Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 32: ------------ „Ich finde es ja wirklich toll, dass du auch mal die Initiative ergreifst, aber verdammt nochmal, was treibst du da, Kenny?!“ Hana schaute ihn verärgert an, während er wie besessen auf seine Tasten haute. Über den Bildschirm seines Laptops flimmerten dutzende von Zahlen. Es sah aus wie die Anfangssequenz aus dem Film Matrix. Auf ihre Frage machte er eine unwirsche Bewegung mit der Hand, um ihr zu bedeuten still zu sein. Seine Finger fuhren zum Rand des Displays, wo er den Winkel einer Art – sie fand gar keinen besseren Ausdruck dafür – Miniantenne neu positionierte, die er dort angebracht hatte. „Ich kann es nicht leiden wenn man mich übergeht.“, sprach sie spitz aus. „Jetzt sei doch mal ruhig! Ich muss mich konzentrieren.“, fauchte er. „Tss!“, kam es eingeschnappt. Na wunderbar… Kaum hatte er einen Laptop in der Hand, wuchs ihm ein Satz Eier. Blöder Nerd! Sie überlegte, ob sie ihn im Auto sitzen lassen sollte, um durch die Eingangshalle des Krankenhauses, in den Überwachungsraum zu schleichen. „Mmm…“, machte Kenny neben ihr nachdenklich. „Fahr den Wagen etwas näher an das Gebäude heran.“ „Warum?“ Er schnalzte genervt. „Vertrau mir einfach!“ „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Bevor dieser Wagen auch nur einen Zentimeter rollt, will ich wissen, ob du nicht gerade meine Zeit verschwendest!“ Kenny holte zischend Luft und fragte sich, weshalb Hillary nicht mit ihm im Auto sitzen konnte. Sie war immer eine zuvorkommende Assistentin gewesen, egal ob am Laptop oder beim Austauschen irgendwelcher Ersatzteile für ein Beyblade. Dagegen war diese Frau hier eine anstrengende Diva. „Ich mache das was ich am besten kann – ich hacke!“ „Und… Worin hackst du dich?“ „Na in das Betriebssystem des Krankenhauses.“ „Okay. Was soll das bringen?“ „Ach!“, machte Kenny verärgert. „Na ich will an die Überwachungsaufnahmen aus der Kamera heran kommen.“ „Was?“, horchte Hana und fuhr auf ihrem Sitz zu ihm herum. „Sowas kannst du?!“ „Ja klar.“ „Aber sind die nicht auf Videobändern drauf?“ Kennys Mund klappte auf. Er schaute sie entsetzt an. „Videobänder? Aus welchem Jahrzehnt stammst du denn?!“ „War das so eine dumme Frage?“ „Ähm, ja! Das läuft alles heutzutage über die Wlan Verbindung und geht dann auf einen Server. Wer arbeitet noch mit Videobändern?“ „Entschuldige dass ich gefragt habe…“ „Pah! Videobänder…“, wiederholte er abfällig, als wäre sie ein besonders beschränktes Kind. Irgendwie kam sie sich wie ein Dinosaurier vor, dabei konnte sie nicht so viel älter als er sein. Aber gut, er durfte sie auch für ein Lama halten, so lange er weiterhin auf seinen Tasten klimperte und sie damit näher an ihr Ziel brachte. Total aus dem Häuschen faltete Hana die Finger ineinander wie zum Gebet. Wenn er wirklich solche Wunder vollbringen könnte, würde sie nie wieder, in irgendeiner Art und Weiße, gehässig von ihm denken. Soviel schwor sie sich. Bling! „Ja!“, rief er aus. „War das ein gutes Bling-Geräusch?“, wollte sie eifrig wissen. „Ja und wie! Ich bin drin.“ „Huhu! Du kleiner Wunderknabe!“, hüpfte sie begeistert auf ihrem Sitz. Der Wagen ruckelte dabei. Von außen machte der Anblick sicherlich einen zweideutigen Eindruck. „Naja, Wunderknabe nun nicht…“, tat Kenny es ab. „Nein, nein, nein! Ehre wem Ehre gebührt! Wo warst du nur während meiner Zeit als Journalistin? Ich hätte mit dir die besten Skandale ans Tageslicht befördert!“ Kenny wand sich auf seinem Sitz. Er lief puterrot an und grinste dabei wie ein verlegener Schuljunge, der von der hübschen Vertretungslehrerin ein Dankeschön, für einen mitgebrachten Apfel bekam. Es hätte nur noch eine Matrosenschuluniform gefehlt, eine Schultasche und das Bild wäre perfekt. „Ich muss nur noch die Aufnahmen finden.“ „Na dann los! Schön suchen, ja?“, drängte sie ihn unwirsch. „Ist ja gut. Ich bin doch schon dabei...“ Er klickte sich durch die Ordner auf dem Display. Irgendwann öffnete er eine Mappe in welcher mehrere Unterordner mit nummerierten Namen standen. „Uff. Das sind einige. Jetzt müssen wir suchen.“ „Ich glaube nicht. Die Zahlen sehen nach einem Datum aus, nur ohne ein Trennungszeichen dazwischen und das Jahr scheint zuerst zu kommen.“ Kenny beugte sich näher an den Bildschirm und rückte seine Brille prüfend zurecht. „Ja… Ja, das könnte stimmen. Aber dann bin ich im falschen Jahr. Das ist 2013.“ Er klickte sich heraus und scrollte hinab. Kurz darauf tippte er das Symbol eines anderen Ordners an. Neben ihm suchte Hana ebenso eifrig nach dem richtigen Datum. „Da!“, sie deutete hektisch mit dem Finger auf einen Ordner. „Das muss der Abend des Brandes gewesen sein! Euer Freund und seine Schwester müssten da eingeliefert worden sein. Am selben Tag ist Hitoshis Großvater verschwunden.“ „Okay. Dann sehen wir uns den doch mal an.“, schlug Kenny konzentriert vor. Er klickte auf eine der Dateien und ein Fenster öffnete sich, kurz darauf betätigte er den Play Button. Schnell bemerkten beide aber, dass die Uhrzeit um Mitternacht begann. „Ach Mist…“, schimpfte Hana. Sie holte ihren Notizblock hervor und blätterte darin herum, wurde aber nicht fündig. „Ich habe keine genaue Uhrzeit wann der Großvater eingeliefert worden ist. Nur das es morgens war…“ Sie blätterte weiter und jaulte gequält auf. „Und bei dem Hiwatari Brand dasselbe Spiel! Hier steht nur abends. Haben du und Hiro dazu etwas herausgefunden.“ „Naja, die Uhrzeit für den Brand könnten wir im Internet recherchieren. Dann wissen wir ungefähr wann Kai und seine Schwester eingeliefert worden sind und müssen nicht den ganzen Tag anschauen. Die anderen müssten kurz darauf auch im Krankenhaus eingetroffen sein. Aber Mr. Kinomiya… Puh! Das war eines der Themen die wir Tyson eigentlich gefragt hätten, wenn wir ihn gefunden hätten. Wir waren ja selbst ziemlich überrumpelt von dieser Nachricht. Ich weiß weder wann er eingeliefert worden ist, noch wann er verschwunden ist.“ „Und über einen ehemaligen Dojolehrer zerreißt sich die Presse natürlich nicht so das Maul, wie über einen Geschäftsmagnaten und seine kleine Schwester. Naja.“, Hana holte ihr Handy hervor und tippte in Google den Suchbegriff Hiwatari Anwesen Brand ein. „Es bleibt uns dann wohl nichts anderes übrig, als den ganzen Tag anzuschauen. Wir wissen schließlich nicht wann Mr. Kinomiya verschwunden ist. Immerhin wird es bei Kai und seiner Schwester einfacher.“ „Hoffen wir mal.“ Was folgte war eine Stunde vor dem Laptop, in welcher sie mehrmals das Band vorspulten und jedes Mal inne hielten, sobald der Krankenwagen vorfuhr oder eine Person aus dem Eingangsbereich heraustrat. Es war ein wenig nervenaufreibend, da wirklich immer Hochbetrieb in solchen Gebäuden herrschte. Außerdem legte Kenny ein anderes Tempo vor als sie, da Hana länger brauchte, um die Gesichter zu studieren. Dann schnalzte er immer missbilligend und erklärte ihr, dass er seine Freunde selbst mit verbundenen Augen erkennen würde. Als sie fast den ganze morgen durch hatten, fanden sie endlich die Aufnahme, in welcher der gebrechliche alte Großvater eingeliefert wurde. Hana legte die Hand aufs Herz, denn es tat ihr weh ihn so zu sehen. Als sie ihn das erste Mal nach seinem Schlaganfall zu Gesicht bekam, lag er zwischen vielen Schläuchen und trotzdem traten Lachfältchen um seine Mundwinkel. Er hob ziemlich angeschlagen den Daumen und krächzte dennoch seinem Enkel anerkennend zu, dass er sich da eine kleine Schönheit angelacht habe. Was für ein tapferer Mann… Hana notierte sich die Uhrzeit und ließ Kenny erst weiterspulen, als er die Aufnahme mehrmals wiederholte. Sie empfand den Zustand des Großvaters als ziemlich beunruhigend. Dabei tippte sie sich mit dem Stift nachdenklich gegen die Unterlippe. Er sah nicht aus, als hätte er sich schnell davon erholen können. Wie er alleine aus dem Krankenhaus kommen sollte, war ihr ein Rätsel. Sie schloss auf einen Helfer. Das nächste relevante Ereignis auf ihrer Liste, war die Einlieferung von den Hiwatari Geschwistern. Als der gesuchte Krankenwagen vorfuhr und dessen Türen sich öffneten, hörte Hana ihren Nebenmann schwer schlucken. Kenny starrte auf seinen Freund, der an den Beatmungsgeräten hing und auf einer Trage hereingerollt wurde – ganz offensichtlich bewusstlos. Er hielt die Aufnahme an und schaute leichenblass auf das Bild. „So habe ich Kai noch nie gesehen…“, kam das betroffene Flüstern. Hana schaute aus den Augenwinkel zu ihm und musste mitleidig feststellen, dass er wieder einen dicken Kloß im Hals bekam. Armer kleiner Nerd. Er blinzelte mehrmals, offenbar um den Tränenfilm loszuwerden und zog die Nase geräuschvoll hoch. „Hast du ein Taschentuch?