The Cursed and the Curious von -Moonshine- ================================================================================ Kapitel 2: 23.04.2001 --------------------- Haley seufzte zum wiederholten Male und blieb stehen. Schon seit geraumer Zeit tigerte sie in der Küche ihres Elternhauses auf und ab, während ihre gesamte Familie sich im Krankenhaus befand. Nun ja, nicht ihre ganze Familie. Ihr Vater arbeitete, aber der Rest, bestehend aus ihrer Schwester, deren Ehemann und ihrer Mutter, war aufgebrochen zum wohl freudigsten Ereignis dieses Jahres – ach was! Des ganzen Jahrzehnts! Haley hatte mitkommen wollen, aber Macy hatte ihr aufgetragen zu Hause zu bleiben und auf Dad zu warten. Da dieser sich seit Jahren weigerte, sich ein Handy anzuschaffen, war er unerreichbar. Normalerweise hätten sie ihn in seinem Laden unten in der Stadt angerufen, aber auch dort war er momentan nicht aufzufinden. Mal wieder war er auf einer „Möbel-Mission“, wie er es nannte. Es bedeutete, dass er durch die Gegend tuckerte und antike Möbel einkaufte, die ihm irgendjemand angeboten hatte. Es stand also in den Sternen geschrieben, wann er nach Hause kommen würde. Und solange musste Haley hier auf ihn warten. Ein undankbarer Job! Sie warf einen Blick auf die Uhr über der Tür und beobachtete den Sekundenzeiger. Wie um sie zu verspotten, bewegte er sich von Sekunde zu Sekunde langsamer - zumindest kam es ihr so vor. Sie war aufgeregt und wollte Macy heute unbedingt beistehen, wenn diese ihr erstes Kind zur Welt brachte, aber nicht mal was wurde ihr gestattet. Haley versuchte den Gedanken aus ihrem Kopf zu verdrängen, dass sie ihrer Familie anscheinend nicht wichtig genug war, um bei diesem Ereignis dabei sein zu dürfen. Außerdem hatte sie eigentlich noch genug anderes zu tun - und Macy wusste das. Wahrscheinlich hatte sie Haley auch aus diesem Grund angeordnet, daheim zu bleiben. Sie kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass Haley sich würde ablenken müssen von der ganzen elenden Warterei. Ja, entschied Haley. Sie musste dringend noch ein paar Fotos machen. Der Abgabetermin war schon nächste Woche und bis dahin brauchte sie noch dringend ein paar Fotografien von besonderen Bauten. Das Problem war nur, dass es sich in einer Kleinstadt wie diesen hier nicht allzu viel großartige Architektur finden ließ. Sie beschloss, einfach mal durch die Gegend zu spazieren und sich umzuschauen. Vielleicht würde sie ja etwas Neues entdecken oder sie würde etwas Altes in neuem Licht sehen. Sie schnappte sich ihre Kamera, hängte sie sich um den Hals und schlüpfte in ihre Sneakers, die vor der Tür standen. Nachdem sie die Tür abgeschlossen hatte, machte sie sich auf den Weg. Sie schlenderte vorbei an Nachbarhäusern und Gärten, doch alles schien so zu sein wie immer. Die gleichen Häuser, die gleichen Vorgärten, die gleichen Pflanzen, Hunde, Menschen. Nur älter. Als sie am Ende der Straße ankam, an der Kreuzung zur Appletree Ave, entdeckte sie einen Pfad, der in den Wald führte. Haley musste daran denken, wie sie früher als Kinder über diesen Weg immer in den Wald gelangt waren, um dort zu zelten oder Beeren zu suchen oder sich mit Freundinnen zu geheimen Clubtreffen in Baumhäusern zu treffen, die ihre Väter für sie gebaut hatten. Oder, viel später natürlich, zu heimlichen Dates im Gehölz - mit Jungs. Ohne nachzudenken bog sie in den Wald und folgte dem Pfad. Dabei strömten Erinnerungen auf sie ein. Es war schon lustig, dass Macy und Devin geheiratet hatten. Die beiden mochten sich schon von klein auf, aber niemals hätte Haley gedacht, dass es wirklich so lange halten würde. Sie erinnerte sich daran, wie sie einmal, mit zwölf Jahren, in Macy's Zimmer gestürmt kam und sie mit Devin knutschend auf dem Bett vorgefunden hatte. Anstatt sich zu entschuldigen und sich wieder dezent zu entfernen, war sie wie angewurzelt stehen geblieben, hatte den Mund nicht mehr zubekommen und beide angestarrt, bis Macy sie fluchend aus dem Zimmer jagte. Haley grinste. Gott, musste ihrer Schwester das peinlich gewesen sein. Aber es hatte auch etwas Gutes gehabt - sie hatte endlich etwas, mit dem sie Macy im Zweifelsfall erpressen konnte. Gedankenverloren schlenderte Haley weiter, bis sie sich plötzlich an jenem Ort wiederbefand, den sie damals am liebsten gehabt hatte: der Lagerfeuerplatz. Noch