doch nicht. Auch nicht, wenn meine Pläne dann noch mehr Essen beinhalten.“ Joel bemühte sich, verständnisvoll zu lächeln. „Okay. Dann sehen wir uns später am Strand. Falls ich eingeschlafen sein sollte, weck mich nur, wenn ich dabei bin, mir einen Sonnenbrand zu holen.“ Leon versicherte ihm, dass er genau das tun würde, dann verabschiedete er sich ebenfalls und verließ den Saal. Joel blieb zwischen all den fremden Menschen zurück. Keiner von ihnen beachtete ihn, sie machten einen großen Bogen um ihn als sei er ein Felsen im Wasser, den es zu umschiffen galt. Wie ein solcher fühlte er sich im Moment auch, allerdings wurde er von der Brandung ausgehöhlt, schon seit vielen Jahren, so dass seine äußere Erscheinung nur noch Leere verbarg. Bevor er selbst aus dem Saal hinausging, lief er an dem Tisch vorbei, auf dem allerlei aufgeschnittene oder auch vollständige Früchte nur darauf warteten, verspeist zu werden. Ohne stehenzubleiben nahm er sich einen Apfel. Gedanklich abwesend rieb er diesen an seinem Hemd, während er durch die Eingangshalle schritt. Unwillkürlich wanderte sein Blick die Treppen hinauf zu dem Gemälde. Es sah noch aus wie am Tag zuvor, jedenfalls soweit er sich erinnerte. Sprach das für oder gegen einen Geist darin? Dann dachte er aber wieder an die Frau zurück, die ihm bekannt vorgekommen war und das Hotel verlassen hatte. War sie noch hier oder war sie ausgecheckt? Wenn er einen besseren Blick auf sie bekäme, könnte er vielleicht erkennen, wer sie war oder an wen sie ihn erinnerte. Vielleicht wäre das aber auch zu unheimlich. Deswegen beschloss er, nicht den ganzen Tag im Foyer zu warten und verließ stattdessen das Hotel. Eine der hinteren Türen führte zu einer flachen Treppe, die wiederum bis zum Strand verlief. Es war eine bequeme Art, diesen zu erreichen, während er seinen Apfel aß. Die Sonne brannte noch nicht so heiß herunter, so konnte der vom Meer kommende Wind eine angenehme Temperatur schaffen. Um diese Zeit waren auch noch nicht viele Leute am Strand. Die wenigen Personen waren zwischen den Liegen und Korbsesseln verteilt, so konnte er dem Eindruck erliegen, er hätte das Gebiet vollkommen für sich. Seine Schuhe sanken in den Sand, was die Schritte erschwerte, aber er betrachtete das lediglich als Training. Die Brandung bot die passende akustische Untermalung. Diese Perfektion ließ ihn wieder an Christine denken. Daran, wie sie darüber gesprochen hatten, einmal gemeinsam ans Meer zu fahren. Nur sie, er und Ray. Aber es war nie dazu gekommen. Warum war es so schwer, Dinge zu vergessen, die man hinter sich lassen wollte? Nach mehreren hundert Metern wurde der Strand nicht nur leerer, sondern er verwilderte auch zusehends. Aus dem Sand wuchsen ihm unbekannte grüne Pflanzen, sie wiegten sich sanft im Wind. Sein schweifender Blick entdeckte schließlich einen Steg, der weiter ins Meer hineinreichte. Möglicherweise war er für kleinere Boote gedacht, aber darüber dachte er gar nicht erst nach, als ihm bewusst wurde, dass eine Person dort stand. Beim Näherkommen konnte er deren rotes Haar erkennen – und dann traf ihn die Erkenntnis, dass es sich um die Frau handelte, die er am Tag zuvor gesehen hatte. Sie stand einfach nur da, mit dem Rücken zum Strand, und starrte auf das Meer hinaus. Je weiter die Entfernung zwischen ihnen schrumpfte, desto deutlicher wurde ihm, warum sie ihm bekannt vorkam: Ihr Haar reichte bis zu ihren Schultern, sie war etwas kleiner als andere Frauen, aber Arme und Beine sahen durchtrainiert aus. Abgesehen von ihrer Haarfarbe sah sie, zumindest von hinten, ganz genau so aus wie Christine. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er wollte zurückweichen, nachdem er nun wusste, an wen die Fremde ihn erinnerte, wollte in sein Zimmer gehen und sich dort über die Vergangenheit ergehen, aber stattdessen ging er einfach weiter auf sie zu, als zöge sie ihn magisch an. Er trat auf eine knarrende Planke. Der Bann brach sofort, er blieb stehen. Die Frau wandte den Kopf ein wenig, so dass er noch nicht ihr Gesicht sehen konnte. Aber plötzlich wünschte er sich nur noch weit weg von hier, es war ihm unangenehm, sie gestört zu haben. „T-tut mir leid“, sagte er daher hastig. „Ich wollte nicht ...“ Er konnte den Satz nicht beenden. Die Frau fuhr zu ihm herum, und für einen kurzen Moment wollte er gleichzeitig lachen, in Tränen ausbrechen und sie umarmen. Nur mit aller Willenskraft konnte er sich davon abhalten. Sie sah Christine wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Das spitz zulaufende Kinn, die langen Wimpern, die feinen Lippen … sie waren genau wie bei ihr. Doch diese Frau vor ihm lächelte nicht, ihre Augen waren nicht eigenartig golden, sondern blau. So blau wie das Meer im Sonnenschein. Das war der Vergleich, der ihm sofort einfiel, da er den direkten Vergleich hinter ihr hatte. Sie sah ihn vollkommen ausdruckslos an, kein Funken von Wiedererkennen. Natürlich, sie war schließlich nicht Christine, sie war … er wusste es nicht. Er entschuldigte sich erneut. „Sie erinnern mich nur an jemanden. Ich wollte Sie nicht-“ „An wen erinnere ich dich?