“, fragte er etwas verlegen. „Im Handschuhfach.“, sie beobachtete mitleidig, wie er mit zittrigen Fingern die Klappe öffnete und sich daran bediente. Irgendwie fand sie es wirklich niedlich, wie besorgt er um seinen Freund war. „Oh man… Ich fühle mich so scheiße. Einmal im Leben braucht er uns und ich verpenne es.“ „Oh, Schätzchen.“, sie klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Niemand hat geahnt dass der Tag so enden würde. Mach dir doch bitte keine Vorwürfe. Du kannst doch nicht verhindern, was du nicht voraussehen kannst.“ „Ja, aber sieh ihn dir doch an! Das ist doch Kai. Er war sonst immer der Starke…“ „Es gibt für alles ein erstes Mal. Und du kannst wirklich nichts dafür.“, versuchte sie ihn aufzumuntern. Sie bedachte den Mann auf der Trage, konnte aber durch die Maske auf seinem Gesicht nicht erkennen, wie er aussah. Hana hatte aber einmal ein Foto von ihm in der Zeitung gesehen, als die Presse ihn für seinen souveränen Führungsstil, in der letzten Finanzkrise lobte. Er war verdammt gutaussehend, ganz ohne Zweifel, doch auf keinem der Bilder welches ihr unter die Augen kam, lächelte Kai. Sein Blick war streng und kühl. Das machte ihn für Hana doch etwas unsympathisch. Einmal hatte sie ihren Verlobten gefragt, ob er wirklich so eiskalt war, wie er wirkte. Hitoshi hatte das vehement verneint, ihn aber als sehr ehrgeizig beschrieben. „So ehrgeizig das es schon weh tut.“, war der genaue Wortlaut gewesen. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf eine Gestalt, die gerade aus dem offenen Krankenwagen, mit einem Kind auf den Armen herauskommen wollte. Ein Sanitäter. „Ist das seine Schwester?“ „Ich denke schon. Die Kleine habe ich schon lange nicht mehr gesehen.“, bejahte Kenny unsicher. „Es scheint ihr besser zu gehen als ihm.“, Hana legte den Kopf schief und merkte an: „Sehen sich aber gar nicht ähnlich die beiden.“ „Sie ist seine Halbschwester.“ Hana blickte auf das verstörte Kindergesicht, dessen Hamsterbacken von Tränen gekennzeichnet waren. Etwas daran kam ihr merkwürdig vor, doch sie beließ es dabei. „Verstehe.“, sie hob Stift und Block. „Lass mich die Uhrzeit notieren. Dann halten wir nach dem Großvater und deinen Freunden weiter Ausschau.“ Sobald sie geendet hatte, drückte Kenny wieder auf Play. Sie beobachteten wie Kai in das Gebäude geschoben wurde, da blitzte das Bild an jener Stelle kurz auf, als die Sanitäter die Trage in Richtung Kamera drehten. „Was war das?“ „Keine Ahnung? Vielleicht war es windig an dem Abend. Kleine Störungen eben.“ Es verging nicht viel Zeit, da erblickten sie auch tatsächlich auf dem Monitor, eine Gruppe junger Männer, die eiligst in das Krankenhaus rannte. Hana schaute sich die Gesichter interessiert an. Es war eines die Namen zu kennen und etwas anderes, endlich eine Person dem zuordnen zu können. Sie prägte sich die Merkmale genau ein. Max war unschwer zu erkennen. Sie hatte bereits mitbekommen, dass er gebürtiger Amerikaner war. Mit seinem flachsblonden Haar, dem hellen Teint und den dunkelblauen Augen, stach er als Ausländer sofort hervor. Er besaß eher ein rundlicheres, weicheres Gesicht, als der Rest. Seine Brauen waren sorgenvoll herabgezogen, während er seinen Freunden die Tür aufhielt und ihnen mit einer hektischen Geste andeutete, etwas schneller zu laufen. Dagegen war Hana unsicher, wer von den beiden asiatisch stämmigen, wer war. Keiner von beiden besaß eine besondere Ähnlichkeit mit Hitoshi und sie hatte Tyson nur flüchtig kennengelernt, als sie Mr. Kinomiya, zusammen mit ihrem Verlobten, bei seinem Schlaganfall im Krankenhaus besuchten. Es war so kurz und abgehakt gewesen, dass sie keine Zeit bekam, sich ihm richtig vorzustellen, doch Hiro wollte an diesem Tag unbedingt zurück zur Universität. Er war auch nur gekommen, weil sie ihn dazu gedrängt hatte, nach seinem Großvater zu sehen. Sein Verhalten hatte damals zu ihrer ersten heftigen Zankerei geführt, weil Hiro doch tatsächlich zu ihr meinte, das eine traditionellere Japanerin, die Klappe halten würde, wenn ihr Verlobter eine Entscheidung traf. „Als wäre man mit Paris Hilton zusammen! Dein Vater hätte dich niemals drei Jahre in die USA, zu deiner Tante schicken dürfen. Dann hättest du jetzt nicht so eine vorlaute Schnauze!“, knirschte er damals wütend mit den Zähnen. Daraufhin schmiss Hana ihm sein Bettlaken zu, mit der Begründung, dass ein traditioneller Japaner wie er, in Zukunft dann auf dem Sofa pennen dürfe, wenn er sich weigerte mit der Zeit zu gehen. „Dich kotzt doch nur an dass ich Recht habe! Und das dir die Argumente ausgehen!“ „Du machst mich wahnsinnig, du freches Weibsstück!“ Kurz darauf warf sie ihm fauchend ein Glas hinterher. Wenn sie stritten ging es immer heiß her. Dennoch musste sie schmunzeln, als er später in der Nacht, reumütig ins Bett zurückkam und sich bei ihr mürrisch für sein Verhalten entschuldigte. „Ist das Ray?“, fragte sie aus einer Eingebung heraus. Es war ein hochgewachsener junger Mann, mit einem traditionellen Pferdeschwanz, den sie in dieser Form aus China kannte, auf den sie deutete. Er schien von der körperlichen Statur die anderen zu überragen, während Max der Kleinste war. Das fand Hana etwas seltsam, weil Amerikaner doch angeblich so viel größer als Asiaten waren, da kam ihr aber der Gedanke, dass sie vielleicht einfach nur in plumpen Klischees dachte. Rays Kleidung sprach von einer stolzen Herkunft. Hana mochte zwar eher eine moderne Mode, doch diese traditionelle Aufmachung stand ihm. Kenny nickte inzwischen und fügte hinzu: „Der andere ist Tyson. Den kennst du ja bestimmt.“ „Leider nein.“, dachte Hana angesäuert. Es war ihr peinlich es offen zuzugeben. Sie wollte demnächst in diese Familie einheiraten und erkannte nicht einmal ihren künftigen Schwager. Was sie dagegen noch wusste, war, dass Hiro und sein Bruder ähnliche Augen besaßen, nur wirkte Tyson sehr geknickt, als sie ihn zum ersten Mal erblickte. Allerdings hatten sie sich auch unter ungünstigen Umständen kennengelernt. Sie wusste auch, dass er eigentlich Takao hieß, aber sich sein Spitzname einfach durchgesetzt hatte. Er besaß viel dunkleres Haar als sein älterer Bruder. Im Licht des Eingangsbereiches schien es sogar einen bläulichen Stich zu haben. Er hatte ein markantes Gesicht. Genaugenommen war jeder der jungen Männer auf seine Art und Weise recht attraktiv. Wäre sie fünf Jahre jünger, hätte sie wohl sogar mit Ray angebandelt, einfach weil sie hochgewachsene Männer mochte. Dabei dachte sie wehmütig an ihr Exemplar, das nun in einer Gefängniszelle versauerte. Sie hatte es doch immer so geliebt, sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen, um Hitoshi zu küssen und er scherzte dann stets, dass Hana wie ein Klammeräffchen sei. Ein schwerer Atemzug kam aus ihrer Kehle. „Was ist?“ „Nichts.“, log Hana. Sie notierte sich die Uhrzeit. „Mach weiter. Jetzt wird es erst richtig interessant. Wir müssen herausfinden, wer wann das Gebäude verlassen hat.“ Kenny nickte. Es folgte eine weitere Stunde, in der sie jede Person genau durchleuchteten, die aus dem Eingangsbereich kam. Plötzlich klickte er das Stopp Symbol an. „Da! Das sind sie doch!“, rief Kenny aufgeregt aus. „Warte mal… Kai ist ja auch dabei?“ „Tatsächlich. Der wirkte doch zuvor noch wie tot.“ „Wow! Es geht ihm wieder gut.