Das Mollproblem von abgemeldet (Dreiklang) ================================================================================ Kapitel 2: Oktober 1887 ----------------------- Zwei Wochen später Vielerorts war Lachen zu hören. Die Menschen standen elegant gekleidet in kleineren und größeren Grüppchen beieinander und unterhielten sich über den neuesten Klatsch und Tratsch, aber teilweise auch über ernstere Themen, was man an den vor Leidenschaft geröteten Gesichtern einiger Diskutierender sehen konnte - selbst wenn die Themen an sich vielleicht nicht so Aufsehen erregend waren, als das man sich ernsthaft in Rage reden könnte, so tat der Alkohol sein übriges, auch wenn man den Gästen lassen musste, dass sie sich mit empfohlener Zurückhaltung den edlen Getränken widmeten, welche serviert wurden. Der kleine Ballsaal der Oper war gefüllt mit Mitarbeitern der Oper, aber auch mit deren Angehörigen, Freunden und auch einigen eigens zu dem Anlass angereisten Gönnern, die sich von den momentan vorherrschenden Zuständen, als auch vom neuen Opernleiter selbst ein Bild machen wollten. Katie strich sich die Haare hinters Ohr und lachte leise über eine Bemerkung, die Louise über einen älteren Mann gemacht hatte. Diese reagierte mit einem breiten Grinsen, mit welchem sie eine Reihe makellos weißer und ebenmäßiger Zähne entblößte. „Oh ich weiß gar nicht, warum du so lachen musst, wirklich. An meiner Bemerkung war gerade nichts Amüsierendes…”, sagte sie und machte eine scheinbar unschuldige Mine, doch wieder konnte sie zumindest ein Zucken ihrer Mundwinkel nicht unterdrücken. Katie nippte leicht schmunzelnd an ihrem Champagnerglas und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Wieder ein Mal blieb er an Mr. Kennedy hängen. Dieser unterhielt sich gerade mit mehreren älteren Männern und sie konnte selbst aus der Entfernung sein angenehmes Lachen hören und bewunderte die scheinbar lässige und nicht erzwungene Eleganz, die der blonde Mann ausstrahlte. Er schien einen guten Eindruck auf die Herrschaften zu machen, denn Katie sah die kurzen zufriedenen Blicke, welche sie miteinander austauschten. Noch hatte sie keine Gelegenheit gefunden, mehr als ein oder zwei Wörter mit ihm zu wechseln, denn er war in den letzten zwei Wochen permanent beschäftigt gewesen. Jetzt, wo sein Vater nicht mehr lebte, lag die gesamte Verantwortung auf seinen Schultern und Katie fragte sich, ob der Opernleiter momentan denn mehr als vier oder fünf Stunden täglich schlief. Genauen Beobachtern - also ihr - würden dann die leichten Schatten unter seinen Augen und die etwas fahle Haut auffallen. Eindeutige Zeichen dafür, dass er sich weder richtig ernährte, noch genug Schlaf bekam und ihre Sorge wuchs, dass er wohl bis zur totalen Erschöpfung arbeiten würde. “… hörst du mir zu?”, konnte sie auf einmal die verwunderte Stimme der rothaarigen Sängerin hören und blinzelte verwirrt. Louise legte ihren Kopf leicht schief und Katie betrachtete versonnen ihre üppigen roten Locken. Beneidenswert. “Entschuldige, ich war in Gedanken.”, erwiderte sie und lächelte entschuldigend. Louise machte eine wegwerfende Handbewegung und zuckte leicht mit den Schultern. “Schon in Ordnung. Wie mir scheint hat ohnehin die Person, über die ich gerade gesprochen habe, dein Interesse erweckt.”, antwortete die 17-Jährige und hob leicht die Augenbrauen. Katie schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie damit sagen, dass Louise nicht mehr zu helfen sei. “Ich hatte nur darüber nachgedacht, wie es wohl in Zukunft bei uns weiter gehen wird…”, gab sie scheinbar zu, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. “Eine angebrachte Frage.”, konnte man plötzlich die Stimme von Melissa