“ Sogar ihre Stimme, so emotionslos sie auch war, erinnerte ihn an Christine. Da sie ihm nun aber eine Frage gestellt hatte, wäre es unhöflich, einfach zu verschwinden. Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Oh, nur eine alte Freundin von mir. Sie ist aber schon lange nicht mehr da.“ „Wo ist sie hin?“ Verstand sie das wirklich nicht? Er seufzte. „Sie ist gestorben, schon vor einigen Jahren.“ Sie gab ein Geräusch von sich. Es klang nach einer Mischung von Aha und Uh-huh. Da es sich derart desinteressiert anhörte, wollte Joel wieder weggehen, aber da sprach sie plötzlich weiter: „Es ist traurig, wenn Freunde sterben.“ „Das ist es wirklich.“ Es sah nicht so aus als störte er, deswegen machte er noch einen Schritt auf sie zu. „Sie sehen ihr so ähnlich, nur Ihre Haare und Ihre Augen sind anders als bei Christine.“ Einen flüchtigen Moment lang kam es ihm vor als spannte sich ihr Körper an, aber da stand sie auch schon wieder vollkommen entspannt vor ihm. Ihre Arme hingen einfach nur an ihrem Körper herab. So sehr sie sich äußerlich auch glichen, dieser Frau fehlte Christines Dynamik. „Mein Name ist Skye.“ Ihre Stimme blieb monoton, aber das klarzustellen war ihr wohl ein Bedürfnis gewesen. Ihm kam in den Sinn, dass er nach Sky, dem Himmel, klang. Aber sicher war ihr das auch bewusst, deswegen erwähnte er es nicht. „Das ist ein sehr außergewöhnlicher Name. Ich bin Joel.“ Sie neigte nur leicht den Kopf. „Was machst du hier?“ „Urlaub.“ Die Antwort war aber vermutlich zu knapp. „Ich bin Lehrer und begleite einige meiner Schüler auf diesen Ausflug. Aber sie sind schon so alt, da muss ich sie nicht dauernd beaufsichtigen. Was machen Sie hier?“ „Ich gehöre zu einer kleinen Spezialeinheit. Wir sollen hier im Hotel in einer bestimmten Sache ermitteln.“ Jedes Wort schmerzte wie Glassplitter in seinem Inneren, gleichzeitig war es aber auch so ungemein wohltuend, diese Stimme wieder zu hören, nachdem er sie vor langer Zeit für immer verstummt geglaubt hatte. Deswegen wollte er, dass sie weitersprach. „In was für einer Sache?“ Sie sah in Richtung des Hotels. Von hier aus sah das Gebäude nicht aus wie ein luxuriöses Urlaubsressort, sondern wie ein überwältigender Hort des Unbekannten. „Eigentlich sollte ich nicht darüber reden. Aber die meisten wissen ohnehin, dass es einen Geist hier gibt.“ Sie musterte ihn. „Wusstest du es?“ „Ich hielt es für eine urbane Legende. Etwas, das man sich erzählt, um irgendetwas spannender zu machen. Stimmt es denn?“ Sie legte die Hände hinter ihrem Rücken zusammen. „Ich denke schon. Aber wir konnten ihn noch nicht festsetzen. Wir haben uns bei der Zeit geirrt.“ Er wusste über die Geschichte nur das, was Leon in der Nacht zuvor erzählt hatte, und eigentlich interessierte ihn auch nicht viel mehr. Deswegen wechselte er das Thema, und ging dabei gleich zum Du über: „Was tust du, wenn du nicht hier bist?“ Darauf sah sie ihn nur ausdruckslos an. Keine Antwort. Aber es kam ihm nicht so vor, als wolle sie nicht antworten, sondern als könnte sie es einfach nicht. Fast als wäre sie ratlos. „Hast du Hobbys?“ „Nein. Bis vor kurzem habe ich noch geschlafen.“ „Du meinst, letzte Nacht?“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Für lange Zeit, in meinem Sarg.“ Er verstand immer weniger von dem, was sie sagte, was er ihr auch sofort mitteilte. Allerdings blieb sie auch daran desinteressiert, wenn man nur ihr Gesicht betrachtete. „Ich verstehe auch vieles nicht.“ Der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert, sie wirkte nun fast … traurig. „Aber ich finde immer mehr heraus, seit ich aufgewacht bin.“ Plötzlich fuhr sie herum und deutete mit ausgestrecktem Arm gegen den Horizont. „Zum Beispiel mag ich das Meer. Ich stehe schon eine Weile hier und sehe es nur an.“ Zum Teil konnte er das verstehen. Der Ozean besaß eine beruhigende Wirkung auf die meisten Menschen, auch auf ihn. Die Wellen, die Unendlichkeit, das Glitzern im Sonnenlicht, bei Tag betrachtet war es ein wunderbarer Anblick. Sie wandte sich wieder ihm zu. Sofort versank er in ihren blauen Augen, die eine Tiefe aufwiesen, die dem Marianengraben nahekommen musste. Ihn überkam der Wunsch, das Verlangen, ihre Hand zu ergreifen und ihr zu folgen, wohin auch immer sie gehen wollte. Ein derart starkes Gefühl hatte er noch nie in seinem Inneren gespürt – doch genau deswegen irritierte es ihn. Lag es an ihrer Ähnlichkeit zu Christine oder war da doch etwas anderes? „Außerdem“, fuhr sie fort, ahnungslos über seine Gedanken, „habe ich festgestellt, dass ich deine Stimme mag. Sie klingt schöner als die der anderen Personen, die ich kenne.“ Ein Kompliment von dieser Frau zu bekommen war eigenartig. Aber gleichzeitig war es auch schön. Vielleicht weil er schon lange keines mehr von einer Frau bekommen hatte. Wann war er zuletzt überhaupt von einer solchen wirklich beachtet worden? „Kann ich mich dir eine Weile anschließen?“ Die Frage war aus seinem Mund, bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte. Doch er bereute sie nicht. „Ich würde mir das Meer auch gern eine Weile ansehen. Aber nicht allein.