“, freute er sich wie ein König. Hana musste darüber schmunzeln. Sie beobachteten wie die Gruppe sich vor dem Eingangsbereich versammelte. Gerade als sie skeptisch fragen wollte, wo Tyson abgeblieben sei, drängte er sich an den anderen eiligst vorbei und fuhr kurz darauf mit einem roten Wagen vor. „Der Wagen ist sein ganzer Stolz.“, gluckste Kenny neben ihr kurz auf. „Er hat zum Teil selbst daran herumgeschraubt.“ Hana rollte mit den Augen als sie das hörte. Männer… Der Rest der Gruppe, blieb wo er war, während Max auf Kai einzureden schien. „Der Großvater ist nicht dabei…“, meinte Hana verwundert. Kai blickte in Richtung der Kamera. Da flackerte der Bildschirm wieder auf. „Was ist los?“ „Ich weiß es nicht!“, verärgert nestelte Kenny an der Antenne herum. „Das Ding hat vielleicht einen Wackelkontakt. Mit Dizzy würde mir sowas nicht passieren.“ Er spulte die Aufnahme zurück. Doch der Bildschirm blitzte an derselben Stelle auf und verzerrte Kais Gestalt. „Komisch. Die anderen sind alle gut sichtbar. Nur bei Kai erscheint immer diese Störung.“ „Ach egal. Mach weiter.“, schlug Hana ungeduldig vor. Sie war nicht vom Fach und eigentlich war ihr die Bildqualität auch Schnuppe. Es ging ihnen ja auch nur um die Uhrzeit. Während sie sich die Zeit notierte, hörte das Flackern aber nicht auf. Ein greller Stich zog sich immer wieder über das Gesicht des jungen Hiwatari Oberhauptes und Kenny begann zu fluchen. „So ein Mistbock! Meine nächste Prämie geht für einen gescheiten Ersatzlaptop drauf.“ Sie beobachtete wie die Gruppe in den Wagen stieg und davon fuhr. Kai blieb jedoch zurück. Während Kenny an der Antenne herumnestelte, passierte etwas Merkwürdiges auf dem Bildschirm. Wie von Geisterhand kam Nebel auf. Er waberte träge vor dem Eingangsbereich und Hana hielt den Atem an. Sie ergriff Kennys Hand, die noch immer an dem Zubehör werkelte. „Hör auf.“ Es dauerte nicht lange bis er auf das Geschehen aufmerksam wurde. „Was zum…“, er schob seine Brille hoch und rieb sich unter dem dichten Haarschopf die dunklen Augen. Plötzlich ging eine Windböe durch den Nebel. Wie bei einem Pinselstrich, konnte man jeden winzigen Luftstrom erkennen, bis er sich zu einem kleinen Wirbel formte. Einen Wimpernschlag später stand hinter Kai ein fremder Mann. „Stopp! Das ging mir zu schnell.“, sprach Hana verwirrt. „Geh zurück. Ich habe gar nicht gesehen, woher der Typ kam.“ „Ich auch nicht.“ Doch die Aufnahme wurde nicht besser. Erst stand Kai alleine da. Im nächsten Moment dieser Mann hinter ihm. Kenny spulte immer wieder zurück, doch es schien, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. Selbst die Schiebetür zum Eingangsbereich ging hinter den beiden nicht auf. Ratlos lehnte er sich gegen den Sitz. „Fehlen ein paar Sekunden?“, wollte Hana wissen. „Nein. Sieht nicht so aus…“, er kratzte sich ratlos am Kopf. Vielleicht war der Wind so stark an diesem Abend gewesen, dass die Kamera einen Wackelkontakt bekam und ein Teil fehlte. Kenny ließ das Video weiterlaufen. Da erschien das Flackern auch auf dem Gesicht des Fremden. Sein Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, während die Strähnen vorne in die Stirn fielen und ein leichter Bartwuchs lag um sein Kinn. Er wirkte etwas älter als Kai. „Wer ist das? Ein Freund von euch?“ „Noch nie gesehen.“ „Aber er spricht mit ihm.“ „Jaa… Huh! Was macht er da?“ Kenny klappte die Kinnlade herunter. Dieser Typ fuhr mit seinem Finger über Kais Halsbeuge, nur um sich kurz darauf auch mit dem Kopf dorthin zu beugen. „Ist Kai schwul?!“, fragte Hana perplex. „N-Nein… Also. Er lässt nicht viel aus sich heraus, aber bisher hat er uns nur Frauen vorgestellt! Wenn auch nur durch Zufall. Er redet nicht gerne über so etwas.“ „Jetzt wissen wir auch warum…“ „Oh man, Nein! Wirklich. Das kann nicht sein!“ „Aber sieh mal, wie er es über sich ergehen lässt. Er rührt sich ja kaum.“ „Ja. Das ist… total komisch. Er steht da wie ein Geist.“ „Dieses Flackern nervt! Jetzt mach doch etwas dagegen.“ „Ich weiß, aber was soll ich denn tun?“, kämpfte Kenny verzweifelt gegen die fehlerhafte Technik an. Er wollte sich das Gesicht des Fremden näher ansehen. Womöglich kannte er ihn doch und Kai hatte all die Jahre mit ihm ein Verhältnis. Das wäre ja ein starkes Stück, wenn ausgerechnet er… Heilige Scheiße! Ob die anderen davon wussten?! Kenny hatte noch nie Andeutungen in diese Richtung bemerkt. Immer wieder hielt er die Aufnahme an. Doch entweder war der Kopf des Fremden zur Seite gedreht oder der Blitz huschte über sein Gesicht. Bei Kai war es dasselbe Spiel. „Das ist unheimlich…“, sprach Hana plötzlich neben ihm. „Was? Das einer meiner besten Freunde schwul sein könnte?!“ „Nein. Aber diese Blitze. Es sieht aus, als würde jedes Mal ein… Gesicht aufflackern.“ Sie deutete mit offenem Mund auf den Bildschirm. Kenny hatte an einer Stelle gehalten, als beide Köpfe der Personen, von dem Flackern verdeckt wurden. Sie starrten auf die Aufnahme. Es wirkte als hätten sich verzerrte Masken auf die Gesichter gelegt. Wie wenn man mit Wasserfarbe eine Figur malte und über das Blatt wischte, bevor die Farbe richtig trocknete. Jene des Fremden strahlte bläulich, während die über Kais Kopf hellrot blitzte. Kenny erkannte Augen. Einen höhnisch verzerrten Mund… „Check nochmal die anderen Aufnahmen davor. Vielleicht ist das nur ein Zufall.“, meinte Hana. Er nickte beklommen. Irgendwie überkam ihn eine seltsame Ahnung, die aber zu obskur war, als das er sie aussprechen wollte. Es waren die Farbe in jenen die Fratzen leuchteten. Wie zwei starke Energiequellen. Sie kamen ihm so bekannt vor. Tatsächlich fanden sie bei den Aufnahmen davor, an jeder Stelle, wo die Blitze auftraten, ebenfalls die schaurigen Gesichter vor. Da stockte Kenny der Atem, als er sich an etwas erinnerte. Ein Telefonat mit Tyson, einige Tage, bevor sie alle zusammen am Freitagabend ausgegangen waren. Er vernahm dessen Stimme klar in seinem Kopf, die ihm damals, von der anderen Seite des Hörers aus, erzählte: „Wenn ich es dir doch sage Kenny! Dragoon hat versucht mit mir zu sprechen!“ * Ray war bewusstlos. Der Schmerz hatte ihn übermannt. Doch es ging ihm besser, zumindest nach den ruhigen Atemzügen zu urteilen, die Tysons Wange streifte. Er trug ihn auf seinem Rücken, während Max das Kind an der Hand hielt und eiligst stolperten sie durch die Finsternis des Dschungels. Sowohl die Strommaus, als auch Galux fungierten als ihre Lichtquelle. Allegro hinterließ bei jedem seiner Sprünge einen zarten Schimmer hinter sich, wie die Brotkrümelspur aus Hänsel und Gretel, die drohte zu verschwinden, wenn man nicht Acht gab. Mehrmals hielt das Bit Beast inne, um nach ihnen zu sehen und sie zur Eile zu drängen. Tyson war komplett außer Atem, doch er nickte nur jedes Mal. Nachdem Galux mit ihrem Schweif seine Wunde umschlossen hatte war seine Verletzung geheilt und er zögerte danach auch nicht lange, um Ray auf seinen Rücken zu heben. Deshalb bestand er auch zuvor darauf, den Ast aus dessen Oberschenkel zu ziehen, weil er Instinktiv fühlte, dass Galux Spezialgebiet darin bestand, zu heilen. Sicherlich wäre sie auch mit Max so verfahren, hätte der Sturm um sie herum, nicht alle so nervös gemacht. Stattdessen beobachtete die Gruppe, wie das Bit Beast sich zu ihrem bewusstlosen Freund hinabbeugte und etwas Luft auf die Wunde an seinem Bein hauchte. Was ihr dabei entwich, war ein zartglimmender Regen aus purpurnen Funken, die sich sanft auf die Verletzung legten. Irgendwie überkam Tyson das Gefühl, dass es Blut war. Womöglich glich sie damit den Blutverlust aus? Rays Blässe nahm daraufhin auf der Stelle an Intensität ab, selbst die Augenringe verschwanden und seine Wangen wirkten lebendiger. Anschließend hatte Galux ihre Stirn gegen seine gelehnt. Sie war einen Moment mit geschlossenen Lidern so verblieben, bis sie urplötzlich ihre Augen öffnete, die in einem grellen weißen Licht aufstrahlten. Dann war etwas Unglaubliches passiert. Jede Vene im Leib des Bit Beasts pulsierte hell und das Leuchten griff von der Stirn aus, auf Rays Körper über. Sie erkannten feine Verästelungen von Nervensträngen unter seiner Haut, die begannen, sich dem Takt der Impulse des Bit Beasts anzupassen. Das Glimmen drang tiefer in Rays Gehirn ein, bis sie einen Knoten erreichten, bei welchem es sich offensichtlich um das Geschwür handelte, welches von ihrem Freund Besitz ergriffen hatte. Einen flüchtigen Moment bekam es Tyson mit der Angst zu tun. Was wenn Galux nicht gegen diesen Parasiten ankam? Er hätte dann erneut mit Max darüber diskutieren müssen, dass er mit Kai gefälligst wieder den Heimweg antreten sollte. Sie wären wieder in ein Pro und Kontra darüber verfallen, ob sie alle zusammen oder ein Teil hier bleiben sollte. Als das Glimmen aber bei dem Geschwür ankam, schrumpfte es langsam in sich zusammen. Rays Augen hatten sich ebenfalls geöffnet, in genau demselben Licht wie jene von Galux. Er begann wild zu Zucken und Max wollte nach ihm greifen, um ihn zu beruhigen, da hopste Allegro aber auf dessen Handrücken und bedeutete ihm mit einem energischen Kopfschütteln, es bleiben zu lassen. „Das ist sein Chi!