Fragmente von Hrafna (Potpourri & Kurzgeschichten-Fundus) ================================================================================ Kapitel 4: Ein Rückblick ------------------------ ein kleiner Blick in die Vergangenheit von Múspell aus "Verbrannte Erde" Ein Rückblick Es ist spät, weit nach Mitternacht, und das schummrige Kerzenlicht erhellt das Arbeitszimmer bloß noch mäßig. Mittlerweile fällt ihm das Lesen schwer. Müde legt er seine Lektüre beiseite, streckt die Beine von sich; als er aufsieht, ist er wenig erstaunt. „Du bist immer noch hier?“ wendet er sich an den jungen Genossen, der ein wenig apathisch zwischen den Regalen hockt, seine Worte mehr Feststellung als Frage, doch der Angesprochene rührt sich nicht. Folglich kann er sich eines Lächelns nicht erwehren. Sóti. Ein Sonderling, aber nicht im negativen Sinne. Der Jugendliche verbringt seine freien Stunden, Tage, seine gesamte freie Zeit hier, ein stummer Gesellschafter, der sich langsam aber sicher durch sämtliche Niederschriften und Berichte wälzt, die er in die Finger bekommt. Gleichgültig, um was es sich dabei handelt. Missionsrapporte, Geschichte, Schlachtverläufe, Strategie und so weiter... Es stört den Oberst nicht. Den Großteil dieser Bibliothek hat der ältere Soldat von seinem Vater geerbt, jedoch im Detail höchstens überflogen, sodass ihn die Staubwolken nicht überraschen, die die Wissenssuche des Jugendlichen aufwirbelt. Insgeheim wünscht er Sótis Interesse an der Kunst des Krieges in jenem Maße zu teilen. Als Nachkömmling einer durch und durch überzeugten Soldatenfamilie... Die Realität hat ihn unlängst eines Besseren belehrt. Draußen rumort es beständig. Donnergrollen. Die am Himmel aufgetürmten Wolkenmassen erscheinen im anklingenden Wetterleuchten der Nacht schwefelig gelb, in der Ferne violett und grau meliert; die Hitze des Tages staut sich zwischen dem verhangenen Firmament und der ausgezehrten Erde. Der Schweiß rinnt ihm über die Brust und den Rücken, dem Jungen stehen die hellen Perlen auf der Stirn, trotz des leichten Sommergewandes. „Lass gut sein für heute, Sóti“, und als er seinen Namen hört, strafft sich die Haltung des jugendlichen Soldaten. Sein Blick wandert instinktiv zu seinem Vorgesetzten. „Ofursti Múspell?“ erfolgt auch prompt die Antwort, höflich, angemessen, und den Kopf dabei gesenkt, doch sein Gegenüber winkt ab und lächelt. Obwohl die Milde seines Ausdrucks von einem leisen Schatten überlagert wird, ist seine Sympathie für Sóti aufrichtig. „Geh schlafen“, erwidert er wohlmeinend und fährt sich durchs Haar, „Das anlaufende Manöver wird hart.“ Sóti hört zu, doch der Fokus seiner dunklen Augen schweift durch den Raum, unbeständig, ohne Ziel, und offenbar beschäftigt ihn etwas vollkommen anderes, das unruhige Spiel seiner Finger verrät seine Anspannung. Schließlich korrigiert er seine Haltung, das Buch in seinem Schoß vergessen, als er aufsteht und das Quartier durchquert. Befangene Schritte, wobei er ansonsten keine zögerliche Person ist; er wagt es erst, sich zu setzen, als Múspell ihn mit einer stummen Gestik darum bittet. „Ich... ofursti Múspell, ich...“, setzt er unbeholfen an, nach adäquaten Worten fischend und sichtlich verloren in seinen Versuchen, „Ich wollte...“ Die Röte steigt ihm in die Wangen, aus Scham, aus Ärger über sich selbst. Er ringt mit sich. Sein Gegenüber schweigt wohlweislich. „Ich möchte bleiben“, presst der Soldat schließlich kaum hörbar hervor, die Finger in den Stoff seiner Kleidung vergraben. Du weißt nicht, du kannst nicht wissen, wovon du sprichst, Sóti. Der Oberst lässt sich sein Unbehagen bezüglich der heiklen Thematik nicht anmerken. In militärischen Kreisen mögen solche Gepflogenheiten gang und gäbe sein, sich die Gunst seines Vorgesetzten durch Körperlichkeiten zu sichern, er hält persönlich jedoch nichts davon – vor allem nicht mit Minderjährigen. Ausdrücklich verboten ist es nicht. „Du bist minderjährig, Sóti“, begegnet er der Anfrage seines Schützlings gütig und ein wenig steif. Einen Moment geschieht nichts, dann schnaubt der Jugendliche und fordert bedingungslosen Blickkontakt, von Entschlossenheit und unterschwelligem Trotz beseelt. Dennoch verbleibt seine Stimme ruhig: „Ihr wollt damit also sagen, dass ich alt genug bin, um zu kämpfen, um meinesgleichen zu töten, um auf dem Schlachtfeld für eine Ideologie zu sterben, die ich nicht vertrete, die vielleicht nicht einmal eine ist, für jemanden, den ich noch nie zu Gesicht bekommen habe geschweige denn kenne...“ Er pausiert kurz, sammelt seine Konzentration, seine Rationalität. „Aber ich bin nicht alt genug, um selbst zu entscheiden, wen ich mag und mit wem ich... zusammen sein möchte...?“ Und der ofursti ahnt, worauf Sóti hinaus will. „Ich weiß“, fährt er festen Tones fort, „dass Ihr diese Scheinheiligkeit nicht gutheißt und nicht unterstützt. Ansonsten wäret Ihr längst nicht mehr ofursti, bei Eurer Qualifikation.“ Es ist erschreckend, wie recht der Junge hat - ist er tatsächlich so einfach zu durchschauen? „Einer von der klugen Sorte, huh?“ meint er versöhnlich, mit einem bitteren Schmunzeln, schmerzlich an die Umstände erinnert, die zu einer Entscheidung geführt hatten, die nicht seiner eigenen entsprach. Wie hätte ich auch meinem Vater auf dem Sterbebett seinen letzten Wunsch verwehren können...? *** „Meine Nachlässigkeit während eines späteren Manövers kostete Sóti nicht nur die beispiellose Karriere innerhalb des Militärs, die ihm zweifellos bevorstand, sondern auch das Leben. Der Anschlag, der Pfeil, der ihn tötete, galt nicht ihm, er galt mir. Sóti starb noch vor dem Ende seiner Ausbildung. Als ich einige Jahrzehnte später Logi das erste Mal sah, traf es mich wie ein Blitzschlag...“ [Múspell] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)