hören. Sie war eine der älteren Sängerinnen an der Oper, hielt sich aber eigentlich immer gekonnt im Hintergrund - sie schien allzu viel Trubel um ihre Person nicht zu schätzen. Dabei war dies nicht verständlich, denn sie hatte keinen Grund sich zu verstecken. Die 28-Jährige Britin war eine schöne Frau, mit schmalen, aber dennoch geschmeidigen Rundungen und einer kräftigen Stimme. Einzig ihre Brust war zu üppig und schien etwas aus dem Gesamtbild herauszustehen, was jedoch weder an der eleganten und schönen Art, noch an der Tatsache, dass sie eine fantastische Sängerin war, änderte. Sowohl Katie, als auch Louise warfen ihr einen aufmerksamen Blick zu, mit welchem sie die Frau aufzufordern schienen weiter zu sprechen. “Ich erkläre es euch später, jetzt möchte ich noch mehr Cham-” Sie kam nicht dazu den Satz zu beenden, denn alles andere als unauffällig wurde die Flügeltür zum Raum geöffnet und Ewa trat in formvollendeter Show ein. Die kurvige Blondine trug ein dunkelrotes Kleid - hatte sie eine Schwäche für diese Farbe? - welches ihre Rundungen unterstrich, wenn nicht sogar noch mehr zur Geltung brachte und ihre langen blonden Haare waren kunstvoll hochgesteckt. Katie, Melissa und Louise folgten ihr mit ihren Blicken. “Also wenn ich mich nicht irre…”, begann die Älteste und die jungen Frauen wandten ihr wieder ihre Gesichter zu. “… dann wird die Zukunft der Oper eine große, auffällige, aber qualitativ minderwertige Show.”, schloss sie ab und griff nach einem Champagnerglas, als ein Kellner mit einem Tablett an ihnen vorbeiging. Louise ließ sich ebenfalls eines reichen und meinte mit einem kurzen Seitenblick auf Katie, “Denkst du wirklich, dass sie Ewa zur Sopranistin machen?” Melissa ließ ihren Blick wieder zu Ewa schweifen, welche sich gerade von irgendeinem der vielen Männer bewundern ließ. „Die passenden Star-Allüren hat sie ja schon.”, erwiderte sie nur trocken und trank einen Schluck aus ihrem Glas. Katie hatte das Gespräch nicht verfolgt. Ihr Blick hing an Ewa, welche immer wieder einen Blick über ihre Schulter warf. Wen sie ansah, merkte die 20-Jährige sofort, denn im Blickfeld der Blondine war nur ein Mann der ihr Interesse erwecken könnte: Leon Kennedy. Louise deutete mit ihrem Gesichtsausdruck an, dass es ihr wohl weniger passen würde, wenn tatsächlich Ewa die Rolle einnehmen würde, um welche sie sich anscheinend so aufopferungsvoll bemühte. Tatsächlich entsprach ihre Geste auch ihren Gedanken, denn die 17-Jährige wusste nicht, ob sie es an der Oper aushalten würde, wenn die Ukrainerin tatsächlich ihren heiß ersehnten Posten erhalten würde, denn es war schon anstrengend genug mit ihren Eigenarten umzugehen, wenn sie die Zweitbesetzung war. Louise war davon überzeugt, dass es nur noch schlimmer werden konnte. Insofern hoffte sie, dass Mr. Kennedy sich nicht von ihr beeinflussen lassen würde, denn sie verabschiedete sich gerade von der Gruppe mit welcher sie gesprochen hatte, und setzte sich in Bewegung. Die Richtung in welche sie blickte, machte klar, dass sie mit dem Opernleiter sprechen wollte und eben dies passierte auch. Mit einem Glas Champagner in der Hand gesellte die blonde Schönheit sich zu ihm und begann ihn mit ihrem Charme zu bearbeiten. Die Rothaarige blickte von der Szene weg, als sie Melissa neben sich seufzen hörte. Auch ihr war nicht entgangen was zu passieren schien, denn etwas missgelaunt warf sie ein, “Und jetzt macht sie sich auch noch an den Opernleiter ran - das kann ja heiter werden.“ und trank abermals einen Schluck aus ihrem mittlerweile fast leeren Glas. Louise hob nur scheinbar ratlos ihre Schultern, als wollte sie damit sagen „Na ja, wir können es ohnehin nicht verhindern.