“, erklärte er ehrfurchtsvoll. „Mademoiselle Galux bringt seinen Energiefluss wieder ins Reine. Hüte dich lieber davor ihn anzufassen, mein Junge, du würdest ihm keinen Gefallen damit tun, wenn du seinen Fluss, mit deiner eigenen Energie, wieder aus dem Gleichgewicht bringst!“ Daraufhin nickte Max nur wortkarg. Dennoch blieb der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht. Tyson hörte aber kurz darauf, dass neben ihm ein Aufatmen durch Kai gegangen war, als sich der Parasit in viele kleine Teile auflöste, bis er gänzlich aus Rays Gehirn verschwand. Er hatte zu dem Kind hinabgeblickt, das ihn ebenso erstaunt anblinzelte. Doch der Moment hielt nicht lange an, denn schnell ließ Galux von Ray ab und sie fanden sich kurz darauf, in einem eiligen Parcours, durch den Wald. Als Tyson während ihrem Lauf einmal nach hinten blickte, weil Kai über eine emporragende Wurzel stolperte und Max ihm aufhalf, erkannte er tief im Dschungel eine riesige finstere Windhose. Sie mähte sich durch die Pflanzenpracht und was immer sie fand zerstreute der Tornado in alle Himmelsrichtungen. Einmal war ein riesiger Klumpen, knapp vor Tysons Füßen gelandet. Es kam so urplötzlich, dass er eine Vollbremsung hinlegte und Max in ihn hineinrannte. Desto weiter sie sich aber entfernten, desto weniger Geschosse schlugen bei ihnen ein. Dafür kreuzten ihre Wege aber viele Bit Beasts. Das erste welches sie trafen war eines des F-Dynasty Teams. Leider hatte sich Tyson nie unterscheiden können, welcher Pegasus das von Julia und welcher das von Raul war. Das Bit Beast bäumte sich vor ihnen auch nur wiehernd auf und galoppierte ihnen voraus davon. Offenbar war sämtlichen Bewohnern des Talkessels klar, dass diese Gegend ein Schlachtfeld war und man besser verfuhr, schnellstmöglich das Weite zu suchen, als sich um die Menschenkinder zu scheren. Erst kurz vor der Gebirgskette hielten sie an. Tyson schnaufte aus allen Rohren und konnte sehen, wie jene Bit Beasts, die Fliegen konnten, über die Bergspitze davon flatterten, während die anderen eiligst hinaufkraxelten. Das war aber leider keine Option für sie. Galux hatte noch keine Zeit gefunden, Max Hand zu heilen und Ray war nach wie vor bewusstlos. Außerdem bezweifelte Tyson, dass Kai mit seiner kleinen Statur dort hinauf kam. Er spürte dass der Schweiß seinen Rücken hinabrann und sein Kopf brannte lichterloh, ob der Anstrengung. „Geht es?“, wollte Max wissen. Auch auf seinen Wangen zeichneten sich rote Flecken ab. Er war nur zu einem atemlosen Nicken im Stande und rückte Ray auf seinem Rücken wieder zurecht. „Meine Herren, keine Zeit zum Plaudern! Kommt schnell hier lang!“, Allegro hüpfte wie wild vor einem Felsbrocken herum, der an den Ausläufern des Gebirges begann. Darunter witterte Galux nach etwas und scherte kurz darauf wie verrückt in der Erde. Sie schaufelte sich immer tiefer. „Was macht sie da?“ „Ich bin mir nicht sicher… Mademoiselle? Wären sie so gnädig uns zu berichten, was dieses Vorhaben bezwecken soll?“ „Wir brauchen eine Wurzel.“, erklärte Galux knapp. „Da unten ist eine.“ „Müssen wir uns etwa den ganzen Weg bis zum Wurzelwerk durchgraben?!“, fragte Max fassungslos. „Aber nein! Nur ein einzelner Keim ist von Nöten.“ Ratlos schaute die Gruppe ihr dabei zu, bis Tyson ein Stöhnen an seinem Ohr hörte. Er ging in die Hocke und ließ Ray langsam von sich hinunterrutschen. Zusammen mit den anderen legten sie ihn erst einmal behutsam auf der Grasfläche ab. Er murrte und sein Gesicht drehte sich gequält von einer auf die andere Seite, bis sich endlich flackernd seine Lider öffneten. Aus erschöpften Augen blinzelte er zu ihnen empor. Sein Blick wirkte verklärt, bis er langsam ins Diesseits zurückfand. „Hey Kumpel…“, grinste Tyson ihm entgegen. Max begann vor Freude zu strahlen. „Hast uns ja einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“, scherzte er. „Sagst einfach zu Galux wir sollen ohne dich nachhause gehen…“ „Ja. Wir haben uns beinahe ins Hemd gemacht, als wir diese Hiobsbotschaft gehört haben.“ „Als ob wir ohne dich gehen würden, du blöder Spinner!“ Wie zwei freche Bengel lachten sie ihm heiter entgegen. Ray blickte beide wie versteinert an, als er endlich zu erkennen schien, wen er vor sich hatte. Dann schlossen sich seine Lider wieder und sein Körper begann zu beben. Er versuchte etwas zu sagen, doch es ging in einem heißeren Gestammel unter. Tyson beugte fragend sein Ohr zu seinem Mund herab. „Was? Brauchst du etwas?“ „Es tut mir so leid.“, hörte er stattdessen auf seine Frage. Die Erinnerungen kamen zurück… Und mit ihnen offensichtlich die Reue. Ray biss sich auf die Lippen, im verzweifelten Versuch den aufkommenden Tränen Herr zu werden, doch der Damm brach, als Max ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte und ihm sagte, dass er sich doch bitte keine Vorwürfe machen sollte. „Wie kannst ausgerechnet du das sagen?! Ich wollte dich erwürgen!“, keuchte er schwer. Er presste die Lider aufeinander und eine Träne rann seine Wange herab. „Nein, wolltest du nicht.“ „Ich habe es doch versucht!“ „Das war ein anderer Ray. Einer der von einem ekelhaften Parasiten dazu getrieben wurde. Der Ray den wir kennen, liegt gerade hier und ist traurig, weil er seinen Freunden geschadet hat. Er ist zu verantwortungsbewusst, als dass er so etwas bei klarem Verstand tun würde.“ „Ich schäme mich so…“ „Du hattest einen schwachen Moment. Das kommt vor.“, beteuerte Tyson ihm. Sie hakten ihre Arme unter seinen Ellbogen, um ihn langsam aufzusetzen. Dabei war das Zittern seines Körpers genau zu spüren. Obwohl er wieder Farbe im Gesicht hatte, schien er noch benommen. „Ich kann nicht mit euch nachhause.“, sprach Ray seufzend. „Doch. Jetzt kannst du es wieder.“ „Aber der Parasit…“ „Der ist weg!“, versicherte ihm Tyson. Er begann ihm zu erklären, dass Driger seine Meinung geändert hatte und nun im Dschungel gegen Dragoon kämpfte. Ray blinzelte verwirrt in die Richtung, aus jener der Kampflärm, bis vor kurzem noch zu ihnen herübergeschallt war. Dann wandte sich sein Blick zu Galux. Nur noch ihr Schweif ragte aus dem Erdloch, das sie emsig grub, während Allegro sich zwei Blätter geschnappt hatte, um als moralische Unterstützung zu fungieren: „Rechte Pfote, linke Pfote!“ Dabei hob er abwechselnd immer ein Blatt hoch. „Wunderbare Technik Mademoiselle!“, hörten sie sein anerkennendes Lob. Inzwischen kam Kai angerannt. Tyson verschlug es den Atem als er merkte, dass der Kleine einfach unbeobachtet durch die Büsche verschwunden war. Er fragte sich wie lange er weg gewesen war und konnte sich ein Zähneknirschen nicht verkneifen. Dieser Junge war wirklich ein streunender Kater! Einen Moment wolle er ihm auch schon eine lautstarke Standpauke halten, bis das Kind Ray, ohne viele Worte, ein Blatt hinhielt. In dessen Mitte hatte es etwas Wasser geschöpft. Mit zittrigen Fingern nahm ihr Freund die kühlende Erfrischung entgegen und trank gierig daraus. „Das tut gut…“, rief er aus, als das frische Wasser seine trockene Kehle benetzte. Ein dankbares Lächeln folgte, was auch das Kind zögerlich die Mundwinkel heben ließ. Dann bot Ray den anderen auch etwas an. „Trinkt ihr euch mal satt. Ich hole mir selbst etwas.