“ Sie bedeutete ihm, sich neben sie zu stellen. Er folgte dem auch, sofort fühlte er sich wie ein Teil ihrer Welt, ihres Bekanntenkreises. Aber er schaffte es immer noch, nicht ihre Hand zu nehmen. Sie war nicht Christine, es gab keinen Grund, sie zu berühren. Das Geräusch der Wellen, die unablässig an den Strand brandeten, legte sich beruhigend auf seine Seele, deren Narben durch die Erinnerungen wieder aufgerissen worden waren. Eine Möwe über ihnen stieß einen Schrei aus. In diesem Moment war alles gut. Es war nie etwas Schlimmes geschehen, niemals. Gerade als er sich vollkommen eins mit der Welt fühlte, griff Skye nach seiner Hand – und sein gesamtes Leben schien sich vor seinen Augen aufzulösen. Kapitel 43: Geisterstunde ------------------------- [LEFT]„Ich hasse das Abendessen hier wirklich“, murrte Marc auch an diesem Tag, als sie schließlich in Renas Zimmer saßen. „Würde es jemanden töten, an einem Abend mal Steaks zu grillen?“[/LEFT] [LEFT]„Es ist nun einmal ein Hotel direkt am Meer“, erwiderte Alexander, der auf der anderen Seite von Anthony saß, die Beine übereinandergeschlagen, seitlich gegen die Armstütze gelehnt. „Es wäre seltsam, wenn sie keine Meeresfrüchte hätten.“[/LEFT] [LEFT]Marc verzog leise seufzend sein Gesicht, diskutierte aber nicht weiter. Stattdessen bediente er sich wieder an den Süßwaren, die Rena für sie aufgestellt hatte, fast schon verzweifelt, als wäre er kurz vor dem Verhungern.[/LEFT] [LEFT]Anthony war daran gelegen, das Thema zu wechseln, deswegen sah er Leon an, der vergnügt lächelnd auf einem Stuhl saß, genau wie am Tag zuvor. „Wo ist eigentlich Mr. Chandler? Er war nicht beim Abendessen.“[/LEFT] [LEFT]Seit dem Frühstück hatten sie den Lehrer nicht mehr gesehen, was ihm zu denken gab, da er immerhin extra als Aufpasser mitgeschickt worden war. Raymond wäre sicher nicht begeistert darüber, wenn er das erführe.[/LEFT] [LEFT]Leon neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite. „Er hat mir gesagt, er sei müde und legt sich hin. Also ist er vermutlich in seinem Zimmer.“[/LEFT] [LEFT]Er schien sich keinerlei Sorgen um seinen Kollegen zu machen, der zugegeben bislang nicht sonderlich zuverlässig gewesen war, also müsste Anthony das vermutlich auch nicht. Dennoch nagte es in seinem Hinterkopf. Am Morgen hatte Joel noch normal gewirkt. War in der Zwischenzeit etwas geschehen?[/LEFT] [LEFT]Leen schnaubte leise, die Arme vor dem Körper verschränkt. „Dieser Mann … er glaubt wohl, weil unsere Eltern nicht hier sind, kann er sich gehenlassen.“[/LEFT] [LEFT]Die neben ihr sitzende Heather schmunzelte amüsiert. „Als ob Dad irgendetwas tun würde, um ihn zur Arbeit anzuhalten. Es ist Mum, die das tun muss. Und im Moment ist sie so weit weg, dass er sich vermutlich endlich frei fühlt.“[/LEFT] [LEFT]„Wenn er wirklich Lebensenergie für unseren Unterricht opfert“, schaltete Rena sich ein, „ist es doch verständlich, dass er müde ist. Lassen wir ihn einfach, dann haben wir schon ein Problem weniger.“[/LEFT] [LEFT]Leon nickte enthusiastisch, dann stutzte er. „Moment mal! Bin ich etwa ein Problem?“[/LEFT] [LEFT]Ehe sie darauf antworten konnte, wechselte Heather bereits das Thema: „Wollen Sie uns heute auch wieder eine Gruselgeschichte erzählen?“[/LEFT] [LEFT]„Vielleicht eine bessere als gestern?“, ergänzte Leen.[/LEFT] [LEFT]„Was war denn so schlimm daran?“, fragte er ratlos.[/LEFT] [LEFT]Die Anwesenden warfen sich vielsagende Blicke zu, lediglich Anthony hob die Schultern. Er wusste nach wie vor nicht, wie die eigentliche Geschichte hätte erzählt werden müssen, deswegen konnte er es nicht vergleichen.[/LEFT] [LEFT]Für Leon war die Sache aber auch ohne jede Antwort klar. „Fein. Vielleicht will ja einer von euch mal eine erzählen, wenn ihr meint, ihr könnt das besser.“[/LEFT] [LEFT]Es war eigenartig, ihn einmal beleidigt zu erleben, aber keiner der anderen störte sich daran. Er schloss daraus, dass sie dieses Verhalten bereits gewohnt waren und man es nicht beachten musste.[/LEFT] [LEFT]Nachdem mehrere Sekunden geschwiegen worden war, stieß Leen frustriert Luft aus. „Fein, dann erzähle ich eben eine Gruselgeschichte. Aber beschwert euch nachher nicht, wenn ihr zu viel Angst bekommt. Lass also besser das Licht an, Rena.“[/LEFT] [LEFT]Die Angesprochene versicherte ihr, es diesmal nicht zu löschen. Dabei wirkte sie amüsiert, fast als könne sie nicht glauben, dass die andere wirklich eine derart gruselige Geschichte erzählen könnte.[/LEFT] [LEFT]Leen ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Sie räusperte sich, dann beugte sie sich etwas vor und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: „Diese Geschichte ist wirklich so passiert und zwar an unserer eigenen Schule.“[/LEFT] [LEFT]Marc schnalzte mit der Zunge. „Wir fahren so weit, um von der Schule wegzukommen und du erzählst uns jetzt etwas darüber?“[/LEFT] [LEFT]Ihr Blick genügte, um ihn seinen senken und weiter essen zu lassen. Ohne das weiter zu kommentieren, fuhr sie mit ihrer eigenen Geschichte fort: „Kaum jemand weiß es, aber unsere Schule hat tatsächlich ein zweites Kellerstockwerk.