“ und blickte dann zu Katie, welche immer noch gebannt zu Mr. Kennedy und seiner Gesprächspartnerin blickte. Sie versteckte recht gut, was sie sich eigentlich dachte, aber Louise kam nicht umhin sich zu denken, dass die Brünette irgendwie neidisch aussah, als wünschte sie sich ebenfalls den Mut, um den Opernleiter anzusprechen. Dieser wirkte jedoch nicht irgendwie beeindruckt von der Art der Blondine, jedenfalls zeigte sich in seinem Gesicht nicht der typische Gesichtsausdruck, mit welchem die Männer Ewa für gewöhnlich betrachteten, was aber höchstwahrscheinlich genau das Ziel der Frau war. Wieder war es Melissa, die das Wort ergriff. Ewas Verhalten schien sie sehr zu reizen - und Louise war sich sicher, dass es nichts mit etwaiger Eifersucht zu tun hatte, sondern, dass es der elf Jahre älteren viel mehr um Berufsetikette und weiblichen Stolz ging. “… irgendwie kann ich mir das nicht ansehen ohne den Kopf zu schütteln. Wenn sie sich schon an jemanden heranmacht, dann sollte sie es doch eher bei jemandem versuchen, bei dem es Gerüchten zufolge besser geht, als bei Mister Kennedy.”, seufzte sie und blickte sich währenddessen im Saal um. Sowohl Louise als auch Katie wandten ihr die Köpfe zu. “Wovon redest du?”, fragte Katie verwundert und auch Louise schien dies außerordentlich zu interessieren, denn sie hob nur abwartend die Augenbrauen. Melissa lächelte bitter. “Nun, ihr habt bestimmt von Mister Sauvignon gehört…”, begann sie und wartete kurz, bis beide zumindest leicht genickt hatten. Natürlich hatten sie von dem Mann gehört. Gesehen, hatte Louise ihn nur einmal, und das recht kurz. Da hatte er keinen sonderlich sympathischen Eindruck auf sie gemacht - unnahbar, forsch, arrogant. Dunkle Haare, dunkle Augen, sehr groß und ein intensiver Blick, der einen förmlich zu durchleuchten schien. Kein Mensch, mit dem man gerne etwas zu tun hatte - was die Solisten der Oper nicht kümmern durfte, denn er war der Gesangslehrer und kümmerte sich insbesondere um eben diese. “Jedenfalls,”, fuhr sie fort, “… hört man so einiges über den Mann. Auch wenn ich eher weniger gerne auf Gerüchte höre, so bekommt man häufiger als erwartet zu hören, dass er… solchen Annäherungsversuchen schöner Frauen gegenüber alles andere als abgeneigt sein soll.”, schloss sie ab und die zwei jungen Frauen blickten automatisch zu Ewa, welche sich immer noch mit Mister Kennedy unterhielt. Dieser schien keinerlei Probleme mit ihrer Anwesenheit zu haben, er wirkte auf den ersten Blick sogar recht gut gelaunt. Zufälligerweise blickte er eben in diesem Moment zu ihnen und schenkte ihnen ein kleines Lächeln und nickte der kleinen Frauengruppe kurz zu. Aus den Augenwinkeln sah Melissa, wie Katie etwas rot um die Nase wurde. “Ich weiß auch nicht…”, begann die Rothaarige und presste unentschlossen die Lippen auf einander, “… was soll man schon von Gerüchten halten? Meint ihr wirklich, dass er so ein… Weiberheld ist? Ich kann mir das ja nur schwer vorstellen… Nicht unbedingt ein Mann, an dem ich Interesse haben könnte.”, überlegte sie laut und schüttelte leicht den Kopf. Katie ließ sich ein Champagnerglas von einem Kellner reichen. “Nun, nur weil er dir nicht sympathisch ist und gefällt, muss das ja noch lange nichts bedeuten.”, gab sie zu bedenken. “Ich kann mir schon vorstellen, dass er Erfolg hat bei Frauen…” Melissa nickte, jedoch war Louise nicht ganz überzeugt. “Na ja, so lange er mich in Ruhe lässt, könnte mir nichts unwichtiger sein, als sein Erfolg bei Frauen. Er ist sowieso zu alt.”, schloss die Jüngste der drei ab und damit war das Thema für den Abend beendet. „Und? Fühlen Sie sich mittlerweile schon wie der Herr dieses Hauses?