“, wich Tyson aus und wandte sich an den kleinen Jungen. „Zeig mir doch mal wo du das her hast, okay?“ Das Kind nickte eifrig. Tatsächlich führte ihn Kai wenige Schritte von ihrem Standpunkt entfernt an eine kleine Quelle, die geräuschvoll die Felswand hinabplätscherte. Stolz erklärte er ihm, dass er einen kleinen Wasserlauf gesehen habe, als sie kurz zuvor hier entlanggerannt waren und ihm gefolgt sei. Tyson atmete erleichtert aus. So weit war er also doch nicht von der Gruppe weggelaufen. Er ergriff Kais Hand und führte ihn aus dem Sichtfeld der anderen. Der Junge blinzelte ihn fragend an, als er sich mit einem ernsten Gesicht zu ihm herabbeugte. „Hör mal, Kleiner. Ich finde es toll das du Ray helfen wolltest, aber bitte überlass solche Dinge den Älteren.“ „Warum? War das böse?“ „Nein, nein! Überhaupt nicht.“, beteuerte Tyson auf das traurige Gesicht seines Gegenübers. „Aber du bist klein und wir haben gar nicht bemerkt dass du weg warst. Du siehst doch wie schnell Ray von einem Bit Beast aufgegriffen wurde, was denkst du wie leicht es dann für eines ist, dich zu packen?“ „Vielleicht sehen sie mich nicht, gerade weil ich so klein bin.“, zuckte er arglos mit den Schultern und deutete auf die Büsche. „Schau, die sind viel höher als ich.“ „Darauf können wir uns aber nicht verlassen.“, wehrte Tyson den Vorwand entschieden ab. „Wenn wir dir sagen keine Fackeln, kein Feuer und keine Alleingänge, dann meinen wir das so! Und wenn ich dich das nächste Mal darum bitte, dass du mit Max nachhause gehst, dann tust du das ohne Wiederworte und schlägst dich nicht auf seine Seite! Hätte uns der Zufall nicht in die Hände gespielt, säßen wir alle ohne einen Ausweg hier fest, obwohl du die Möglichkeit gehabt hättest, nachhause zu gehen.“ „Max doch auch. Und ihn schimpfst du nicht aus.“ Kai schaute ihn aus großen Kinderaugen vorwurfsvoll an. Seine Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. Da tat Tyson seine Tonlage auch schon wieder leid. „Max kann für sich selbst Entscheidungen treffen. Auch wenn ich nicht begeistert darüber war. Aber du bist der Kleinste von uns und wir müssen auf dich aufpassen.“ „Wolltet ihr mich loshaben?“, fragte Kai unsicher. „Mein Entschluss hatte nichts damit zu tun, dass ich dich loshaben wollte. Ich wollte dich in Sicherheit haben.“ „Das ist doch dasselbe…“ „Nein. Jemanden loshaben will man, wenn er einen nervt. Jemanden in Sicherheit bringen, weil man ihn gerne hat. Wir sind für dich verantwortlich und nicht du für uns.“ „Aber ich war doch auch mal ein großer Kater…“ „Eben! Du warst es einmal. Momentan bist du außer Gefecht gesetzt.“ Kai schaute zu Boden und verhakte die Finger ineinander. Ein trotziger Ausdruck trat auf sein Gesicht. In jenem Moment war er seinem erwachsenen Alter Ego erstaunlich ähnlicher geworden. „Nur weil ihr groß seid, müsst ihr doch nicht alles machen.“ „Wer soll es sonst machen?“ Kai dachte nach, kam wohl aber zu keinem Ergebnis. Stattdessen schaute er beschämt zur Seite. „Ich will aber nicht dass ihr euch immer um mich sorgen müsst.“ Tyson blickte ihn lange an. Er dachte an ihren Streit bevor sie hier gestrandet waren. Damals hatte er Kai vorgeworfen seine Probleme ständig für sich zu behalten, weil er sie nicht um Hilfe bitten wollte. Er wusste dass zum Teil sein übermäßig ausgeprägter Stolz daran schuld war – aber vielleicht machte den Löwenanteil davon, eher dieser kindliche Wunsch aus? Er umfasste sanft seine Schultern und lächelte ihn versöhnlich an. „Na sieh mal an. Ich habe schon wieder etwas über dich gelernt.“, er kniff ihm spielerisch in die Backe. „Das kleine Geheimnis lüftet sich nach und nach.“ Kai schaute ihn verständnislos an und legte den Kopf zur Seite. Offensichtlich begriff er nicht, worauf Tyson anspielte. „Das streunen lässt du aber jetzt wirklich sein.“ „Okay.“ „Nein, nein, nein! Sag nicht okay, wenn du es danach wieder vergisst!“ „Habe ich das?“ „Ja! Als du uns davon erzählt hast, dass du Ray im Wald verloren hattest und du ihn zunächst alleine gesucht hast. Da meinte ich zu dir, du sollst nicht ohne uns hier herumschleichen.“ „Ooh.“, machte Kai aus großen Augen. Das schien ihm tatsächlich wieder entfallen zu sein. „Das war vor wenigen Stunden und du hast es trotzdem wieder vergessen. Dieses Mal will ich ein feierliches Versprechen! Und wenn du es brichst, musst du… Pfeffer auf deine Zunge streuen!“ „Ich will aber keinen Pfeffer auf der Zunge.“, verzog er angeekelt das Gesicht. „Na, dann halt dich lieber daran. Rechte Hand aufs Herz, los!“ Das Kind folgte der Anweisung. „Andere Hand hoch. Nicht die Finger kreuzen!“ Kais Linke schnellte hinauf. „Und jetzt versprich mir, dass du nicht mehr ohne einen Erwachsenen irgendwo hingehst oder einfach abhaust, ohne uns Bescheid zu geben.“ „Ich verspreche es.“ Grimmig nickte Tyson und stemmte sich auf. Er wandte sich zur Quelle und bemerkte, dass er tatsächlich ziemlich durstig war. Als sie zurück kamen half Max dem wackligen Ray auf die Beine. Sobald er auf den Füßen stand, rieb er sich verwundert über die Stelle, wo zuvor der Ast seinen Oberschenkel durchbohrt hatte und begutachtete den Riss in seiner Hose. Nur der blutdurchtränkte Stoff, zeugte noch von der Verletzung, die zuvor dort gewütet hatte. „Heureka!“, jubilierte Allegro plötzlich. „Sie hat einen! Eilt herbei, meine Kinderlein! Es geht in die unteren Etagen.“ Tyson ergriff Kais Hand, während der Rest der Gruppe auch zum Erdloch rannte. Dort hatte Galux eine Wurzel freigelegt, welche knorpelig herausragte. Sie umrundete den Keim und einen Moment rümpfte Tyson ungläubig die Nase, weil das Gewächs überhaupt nicht spektakulär aussah. Niemals wäre er darauf gekommen, dass ausgerechnet diese Wurzel mit dem Weltenbaum zusammenhing. „Hoffen wir nur dass es ein leichter Weg ist.“, meinte ihre Wunderheilerin inzwischen beunruhigt. „Warum sagst du das?“, kam die Frage von Max. „Weil wir sonst eine andere Wurzel finden müssen. Viele Wege führen in die Menschenwelt, aber nicht jeder Weg ist gut passierbar. Vor allem für Wesen wie euch, die nie auf Yggdrasil reisen. Doch diese hier… riecht eigentlich recht gut.“ Galux umrundete die Wurzel und biss schließlich hinein, um dreimal daran zu ziehen. Zunächst passierte nichts, doch da hörten sie hinter der Felswand ein lautes Poltern. Plötzlich zog sich ein Riss durch das Gestein. Es knackte und kleine Splitter rieselten herab. Dann ging alles rasend schnell… Sie schraken zurück, als ein Teil der Wand in ein dunkles Erdloch hinabgezogen wurde. Der zentnerschwere Brocken fiel in die Finsternis darin. Unsicher trat die Gruppe näher. Tyson spitzte die Ohren und versuchte den Aufprall auszumachen, doch es schallte nichts zu ihnen hinauf. Das Eigenartige aber war, dass, sobald die Wurzel nicht mehr vom Mondlicht berührt wurde, im Stollen anfing zu schimmern. Sie bahnte sich in einer steilen Kurve ihren Weg hinab, tief ins Erdreich, bis auch diese Lichtquelle verschluckt wurde. „Da sollen wir runter?“, fragte Max ungläubig. „Ihr sollt nicht. Ihr müsst.“, korrigierte Galux ernst. „Wir müssen aus diesem Teil der Irrlichterwelt verschwinden. Niemand weiß wie der Kampf zwischen den Uralten ausgehen mag. Driger ist Dragoon ein ebenbürtiger Gegner und wird es ihm keinesfalls leicht machen!“ Sie senkte den Blick und der nächste Satz schien ihr schwer über die Lippen zu kommen. „Aber falls der König der Bit Beasts doch…“ Die Worte blieben unausgesprochen. „Müssen wir von hier verschwunden sein.“, brachte Ray die Lage klar auf den Punkt. Er wusste nicht was er von Drigers Tat halten sollte. Ein kleiner Teil von ihm wollte ihm seine Grausamkeit nicht vergeben. Doch ein weitaus größerer Teil wünschte ihm auch nicht den Tod. Er wandte sich an die Gruppe. „Denkt ihr wir können es wagen?“ „Ich bin noch verletzt.“, merkte Max etwas unsicher an. „Diese Wunde ist eine Leichtigkeit für mich.