Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 29: ------------ Ray wusste gar nicht wie es von nun an weitergehen sollte. Seiner Meinung nach rentierte es sich kaum noch, sich aufzuraffen und nach seinen Freunden zu suchen. Ohnehin könnte er ihnen nicht mehr nachhause folgen. Zudem war er eine tickende Zeitbombe, sobald er sich dem Ausgang der Irrlichterwelt näherte. Also verfuhr er doch besser, wenn er gar nicht mehr zu ihnen ging? Vielleicht gaben sie auf und entschieden sich, ohne ihn nachhause zu gehen. Es schmerzte zwar, aber war doch eigentlich die beste Lösung für alle. Um ihn herum rauschten die Blätter sachte im Wind. Die Nacht war ruhig und kühl. Leider ließ das Blätterdach kaum einen Blick auf den Nachthimmel zu. Nur der Mond schaffte es manchmal mit seinen silbrigen Strahlen das Dickicht zu durchbrechen. Ab und an erhaschte er die Gestalt eines Bit Beasts – nur die Kleinen. Er meinte den Schädel eines Marderhundes aus einem Busch hervorlugen zu sehen. Das Wesen spähte neugierig zu ihm herüber, irritiert über den seltsamen Anblick den es hier vorfand. Der Vorfall mit den Hyänen Bit Beasts hätte Ray eigentlich in Erinnerung rufen müssen, dass selbst die kleinsten dieser Wesen gefährlich waren. Es scherte ihn aber nicht mehr. Genauso gut hätte er sich jetzt auch zum Sterben hinlegen können. Irgendwann vernahm er Stimmen die seinen Namen riefen. Es war der Weckruf der ihn aufforderte sich endlich zu erheben. Zum Wohl aller musste er verschwinden. Er hoffe inständig seine Freunde waren so schlau, die Suche bald abzubrechen, um ohne ihn den Heimweg anzutreten. Geradezu betäubt raffte er sich auf. Die Schläfen pochten hart gegen seine Seiten. Er spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Wenn seine Krankheit wirklich schlimmer wurde, sobald er sich dem Ausgang näherte, hatten sie ihr Ziel bald erreicht. Ray taumelte in die entgegengesetzte Richtung und wünschte seinen Freunden von ganzem Herzen, sie mögen noch ein schönes Leben haben. Er hatte sich innerlich von dem Gedanken verabschiedet sie wiederzusehen. Seine Füße taten einen wankenden Schritt vor den anderen. Die Rufe entfernten sich. Das war gut… „Du läufst in die falsche Richtung, Menschenkind.“ Ray blinzelte aus fiebrigen Augen den Spalt hinauf. Im Mondlicht saß eine silbrig glimmende Gestalt. Es kostete ihn viel Anstrengung zu erkennen, dass das Wesen die Figur einer anmutigen Katze besaß. Einen weiteren Blick brauchte es, um die bläulichen Muster auf dem schimmernden Fell auszumachen. Ein mattes Lächeln huschte um seine Mundwinkel. „Galux.“ „Du erkennst mich?“ „Wie könnte ich nicht?“ „Das ehrt mich, Menschenkind.“ Sie besaß eine wundervolle Stimme. Klar und melodisch wie ein Frühlingstag. Doch selbst wenn sie sprach, bewegten sich ihre Lippen nicht. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass ich es dir zu verdanken habe, dass meiner Frau bisher nichts passiert ist.“ Das Bit Beast wirkte überrascht. Es neigte den Kopf zur Seite. „Woher?“ „Von Driger.“ „Ihr habt also bereits miteinander gesprochen...“ Ray nickte. Er hätte sie bitten können ihn nachhause zu führen, doch aufgrund seiner Krankheit war das wohl keine Option mehr. Er könnte sich dem Ausgang ohnehin nicht mehr nähern, ohne dass ihm der Schädel vor Schmerzen bersten wollte. „Warum bist du hier?“ „Ich habe ein Versprechen zu erfüllen. Eine Person die uns beiden sehr am Herzen liegt, wollte dass ich dich zurück nachhause führe.“ Sein Atem stockte als er begriff. „Du hast Mariah getroffen?“ „Ja.“ „Dann weiß sie was passiert ist…“ „Sie ist im Bilde und leidet schlimme Ängste um dich. Es tut mir im Herzen weh, aber ich muss zu meinem Leidwesen gestehen, dass du mich in einen schweren Gewissenskonflikt bringst.“ Galux schaute ihn mitleidig an. „Du musst wissen, dass mir Driger ein ebenso teurer Freund ist, wie meine Mao.“, sie wandte ihr Gesicht zur Seite und fügte leise hinzu. „Vielleicht sogar mehr.“ Ray fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Eine unterschwellige Botschaft lag in diesem Satz, doch sein Geist war viel zu umnebelt ob des brütenden Parasiten in seinem Kopf. Er fühlte sich hundeelend. „Driger und du… Wie nah steht ihr euch?“ „Ich weiß nicht genau. Ein Sterblicher würde wohl behaupten sehr nahe. Er ist mein Meister, aber auch mein Beschützer. Erst vor kurzem hat er seine Hand schützend über mich gehalten, deshalb verzeih mir… aber ich kann dir nicht helfen.“ „Das dachte ich mir fast.“, Ray stützte sich an der Wand der Mulde ab. Die kalte Erde unter seinen Fingern bröckelte leicht. „Dann wirst du erleichtert sein, wenn ich dir sage, dass ich sowieso nicht mehr zurück kann. Für mich ist das Spiel gelaufen.“ „Du meinst wegen dem Geschwür in deinem Kopf?“ Überrascht schaute er auf. „Woher?“ „Die wenigsten wissen, dass ich das Bit Beast der Heilkunde bin. Alle Blumen und Pflanzen die den Lebewesen zur Genesung dienen fallen in mein Gebiet. Deshalb sehe ich auch eine Krankheit noch bevor sie ausbricht.“ „Und du kannst mich trotzdem nicht heilen?“ „Nein.“ Der vage Hoffnungsschimmer wurde erbarmungslos erstickt. „Alles basiert auf den Mächten der Uralten. Auch meine Kraft. Wenn Driger nicht bereit ist, dich von deinem Fluch zu erlösen, kann ich nichts unternehmen. Seine Macht ist wie der festgewachsene Stamm eines Baumes, während ich nur eines seiner vielen Blätter bin, das sich an seiner Energie labt. Versagt er mir diese Energie, kann ich meine Kraft nicht frei entfalten…“ „Er hat kein Hintertürchen offen gehalten.“ „Er denkt vorrausschauend. In der Tat.