“ Ein breites Schmunzeln schmückte mit einem Male das Gesicht des neuen Opernleiters als ein kulturinteressierter Gast, genauer gesagt der Vicomte de Chateaubriand, ihm die Frage des Abends stellte. Für einen Augenblick könnte man nun meinen, der junge Mann mit der großen Verantwortung reagierte verlegen, denn sein Blick sank fürs Erste gen Boden, während sich in seinem Kopf einige Gedanken sammelten und der letzte Schluck Champagner in seinem Glas vor sich hin prickelte. Doch Leon war ein Mann, der weder Schüchternheit noch Zögern kannte. Er dachte für einige Sekunden lediglich an seinen verstorbenen Vater. „Wissen Sie…“ Er blickte auf. „Ja. Vollkommen.“, antwortete er klar und deutlich mit einem leichten Schulterheben und seinem Siegerlächeln, dabei wieder das Augenpaar seines Gegenübers mit seinem eigenen kreuzend. Das brachte den Franzosen auf einmal zum Lachen. Einen Augenblick später konnte Leon nicht anders als es ihm gleich zu tun. Klassische Klavierklänge durchdrangen den festlich geschmückten Saal, der schon fast 100 Jahre zählte, während vereinzelte Menschengrüppchen in schicker Garderobe sich auch am Rande der Tanzfläche aufhielten, um unterhaltsame Pläuschchen zu halten und sich das ein oder andere Glas Champagner zu gönnen oder einfach nur der angenehmen Melodie einiger Instrumente zu lauschen und die kostbarsten Gewänder von den billigsten in diesem Raum zu unterscheiden. Gewiss waren das nur einige wenige von überaus vielen Tätigkeiten, mit denen sich die hier Anwesenden die Zeit vertrieben, so musste man erwähnen, dass das Fest mittlerweile schon zu fortgeschrittener später Stunde seinen Lauf nahm, die ersten Leute schon längst auf dem Weg nach Hause waren oder die ganz ungeduldigen sich an einen stillen Ort in der Oper zurückzogen, um dort Dinge zu tun, die man in der Öffentlichkeit lieber nicht zur Schau stellte. „Ihr Vater muss wirklich stolz auf Sie gewesen sein... Ein Jammer, dass ich ihn nie hatte persönlich kennen lernen dürfen.“ „Ja… das war er. Schon immer… Aber lassen Sie uns nicht über meinen Vater sprechen. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber er hatte es noch nie gemocht, wenn ich hinter seinem Rücken über ihn gesprochen habe.“ Prinzipiell wäre ja von nun an jedes Wort über seinen Vater eines, welches hinter seinem Rücken ausgesprochen wäre. Ob man diese Aussage aber nun als Indiz für schwarzen Humor auffasste oder nicht, das musste man für sich selbst entscheiden. Leon jedenfalls teilte nicht wirklich das Interesse, mit jemandem über den ehemaligen Opernleiter zu sprechen. Es war ein Thema, welches viele Personen beschäftigte, ein Thema in aller Munde sozusagen und das, obwohl der Mann schon vor zwei Wochen verschieden war. Es war eine Zeitspanne, in der er persönlich seine Trauer schon längst als überwunden betrachtet hatte. Bereits als festgestanden hatte, dass er stürbe, hatte Leon Abschied genommen und seinem Erzeuger versprochen, was er - das einzige Kind der Familie Kennedy - seinem im Sterben liegenden Vater nur alles hatte versprechen können. Darunter die stille Zusicherung stark zu bleiben und seinem Familiennamen alle Ehre zu machen, dafür zu sorgen, dass die Oper weiterhin im prachtvollen Glanze erstrahlte und ihre Besucher mit neuen Stücken und Inszenierungen begeistert würden. Die Zeit stille Tränen zu vergießen sollte vorbei sein. Leon wollte einfach nicht mehr daran erinnert werden. Ehe der Vicomte de Chateaubriand richtig auf seine Aussage reagieren konnte, gesellten sich alles andere als unauffällig zwei jüngere Herren zu ihnen, entschuldigten direkt ihre Unhöflichkeit beim Engländer, nachdem sie den Vicomte angeheitert auf Französisch angesprochen und Leon dabei für einen Moment vollkommen außer Acht gelassen