“, erklärte Galux. „Und Kai?“ „Ich kann doch auch allein hinunterklettern?“ „Nein, du bist zu klein.“, kam es von allen gleichzeitig. Er schaute bockig zu Boden. „Hey, ich mache es wie damals als wir ihn vor Dranzer gerettet haben. Er soll auf meinen Rücken steigen und ich ziehe meine Jacke über uns beide drüber.“, meinte Tyson. „Okay… Das könnte klappen.“, Max blickte nachdenklich in den Stollen. „Nur mal so aus Neugierde. Wie tief geht es dort hinunter?“ „Wie tief?“, Galux legte ihren Kopf verwirrt zur Seite. „Nur eine ungefähre Zahl. Zwanzig, dreißig, hundert Meter?“ „Wie willst du die Tiefe von etwas messen was keinen Boden besitzt?“ „Aber…“, Max verschlug es einen Moment den Atem. „Es muss einen Boden geben! Worauf wächst die Wurzel den sonst? Worauf steht die Irrlichterwelt? Es muss einen Erdkern geben, auf dem sich das Gestein schichtet! Die Wurzel kann ja wohl kaum im Nichts herumschweben.“ „Gewiss tut sie das. Warum auch nicht?“ Die Gruppe blinzelte das Bit Beast konfus an und Galux blickte ebenso irritiert zurück. Offenbar begriff hier keine Partei, den Standpunkt der anderen, weil ihre Denkweisen zu weit auseinander drifteten. „Wohin klettern wir dann jetzt?“ „Ihr klettert auf den Weltenbaumzwillingen. Sie sind das Fundament auf welchem beide Welten stehen. Ein Stamm wächst in die Irrlichterwelt, während sein Zwilling in die Menschenwelt ragt. Sobald wir ihren Knotenpunkt passiert haben, gelangen wir wieder in eure Heimat.“ „Aber worauf stehen diese Bäume denn?“, fragte Max erneut, allerdings drängender. „Auf Nichts, mein unwissendes Menschenkind. Es bedarf keinem Boden, nur seinen Verästelungen.“ „Aber das ist…“ „Unlogisch? Keinesfalls. Ihr Menschen glaubt doch auch, dass eure Planeten im Nichts herumschweben. Warum darf das also nicht der Weltenbaumzwilling?“ Betroffene Gesichter schauten das Bit Beast an. „Gebt Acht dort unten und stürzt nicht hinab. Desto tiefer ihr fallt, desto ungewisser ist euer Schicksal. Ihr könntet auf ewig in der Unendlichkeit schweben.“ Die Blicke schnellten zu Galux. „Faszinierend!“, Allegro kletterte auf Tysons Schulter und lugte neugierig in den Stollen hinein. Ihm fiel ein, dass die kleine Strommaus ihnen einmal erzählt hatte, dass es der Unterklasse untersagt war, diesen Weg zu verwenden. Es musste für ihren wackeren Mäuserich genauso spannend sein, wie für sie. Was das betraf konnte man ihn wohl als Pionier bezeichnen. „Naja. Es hilft wohl nichts.“, antwortete Max widerwillig. „Nein. Ich gehe aber voraus.“, erklärte Ray. „Warte mal, du hattest vor einer halben Stunde noch einen Ast im Bein!“ „Es geht schon Tyson. Ich habe überhaupt keine Schmerzen mehr und du solltest mit Kai die Mitte bilden, falls ihr abrutscht.“ „Keiner von euch bildet die Vorhut. Das mache ich.“, erklärte Galux. „Ich bin die Einzige welche die Menschenwelt dort unten wittert. Es gibt tausende Abzweigungen und jede könnte zu einem falschen Ort führen. Wir könnten im falschen Land, auf dem falschen Kontinent, oder schlimmer noch, in einer menschenfeindlichen Gegend herauskommen. Ich vermute keinem von euch beliebt die Vorstellung, am tiefsten Punkt eines Meeres aufzutauchen.“ Betretenes Schweigen trat auf. „Okay, das ist Argument.“, pflichtete Tyson schließlich bei. „Also, Galux geht vor. Danach Ray. Ich folge mit Kai. Danach kommt Max.“ „Wieso bin ich der Letzte?“ „Weil du scheiße kletterst.“, kam es von seinen Freunden wie aus der Pistole geschossen. „Hey! Ihr könntet wenigstens höflich bleiben!“ „Als wären wir in unseren Umgangsformen jemals höflich gewesen.“, antwortete Tyson mit einem Schulterzucken. Maxs berüchtigter Schmollmund trat auf. Er schaute seine Freunde vorwurfsvoll an und das schlechte Gewissen ließ nicht lange auf sich warten. „Hör auf so zu schauen.“, antwortete Ray mit einem nachsichtigen Lächeln. Galux tippelte vorsichtig zur Wurzel und begann den Abstieg, während er ihr folgte. „Wenn wir jemanden brauchen der uns in New York, zum nächsten Pizza Hut führt, darfst du zuerst voraus.“ Als es endlich an Max war, an der Wurzel hinabzuklettern, rief er seinen Freunden hinunter: „Immerhin kann ich anständig Auto fahren, ihr Blindgänger!“ Es mochte eine viertel Stunde später sein, da waren sie schon ein beachtliches Stück geklettert. Der Untergrund war atemberaubend, denn immer wieder fanden sich kleinere, leuchtende Abzweigungen, welche zu einem anderen Ausgang des Wurzelwerkes führten. Einmal erspähten sie sogar einen Wasserfall, der vor einem Loch friedlich herabströmte, bis Tyson bemerkte, dass auch Fische munter in den Fluten herumschwammen. Sie trieben stromauf und wieder stromabwärts, da wurde ihm erst klar, dass das gar kein Wasserfall, sondern ein Flusslauf war. Als er genau hinsah, erkannte er sogar Bäume, die links und rechts neben dem Ufer heraufragten. Eine weitere Wurzel führte in einer schier endlosen Spirale in einen Ausgang, der steil nach unten führte. Dort machte man aber an der Öffnung nur den Himmel aus, während kleine Schäfchenwolken vorbeizogen. Es gab am Wurzelwerk scheinbar weder oben, noch unten. Kein Rechts, kein links. Hier suchte man vergeblich nach physikalischer Logik. Sie kletterten hinab, aber kamen vielleicht auf einer Bergspitze heraus? Er wunderte sich schon gar nicht mehr darüber… „Schau mal Tyson.“, wisperte Kai leise neben seinem Ohr. Das Kind lockerte den Griff um seinen Hals und deutete auf einen wirklich kümmerlichen Ausgang. Gerade mal ihr Kopf hätte da hindurchgepasst. Dort schien die Wurzel tatsächlich in das Innere eines Baumes zu führen, wo ein dunkelgraues Eichhörnchen Bit Beast selig schlief. Hinter dem winzigen Geschöpf lag eine Öffnung im Baum und ein Blick nach draußen verriet, dass es sich in einem Teil der Irrlichterwelt befand, welcher unter einer dicken Schneeschicht ruhte. Womöglich war es Wolborgs frühere Heimat… „Ob es Winterschlaf hält?“, wollte Kai neugierig wissen. Er flüsterte so behutsam, als fürchtete er, ein kleiner Laut könne das winzige Wesen aufschrecken. „Vielleicht.“, grinste Tyson auf die kindliche Frage. Einfach putzig… Sobald ein Tier in der Nähe war, konnte der Kleine nicht mehr die Augen davon ablassen. So langsam schien er in ihrer Gegenwart auch richtig aufzutauen. Er bemerkte wie Kai noch während der Kletterpartie, einige Mal von seinem Rücken aus hinauf spähte, in der Hoffnung noch einen letzten Blick auf das Bit Beast erhaschen zu können. Wenn sie wieder zuhause waren, würde er mit ihm einmal in den Zoo gehen, einfach um seine Reaktion zu beobachten. Oder vielleicht ein Tierheim? In seinem Kopf malte er sich aus, wie Kai in einen argen Gewissenskonflikt kam, weil er insgeheim den sehnsüchtigen Wunsch hegte, einen winzigen Welpen zu streicheln, aber gleichzeitig nicht vor seinen Freunden wie ein Weichei dastehen wollte. Vielleicht entpuppte sich das aber auch als dessen Kryptonit und er konnte gar nicht anders, als seine Deckung fallen zu lassen und den Welpen mit einem leisen Seufzen, auf den Arm zu nehmen und an sich zu drücken. Ob er dann genauso verträumt dreinschaute, wie bei der Katzengeschichte? Tyson überlegte ob er sich nochmal ein Haustier zulegen sollte. Dieses Mal aber ein Kätzchen. Ein Hund kam ja wegen der Allergie seines Großvaters nicht mehr in Frage. Dann würde Kai vielleicht öfters bei ihm vorbeikommen. Sie könnten mehr Zeit miteinander verbringen. Heilige Scheiße, er tüftelte schon an einer Strategie um ihm näher zu kommen… Tyson verzog verärgert die Mundwinkel, weil er seine verwirrenden Gefühle nicht im Zaun halten konnte, erst recht nicht, als Kai traurig das Kinn auf seiner Schulter legte, weil das Eichhörnchen nun außer Sichtweite war. Wären sie in einer anderen Situation gewesen, hätte der Kleine wohl stundenlang, das niedliche Tierchen bei seinem Winterschlaf beobachtet und über jedes Zucken seiner Beinchen gelächelt. Wie konnte jemand der als Kind so wundervoll war, als Erwachsener nur so verflucht verschlossen werden? Er hätte Kai vielleicht mehr auf den Zahn fühlen sollen. Auch