“ Die Stimmen seiner Freunde waren in der Finsternis verklungen. „Dann verstehe ich aber umso weniger, weshalb du jetzt vor mir stehst. Du kannst nichts für mich tun.“ „Nein. Das ist richtig. Doch pflegen wir Bit Beasts unsere Versprechen sehr ernst zu nehmen. Ein Bündnis kann nicht so einfach gebrochen werden.“ „Worauf willst du hinaus?“ Galux beugte ihr Haupt. Es kam Ray vor als wolle sie eine Bitte vortragen. „Es gibt nur zwei Menschen, die mich hier und jetzt, von diesem Bündnis freisprechen können. Mao und du. Euch beide betrifft nämlich der Schwur den ich ihr gab. Daher ersuche ich dich, mich von dem Versprechen das ich ihr gab, zu befreien.“ „Und wenn ich es nicht tue?“ „Dann ist mein Leben nichts mehr wert. Ich kann dann weder Driger noch Mao gerecht werden, da ich ohnehin nichts an deiner Situation ändern kann, aber ihn trotzdem verraten müsste.“ Eine andere Idee entstand in Rays Kopf. Galux mochte Recht haben, was seine Lage betraf, doch die Bündnistreue von Bit Beasts, könnte zumindest jemand anderem zu Gute kommen. So wäre er zumindest fähig seinen Freunden gegenüber Genugtuung zu leisten. „Ich entlasse dich nur unter einer Bedingung aus deinem Schwur.“ Hoffnungsvoll schaute sie auf. „Du musst meine Freunde heil aus der Irrlichterwelt führen.“ Galux zuckte augenblicklich zurück. „Das ist grausam.“ „Ganz und gar nicht. Damit dürftest du Driger nicht in die Quere kommen. Du hast selbst gesagt das er dein Meister ist. Was die anderen Uralten mit meinen Freunden am Hut haben, dürfte dir also egal sein!“ „Ja aber du zwingst mich einen unmöglichen Schwur, gegen einen anderen unmöglichen Schwur zu tauschen. Wie soll ich es schaffen deine Freunde unter den Augen der Uralten hinauszuführen?“ „Tut mir Leid, aber darauf kann ich beim besten Willen keine Rücksicht nehmen.“, antwortete Ray eisern. „Ich verstehe deine missliche Lage und das du, was mich betrifft, zwischen den Stühlen stehst, aber was die anderen angeht, dürfte der Gewissenskonflikt nicht da sein. Du bist Driger Rechenschaft schuldig, nicht aber den anderen Uralten. Also sehe ich keinen Grund, weshalb du nicht wenigstens ihnen helfen könntest! Dafür werde ich keine weiteren Forderungen stellen was mich angeht. Du wirst Mao sagen können, dass ich freiwillig hier geblieben bin.“ „Wie tückisch.“ Sie wandte den Kopf zur Seite und verstummte. Scheinbar schien Galux seinen Vorschlag zumindest zu überdenken und die bessere Variante für sich abzuwägen. „Aber gut... Diese Bitte werde ich dir nicht abschlagen. Ich werde mein Möglichstes tun um deine Freunde in die Freiheit zu führen.“ „Ich will nicht dein Möglichstes. Schwör mir, auf alles was einem Bit Beast heilig ist, dass du sie nachhause bringst!“ „Du lässt keinerlei Spielraum zu. Deine Vorsicht erinnert mich an Driger.“ Ray knirschte angesäuert mit den Zähnen. In seiner jetzigen Lage hätte sie sich denken können, dass das für ihn kein Kompliment war. Dennoch fuhr er fort. „Richte ihnen noch von mir aus, dass es mir Leid tut was ich Max angetan habe. Ich wollte ihm niemals absichtlich wehtun und ich hoffe dass sie mir verzeihen. Sie müssen aber unbedingt ohne mich nachhause gehen! Erklär ihnen weshalb und das es für mich keinen anderen Ausweg mehr gibt… und das ich nicht möchte das sie sich meinetwegen Vorwürfe machen.“ Zum Ende hin wurde ihm immer schwerer ums Herz. Sie schaute ihn lange an und nickte letztendlich. „Noch etwas?“ Er dachte nach. Ihm fiel tatsächlich noch etwas ein. Einen Moment befürchtete er, seine Freunde würden dieser Bitte nicht nachkommen, doch der Zweifel wurde schnell erstickt. Sie würden ihm diesen Wunsch keinesfalls abschlagen. Egal was zwischen ihnen vorgefallen war, dazu kannte er sie einfach zu gut. Sie waren untereinander nie nachtragend gewesen. Das machte ihre Freundschaft einfach aus. „Ja. Sag ihnen sie sollen sich bitte um meine Frau kümmern.“ Ray blickte traurig zu Boden. „Und richte ihr aus das ich sie liebe. Ich wünsche jedem von ihnen viel Glück.“ „Du beweist viel Edelmut, Menschenkind.“ Er lachte trocken auf. „Hast du eine Ahnung. Ich würde am liebsten meine Verzweiflung hinausbrüllen, weil ich eine Heidenangst vor dem Leben hier habe…“ „Angst ist kein Zeichen von Schwäche. Du akzeptierst deine Strafe und das beweist wahre Größe. Sollte ich irgendwann dein Kind bei Mao antreffen, werde ich sie wissen lassen, wie tapfer ihr Vater war.“ „Ihr?“, Rays Kehle wurde kratzig. Ihm klappte die Kinnlade hinunter und er starrte das Bit Beast wie vom Donner gerührt an. Seine Stimme war rau als er die nächste Frage stellte. „Es wird ein Mädchen?“ Galux schien wissend zu lächeln. „Sie wird deine Augen haben.“ „Woher weißt du…“, die Frage war unnötig. Ihm wurde klar dass er ein Bit Beast vor sich hatte. Einen kurzen Moment fragte sich Ray, ob Galux ihm beantworten konnte, ob er tatsächlich der Vater war. Doch sie hatte bereits gesagt, dass seine Tochter, seine Augen hätte. Als habe das Bit Beast seine Gedanken gelesen, sprach es: „Und ja. Sie ist deine Tochter. Deine Mao hat dich nie betrogen. Es war die Angst China zu verlassen, die sie in diesem Moment zu diesen harten Worten verleitet hat. Du hast schon immer einen festen Platz in ihrem Herzen gehabt.