hatten. Weniger über diesen barschen Einfall der beiden Männer empört als über die beneidenswerte Trinkfestigkeit jener, leerte der Brite mit einem leichten Schmunzeln sein Glas als die drei ausländischen Herren ein Gesprächsthema zu behandeln begannen, welches immerhin nichts mit Tod, Trauer und Verantwortung mehr am Hut hatte. „Diese Franzosen…“, ging es Leon grinsend durch den Kopf als sie über einige weibliche Gäste sprachen und was sie denn für Vorzüge zu bieten hätten. Der Brite hatte nicht wenig zu diesem Thema zu sagen, doch wurde schnell deutlich, dass die drei Herren auf andere Dinge Wert legten als der Opernleiter. Schnell war die Laune wieder gestiegen und mit ihr schon bald das Bedürfnis nach einer guten Zigarre. Genau hier stieg der Brite aus. Mit einem Schmunzeln entschuldigte sich Leon höflich, wünschte den Männern noch einen angenehmen Abend und ließ die drei Franzosen ihrem Bedürfnis nachkommen, während er sich lieber dafür entschied, sich noch ein Glas Champagner zu genehmigen. Ob er auch irgendwann damit anfinge Zigarre oder Pfeife zu rauchen? Eine Vorstellung, die ihm fast ein Stirnrunzeln bereitete. Niemals! Mit aufgeschlossenem Blick durch den Saal hielt er nach… nein, nicht nach Ewa, die gerade mit irgendeinem Kerl tanzte, sondern einem der Kellner Ausschau. Seine Augen funkelten förmlich auf als er schließlich einen erblickte und mit selbstsicheren Gang schritt er auf diesen zu, um sich ein gefülltes Glas von dessen Tablett zu nehmen. Dankend lächelte er ihm zu, nahm einen wohltuenden Schluck und machte im Anschluss eine Entdeckung, die ihm mindestens genauso gut schmeckte wie der teure Alkohol. Gleichend einem süßen Schauer über- und durchzog es seinen Körper als er sie betrachtete und just in jenem Moment fragte er sich, wieso er heute nicht zumindest einmal auf den Gedanken gekommen war, diesem Mädchen hier begegnen zu können. Eine positive Überraschung, die seine sich wieder langsam meldende Erschöpfung in den Hintergrund rücken ließ. Schon öfters war er in den Genuss gekommen, sie zu erblicken, ihre Stimme zu hören und sie lachen zu sehen, doch jedes Mal, wenn er sich die Zeit nehmen wollte, um sie anzusprechen, musste irgendetwas oder irgendjemand dazwischen funken: Louise Ellis, das rothaarige Chormädchen und talentierte Tänzerin der Oper. Natürlich kannte er ihren Namen, schließlich machte er gerne Nägel mit Köpfen. Wenn er schon ein Auge auf jemanden geworfen hatte, dann konnte er nicht anders als dafür zu sorgen, mehr Informationen über diese Person in die Finger bekommen. Es war ein Informationsdurst aus Neugier und Interesse entsprungen. Dabei war es vollkommen gleich, ob die Person ihm positiv oder negativ auffiel. In welche Kategorie von Menschen Miss Ellis gehörte, war glasklar. Sie sah zweifelsfrei wundervoll aus und ohne besonderen Anlass musste er anfangen zu schmunzeln. Sie stand alleine am Rande einer Gruppe und blickte unbestimmt durch die Gegend. Das war die Gelegenheit. Ehe der Kellner weiterziehen konnte, griff Leon nach einem zweiten Glas und schritt ohne zu zögern direkt auf sie zu. „Guten Abend, Miss Ellis.“ Sogleich bekam er ihr überrascht wirkendes Antlitz zu Gesicht, welches nun wirklich Anlass genug war, um das dezente Lächeln in seinem Gesicht bestehen zu lassen. „Mister Kennedy… guten Abend.“ „Als ich Sie so sah, dachte ich mir, ich befreie Sie von Ihrem Alleinsein.“, gab er direkt, wie es seine Art war, zu bekennen und reichte ihr eines der beiden Gläser. „Bitte, Sie trinken doch Champagner, oder?