wenn sie sich jetzt mittlerweile ein Jahrzehnt kannten, so richtig viel von seiner Zeit in der Abtei, oder seiner frühen Kindheit, hatte er nie preisgegeben. Dann war da noch die Sache mit seinen Eltern. Es war erst herausgekommen, als Kais Mutter wieder auftauchte. Tyson hatte sich die Frage einfach nicht verkneifen können, was damals vorgefallen war, dass seine Eltern ihn ausgerechnet bei Voltaire zurückließen. Ihm schien es offensichtlich, dass der grantige Alte, nicht dafür geeignet war, einen Jungen großzuziehen. Die Gruppe wusste, dass Kai nicht gerne offen über diese Zeit sprach, doch es war eine Frage, über die sie alle bereits zu lange spekuliert hatten. Er konnte sich noch erinnern, wie ernst Kai in die Runde geschaut hatte. Sein Blick war nachdenklich, von einem Gesicht zum Nächsten gehuscht, bis er mit einem leisen Seufzen nachgab und ihnen so knapp wie möglich, eine kurze Schilderung, der damaligen Ereignisse gab. Als Tyson zum Ende hin fragte, weshalb er ihnen das nicht schon früher erzählt hatte, war Kais Antwort nur gewesen, dass er damit abgeschlossen habe. Irgendwie beschlich ihn aber das Gefühl, dass er nur verdrängte, was ihm damals widerfahren war. Als wollte Kai sich nicht eingestehen, wie tief ihn diese Zurückweisung verletzt hatte. Tyson musste an ihren letzten Streit denken. Wie hasserfüllt Kai über seine Mutter gesprochen hatte. Es war nicht dessen Art, jemanden als „Schlampe“ zu bezeichnen. Wenn er jemanden beleidigte, dann mit spitzen Bemerkungen, die so gescheit formuliert waren, das man manchmal gar nicht sofort begriff, wie viel Sarkasmus eigentlich darin mitschwang. Stumpfsinnige Schimpfwörter verwendete Kai wirklich nie. Tyson spürte dessen Atem seine Wangen streifen. Die warmen Kinderbäckchen an seiner Haut. Was war mit seinem silbergrauen Kater passiert, dass er damals so wütend die Krallen gegen ihn ausgefahren hatte? Tyson hätte so gerne noch einmal mit Kai über diesen Streit gesprochen. Sie fuhren sich gerne schon mal über den Mund, aber das damals… Das war vollkommen ausgeartet. Er hatte Kai noch nie die Faust gegen ihn ausholen sehen. Diese Überlegung ließ Tyson keine Ruhe – und es machte ihn unachtsam. Er rutschte mit der Schuhsohle von der Rinde und ließ sie beide erschrocken ausrufen. „Was ist los?“, schallte Rays Stimme besorgt zu ihnen auf. Er war schon viel weiter gekommen, als der Rest der Truppe, hielt aber mehrmals inne, um nach ihnen Ausschau zu halten. „Ich bin nur abgerutscht. Alles in Ordnung.“ „Ha! Du kletterst auch scheiße!“, trällerte Max schadenfroh von oberhalb. „Und trotzdem immer noch besser als du!“ „Hört ihr jetzt auf damit?! Galux meint ihr sollt leiser sein, wenn ihr keine Geister anlocken wollt!“, er spürte wie sich Kai auf seinem Rücken verkrampfte. Dann fügte Ray hinzu: „Die Wurzel wird dicker.“ Tyson horchte auf. „Ist das ein Problem?“ „Ja, weil sich dann nicht mehr richtig umfassen lässt. Ihr müsst gleich wirklich aufpassen.“, rief er hinauf. Tyson wollte Max zurufen, ob er auch Rays Warnung verstanden habe, da ließ ein lautes Donnern die Wurzel erzittern. „Was ist das?“, fragte Kai entsetzt. „Keine Ahnung!“ Tyson grub seine Nägel so fest in das Holz das es schmerzte. Als er hinaufschaute, konnte er weit in der Ferne, den Eingang aus dem sie gekommen waren, nur noch als winzigen, stecknadelgroßen Punkt ausmachen. Dann hörte er etwas Poltern und später Max, der einen erschrocken Schrei von sich gab, als das Gestein um das Erdloch herum sich löste und an ihm vorbeisauste. Keine zwei Sekunden später rauschte es um Haaresbreite auch an ihnen vorbei. „Passt auf da unten!“, Tyson hoffte inständig das sie seine Warnung noch hörten. Gerade eben hatte Galux Ray vom Geschwür befreit, da musste es nicht sein, dass er jetzt auch noch ein Loch im Kopf hatte. Unweigerlich fragte er sich, was einen solchen Erdrutsch ausgelöst haben mochte. Eine Attacke? Es könnte durch die Erschütterungen, welche die kämpfenden Uralten in ihrem Teil der Irrlichterwelt verursachten, entstanden sein. „Tyson, da oben rutscht Max auf uns zu!“ Kais erschrockener Ausruf riss ihn aus seinen Überlegungen. Er hörte einen Schrei, der sich immer schneller in ihre Richtung anbahnte und da bemerkte Tyson erst, dass Max auf direktem Weg zu ihnen herabrutschte. „Halt dich doch fest!“, rief er ihm panisch entgegen. „Was glaubst du versuche ich hier?!“, brüllte der ihm noch panischer entgegen. Sie kollidierten gegeneinander und Tyson geriet durch das zusätzliche Gewicht auf ihm ebenfalls ins Rutschen. Maxs Hintern presste sich gegen seine Schädeldecke. Er versuchte verzweifelt sich an der Wurzel festzukrallen, doch das tat höllisch weh, vor allem wenn sich das Holz löste und die Splitter drohten, sich unter seinen Nagel zu schieben. „Vorsicht da unten!“, warnte Allegro von Maxs Haarschopf aus. „Menschliches Gesäß auf Kollisionskurs!“ Sie rutschten gnadenlos weiter, bis er Rays erschrockenen Ausruf vernahm, als der nun in den Geschmack seines Hinterns kam. Also das passte Tyson nun überhaupt nicht. An seiner Hinterpforte wollte er verdammt noch mal niemanden haben! „LEUTE!“, schrie ihr Untermann angeekelt aus. Er konnte sich vorstellen, dass Ray die Vorstellung von Tysons Pobacken auf seinem Kopf, auch nicht sonderlich gefiel. Freunde hin oder her, manche Sachen musste man echt nicht teilen. Doch bevor er ihm beteuern konnte, dass das absolut nicht in seiner Absicht war, hörten sie auch schon Galuxs Fauchen, als die Gruppe sie in voller Talfahrt erfasste. Es klang als wäre ihr jemand auf den Schwanz getreten – wie eine aufgebrachte Katze eben! Tyson spürte das die Wurzel zwischen seinen Armen immer breiter wurde und er bekam zunehmend Schwierigkeiten sich daran festzuhalten. Da machte die Pflanze einen Schlenker und sie brachen alle aus der Kurve heraus. Er vernahm die panischen Schreie seiner Freunde neben sich und erspähte mitten im Flug eine riesige, glimmende Wurzel, auf welche sie direkt zusteuerten. Wie ein Mantra schoss das Flehen durch seinen Kopf, doch bitte darauf zu landen und irgendeine Gottheit musste es gut mit ihnen meinen. Der Aufprall war verdammt schmerzhaft, doch Tyson fühlte kurz darauf die rettende Wurzel unter sich. Sie rollten über ihr hinweg. In diesem Wirrwarr bekam er Rays Verse in den Magen, Kai keuchte unter ihm erstickt, auf als Tyson auf dem Rücken landete, doch siehe da… Sie lebten noch! Als sie zum Liegen kamen, blieb er zunächst reglos liegen. Ein weiteres Mal hatten sie mehr Glück als Verstand gehabt. Da bekam er einen unsanften Hieb gegen seine Schulter. „Du erdrückst mich!“, vernahm er die dumpfe Stimme des Kindes unter sich. Kais Füße zappelten an seiner Seite um frei zu kommen. Er setzte sich stöhnend auf und hörte sein Anhängsel panisch nach Luft schnappen, da drang Maxs Schrei zu ihnen. „Hilfe! Jungs helft mir!“, alarmiert schaute sich Tyson um, doch er bemerkte erst wo das Problem lag, als Ray neben ihm wie von einer Tarantel gestochen aufsprang, um zu einem Paar Hände zu rennen, welches sich verzweifelt am knorpeligen Rand der Wurzel festklammerte. Dabei überschlug sich Maxs Stimme vor Angst. Tyson rannte Ray hinterher und machte die Gestalt seines Freundes im Dunkeln aus, dessen Füße in der Luft baumelten und von der unebenen Rinde der Wurzel abrutschten, während sich unter ihm nur gähnende Leere auftat. Gemeinsam packten sie Max an den Handgelenken und zerrten ihn auf den Weg zurück. „Du kannst von Glück reden dass dich Galux zuvor geheilt hat.“, blaffte ihn Tyson an. „Bei seinen Kletterkünsten wäre er sogar mit einem Arm besser dran.“, maulte Ray neben ihm ebenfalls los. Max rieb sich den Kopf und schaute seine Freunde anklagend an. „Es tut mir Leid, okay?“ „Das nächste Mal lassen wir Kai klettern und schnallen dich auf den Rücken.“ „Lass mich raus!“, hörten sie die erstickte Stimme des Kindes auch schon. Tyson spürte wie er sich krampfhaft gegen seinen Rücken stemmte um sich frei zu bekommen. Kai versuchte unter dem Stoff der Jacke hervorzukriechen, war aber irgendwie steckengeblieben, bis Tyson ihn entließ. Sein Kopf war hochrot, die Haare wild durcheinander und er atmete schwer aus, dabei schaute das Kind ihn grimmig an. „Ich gehe da nie wieder drunter!