“ Aus irgendeinem Grund musste er an Kai denken – an jenen Tag als er seine Schwester zum ersten Mal in den Armen hielt. Man hatte förmlich gespürt, wie dieser Moment ihn veränderte. Das kleine, hilfsbedürftige Wesen hatte damals verschlafen zu ihm auf geblinzelt, während ihr leises Fiepen ein zögerliches Lächeln um dessen Mundwinkeln zauberte. Ray würde seine Tochter niemals so halten können… Durch den Streit waren Mao und er noch nicht einmal dazu gekommen, sich einen Namen auszusuchen. Er würde hier leben. In der Gewissheit eine Tochter zu haben, für die er nicht da sein konnte - deren Namen er nicht einmal kannte. Die Zeit würde in der Menschenwelt vergehen. Sie würde älter werden, während Ray hier nicht alterte. Und irgendwann… Irgendwann würde es auch sie nicht mehr geben. Der aufkommende Tränenfilm trübte Ray die Sicht. Er blinzelte ihn weg, denn er weigerte sich, an der Situation zu verzweifeln. Sein Ehrgefühl ließ nicht zu, dass er seine Fassung verlor. Er würde standhaft bleiben. In seiner Vorstellung sah er ein kleines Mädchen im Garten vor seinem Haus spielen. Hoffentlich blieb Mao doch in China. In diesem Haus, was er Stein für Stein, mit seinen eigenen Händen, in mühsamer Arbeit zusammengesetzt hatte. Dort wären beide gut aufgehoben. Die Gewissheit dass Mariah noch Lee als helfende Hand besaß und auch seine Freunde ihr, trotz der Entfernung, immer beistehen könnten, tröstete ihn. Seine Stimme war belegt ob dem Kloß im Hals. „Danke Galux.“ Erneut nickte das Bit Beast andächtig. Sie wandte sich zum Gehen ab, doch hielt noch einen Moment inne. Dann warf sie ihm über die Schulter hinweg einen mitleidigen Blick zu. „Falls es dir ein Trost sein sollte, ich beginne zu verstehen wie ihr Menschen empfindet.“ „Ja?“, fragte Ray monoton. „Ich wünschte diese Erkenntnis käme auch über Driger.“ Damit ließ er Galux stehen und schritt mit taumelnden Schritten fort… * Rika schnaufte als sie den Getränkekasten die Kellertreppe hochschleppte. Die Sakeflaschen klirrten bei jeder Stufe. Sie war leicht angesäuert, denn das schien ihr keine geeignete Aufgabe für eine junge Frau. Doch Klagen würde sie nicht. In dieser Großstadt fand sich selten noch ein Nebenverdienst der so gut bezahlt war. Aufgrund ihrer Schwangerschaft hatte sie die Schule abgebrochen. Deshalb hangelte sie sich von einem Job zum nächsten. Es war nicht einfach, doch sie konnte von Glück reden, dass ihre Eltern ihr beistanden. Sie waren geschockt gewesen, als sie ihnen berichtete, dass ein Kind auf dem Weg war, dessen Vater kaum genug Yen besaß, um sein klappriges Auto zu finanzieren, doch sie hatten Rika dennoch nicht verstoßen. Ihre Familie war modern und scherte sich nicht darum, ihr Kind zu verleugnen, nur um das Gesicht in der Öffentlichkeit zu wahren. Und als sie ihren Enkel endlich in den Armen hielten, war es um sie ohnehin geschehen. Das war keine Selbstverständlichkeit. Für viele Japaner galt nach wie vor, das die Ehre der Familie an oberster Priorität stand. Verliere nicht dein Gesicht. Trage jedes Leid mit einem Lächeln. Zumindest den letzten Grundsatz würde Rika in Ehren halten. Sie hielt ihren Eltern ihre aufgeschlossene Ansicht immer zu Gute. Es war ihr Ansporn alles zu geben und da ihr Freund sich ebenso ins Zeug legte, sich von einem Schichtbetrieb zum Nächsten hangelnde, stand es für Rika außer Frage, dass auch sie etwas zu den Finanzen beitragen musste. Ihre Eltern unterstützten diese Entscheidung und so wusste sie ihren süßen Sohn in fürsorglichen großelterlichen Händen. Die Aussicht ihm bald wieder in seine dicken kleinen Backen kneifen zu können, beflügelten sie in ihrer Arbeit. Es war erstaunlich wie sehr Kinder einen Menschen verändern konnten… Als sie am oberen Treppenabsatz angelangt war, stöhnte sie entnervt. Die Tür war wieder zugefallen. Rika stellte den Kasten ab und drückte sich mit ganzem Körpereinsatz gegen das Holz. Es war ein renovierungsbedürftiges Gebäude und die Tür klemmte ständig. Dennoch lief die Bar relativ gut und der Besitzer hatte ihr erzählt, dass er Geld zur Seite legte, um diesen Schuppen nächstes Jahr endlich zu restaurieren. Aus dem unbenutzten oberen Stockwerk sollte eine Wohnung werden und da er ihren Arbeitseifer schätze und auch im Bilde ihrer ungeschickten finanziellen Situation war, schlug er ihr vor dort oben einzuziehen – zu einem fairen Mietpreis. Rika hatte Tränen in den Augen gehabt und sich bei ihm tausendmal für seine Großzügigkeit bedankt. Seine Lachfalten waren hervorgetreten und er klopfte ihr warmherzig auf die Schulter. „Na, na, na… Erhofft euch mal nicht zu viel. Aus fünfundsechzig Quadratmetern lässt sich leider kein Spa zaubern.“ Rika hatte bis über beide Ohren gestrahlt und ihm geantwortet, dass man ein Zuhause nicht an der Anzahl der Quadratmeter maß, sondern an der Liebe die dort einzog. Kurz nachdem sie ihrem Freund davon erzählte, hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Er versprach ihr, sein Bestmöglichstes zu geben, um das nötige Geld für eine schöne Hochzeit aufzutreiben, selbst wenn er auf allen Vieren durch die Gegend kriechen sollte. „Sieh uns an, Rika! Wir schreiben rote Zahlen auf den Kontoauszügen, aber sind dafür umso reicher an Freunden! Kann so ein kleines Stück Papier das beziffern?