“ Leon war sich seines Standes bei Frauen bewusst und besaß ein gesundes Selbstvertrauen, welches ihn nicht erst seit kurzem die Pfade zu charmanten Umgangsweisen eröffnet hatte. Er genoss die positive Wirkung, die er auf andere hatte durchaus, doch fast noch mehr genoss er es, selbst derjenige zu sein, der positiv angetan von einer charmanten Persönlichkeit war. Am liebsten von einer Persönlichkeit, die sich nicht einmal über ihren eigenen Charme bewusst war. Mit einem hinreißenden Schmunzeln senkte sie für einen Moment ihren Blick und nickte. „Das ist sehr freundlich… und ja, vielen Dank.“ Zart berührten ihre Fingerspitzen seine Hand als sie das Glas entgegennahm und zum ersten Mal fiel dem jungen Mann auf, wie stechend blau ihre Augen waren. „Und Sie gönnen sich eine Pause, von den vielen bis dato unbekannten Gesichtern? Obwohl…“, überlegte sie laut, „…wir uns ja bisher auch noch nicht gesprochen haben.“ „Bedauerlicherweise.“, fügte er mit einem angedeuteten Nicken hinzu und trank, wie auch sie, einen kleinen Schluck. Ihr Lächeln ließ ihn weiter in Selbstsicherheit schwimmen, wozu auch stellvertretend der Alkohol hätte imstande sein können. „Mir liegt viel daran, die Menschen näher kennen zu lernen, die leistungstragender Bestandteil meiner Oper sind. Vor allem natürlich Menschen, die mich... persönlich zu entzücken wissen.“ Diese Aussage schien sie unvorbereitet zu treffen und wenn Leons Augen ihm keinen Streich spielten, glaubte er sich eine leichte Röte auf ihr Gesicht legen zu sehen. Er konnte nicht anders als schon wieder zu lächeln. „Das ist durchaus eine sehr löbliche Einstellung, soweit ich das beurteilen kann...“, sah sie ihn immer noch mit diesem lebendigen und von Überraschung geprägten Blick an, ehe sie sich leicht auf die Unterlippe biss, welches sie jedoch nicht davon abzuhalten schaffte, etwas breiter zu lächeln. Einen Moment lang, sahen sie sich nur an. Etwas Unbeschwertes lag in ihren Augen, doch der Augenblick zerbröselte als Miss Ellis‘ Blick plötzlich ernster wurde. Als ahnte der junge Mann, welche Worte sie gleich von sich gäbe, verblassten die Spuren der guten Laune in seinem Gesicht und wichen ernsteren und erschöpfteren Zügen. „Ich vermute, Sie können es schon gar nicht mehr hören, aber… mein herzlichstes Beileid.“ Ausweichend unterbrach er den Augenkontakt, nicht etwa wie ein zutiefst getroffenes Häufchen Elend, sondern viel mehr wie ein Mann, der stur daran glauben wollte, dass es eine Schwäche war, sich von einer schwachen Seite, wie der trauernden, zu zeigen. Er wollte sie sich ja noch nicht einmal selbst zeigen. „Das haben Sie gut erkannt… Aber danke.“ Erst nach einigen Sekunden verlieh er seinem Gesicht wieder einen offenen Ausdruck, indem er ein kleines Lächeln darin Platz nehmen ließ und ohne weiter auf dieses Thema eingehen zu wollten, wechselte er es kurzerhand. „Darf ich fragen, wieso man Sie hier hat alleine stehen lassen?“ „Nun, anfangs war ich ja noch mit Katie und Melissa hier, aber…“, wieder lächelnd hob sie ihre schmalen Schultern, „…die haben dann andere Personen getroffen und mich alleine gelassen. Aber mir scheint, als sei ich gut aufgehoben…“ Ihre Worte erleichterten und schmeichelten ihm zugleich. Zum einen, weil sie seine kleinen Bedenken, er hätte beinahe barsch auf ihre Beileidsbekundungen reagiert, damit auflöste, zum anderen, weil ihre Aussage so unverblümt und unverdorben über ihre Lippen kam. Der rote Schimmer auf ihren Wangen setzte dem Ganzen noch das i-Tüpfelchen auf. Aber er musste sie nicht erst ansehen, um zu merken, dass sie nicht der Typ von Mädchen war, welcher Tag für Tag kecke Sprüche von sich gab und sich daran erprobte, netten Herren schöne Augen zu machen. Miss Ellis schien ihm ein anständiges Mädchen zu sein. Anständig genug, um gar als gute Partie durchzugehen. So anständig, wie der erste Eindruck ihn hatte glauben lassen. Mit einem Schmunzeln betrachtete er das Gesicht der Blauäugigen mit der auffallend roten Haarpracht. „Auch das haben Sie gut erkannt, wenn ich ganz kühn anmerken darf.