“[/LEFT] [LEFT]„Ist das wahr?“, fragte Anthony; bislang war er nur einmal im Keller gewesen, aber dort war ihm keine weitere Tür oder Treppe aufgefallen.[/LEFT] [LEFT]Alexander nickte. „Ist es. Allerdings hat nur Mr. Chandler den Schlüssel dafür, weil sein Vater der letzte Direktor war und er derjenige war, der das Stockwerk verschlossen hat.“[/LEFT] [LEFT]„Darf ich jetzt fortfahren?“ Leen sah die beiden ungeduldig an, und nachdem sie genickt hatten, sprach sie weiter: „Wie Alex bereits festgestellt hat, ist die Tür nach unten gesperrt. Und keiner will einem sagen, weswegen das so ist. Aber ich habe es herausgefunden.“[/LEFT] [LEFT]Das schien Anthony nicht überraschend, schließlich war sie die Tochter des jetzigen Direktors. Er unterbrach sie aber nicht noch einmal – und die anderen taten das auch nicht.[/LEFT] [LEFT]„Als Mr. Chandlers Vater noch die Schule führte, gab es in der Schülerschaft eine bestimmte Geschichte über diesen Keller. Es hieß, dass man nachts, um eine bestimmte Uhrzeit, ein leises Weinen von dort hören konnte. Stand man dabei vor der Tür sah man ein sanftes Leuchten darunter hervorscheinen.“[/LEFT] [LEFT]Das klang für Anthony wie eine weitere Geistergeschichte. Vielleicht sollte er diese zu Hause einmal recherchieren, damit er darüber ach mehr wusste. Wie schlimm könnte es schon werden?[/LEFT] [LEFT]„Eines Tages beschlossen einige Schüler, eine Mutprobe durchzuführen. Einer von ihnen sollte ins untere Stockwerk gehen und sich ansehen, was sich hinter der Tür befand.“[/LEFT] [LEFT]Das klang wie eine dumme Idee, erinnerte Anthony aber auch an etwas, das bei ihnen im Waisenhaus geschehen war. Dort war allerdings der Dachboden das Zentrum der Aufmerksamkeit gewesen. Er selbst war nie nach oben gegangen, andere angeblich schon. Doch er wusste nicht, was sie dort gefunden hatten.[/LEFT] [LEFT]„Das Los fiel auf ein Mädchen, das noch nicht sehr lange auf der Schule war. Sie sollte nachts in diesen Raum gehen und herausfinden, was sich darin befindet. Obwohl sie Angst hatte und am liebsten weggelaufen wäre, fand sie sich gemeinsam mit den anderen in der Nacht im Keller ein. Dabei konnten sie bestätigen, dass ein helles Licht zu sehen war, während sie das Weinen hörten.“[/LEFT] [LEFT]Inzwischen war Anthony eher neugierig, was die Frage nach dem Inhalt des Raumes anging. Die anderen dagegen schienen eher auf etwas Bestimmtes zu warten, Marc aß nicht einmal mehr.[/LEFT] [LEFT]„Entgegen der Hoffnung des Mädchens war die Tür nicht abgeschlossen, also öffnete sie diese und ging hinein. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten. Doch dann entdeckte sie in der Mitte des Raumes einen Kristall, von dem dieser Schein ausging.“[/LEFT] [LEFT]„Das klingt jetzt nicht mehr sehr unheimlich“, meinte Marc. „Bei so etwas denkt man doch eher an Fantasy, oder?“[/LEFT] [LEFT]Leen zog die Augenbrauen zusammen. „Warum darf Fantasy nicht gruselig sein?“[/LEFT] [LEFT]„Ich finde, das passt einfach nicht zusammen. Deswegen sind es ja normalerweise getrennte Genres.“[/LEFT] [LEFT]„Können wir uns nicht einfach erst das Ende anhören?“, fragte Alexander. „Vielleicht ist es ja doch schaurig genug für dich.“[/LEFT] [LEFT]Marc hob die Schultern und sagte nichts mehr. Leen räusperte sich noch einmal, setzte dazu an, weiterzureden – und dann wurden sie in Dunkelheit getaucht.[/LEFT] [LEFT]Jemand atmete scharf ein, während Anthony sich nur ratlos umsehen konnte. Durch die Fenster fielen wenige Strahlen des Mondlichts, jedoch nicht genug, um das Zimmer zu erleuchten. Er konnte lediglich die Umrisse von Leon ausmachen, der den Kopf geneigt hatte, sich sonst aber nichts anmerken ließ.[/LEFT] [LEFT]„Hey!“, beschwerte Leen sich. „Ich habe doch gesagt, du kannst das Licht anlassen.“[/LEFT] [LEFT]„Ich war das nicht“, erwiderte Rena. „Das sieht eher nach einem Stromausfall aus.“[/LEFT] [LEFT]„Sowas gibt es in einem solchen Hotel?“ Es war eindeutig Heathers Stimme.[/LEFT] [LEFT]„Manchmal.“ Eine Flamme erhellte plötzlich den Raum notdürftig. Sie tanzte auf Renas rechter Hand. „Die Stromversorgung kann von allem möglichen gestört werden, sogar von wilden Monstern. Irgendjemand sollte zum Empfangstresen und fragen, ob das bald gerichtet wird.“[/LEFT] [LEFT]Es klang nicht danach, als ob sie sich bereit erklären würde, was Anthony aber auch vernünftig fand; wenn die anderen hier blieben, benötigten sie das Feuer, um etwas zu sehen.[/LEFT] [LEFT]„Fragt sich nur, wer gehen wird“, ergänzte Rena noch etwas deutlicher.[/LEFT] [LEFT]Ein unangenehmes Schweigen legte sich auf die Anwesenden.[/LEFT] [LEFT]Heather und Leen sahen einander an, ohne etwas zu sagen. Er war sich unsicher, ob sie so miteinander kommunizierten oder ob sie sich einfach tapferer fühlten, wenn sie einander sahen.[/LEFT] [LEFT]Leon neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite und tippte mit seinen Fingern auf seinen Oberschenkeln. Alexander stützte den rechten Ellenbogen auf der Armlehne und ruhte seinen Kopf auf der Hand, während er desinteressiert die Flamme beobachtete.