“ Dieses schelmische Grinsen war auf seine Lippen getreten. Er zog sie in eine Umarmung und da ihr Glück sie überwältigte, konnte sie nicht an sich halten und hatte angefangen zu heulen wie ein kleines Mädchen. So nervenaufreibend die letzten drei Jahre noch waren… Es ging endlich bergauf. Durch die billigere Wohnung über ihrem Arbeitsplatz wäre sie nicht auf den Zug angewiesen. Auch die Firma ihres Freundes wäre nun mit dem Fahrrad erreichbar. Er wollte das Auto vorerst verkaufen, um Versicherung und Sprit zu sparen. Mit jedem Monat würden sie der Hochzeit einen Schritt näher kommen und das obwohl ihre Schwiegereltern nichts mehr von ihrem Verlobten wissen wollten – sie hatten ihn verstoßen. Die Schande war zu groß für seine Familie. Bei diesem Gedanken gab Rika der Tür einen solch heftigen Tritt, dass das Holz bald aus den Angeln flog. Etwas erschrocken über diesen kleinen emotionalen Ausbruch, zog sie den Kopf zwischen die Schulter und blickte ertappt drein. Doch es schien alles noch ganz. Sie tippelte vorsichtig mit dem Kasten aus dem Türrahmen, froh dass niemand sie im Hinterhof sehen konnte, als ihr vor Schreck beinahe der Kasten aus den Fingern entglitt. Im Zwielicht machte sie den Umriss einer strauchelnden Person aus, die ihr dem Rücken zugewandt im Hof stand. Sie wippte leicht. Sicherlich ein Betrunkener. Heute war schließlich Halloween. Daher gaben sich so manche Leute die Kante, aber der Abend war noch jung, daher musste dieser Mann schon recht früh ins Glas geschaut haben. Die Parade würde erst gegen 19 Uhr losgehen. Über solche Leute konnte Rika nur den Kopf schütteln. Etwas Zurückhaltung wäre jetzt noch angebracht, aber Männer waren ohnehin viel unvernünftiger als Frauen, was Alkohol betraf. „Entschuldigung, aber dieser Hof ist nur für das Personal.“, rief sie ihm zu. Er rührte sich jedoch nicht. Stattdessen kippte sein Kopf träge von einer auf die andere Seite. Ihr wurde mulmig. Sie wusste dass manche Menschen sich an Halloween einen Spaß machten, ihre Freunde zu erschrecken. Letztes Jahr kam sie in den Genuss eines ziemlich üblen Streichs. Die Frau des Besitzers lag hinter dem Fenster der Damentoilette auf der Lauer – als Ringu Geist verkleidet. Rika hatte gekreischt wie am Spieß und war kaum dazu gekommen, ihr Höschen wieder hochzuziehen, so panisch sprang sie vom Toilettensitz auf. Die Besitzerin hatte ihre Freude daran. Was für ein Spaßvogel… „Verzeihung, aber ich muss sie bitten diesen Bereich zu verlassen. Er ist lediglich für das Personal bestimmt.“, wies sie erneut den Gast zu Recht. Dieses Mal kam eine Reaktion. Taumelnd wandte er sich zu ihr um. Eine Gänsehaut fuhr über ihren gesamten Körper. Er war leichenblass und hatte sich trübe weiße Kontaktlinsen eingesetzt. Sein Haar war ergraut. Ein hervorragendes Halloweenkostüm. Sicherlich stellte er einen Zombie dar. „Kalt…“ „Wie bitte?“ „Kalt…“, wiederholte er. „Ist ihnen nicht gut?“ Sie bemerkte dass er zitterte. Bestimmt war ihm zum Kotzen zu Mute und war hier hinausgekommen, um sich zu übergeben. Dieses Spiel kannte sie zur Genüge. Ihr war jedoch nicht wohl, dass sie alleine mit ihm im Hinterhof stand. Betrunkene konnten manchmal unberechenbar werden und wie immer wenn sie ihr Pfefferspray brauchte, lag es außer Reichweite in ihrer Handtasche. Rika wollte bereits in die Bar huschen und ihren Chef darauf hinweisen, dass sich hier draußen jemand herumtrieb. Mit seinen massigen Pranken konnte er jeden des Hauses verweisen, da fiel ihr Blick auf ein glimmendes Objekt in den Händen des Fremden – es schien ein Ei zu sein. Sie starrte wie gebannt darauf, denn in seinem Inneren pulsierte etwas, was wie ein Herzschlag wirkte. „Kalt...“ Es fiel ihr schwer die Augen von dem Objekt abzuwenden. Rika blinzelte irritiert. „Ich hole eine Decke.“, log sie hilfsbereit und wollte den Besitzer holen. Da kam der fremde Mann ihr wankend näher und streckte ihr das Ei entgegen. „Gib ihr Wärme...“ Es sah kostbar aus. Es musste kostbar sein! So ein merkwürdiges Ei hatte Rika noch nie gesehen… „Gib ihr Wärme.“, hörte sie den Mann erneut raunen. Nur wenige Meter trennten sie noch. Augenblicklich fragte sie sich wie sich das Ei anfühlen mochte. Es schien warm zu sein und desto näher er ihr kam, desto drängender wurde der Wunsch es anzufassen. Sie konnte spüren wie ihre Haut förmlich anfing zu prickeln, dabei merkte sie schon gar nicht mehr wie ihr eigentliches Vorhaben verpuffte. Er kam vor ihr zum Stehen, da hörte sie nur noch vage, wie einige Leute auf dem Gehweg hinter der Mauer lachend sprachen. Rika hätte die Tür zum Hinterhof abschließen sollen, doch soweit dachte sie schon gar nicht mehr. Als er ihr das Ei anbietend entgegen hielt, stellte sie langsam den Kasten ab. Die Flaschen klirrten kaum, so unendlich sacht war ihre Bewegung. Ihr verschwamm die Sicht. Eine Nebeldecke schirmte alles ab, selbst den Mann der ihr die Kostbarkeit entgegenstreckte. Wie bei einem Tunnelblick. Nicht einmal das Gesicht wollte sich ihr Recht offenbaren. Da waren nur zwei blasse Hände die das glühende Ei hielten. Es pulsierte immer stärker, als freute es sich, Rika zu sehen. Sie sah ihre eigenen Finger danach greifen. Es war seltsam… Ihre Hände handelten ganz von alleine. Als wäre sie nicht mehr Herrin ihres eigenen Körpers. Sie schien diesem seltsamen Schauspiel wie ein stummer Zuschauer beizuwohnen. Das Prickeln wurde stärker, mit jedem Millimeter, dem sie sich der Schale näherte. Als ihre Fingerkuppen endlich Körperkontakt zu dem Objekt aufbauten, durchfuhr es sie wie eine Welle. Ihr Atem ging schnell, sie stöhnte auf und ihr versagten die Beine. Rika nahm das Ei, umschlag es regelrecht und sank langsam auf die Knie. Die Tür hinter ihr schwang auf. Sie vernahm es nicht mehr. Dafür aber der Fremde. Er torkelte auf die neueingetroffene Gestalt zu und raunte auch der zu: „Gib ihr Wärme.“ * „Das ist ärgerlich.“, sprach Allegro. Sie waren an einem kleinen Bach vorbeigekommen und schauten betroffen auf das plätschernde Wasser. „Das ruiniert mir meine Fährte.“ Max stöhnte. „Das darf doch nicht wahr sein! Wo kann er nur abgeblieben sein?!“ „Meine Herren, es hat keinen Zweck. Ich muss darauf bestehen alleine weiterzusuchen.“ „Das steht nicht zur Debatte.“ „Aber Tyson, denk doch nach mein Junge. Ihr könnt kaum etwas sehen, die Fackeln sind bald heruntergebrannt und ich habe das andere Ufer viel schneller nach Rays Fährte auf eigener Faust durchschnüffelt, als mit euch im Schlepptau.