immer war er sich an genau derselben Stelle und sie sah an den kalten, schwarzen Kohlen, dass hier vor kurzem wieder irgendjemand gewesen war, um Feuer zu machen. Als sie den Müll und die leeren Bierflaschen bemerkte, die hier und da verteilt auf dem moosbewachsenen Waldboden herumlagen, runzelte sie die Stirn. Es schien, als sei das nicht mehr der Ort für Kinder und Gruselgeschichten und Abenteuer, sondern für Jugendliche mit ihren heimlichen Vorlieben wie Zigaretten und Alkohol, die es vor ihren Eltern zu verstecken galt. Eine nostalgische Enttäuschung ereilte sie. Die Erkenntnis war für sie so erschreckend und plötzlich, dass sie erst einmal stehen bleiben und die Szenerie betrachten musste. Wie konnte man aus einem so schönen Ort etwas so... Schmutziges machen? Die heutige Jugend hatte einfach keinen Sinn mehr für das wirklich Schöne im Leben. "Ich hör mich an wie meine Mutter", murmelte Haley dann leise zu sich selbst und schüttelte amüsiert den Kopf, während sie sich abwandte. Hier wollte sie nicht mehr bleiben. Den Ort der Gespenstergeschichten wollte sie lieber so in Erinnerung behalten, wie er früher gewesen war. Sie würde einfach ausblenden, dass sie diesen Saustall gesehen hatte. Als sie der Lichtung den Rücken zuwandte, griff sie nach ihrer Kamera. Die Dämmerung setzte langsam ein und spätestens in einer halben Stunde würde es dunkel werden. Das Licht, das durch die Baumkronen fiel, war golden und warm und irgendwie auch traurig - es war genau das richtige, um jetzt Fotos von der Landschaft zu machen. Während sie versuchte, die Sonnenstrahlen und die sentimentale Stimmung, die sie überkommen hatte, in ihrem Bild einzufangen, merkte sie irgendwann, wohin ihr Weg sie unbewusst führte. Natürlich!, schoss es ihr durch den Kopf. Das Haus! Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als der Gedanke sie bebend durchzuckte. Das Haus - es war der perfekte Ort für ihre Fotografien. Haley liebte es in ihrer Freizeit düstere und geheimnisvolle Plätze zu fotografieren. Ob es nun ein kahler Baum im herbstlichen Nebel war oder eine verlassene Parkbank bei Nacht - alles Geheimnisvolle hatte es ihr angetan, schon damals. Und das Haus wäre die perfekte Kulisse. Vorausgesetzt natürlich, es stand noch und war nicht bereits abgerissen worden. Nicht lange musste sie gehen, um ihren Zielort endlich zu erreichen. Nichts hatte sich hier verändert - der Ort sah noch genauso aus wie damals. Und es war noch nicht einmal dunkel geworden - sie würde also keine Taschenlampe brauchen. Das war die perfekte Ablenkung. Langsam betrat sie den Garten. Das Gatter stand halboffen und auch das Schloss der Tür war noch immer nicht repariert worden. Und wer sollte sich auch darum kümmern? Haley bemerkte den Müll, der im Vorgarten lag. Bierflaschen und Papierverpackungen eines bekannten Fast Food-Restaurants bedeckten die Fläche und hingen im Gebüsch. Nicht einmal vor einem Ort wie diesem schreckten die Jugendlichen zurück. Sie schüttelte den Kopf und zielte mit der Kamera nach oben. Eine Aufnahme von unten erwies sich immer gut - die schmutzige, bewachsenen Fassade, die kaputten Fensterläden, der düstere Himmel. Manche Leute bezahlen für solche Bilder ein Heidengeld. Haley betrat das Haus, doch sie hielt sich nicht lange im Erdgeschoss auf. Vorsichtig wie damals stieg sie die Treppe hoch und bemerkte dabei, dass noch ein paar Stufen mehr eingebrochen waren. Ganz offensichtlich war das Hau seit damals von mehreren Personen betreten worden - was ja auch kein Wunder war, wenn man sich überlegte, wie viele betrunkene Halbwüchsige hier nachts herumschlichen. Ihr Ziel war das Zimmer von damals. Das mit dem alten Sekretär und dem Schaukelstuhl und dem Fenster, das sich so schwer hatte öffnen lassen. Eine Tür von einem der Zimmer, die aus dem Flur im oberen Stockwerk wegführten, war eingebrochen und sie erkannte ein Badezimmer mit einer altmodischen Badewanne auf Metallbeinen und ein gelbliches Waschbecken, das diverse Risse aufwies und aus dem ein Flaschenhals herauslugte. Dann legte sie die Hand auf den Türknauf des Schaukelstuhlzimmers. Sie drehte - und die Tür öffnete sich. Seltsamerweise sah in dem Raum alles noch genauso aus wie damals. Es lag kein Müll herum, keine leeren Flaschen. Nur eine dicke Schicht Staub bedeckte die Möbel und ein abartiger Geruch nach