[/LEFT] [LEFT]„Da draußen ist es dunkel“, murmelte Marc auf den Boden sehend, so dass nur Anthony es hören konnte. „Das ist wirklich gruselig.“[/LEFT] [LEFT]Ihm wurde klar, dass er selbst keinerlei Grund sah, sich zu fürchten und dass es besser wäre, sich selber zu melden, um seinem Freund die Angst zu ersparen. Also stand er auf. „Ich gehe schon. Mir macht die Dunkelheit nichts.“[/LEFT] [LEFT]Heather wandte sich ihm zu, lehnte sich vor und setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Leen sprang bereits auf. „Ich begleite dich.“[/LEFT] [LEFT]Überrascht sah Anthony sie an. Sie fügte noch etwas hinzu: „Nur um sicherzugehen, dass du dir nicht den Hals brichst, natürlich.“[/LEFT] [LEFT]Da ihre Schwester damit zufrieden zu sein schien und sich wieder zurücklehnte, nickte Anthony ihr nur zu. Rena bedankte sich bei ihnen und warf vielsagende Blicke in die Runde – besonders in Leons Richtung –, die allerdings ignoriert wurden. Anthony selbst nahm es niemandem übel, Furcht konnte lähmend sein, wie er selbst bereits erlebt hatte.[/LEFT] [LEFT]Gemeinsam verließen er und Leen das Zimmer. Dabei hoffte er noch, dass die Zurückbleibenden bald ein neues Gesprächsthema fänden, um das Schweigen zu beenden.[/LEFT] [LEFT]Er hatte erwartet, dass es auf dem Gang finster sein würde, da es dort keine Fenster gab, doch dafür leuchteten die Fußleisten nun entlang der Wände und hüllten alles in einen grünen Schein. Das hier schien ihm unheimlich, aber er störte sich kaum daran, denn er spürte keinerlei Gefahr in den Schatten. Zusätzlich ließ Leen eine weiße Leuchtkugel entstehen, die um sie herum schwirrte und ihnen noch mehr Licht spendete.[/LEFT] [LEFT]Während sie gemeinsam in Richtung Lobby liefen, bemerkte er, dass Leen ihm immer wieder Seitenblicke zuwarf. „Willst du mir etwas sagen?“[/LEFT] [LEFT]Sie hob eine Augenbraue. „Oh, ich versuche nur, meine Schwester zu verstehen.“[/LEFT] [LEFT]„Wovon redest du?“[/LEFT] [LEFT]„Vergiss es einfach.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, wodurch die Kugel sich ein paar Meter von ihnen entfernte als wäre sie wirklich geworfen worden. „Außerdem wollte ich dich auch begleiten, weil ich dir immer noch nicht vollkommen traue.“[/LEFT] [LEFT]Abrupt blieb er stehen, was sie ihm nachmachte. Bei genauerer Betrachtung fiel ihm auf, dass Heather und Leen bei allen Ähnlichkeiten doch äußerst verschieden aussahen. Er war überzeugt, die beiden problemlos auseinanderhalten zu können, selbst wenn ihre Augen verbunden wären. Eine Erkenntnis, die derart willkürlich war, dass er selbst nicht verstand, wie er darauf kam.[/LEFT] [LEFT]„Was muss ich tun, damit du mir traust?“, hakte er nach.[/LEFT] [LEFT]„Du verstehst das nicht. Es gibt nichts, was du tun kannst, ich muss sehen, wie du dich verhältst.“[/LEFT] [LEFT]Das blieb ihm wirklich unklar. Aber solange sie ihn nur beobachten wollte, konnte er ihr das kaum abschlagen. „Na, von mir aus. Dann schau solange du willst.“[/LEFT] [LEFT]„Ich würde es auch tun, wenn du was anderes sagen würdest.“ Sie reckte ihr Kinn, was sie vermutlich entschiedener wirken lassen sollte, doch stattdessen ließ es sie niedlich wirken.[/LEFT] [LEFT]Er beherrschte sich, darüber zu lachen oder auch nur das Gesicht zu verziehen, damit sie nicht glaubte, er mache sich über sie lustig.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich schien ihr aber noch etwas einzufallen: „Ah ja, eine Sache musst du doch tun.“[/LEFT] [LEFT]Also doch. Das hatte er bereits erwartet. „Raus damit.“[/LEFT] [LEFT]Sie hob den Zeigefinger. „Du musst immer ehrlich zu mir sein. Ich kann dir nicht vertrauen, wenn ich nicht weiß, ob du ehrlich bist.“[/LEFT] [LEFT]Das war auch überraschend süß von ihr. Nachdem sie zu Beginn derart unheimlich auf ihn gewirkt hatte, war dieses Verhalten eine angenehme neue Seite. Seine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, nur ein wenig, damit sie nicht doch noch glaubte, er mache sich über sie lustig. „Verstanden. Dann werde ich das sein.“[/LEFT] [LEFT]Sie nickte zufrieden und bedeutete ihm dann, mit ihr weiterzugehen. Er folgte dieser Anweisung sofort und stellte dabei eine Frage: „Soll ich auch bei deinen Erzählkünsten ehrlich sein?“[/LEFT] [LEFT]„Klar, das zählt auch.“[/LEFT] [LEFT]„Du bist echt nicht gut darin.“[/LEFT] [LEFT]Er befürchtete, dass sie trotz ihrer Versicherung wieder kühler ihm gegenüber werden würde, aber stattdessen stieß sie ein kurzes Lachen aus. „Ja, das sagt Alex auch immer.“[/LEFT] [LEFT]Gut, dessen war sie sich also doch schon bewusst, also bekäme er dafür keinen Ärger.[/LEFT] [LEFT]„Hey“, hakte er nach, „gibt es diesen Raum eigentlich wirklich?“[/LEFT] [LEFT]„Ja, klar. Sagten wir doch vorhin. Mr. Chandler hat den Schlüssel.“[/LEFT] [LEFT]„Und was ist da drinnen?“[/LEFT] [LEFT]Sie warf ihm einen Seitenblick zu, ihre Mundwinkel hoben sich amüsiert. „Neugierig, hm? Vielleicht bin ich ja doch keine so schlechte Erzählerin.