“ Hilfesuchend schaute Tyson zu Max. „Was denkst du?“ „Ich weiß es nicht. Ehrlich.“, er leuchtete unbeholfen mit der Fackel die Gegend ab. Allgemeine Ratslosigkeit machte die Runde. „Vielleicht wäre es besser wenn wir uns aufteilen?“ „Nein, nein, nein!“, pochte Allegro auf Tysons Schulter mit dem Hinterbein auf. „Ihr bleibt zusammen. Es ist leichter eine Gruppe zu finden als zwei Teile davon, welche allesamt ziellos durch den Dschungel herumirren.“ Er sprang auf einen Felsen und gestikulierte mit den Fäustchen. „Nun seid doch vernünftig! Wartet hier auf mich, ich komme schon klar!“ „Aber Dragoon…“ „Ich habe keine Furcht vor dem Halunken!“, sprach er standhaft. „Welch törichte Worte, von einem törichten Wesen.“ Die Gruppe fuhr herum. Tyson leuchtete in die Gegend aus der sie die Stimme vernommen hatten. Zunächst konnte er nichts ausmachen, bis Kai neben ihm an seinem Ärmel zerrte. Als er hinabblickte wies das Kind hoch in den Himmel. „Schau, da oben!“ Er folgte dem Fingerzeig und machte auf einem Ast eine silbrige Gestalt aus. Zunächst erschrak er. Der Anblick war keinesfalls beängstigend, doch mittlerweile war das Misstrauen gegenüber Bit Beasts, in ihrer aller Seelen, so fest verankert, dass er auch einem hübschen Katzen Bit Beast jede erdenkliche Bosheit zutraute. Wolborg hatte auch mit ihrem schönen Gesicht über ihre eigentlichen Absichten hinweggetäuscht. Niemand konnte garantieren dass es jetzt nicht anders war. Er schielte beiläufig zu Allegro, doch der Mäuserich war erstarrt. Katze und Maus… Als Tyson dies klar wurde, stellte er sich schützend vor ihm auf. Das hätte ihnen gerade noch gefehlt, wenn ihr treuer Begleiter im Rachen seines natürlichen Fressfeinds verschwand. „Du kommst mir bekannt vor.“, meinte Max. Er blickte das Bit Beast argwöhnisch an und auch Tyson hatte das Gefühl beschlichen. Es wurmte ihn geradezu das er nicht auf Anhieb darauf kam. Dann schnippte Max neben ihm plötzlich mit dem Finger, als die Eingebung ihn traf. „Galux! Du bist Mariahs Bit Beast!“ Es senkte in einer geradezu anmutigen Geste den Kopf. „Das ihr Menschenkinder mich nicht vergessen habt…“, sprach das Bit Beast mit samtiger Stimme. Tyson spürte wie Allegro hektisch seinen Rücken hinauf kraxelte und sich an seiner Haarsträhne festhielt. Es fühlte sich an als würde der arme Kerl zittern. Doch er starrte nur weiterhin sprachlos auf das Katzen Bit Beast. „Dabei heißt es, ihr Menschen vergesst sehr schnell. Ich muss gestehen, ich bin erfreut, dass ihr mich vom Gegenteil überzeugt habt.“ Tyson bemerkte das sie eine sehr edle Ausdrucksweise besaß. Hätte sie eine menschliche Gestalt, wie Dranzer und Wolborg, er könnte sie sich als Geisha vorstellen. „Kommst du im Auftrag der Uralten.“, sprach Tyson dennoch geradeheraus. „Ihr misstraut mir?“ „Ehrlich gesagt, ja! Die letzten Tage haben wir die Schattenseite der Bit Beasts erlebt.“ „Diese Seiten besaßen wir schon immer.“, erklärte Galux ruhig. „Nur sehen Kinder in ihrer jugendlichen Unschuld nicht die Grausamkeit der Natur. Ein Hai der einen Fisch frisst, ist für sie beeindruckend. Eine Löwin die eine Gazelle reißt, ist für sie stark. Und ein Bit Beast, das für sie kämpft, ist ein treuer Weggefährte. Dabei stecken wir alle im großen Rad der Nahrungskette fest. Kinder begreifen das nur noch nicht.“ Galux sprang vom Ast herab. Sie landete federleicht auf ihren Pfoten und setzte sich auf. Ihr langer Schweif schlang sich zwei Mal um ihren Körper. „Wir Bit Beast haben uns nicht geändert. Tatsächlich leben wir so, wie noch vor hunderten Millionen von Jahren. Es seid ihr die euch verändert haben. Ihr seid einfach keine Kinder mehr. Das ist alles…“ Tyson ließ die Fackel etwas sinken. Er schaute noch immer leicht misstrauisch, doch er musste gestehen, es legte sich. „Das sagen wir unseren Bit Beast seit wir hier sind, aber das wollen sie einfach nicht verstehen. Könntest du diese Eingebung nicht auch mal Dragoon ins Gewissen reden?“ „Ich bedaure. Doch ich mische mich nicht in die Belange der Uralten ein.“ „Warum bist du dann hier?“ „Weil ich euch nachhause führen muss.“ Ein ungläubiges Aufatmen ging durch die Runde und Tyson spürte wie sein Herz einen freudigen Hüpfer tat. Mit jedem Tag stieg ihre Verzweiflung und so plötzlich sollte sich alles zum Guten wenden? Endlich war da ein Bit Beast erschienen, das sie nachhause führen wollte? Max sah ihn mit offenem Mund an, dann wandte er sich wieder Galux zu. „Du hast doch gemeint, du mischt dich nicht in die Belange der Uralten ein?“ „Das ist richtig.“ „Und warum willst du uns dann helfen?“ Sie senkte den Blick einen Moment, als dachte sie über etwas nach, was ihr unangenehm war. Tyson kam ein böser Gedanke. „Was ist deine Gegenleistung?“, fuhr er sie so herrisch an, dass Max sogar kurz aufschreckte. Galux blinzelte etwas irritiert. „Gegenleistung?“ „Das letzte Bit Beast, dass uns seine Hilfe angeboten hat, wollte von Kai seine Augen und von mir mein Herz! Wolborg hat es als Wegzoll abgetan! Wenn du auf so etwas aus bist, dann…“ „Mir schwebt nichts dergleichen vor.“, beschwichtigte sie ihn. „Es ist ein Versprechen das mich hierher führt.“ Nun war Tyson gänzlich verwirrt. Hatte jemand anderes den Wegzoll für sie bezahlt? „Ich verstehe nicht...“ „Dann beruhigt eure Gemüter. Ich werde euch erzählen was ich weiß. Ein Tag in der Menschenwelt, mag zwar in dieser Welt zwei Tagen entsprechen, dennoch solltet ihr euch bewusst sein, dass die Uhr für euch tickt. Ihr müsst bald den Heimweg antreten, so lange die heilige Neujahrswende noch nicht vorbei ist. Momentan steht das Tor noch offen, doch sobald der einunddreißigste Oktober vorbei ist, wird die Grenze zwischen den Welten mit jeder Minute schwinden. Wenn morgen die Sonne aufgeht… Seid ihr hier verloren.