Schimmelpilzen lag in der Luft. Nach Schimmel und nach... Haley überlegte. Maden. Ja. Das war's! Sie rümpfte die Nase. Was ihr vor vierzehn Jahren abenteuerlich und gruselig vorgekommen war, war jetzt einfach nur noch eklig. Aber was für großartige Bilder würde sie machen können! Sie trat ans Fenster und fotografierte durch das staubige Fensterglas hinaus in den Garten, was dem Bild etwas Gespenstisches verlieh. Dann zielte sie auf die Spinnweben, die sich in den Ecken des Bücherregals tummelten und drückte wieder den Abzug. Die Sonne am Horizont schickte ihre letzten Strahlen auf die Erde, aber die Schatten im Inneren des Hauses waren zu groß, als dass das Licht das Zimmer erreichen konnte. Gedankenverloren fuhr Haley mit dem Finger über die Staubschicht auf einem der Regalbretter, als sie hinter sich ein Knarren hörte. Die Situation kam ihr irgendwie bekannt vor. Ganz langsam drehte sie sich um. Der Schaukelstuhl - er wiegte sich langsam vor und zurück. Doch was noch schlimmer war - es saß jemand drin! Haley stockte der Atem, als sie diese Person - wenn man es denn so nennen konnte - erblickte. Es war keine menschliche Gestalt, sondern sah vielmehr aus wie eine Mumie. Eine mumifizierte Leiche, um genauer zu sein. Eine Gänsehaut überkam Haley und sie linste zur Tür. Sie wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, aber etwas hielt sie davon ab. Dieses Etwas war die Tatsache, dass das Skelett, das mit der dünnen, ledernen Hautschicht überzogen war und dessen Mund zu einem bitteren Grinsen, bestehend aus schwarzen Zähnen, verzogen war, Kleidung anhatte. Zerrissene, schmutzige Fetzen, die an ihren Knochen hingen. Dieser Mensch war tot. Soviel wusste Haley. Und dieser Mensch war schon sehr lange tot! Erlaubte sich hier einer einen Scherz mit ihr? Hatten die Jugendlichen, die hier überall ihren Müll verteilt hatten, das etwa eingefädelt, um sich gegenseitig in Angst und Schrecken zu versetzen? Sie dachte an die Mutprobe, die sie damals hatte machen müssen. Vielleicht war sie ja ein bisschen ausgebaut und aufgepeppt worden seit damals? Sie wollte so etwas nicht sehen. Aber die morbide Faszination ließ sie nicht los. Und obwohl sie ihren Beinen befahl, langsam den Weg zum Ausgang einzuschlagen, konnte sie nicht verhindern, dass sich ihr Körper der grauenhaften Gestalt näherte. Sie betrachtete die tiefliegenden, dunklen Augenhöhlen und die eingefallenen Wangen. War das wirklich echt? Haley zögerte. Das konnte sie nicht glauben. Wer würde so wagemutig sein, eine Leiche in einen Schaukelstuhl zu setzen? Sie streckte die Hand aus - aber dann hörte sie eine altbekannte Melodie. Ihr Handy! Verwirrt ob der Unterbrechung griff sie in ihre Jeanstasche und holte ihr Telefon heraus. Macy's Name und Nummer wurden auf dem Display eingeblendet und sie wollte gerade auf die Anrufannahmetaste drücken, als etwas... atmete! Sofort schoss ihr Blick zu der toten Gestalt und im selben Augenblick öffnete diese ihre Augen. Blutunterlaufene, schwarze Augen. Voller Boshaftigkeit. Haley wollte schreien, doch die Stimme blieb in ihrem Hals stecken - nur ein leises Krächzen brachte sie heraus. Das Telefon fiel ihr aus der Hand. Es kam scheppernd auf dem Boden an und klingelte dort weiter. Haley's Gehirn befahl ihr zu rennen. Doch ihre Beine waren wie angewurzelt. Klebten am Boden fest wie einbetoniert. Die Leiche bewegte sich, als ob sie sich aufrecht hinsetzen wollte - ihre Knochen knackten, das Knarren des Schaukelstuhl wurde unerträglich laut. Doch Haley hörte nur ihren eigenen Herzschlag, der in ihren Ohren widerhallte wie hundert Dezibel laute Hammerschläge. Ihr Fuß zuckte - sie tat einen Schritt zurück. Aber mit einer atemraubenden Geschwindigkeit schoss die knorrige Hand der Gestalt hervor und hielt Haley am Handgelenk fest. Der Griff war ungewöhnlich stark - und kalt wie die Nacht. Eine Erkenntnis überkam Haley und sie hörte auf zu zappeln. "L...Lisa?", stammelte sie entsetzt. Das war unmöglich! Unendlich langsam verzog die Mumie das Gesicht und öffnete den Mund - ihr Schlund war schwarz. Stinkend. Haley fühlte dickflüssige, lähmende Dunkelheit um sich herum, als der Griff fester wurde. Das skelettierte, nach Tod stinkende Maul kam näher. Ihr wurde schwarz vor Augen. Endlich hörte das Klingeln des Handys auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)