“[/LEFT] [LEFT]Mit sich selbst zufrieden summte sie einen kurzen Moment, ehe sie endlich auf seine Frage antwortete: „Jedenfalls weiß ich es nicht. Ich war noch nie drin und meine Eltern wollen es mir nicht erzählen.“[/LEFT] [LEFT]Also konnte sie nicht wissen, ob sich darin wirklich ein Kristall oder sonst etwas verbarg. „Stimmt das mit dem Weinen und dem Leuchten dann überhaupt?“[/LEFT] [LEFT]„Man sollte meinen, als Göttlicher würdest du mehr an übernatürliche Phänomene glauben.“[/LEFT] [LEFT]Das tat er auch, in einem gewissen Umfang jedenfalls. Gleichzeitig gab es aber auch einige Dinge, die er nicht einfach akzeptieren wollte – zumindest nicht, bis er die Beweise dafür gesehen hatte.[/LEFT] [LEFT]„Also“, begann er, nachdem sie ein paar Schritte lang nichts gesagt hatte, „stimmt es?“[/LEFT] [LEFT]Sie seufzte schwer. „Keine Ahnung. Ich war nachts noch nie da unten. Es ist eine Gruselgeschichte, die man sich erzählt. Aber da die Quartiere der älteren Schüler außerhalb der Schule liegen, können die es schlecht nachprüfen – und die jüngeren trauen sich so etwas nicht.“[/LEFT] [LEFT]Das eröffnete ihm die Frage, wie dann überhaupt die Geschichte zustande gekommen war. Doch ehe er das zur Sprache bringen konnte, beleuchtete die Kugel bereits die ersten Stufen nach unten. Leen wies ihn darauf hin, dass er nicht hinunterfallen sollte, deswegen hielt er sich extra am Geländer fest und achtete auf jeden Schritt, den er nach machte.[/LEFT] [LEFT]Als er den Treppenabsatz erreichte, wanderte sein Blick automatisch zu dem Gemälde, von dem die gestrige Gruselgeschichte gehandelt hatte. Etwas daran wirkte falsch, obwohl er zuerst nicht sagen konnte, was genau. Erst als Leen neben ihm stand, erinnerte er sich auch daran, was es eigentlich darstellte.[/LEFT] [LEFT]„Hey …“, sagte er so leise wie möglich, „war auf dem Bild nicht eigentlich eine Frau zu sehen?“[/LEFT] [LEFT]Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Nur weil ich eine schlechte Geschichtenerzählerin bin, musst du nicht versuchen, mir jetzt Angst einzujagen.“[/LEFT] [LEFT]Er schüttelte mit dem Kopf und deutete mit dem Finger. „Sieh es dir selbst an.“[/LEFT] [LEFT]Deutlich skeptisch sah sie nach rechts, die Lichtkugel folgte ihrem Blick. Er glaubte zu spüren, wie sie verarbeitete, was sie da betrachtete, wie sie wieder an die gestrige Geschichte dachte, dann sog sie scharf die Luft ein. Als sie sich wieder ihm zuwandte, wirkte ihr Gesicht blasser als zuvor. „Das ist nicht wahr, oder? Das ist nur ein blöder Scherz, den die Besitzer sich erlauben.“[/LEFT] [LEFT]„Ich hoffe es.“ Aber bei der Erinnerung an die eigenartige Anwesenheit einer ihm unbekannten Person während dieser Erzählung konnte er es selbst nicht so richtig glauben. „Lass uns jemanden suchen, der uns hilft.“[/LEFT] [LEFT]Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er den Stromausfall oder diese Situation meinte. Leen hakte aber auch nicht nach, sondern setzte rasch ihren Weg fort. Anthony blieb bei ihr, um sicherzugehen, dass ihr nichts geschah – und weil er nicht allein zurückgelassen werden wollte.[/LEFT] [LEFT]Die Lobby war ebenfalls von dem grünen Schein der Notbeleuchtung erhellt, weswegen sie beide sofort erkannten, dass niemand hinter der Rezeption stand. Ohne zu warten betätigte Leen die auf dem Tresen bereitgestellte Klingel. Ein schriller Ton hallte durch die Halle, doch nichts geschah.[/LEFT] [LEFT]„Scheint keiner da zu sein.“ Selbst seine eigene Stimme wurde viel zu laut wiedergegeben.[/LEFT] [LEFT]Leen drückte noch ein paarmal auf die Glocke.[/LEFT] [LEFT]Nichts.[/LEFT] [LEFT]Die Lichtkugel flog umher, um ihnen mehr zu zeigen, obwohl nichts zu sehen war; der Bereich hinter der Rezeption blieb vollkommen unberührt, die Klinke der Tür zum Mitarbeiterbereich bewegte sich nicht einmal ein bisschen.[/LEFT] [LEFT]„Vielleicht sind sie bereits dabei, sich um den Stromausfall zu kümmern“, vermutete Anthony.[/LEFT] [LEFT]Leen reagierte nicht.[/LEFT] [LEFT]„Wollen wir wieder zu den anderen zurück?“[/LEFT] [LEFT]Da sie immer noch nichts sagte, drehte er sich um, damit er den Rest der Lobby betrachten könnte. Außer ihnen war niemand hier, es war bizarr, unwirklich, als blicke er schon wieder hinter den Vorhang der alltäglichen Welt und entdeckte diesmal etwas, das er nicht begreifen konnte.[/LEFT] [LEFT]Leen trommelte mit den Fingern auf dem Tresen.[/LEFT] [LEFT]Die Haare auf Anthonys Nacken stellten sich auf, als plötzlich Kälte Einzug hielt. Für einen kurzen Augenblick war es als ob etwas den Raum betreten habe, ihn langsam durchschritt und dann zu einem plötzlichen Halt kam. Ein zartes Seufzen. „Mein Name ...“[/LEFT] [LEFT]Die Stimme, klirrend wie brechendes Eis, schien direkt von hinter ihm zu kommen.[/LEFT] [LEFT]Leens Trommeln verstummte.[/LEFT] [LEFT]Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, eines, in dem etwas Unausgesprochenes in der Luft hing, obwohl sie wussten, dass sie darüber reden mussten.[/LEFT] [LEFT]Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, ehe sie zu wispern begann: „Hast du das auch gehört?“[/LEFT] [LEFT]Zuerst wollte er sie fragen, was genau sie meinte, aber vermutlich wäre das Zeitverschwendung. „Habe ich, ja. Was tun wir jetzt?