“ „Das wissen wir.“, antwortete Tyson. „Aber wir müssen Ray finden. Mit ihm stimmt etwas nicht und er ist vor uns weggelaufen.“ „Ihr müsst ihn zurücklassen.“ Zunächst blieb die Gruppe still. Es hatte ihnen die Sprache verschlagen. Gerade weil Ray der Ehemann ihres Menschenkindes war, hätten sie nicht erwartetet, dass Galux ihnen so eiskalt diesen Vorschlag unterbreitete. „Niemals!“, fauchte Tyson. „Ray kann nicht mit euch zurück.“ „Woher willst du das wissen?!“, rief Max aus. Seine Stimme überschlug sich vor Wut. „Weil es seine Bitte war euch nachhause zu führen. Ich bin in seinem Auftrag hier.“ „Du lügst!“ „Nein, tut sie nicht.“, warf Allegro plötzlich ein. „Aber warum sollte Ray so etwas machen?“ „Ich weiß es nicht… Aber sie tut es.“, die Strommaus blickte Galux ernst an. „Lasst sie ausreden.“ Das Katzen Bit Beast schaute ihren Artgenossen eindringlich an. Sie besaß grünlich schimmernde Augen, die wie helle Smaragde hervorstachen. „Danke.“, sie nickte ihm zu und fuhr an die Gruppe gewandt fort. „Ursprünglich war ich im Auftrag von Mao hier. Als mir zu Ohren kam, was die Uralten im Schilde führen, hatte ich Bedenken ob sie wirklich die richtigen Leute für die Taten anderer bestrafen. Ich muss klarstellen, dass auch ich euer Verhalten scharf verurteile. Wie konntet ihr nur erwarten, dass so mächtige Geister eure Nachsichtigkeit einfach so hinnehmen? Ich hatte euch wirklich für gescheiter gehalten.“ „Komm mir nicht so.“, brummte Tyson verstimmt. Galux ignorierte ihn. „Dennoch… Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, wie weit ihre Rache gehen würde. Bis die Menschenfrau starb.“ „Du meinst meine Mutter?“, fragte Max mit nüchterner Stimme. Das Bit Beast nickte. „Als mir das zu Ohren kam… Da bekam ich furchtbare Angst um meine kleine Mao. Trotz der Jahre die vergangen waren, hütete sie meine Hülle wie einen Schatz. Manchmal da holte sie mein Gefäß in einem unbeobachteten Moment sogar hervor und sprach mit mir. Ich lauschte dann immer ihren Worten, ihren Problemen und ihren Erlebnissen. Sie hätte es niemals verdient durch den Zorn der Uralten zu Tode zu kommen. Also bin ich – sobald die heilige Neujahrswende begann – in die Menschenwelt geeilt, und habe sie gewarnt. Von Angesicht zu Angesicht.“ Tysons Augen wurden tellergroß. „Du meinst… Mariah weiß was hier vorgeht?“ „Ja.“, Galux nickte zur Bestätigung. „Und auch das kleine Hiwatari Mädchen und dein Großvater. Sie sind gut behütet in der Menschenwelt und durch einen meiner Zauber vorerst in Sicherheit. Es ist als würden sie unter einem Deckmantel liegen.“ Einen winzigen Moment vergaß Tyson Ray. Sein Großvater… Es ging ihm gut. Er hätte am liebsten laut aufgeheult vor Erleichterung. Da sein Großvater bei ihrer Ankunft in dieser Welt, noch im Koma lag, war ihm immer die Frage nach dem Befinden des alten Mannes, im Hinterkopf geblieben. Es hatte ihn schrecklich frustriert das er nicht für ihn da sein konnte. Wann immer er in seiner Kindheit krank gewesen war, hatte sein Großvater alles stehen und liegen gelassen, um seinem „Grünschnabel“ beiseite zu stehen. Erst später war Tyson bewusst geworden, dass dies eigentlich die Aufgabe seiner Eltern gewesen wäre, doch damals war er noch zu jung um das zu hinterfragen. Ausgerechnet jetzt hier gefangen zu sein, wo es an ihm lag, diese Schuldigkeit wiedergutzumachen, nagte an ihm. Doch ein anderer Gedanke drängte sich ihm auf… „Aber warum ist Ray nicht bei dir?“ Galux schaute in die Ferne und seufzte irgendwann. „Die letzten Tage habe ich das Gefühl, ständig der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein.“, sprach sie voller Bedauern. „Mao bat mich eigentlich, Ray und euch zu suchen – und heil in die Heimat zu führen. Doch leider ist es für ihren Mann zu spät. Euer Freund… ist krank. Sehr krank sogar! In seinem Kopf nistet ein Parasit welcher ihn zu einer Gefahr für sich und andere macht.“ Tysons Atem stockte. Er dachte an Kais Erzählung und an Rays kurzes Verschwinden am Baum. Wenn Galux Recht haben sollte, musste der Parasit ihn dort aufgegriffen haben. Eine Gänsehaut zog sich über seinen Nacken. Es hatten sie doch nur wenige Meter getrennt… Wie hatte das so schnell passieren können? „Gerade wenn Ray krank ist müssen wir ihn aber doch nachhause bringen!“, dränge Max. Die tiefblauen Augen blickten Tyson verzweifelt an. „Wir müssen ihn finden, bevor es schlimmer wird!“ „Nein. Das könnte ihn töten.“ „Weshalb?“ „Weil dieser Parasit tückisch ist. Es existiert kein Heilmittel in eurer Welt. Diese Krankheit ist eine Kreation die nur den Nutzen hat, Ray vom Ausgang fernzuhalten. Desto näher euer Freund dem Wurzelwerk kommt, desto rasanter wütet der Parasit in seinem Kopf. Dies wirkt sich auf Rays Gemütszustand aus. Er wird euch gefährden.“ „Deshalb war er so seltsam.“, sprach Tyson mit trockener Kehle. Ihm wurde die Tragweite dieser Nachricht bewusst. Sollte Ray nicht gesund werden… Ja. Was dann? Als hätte Galux seine Befürchtungen erraten, fuhr sie fort. „Und darum bin ich jetzt hier.“ Sie senkte den Blick. „Ich soll euch eine Botschaft von Ray übermitteln. Er bedauert zutiefst was vor wenigen Stunden vorgefallen ist. Es tut ihm wirklich von Herzen Leid…“ Tysons schluckte hart. „Es war nie seine Absicht euch zu verletzen – körperlich als auch seelisch. Die Worte die er gesprochen hat, die Bosheiten die über seine Lippen kamen… Er schämt sich dafür und er hofft das ihr ihm vergeben könnt.