“, erklang es diesmal gesonnter, ehe er seine Kehle mit einem weiteren Schluck des edlen Getränks erfrischte und ihr mädchenhaftes Lachen vernahm. Man sah sich nach kurzem Schweigen wieder an. „Kommen eigentlich große Personalverä-“, begann sie zu sprechen als sie weiter entfernt in Leons Richtung irgendwas zu entdecken schien, das dem Sichtfeld des jungen Mannes jedoch entzogen war. „…Mir scheint, als wolle jemand Sie dringend sprechen, Mister Kennedy…“, deutete sie dezent auf einen Herrn, der tatsächlich versuchte Leons Aufmerksamkeit zu erregen, indem er ihn zu sich herwinkte. Ohne zu zögern sah er nun selbst in jene Richtung und als er den Mann auch entdeckte, stellte er sich in seinem Kopf wohl die Frage des Abends schlechthin: Wann durfte er sich endlich einmal entspannen und das Fest genießen, ohne immer wieder von irgendwelchen Beileidsbekundungen fremder Unternehmer oder geschäftlichen Ideen zu hören? „Mhh… und ich wünschte, Sie hätten mich nicht darauf hingewiesen, Miss.“, gab er nachdenklich, aber nicht verärgert klingend zu verstehen und spielte dem Mann aus der Entfernung gute Miene vor, hob sein Champagnerglas zum Gruß und mit angedeutetem Nicken in die Höhe. Ihr bedauerndes Schulterzucken entging ihm und ehe er sich Miss Ellis wieder direkt zuwandte, bedeutete er dem Unternehmer noch, dass er gleich auf ihn zukäme. „Was ich nämlich gar nicht schätze, ist es, wenn meine Verschnaufpausen deutlich weniger als 20 Minuten andauern, vor allem, wenn sie so angenehm sind, wie diese hier.“, ließ er noch einmal etwas von seinem Charme sprühen, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und schenkte ihr eines seiner smarten Schmunzeln. „Leider werde ich Sie jetzt trotzdem alleine lassen müssen. Gäben Sie mir die Chance, Sie weitaus ungestörter und näher kennen lernen zu dürfen, Miss Ellis? Ich würde mich sehr freuen. Das Chez Jean böte sich hervorragend dafür an.“ Nägel mit Köpfen. Ihr erfreutes Lächeln verwandelte sich bei seiner Frage in ein überraschtes O. „A-Also… natürlich, sehr gerne…“, begann sie stockend zu antworten, als schon wieder jemand ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. „Oh und da sehe ich meinen Vater – er ist anscheinend gekommen, um mich zu holen…“ Ihr liebliches Schmunzeln ließ Leons wieder deutlicher werden. „Für den Moment trennen sich unsere Wege also. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“, machte sie einen leichten Knicks und sah ihm in die Augen. „Den wünsche ich ebenso und grüßen Sie Ihren Vater von mir. Ach, und vergessen Sie nicht: Ich hole Sie übermorgen Abend - um Sieben - ab.“ Er hob die Hand verhalten zum Abschiedswink und sah sie durch die Mengen huschen. Als sie schließlich aus seinem Blickfeld verschwunden und er alleine war, waren es Eindruck und Lächeln, welche noch blieben und ihm Gesellschaft leisteten. Eindruck. Zufrieden in Gedanken nickte er über diesen Erfolg, in Sicherheit wogend gute Karten zu haben. Ja, so langsam aber sicher wollten die Dinge ihren Lauf nehmen... Bald leitete er die Oper als hätte er es schon immer getan und auch auf zwischenmenschlicher Ebene würde es nicht anders aussehen. Leon wusste, was er in seinem jungen Leben noch brauchte, wusste, was genau das Richtige für ihn war und dass er unter keinen Umständen der Welt aufgäbe, es mit allen Mitteln nicht einfach nur für sich zu gewinnen, sondern es auch dauerhaft an sich zu binden. Nur, wer das konnte, blieb erfolgreich. Nur, wer dazu fähig war, blieb im Spiel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)