“[/LEFT] [LEFT]Er mochte schon einige Monster, Dämonen oder Drachen bekämpft haben, Geister waren ihm jedoch neu. Und im Grunde wollte er damit auch gar nicht erst anfangen. Schon allein weil er nach wie vor nicht wirklich glaubte, dass sie existierten, selbst wenn er nun einen gegensätzlichen Beweis in seiner Nähe hatte.[/LEFT] [LEFT]„Weglaufen funktioniert bei Geistern nicht“, meinte Leen, fast so als wäre sie eine Expertin auf diesem Gebiet. „Wir können versuchen zu kämpfen – oder wir raten ihren Namen.“[/LEFT] [LEFT]Er bezweifelte, dass das eine sinnvolle Methode wäre, aber er wusste auch sonst nichts zu sagen, also war es vielleicht zumindest einen Versuch wert. Auch wenn Leen von ihrem eigenen Vorschlag nicht sonderlich angetan schien.[/LEFT] [LEFT]„Wie ist mein Name?“, fragte die Stimme mit einem Hauch Verzweiflung.[/LEFT] [LEFT]Da er sich nicht mit Namen auskannte – besonders nicht mit weiblichen – stieß er Leen mit dem Ellenbogen an, damit sie begann. Zu seiner Erleichterung reagierte sie auch sofort: „Erica?“[/LEFT] [LEFT]Wieder Schweigen.[/LEFT] [LEFT]Die Kälte schien geradezu stechend zu werden. Ein Fauchen, gefolgt von einem verzerrten „Nein“.[/LEFT] [LEFT]„Das ist so bescheuert“, murmelte Leen.[/LEFT] [LEFT]Da er nun an der Reihe war, dachte Anthony für einen kurzen Moment nach. Eine Gänsehaut prickelte auf seinen Armen, er durfte sich nicht zu viel Zeit lassen. „Eve?“[/LEFT] [LEFT]Das war einer der wenigen Frauennamen, die er kannte, noch dazu der seiner Mutter – doch der Geist knurrte wütend. „Nein“.[/LEFT] [LEFT]„Ich fühle mich wie beim Rumpelstilzchen.“ Leen schnaubte, ihre Furcht schien bereits verflogen zu sein. „Ich mache dieses dumme Spiel bestimmt nicht mehr mit!“[/LEFT] [LEFT]Im nächsten Moment explodierte die Lichtkugel. Anthony kniff die Augen zusammen, ging automatisch in die Knie und stürzte sich dann mit einem Laufsprung nach vorne, um von diesem Geist – oder was auch immer es war – wegzukommen. Erst am Fuß der Treppe wirbelte er herum. Helle Flecken tanzten vor seinen Augen, aber zumindest konnte er den Tresen ausmachen. Leen war ebenfalls ausgewichen, allerdings in Richtung des Haupteingangs, so dass sie einige Meter von Anthony entfernt war; der Ring an ihrer Hand glühte leicht.[/LEFT] [LEFT]Hinter der Rezeption entdeckte er eine rauchige Entität, die auf den ersten Blick wirklich wie eine Frau aussah – doch nur bis zu ihrer Brust. Ihre Hände endeten in krallenbewehrte Klauen, ihr Unterkörper glich einer von Wölfen zerfetzten Robe.[/LEFT] [LEFT]„Okay, kümmern wir uns darum“, sagte Leen entschlossen. „Das hier geht mir auf die Nerven.“[/LEFT] [LEFT]Sie beschrieb einen Bogen mit der Hand, spitze weiße Kristalle bildeten sich und schossen direkt auf den Geist zu – nur um durch ihn hindurch zu fliegen und wirkungslos auf der Wand aufzuschlagen.[/LEFT] [LEFT]„Unsere Kräfte sind wohl nicht dafür gedacht, gegen so etwas zu kämpfen“, meinte Anthony.[/LEFT] [LEFT]Leen warf ihm einen finsteren Blick zu. „Du meinst, wir haben göttliche Kräfte, die nicht gegen Gespenster wirken? Was soll das dann?“[/LEFT] [LEFT]Da er Ladons Kräfte in sich trug, fühlte er sich dafür verantwortlich, dass sie nun in dieser Situation waren, dementsprechend fiel auch seine Antwort aus: „Bis gerade eben habe ich ja nicht mal geglaubt, dass es so etwas gibt! Warum sollte Ladon also Kräfte dagegen entwickeln?“[/LEFT] [LEFT]Leen rollte lediglich mit den Augen.[/LEFT] [LEFT]Der Geist stieß einen wilden Schrei aus, der Anthonys Knochen vibrieren ließ. Dann stürzte sie sich auf ihn. Er wich zurück, baute einen Schild vor sich auf, der unter dem feindlichen Ansturm sofort zersplitterte. Die glühenden Augen des Gespenstes kamen ihm gefährlich nahe, die kalten Krallen streiften seine Brust – dann wurde es mit einem schrillen Kreischen plötzlich zurückgeworfen und zerplatzte in mehrere Dunstwolken.[/LEFT] [LEFT]Anthony sah zu Leen, sie hob jedoch die Schultern, offenbar genauso ratlos wie er. Plötzlich erklangen Schritte hinter ihm, gefolgt von einer Stimme: „Danke, dass ihr sie eine Weile beschäftigt habt. So konnten wir sie endlich lokalisieren.“[/LEFT] [LEFT]Er drehte sich um und entdeckte die beiden jungen Männer von seinem ersten Tag hier. Der Weißhaarige, der immer noch seine schwarze Mütze trug – Lloyd, wenn Anthony sich richtig erinnerte –, lief locker an ihm vor und stellte sich dann vor ihm in Pose, dem Geist zugewandt, eine schwarze Pistole in der Hand.[/LEFT] [LEFT]Der Braunhaarige blieb dagegen bei Anthony stehen und lächelte ihn zuversichtlich an. „Wir kümmern uns jetzt darum.“[/LEFT] [LEFT]Leen sah verwirrt zwischen ihnen hin und her, sagte aber nichts. Genau wie Anthony, der noch einen Schritt zurückwich. „Ähm, dann … viel Erfolg?“[/LEFT] [LEFT]Der Geist sammelte sich derweil und formte sich erneut zu seiner Gestalt, seine Augen loderten inzwischen wie Flammen. Das folgende Kreischen ließ Anthony in die Knie gehen. Glas knackte.