“ Tyson sah Ray vor sich. Ihre erste Begegnung… Den freundlichen Jungen, mit dem übermütigen Grinsen und Augen in welchen der Schalk förmlich blitzte. Bereits damals hatte er geahnt, dass er in diesem Jungen einen Freund fürs Leben finden würde. „Er bittet euch – trotz seiner Boshaftigkeiten – seine Frau und sein Kind in Zukunft zu unterstützen.“ Max stöhnte neben ihm gequält auf. Er ahnte wie ernst es Ray war. „Und ihr sollt euch keine Vorwürfe machen. Geht. So lange ihr noch könnt.“ Das Bit Beast blickte in die Runde. Sie sah so viele entsetzte Gesichter… „Nein.“, erklang Maxs tränenerstickte Stimme. Von ihnen allen hätte er am meisten Grund gehabt, Ray für den Angriff zu verachten. Doch sie kannten ihn gut genug um zu ahnen, dass mehr hinter seinem Verhalten lauerte, als es den Anschein machte. Tyson zitterten die Knie. Ihm war als verliere er den Boden unter den Füßen. Er musste sich setzten… „Heißt das Ray kommt nicht zurück?“, wollte Kai ungläubig von ihm wissen. Er war nicht in der Lage zu antworten. Nach all den Jahren, sollten sich ihre Wege so trennen? Das konnte es doch nicht gewesen sein! Tyson lehnte sich gegen einen Baum und versuchte nachzudenken. Doch sein Verstand war wie betäubt. Ihm kam das ganze wie Rays Todesurteil gleich. Sein Kopf malte sich aus, wie er einfach so in der Menschenwelt weiterleben sollte – mit der Erkenntnis einen seiner besten Freunde dafür geopfert zu haben. Sie hatten doch immer alles zusammen gemeistert! Nur vage nahm er wahr, dass Max in die Knie ging und den Tränen nicht mehr Herr wurde. Vor ein paar Tagen hatten sie noch lachend in Tysons Auto gesessen. Er hatte seine Freunde vom Flughafen abgeholt und sich ein schönes Wochenende ausgemalt. Sie wollten ihre Jugend genießen, von alten Zeiten sprechen und sich auf die neuen Zeiten freuen. Wie war das alles nur so aus dem Ruder gelaufen? „Meine Teuerste, wären sie so freundlich, meine lieben Freunde Heim zu geleiten?“ Tyson atmete schwer auf als er hinter sich blickte. Seine Sicht war durch die aufkommenden Tränen verschwommen. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Allegro von seiner Schulter gehopst war. Die kleine Springmaus war vor Galux getreten und obwohl es sich doch hier, um seinen natürlichen Erzfeind handelte, sprach er: „Ich bin beschämt eine so reizende Bit Beast Dame allein mit dieser Aufgabe zu lassen, doch ich möchte mich an dieser Stelle von den Herren verabschieden.“ Max schaute auf, seine Augenränder waren rötlich. „Was? Du… Du willst auch gehen?!“ „Ich weiß euch jetzt in guten Händen. Mademoiselle Galux wird eher in der Lage sein, euch vor den Geistern am Wurzelwerk zu schützen, als ich es jemals könnte. Meine Pflicht liegt jetzt darin mich um Ray zu kümmern. Ich bewundere seinen Mut und möchte ihm beistehen.“ Etwas irritiert über seine impulsive Aussprache blinzelte ihn die Katze an. Allegro drehte sich zu der Gruppe. „Ihr müsst jetzt vernünftig sein. Das Tor schließt sich bald. Ray hat vollkommen Recht, wenn er möchte, dass ihr ohne ihn geht.“ „Nein.“, Tyson stützte sich langsam vom Stamm ab. „Das geht nicht.“ Er musste daran denken, wie einsam er sich fühlte, als ihn alle seine Freunde, während der dritten Weltmeisterschaft verlassen hatten. Wenn schon so etwas schmerzte, wie einsam war es dann, für immer in einer fremden Welt zu vegetieren? Dann war da noch das Bild von dem Jungen aus seiner Kindheit. Dieser lebenslustige Ray, der für jeden Spaß zu haben gewesen war. Wie sollte er ihn zurücklassen? Ray war doch auch ein Teil seines Lebens… Ein treuer Begleiter. Er wandte sich um. Eine Ruhe hatte ihn ergriffen. Endlich wusste Tyson was er zu tun hatte. „Ich kann ihn hier nicht alleine zurück lassen.“ Max wischte sich am Ärmel die Tränen weg und zog geräuschvoll die Nase hoch. Er stand auf und nickte beklommen. „Okay. Vielleicht finden wir nächstes Jahr einen Weg hin-“ „Nein, das meine ich nicht.“, Tyson tat einen Schritt auf ihn zu und lächelte aufmunternd. „Ich will dass du nachhause gehst.“ Einen Moment blieb Maxs Kiefer offen. Ein paar schwache Laute kamen aus seiner Kehle, doch er brachte nicht die Kraft auf, einen ganzen Satz zu formulieren. „Was?“ „Hör zu. Auf dich warten Verpflichtungen in der Menschenwelt. Du musst dich jetzt um deinen Vater kümmern. Und da sich Ray nicht um Mariah kümmern kann… Ich will das du ihr hilfst!“ „Aber… Dein Großvater? „Es geht ihm gut. Galux hat es doch gerade bestätigt. Das ist alles was ich wissen muss.“ Max schüttelte den Kopf. „Nein. Nein das geht nicht! Entweder alle oder keiner.“ „Ich glaube wir sind was das angeht an unsere Grenzen gekommen.“, antwortete Tyson verzweifelt. „Gerade deshalb ist es so wichtig dass du nachhause gehst. Wir können Ray nicht alleine zurück lassen, darin sind wir uns wohl beide einig. Aber wir haben alle wiederum unsere Verpflichtungen zuhause. Auch das lässt sich nicht von der Hand weisen. Fakt ist - Jemand muss sich um die Probleme hier kümmern und jemand anderes um unsere Angelegenheiten in der Menschenwelt.“ „Wie stellst du dir das vor?!“, brauste Max auf. „Ihr bleibt hier und ich mache mich klammheimlich vom Acker?“ „Ich werde versuchen mit Ray eine Lösung zu finden.“, versprach Tyson ihm. „Aber wir werden es nicht innerhalb von einem Tag schaffen. Das ist zu wenig Zeit! Aber bis nächstes Halloween… Bis dahin könnten wir einen Ausweg gefunden haben! Das Tor wird sich dann wieder öffnen.“ „Oh mein Gott!“, Max stieß ihn weg und schlug sich fassungslos die Handfläche ins Gesicht. „Hörst du dir überhaupt zu was du da redest? Woher willst du wissen ob ihr bis nächstes Jahr überhaupt eine Lösung gefunden habt?! Eher geht ihr elendig drauf! Wir sind in den wenigen Tagen hier, schon mehrmals von einem Bit Beast angefallen worden und sind nur mit mehr Glück als Verstand entkommen! Wie wollt ihr beiden das ein ganzes Jahr durchhalten?!“ „Ich kann nicht glauben, dass es keinen Weg gibt, diesen Parasiten aus Ray zu bekommen.“ „Woher willst du das wissen? Bist du neuerdings Wunderheiler?“ „Wir können ihn nicht sich selbst überlassen!“ „Das will ich auch nicht! Ich will nur nicht ohne euch zurück!“, Max schlug verzweifelt mit Gesten um sich. Er schien richtig Panik bei diesem Gedanken zu bekommen. „Weißt du wie lahm mein Leben ohne euch wird? Was soll ich Mariah sagen? Was soll ich deinem Großvater sagen? Sie werden mich dafür hassen! Ich werde wie ein Feigling dastehen.“ „Du bist kein Feigling. Und denk doch mal nach... Wir können Kai doch nicht alleine nachhause schicken! Jemand muss auf ihn aufpassen.“ „Was? Wieso mich?“, Kai trat von den diskutierenden Jungen schockiert weg. Er war wohl tatsächlich davon ausgegangen, dass er bei ihm bleiben durfte. „Weil du ein kleines Kind bist! Es wäre unverantwortlich dich noch länger hier zu lassen!“ Der Junge schaute ihn mit weitaufgesperrtem Mund an. Sein Gesicht war ein Bild der Entrüstung. Tyson nutzte diesen Moment und rüttelte Max wieder an den Schultern. „Das musst du doch auch so sehen. Sieh ihn dir doch an! Die stecken ihn doch in ein Waisenhaus, sobald sie ihn von der Straße aufgabeln!“ „Galux kann ihn zu Mariah bringen…“ „Und dann? Was ist mit Jana? Soll sie drei kleine Kinder hüten, von dem eines Trisomie hat und auf ärztliche Hilfe angewiesen ist? Das schafft sie doch niemals! Ich würde ja sagen, dass mein Großvater auf Kai und Jana aufpassen soll, aber er ist selbst ein Pflegefall. Und was ist mit deinem Vater? Er hat seine Frau verloren, soll sein einziger Sohn jetzt auch noch als vermisst gelten? Wer bleibt ihm denn dann noch?“ Max heulte auf und fing an sich in Unbehagen zu winden. Er begann seine Logik zu begreifen, doch kämpfte gegen den Gedanken an. „Bitte!“ „Ich will nicht…“ „Tu es für die Menschen die uns brauchen, Max. Mach es für den Kleinen hier.“ Sein Freund schaute auf Kai herab, der vehement den Kopf schüttelte. Er ahnte dass alles jetzt von Maxs Entscheidung abhing. Der bedachte ihn sorgfältig. Die kleine Statur. Das runde Gesicht. Die naiven Kinderaugen… und der verräterische wässrige Glanz darin. Kai würde sich nicht mehr um seine Schwester kümmern können. Nicht wenn er weiterhin ein Kind blieb. Sie hatten keine Garantie, dass er tatsächlich wieder Erwachsen wurde, sobald sie auf heimischen Boden traten. Dranzers Tod hatte auch nicht seine Erinnerungen zurückgebracht. Max dachte an Rays Frau, welche hoffnungsvoll auf dessen Rückkehr wartete. Sie müsste ein Kind großziehen dessen Vater nicht mehr Heim kehren würde. Und dann noch Tysons Großvater, der nicht wusste wo sein Enkel steckte. An seinen eigenen Vater… Der traf wahrscheinlich bereits die Vorbereitungen für die Beerdigung seiner Mutter. „Schick uns nicht weg!“, Kai begann an Tysons Ärmel zu ziehen. Er spürte das Maxs Entscheidung drohte, nicht zu seinen Gunsten auszufallen. „Warum willst du uns nicht mehr bei dir haben?“ Anstatt einer Antwort überging Tyson ihn aber. „Max, bitte. Du weißt das ich Recht habe.“ „Ja. Irgendwo hast du das tatsächlich…“ Tyson atmete beruhigt aus, auch wenn er sich eingestehen musste, dass er eine Heidenangst vor einem Leben in dieser Geisterhölle hatte. Sobald die beiden Weg wären, würde er wohl erst einmal eine riesen Heulattacke bekommen. Max blickte inzwischen mit einem entschuldigen Lächeln auf das entsetze Kind herab. „Diese Welt ist wirklich viel zu gefährlich für dich.“ „Aber Max…“ „Ich sollte mich jetzt eigentlich auch verantwortungsbewusst verhalten und dich nachhause bringen.“, schnitt er dem Jungen ins Wort. „Aber ich kann nicht. Es tut mir Leid, Kai. Ich werde hier bleiben. Komme was da wolle.“ Einen Moment wusste Tyson nicht, ob er richtig verstanden hatte. Dann weiteten sich seine Augen. „Hast du nicht begriffen was ich…“ „Ich habe es begriffen!“, rief Max aus. „Jedes einzelne Wort. Ich weiß dass wir alle unsere Verpflichtungen haben und ich könnte heulen wenn ich an all die Menschen denke, die auf der anderen Seite auf uns warten. Aber es geht nicht!“ „Sag mal rede ich hier gegen eine Wand?“ „Eher gefriert die Hölle als das wir jemanden hier zurücklassen! Das waren deine Worte, Tyson!“, erinnerte Max ihn anklagend. „Wir haben alle zu dieser Situation beigetragen. Also kommt es nicht in Frage, das nur zwei von uns die Suppe auslöffeln, während die anderen beiden in der Menschenwelt weitermachen, als wäre nichts gewesen! Das war noch nie unser Stil. Wir bladen vielleicht nicht mehr, aber ein Team sind wir trotzdem!“ Kai schaute aus strahlenden Augen zu ihm auf. In diesem Moment hatte sich Max wohl zu seinem persönlichen Superhelden gemausert. Tyson fauchte genervt und drehte sich zu Galux, um sie zu fragen, ob der Weg für das Kind auch ohne die Begleitung eines Erwachsenen machbar sei. Da blieb ihm das Wort im Halse stecken. Es hätte ihnen auffallen müssen, dass die beiden Bit Beasts schon ziemlich lange verstummt waren. Denn dort - unter der Schuhsohle von Dragoon – strampelte Allegro eingeklemmt, während sein ehemaliges Bit Beast, Galux im Nacken gepackt hielt. Er hob sie auf Augenhöhe an. Tyson konnte sehen, wie sie unter dem starren Blick, der reptilienhaften Pupillen, vor Angst gefror. Die Miene des Uralten war eine wütende Fratze. „Du funkst also ständig dazwischen.“, knurrte Dragoon bedrohlich. ENDE KAPITEL 29 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)