[/LEFT] [LEFT]Lloyd blieb davon allerdings unbeeindruckt. Er feuerte einen Schuss auf das Wesen ab. Etwas, das ihm eigentlich nichts ausmachen dürfte, aber die Kugel traf den Geist tatsächlich mitten in die Brust. Von der Einschlagstelle ausgehend bildeten sich golden leuchtende Ketten, die sich um das Gespenst schlangen und sich anschließend mit mehreren Haken in den Boden bohrten. Die Spukgestalt wand sich mit einem verzweifelten Heulen, doch die Fesseln hielten stand.[/LEFT] [LEFT]Lloyd sah über seine Schulter. „Solaris, los.“[/LEFT] [LEFT]Solaris. Auch dieses Wort löste etwas in Anthonys Inneren aus, versuchte auf eine Erinnerung zuzugreifen, die weggesperrt war oder vielleicht nie existiert hatte. Sich darauf zu konzentrieren, es zu fassen zu bekommen, bescherte ihm lediglich ein irritierendes Pochen hinter seinem linken Auge.[/LEFT] [LEFT]Der Braunhaarige – der dann wohl Solaris sein musste – ging einen Schritt vor. Er hob seinen rechten Arm, der vom Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen bandagiert war. Der Anblick des Verbands weckte etwas in Anthonys Inneren, es griff in seine Brust, zielte direkt auf sein Herz, drückte zu, bis es schmerzte, ihm sogar die Atmung erschwerte.[/LEFT] [LEFT]Ungeachtet seines Zustandes hob Solaris nun noch seine linke Hand, in der er einen glänzenden Gegenstand hielt. In einer fließenden Bewegung schlitzte er sich den rechten Arm auf.[/LEFT] [LEFT]Leen stieß einen erstickten Schrei aus. Der von Anthony blieb in seiner Kehle stecken – und er befreite sich auch nicht, als er sah, was weiter geschah.[/LEFT] [LEFT]Das Blut widersetzte sich nicht nur der Schwerkraft, sondern allen Naturgesetzen, die er kannte. Wie von einem unsichtbaren Pinsel geführt erhob es sich von der Wunde in die Luft, beschrieb auf seinem Weg zum Geist hinüber Bögen, die unmöglich sein müssten.[/LEFT] [LEFT]Fasziniert beobachtete Anthony dieses Schauspiel, von dem er noch nie gehört hatte und das ihm doch genauso bekannt vorkam wie schon diese beiden Männer. Wie auch immer das alles zusammen hing und welche Rolle er darin spielte, er war entschlossen, es herauszufinden – und dann diese Schmerzen endgültig auszumerzen.[/LEFT] [LEFT]Schließlich formte das Blut einen Wirbel um das noch immer festgesetzte Gespenst, füllte immer mehr Zwischenräume aus, bis es ihren Feind vollständig in eine ovale Form einkapselte. Der Teil der freigesetzten Körperflüssigkeit, der nicht gebraucht worden war, verlor augenblicklich seine magischen Eigenschaften und stürzte zu Boden, wo es eine rote Spur formte.[/LEFT] [LEFT]Aus dem Inneren dieses eigenartigen Gefängnisses klangen gedämpft die hysterischen Klagelaute des Wesens. Weder Lloyd noch Solaris machten irgendwelche Anstalten, weitere Handlungen durchzuführen.[/LEFT] [LEFT]„Was nun?“, fragte Anthony, im selben Moment, in dem Leen „Was ist das für eine Magie?“ murmelte.[/LEFT] [LEFT]Lloyd reagierte lediglich auf seine Frage: „Jetzt kommt noch unser letzter Gefährte ins Spiel.“[/LEFT] [LEFT]Er sah wieder über seine Schulter und nickte in Richtung der Treppe. Anthony folgte seinem Blick.[/LEFT] [LEFT]Mit bedachten, fast schon eleganten Schritten kam eine junge, rothaarige Frau die Stufen herab. Von ihr ging eine Kälte aus, die mit der von Ladon rivalisieren konnte. Gleichzeitig fehlte ihr aber die Boshaftigkeit, die ihm zu eigen gewesen war. Ihre desinteressierten, blauen Augen streiften ihn lediglich, dann ging sie an ihm vorbei, ohne sich weiter um ihn zu kümmern.[/LEFT] [LEFT]Neben Lloyd hielt sie wieder inne, ihre Aufmerksamkeit galt ganz allein dem ovalen Gebilde aus Blut jenseits des Tresens. „Ist es das?“[/LEFT] [LEFT]Ihre monotone Stimme spottete jeder Emotion, verhöhnte sie regelrecht und bewies, dass sie vollkommen unnötig für Kommunikation war. Worte, mehr brauchte es nicht, jeder Anflug von Gefühl war lediglich Ablenkung. In Anthony erwachte Empathie für das Gespenst, das von einer solchen Person möglicherweise besiegt werden würde, wenn er nichts unternahm. Aber der logische Teil seines Gehirns rief ihn zur Räson, erinnerte ihn daran, dass der Geist sie höchstwahrscheinlich getötet hätte, wenn diese kleine Gruppe nicht eingeschritten wäre. Es gab also keinen Grund für ihn etwas zu tun.[/LEFT] [LEFT]„Jepp“, antwortete Lloyd. „Er gehört ganz dir.“[/LEFT] [LEFT]Sie hob ihren Arm, die Handfläche nach oben gerichtet. Als Antwort darauf verkleinerte sich das Gebilde, bis es lediglich die Größe eines Hühnereis besaß, gleichzeitig wurden auch die Laute des Gespenstes immer leiser, bis sie nicht mehr zu hören waren; Anthony bezweifelte jedoch nicht, dass es nach wie vor im Inneren lautstark um seine Freiheit kämpfte.[/LEFT] [LEFT]Das geschrumpfte Gefängnis schwebte zu der jungen Frau, die ihre Hand darum schloss. Als sie diese wieder öffnete, war nichts mehr von irgendeinem Objekt zu sehen.[/LEFT] [LEFT]Sie atmete aus, nicht als wäre sie erschöpft oder nervös, sondern als wäre sie müde hiervon. Dann wandte sie sich Anthony zu, der sofort zusammenzuckte.[/LEFT] [LEFT]„Ich glaube“, begann sie, „jetzt sollten wir miteinander reden, Göttlicher.“[/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)