“, stellte er eingeschnappt klar. „Oh weh! Das ist wahrlich ein Missgeschick.“, sie erspähten Galux Gestalt, die mit einem besorgten Kopfschütteln am Rand des Weges stand und in die Finsternis hinabschaute. „Das war keinesfalls der Weg welchen ich im Sinn hatte!“ „Sind wir sehr weit abgekommen?“ „Das nicht.“, erklärte sie Ray mit ihrer ruhigen Tonlage. „Doch das hier ist ein Wurzelweg, der mit Vorliebe von kürzlich verstorbenen Geistern genommen wird. Gerade das wollte ich eigentlich vermeiden. Frisch Verstorbene sind nämlich besonders aggressiv.“ „Ai, ai, ai!“, entfuhr es Allegro bang. „Und es gibt keine Möglichkeit wieder zurück auf den alten Pfad zu finden, Mademoiselle?“ „Ich könnte es mit einem beherzten Sprung schaffen. Aber die Menschen…“, sie blickte seufzend auf die Wurzel, welche sie zuvor für den Abstieg genutzt hatten. Weit außerhalb ihrer Reichweite, leuchtete sie im Zwielicht munter vor sich her, während sie nun auf der falschen Abzweigung festsaßen. „Müssen wir jetzt zu den Geistern?“, wollte Kai wissen. Tyson war sich nicht sicher was er ihm nun antworten sollte. Natürlich wollte er ihn nicht belügen, aber offensichtlich hatte das Kind Angst, was ja auch verständlich war. Ihm selbst jagte der Gedanke auch einen kalten Schauer über den Rücken. „Leider ja.“, antwortete Ray neben ihm. „Aber wir passen auf dich auf. Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Ich habe keine Angst.“, nuschelte er. Doch dabei knetete er so heftig mit den Fingern, dass die Geste seine Worte nur Lügen strafte. Scheinbar verspürte Kai den Wunsch, innerhalb der Älteren nicht schwach zu wirken. Warum kam ihm das so bekannt vor? Tyson rollte bei diesem Gedanken mit den Augen und legte seine Finger auf den Haarschopf des Jungen. „Wir schaffen das. Du bleibst bei uns und lässt meine Hand einfach nicht los.“ Er stützte sich auf und klopfte den Staub von seiner Hose. „Bleibt uns noch Zeit um vielleicht einen Umweg zur alten Wurzel zu finden?“ „Keinesfalls.“, sprach Galux todernst. „Wir müssten wieder an die Oberfläche steigen, den Weg zum Talkessel finden und wieder durch den Dschungel, zu unserem Ausgang klettern. Es wäre ein Umweg von mehreren Tagen!“ Er wandte sich seufzend dem Rest der Gruppe zu. In jedem der Gesichter las er dasselbe. Keiner wollte einen Geist treffen – aber sie wussten das es nur noch diesen Weg für sie gab. „Was meint ihr?“ „Naja.“, murmelte Max. „Wir sind soweit gekommen.“ Ray verschränkte grübelnd die Arme vor der Brust. „Und wir wussten dass die Gefahr einen Geist zu treffen besteht.“, er zuckte ratlos mit den Schultern. „Eine andere Wahl bleibt uns nicht, oder?“ Tyson nickte. Es ließ sich nichts mehr daran ändern. So knapp vor dem Ziel durften sie jetzt nicht nachgeben. Da zog er irritiert die Braue hoch. Weit hinter seinen Freunden machte er eine humpelnde Gestalt aus. Sie leuchtete in einem fahlen, kalten Licht und wirkte wie eine glimmende Nebelschwade. Ihre Bewegungen waren unnatürlich und sie steuerte auf die Gruppe zu. Er brauchte nicht lange um zu ahnen was das war. Augenblicklich wurde ihm eiskalt, womit er nicht alleine dastand. Max fröstelte und bemerkte verdutzt, dass sein Atem als kleine Wolke aufstieg. „Beeilt euch.“, drängte Galux leise. Sie hatte ebenfalls bemerkt dass sie nicht mehr alleine waren. Ihre Augen wurden zu wachsamen Schlitzen. „Wir müssen weiter. Von nun an tun wir besser daran, immer in Bewegung zu bleiben.“ * Sie fühlte die Hände ihres Kindes. Die Fingerkuppen strichen langsam über den geschundenen Leib. Wohltuend, vorsichtig, mitfühlend. So wie sie es liebte. Derlei Zärtlichkeit war in den letzten Tagen so selten geworden, sie konnte sich kaum erinnern wann eines ihrer Kinder so besorgt um sie gewesen war. Jeder von ihnen ging seinen eigenen Weg und sie als Mutter hatte deshalb losgelassen. Denn so war das Leben eben… Man wuchs heran und suchte seinen Platz. Sie wusste immerhin auch ihren eigenen. Wie hätte sie ihren Kindern also verwehren sollen ihrer Bestimmung nachzugehen? Dennoch… Dieser Tage hinterfragte sie immer mehr ihren damaligen Entschluss. Denn was sich um sie herum abspielte, ließ ihre Rinde vor Trauer brüchig werden. Ihr Ältester war tot! Ermordet durch ihren zweiten Sohn. Dieser Schmerz… Er hinterließ eine weitere, viel tiefere Kerbe in ihrem Körper, die sich bis ins Innerste ihres Kernes hineinfraß. Sie wollte Schreien. Sich Gehör verschaffen. Diesen Grausamkeiten ein Ende bereiten. Doch niemand hörte ihr Klagen, denn dazu fehlte ihr die Stimme. Keiner wusste dass sie weinte, denn wo hätte sie die Tränen hernehmen sollen? Wie beneidete sie ihre Kinder um diese Fähigkeit, zumal sie hier stand, fest angewurzelt an ihren Zwillingsbruder, mit einer Trauer im Leib, welche aus ihr herauswollte, der sie aber keinen freien Lauf lassen konnte. Zumindest eines bereitete ihr Linderung. Eines ihrer Kinder war hier. Und es weinte. Für die Mutter. Für jenes Geschöpf was als Weltenbaum dazu nicht in der Lage war. Sie hatte diesen Geist auf den Namen Draciel getauft. Es war nach Driger eines der ältesten Wesen. Und mitunter das verständnisvollste… Es galt unter seinesgleichen als verschwiegen, manche schimpften Draciel sogar als unheimlich. Dabei eiferte das Bit Beast doch nur seiner Mutter nach. Schon während ihrer zarten Anfänge hatte die Schildkröte gespürt, dass der Weltenbaum sich mitteilen konnte, wenn man nur genau hinhorchte. Deshalb war Draciel auch verstummt, denn es wollte keinen Laut der Mutter verpassen. Es war so gehorsam und auf andere Art treu ergeben. Daher spürte es den Kummer, der durch ihre Verästelungen pulsierte, als ihr geliebter Sohn starb. Draciel wusste das ihr zum Weinen zu Mute war und weil sie selbst dazu außerstande war, tat die Schildkröte es eben für sie. Über das menschliche Gesicht, welches es sich geborgt hatte, rollten dicke Perlen, die eine feuchte Bahn auf der blassen Haut hinterließen. Warum waren nicht alle ihre Kinder sowie Draciel geraten? Etwas musste sie falsch gemacht haben… Die Vorwürfe waren schlimmer als die Trauer um Drigers Verlust. Der Weltenbaum konnte sich nicht erklären, weshalb ihr jüngster Sohn sich so grausam verhielt. Was er tat, war nicht im Sinne der Natur. Nicht in ihrem Sinne! So hatte sie ihre Kinder nicht aufgezogen. Das Wurzelwerk knarzte leise, der Klang schallte noch lange in der Finsternis. Es war ihre Art zu schluchzen. Ihre Überlegungen schweiften zurück, zu jener Zeit, als die Welt sich noch formte - als auch sie noch jung war. Sie erinnerte sich, wie Dragoon sich eine Gefährtin gewünscht hatte, da ihm keiner der anderen Uralten zusagte. Ihr Sohn war so enttäuscht gewesen und da er damals noch der Jüngste in der Gruppe war, hatte sein Kummer sie ebenfalls traurig gestimmt. Er war doch ihr Nesthäkchen gewesen und man verwöhnte das jüngste Kind doch immer ein wenig. Also hatte der Weltenbaum darüber nachgedacht, wie sie ihren Sohn wieder glücklich machen könnte, denn so waren Mütter nun einmal. Sie wollten nur das Beste für ihren Nachwuchs. Es gab da aber ein Problem… Die Elemente waren bereits komplett. Doch da gab es Eines, mit dessen Erschaffung sie gezögert hatte, da sie nicht wusste, ob es zum Wohle der Welten war. Emotionen… Denn ja, auch die waren ein Element. Wenn auch eher ein unsichtbares, doch das war die Luft schließlich auch. Gefühle konnten wundervoll beflügelnd, aber auch verstörend grausam sein. Und die Weltenbaummutter hatte eigentlich bereits beschlossen, dass die Nachteile den Vorteilen gegenüber zu stark überwogen. Es war schon sicher gewesen, das dieses Element nicht auf das Angesicht der Erde treten sollte. Sie befürchtete dass die Geister dadurch nur in heillose Streitereien verfallen könnten. Zudem gab es zu diesem Zeitpunkt auch nur vier Lebewesen. Driger, Draciel, Wolborg und Dragoon… Der neue Geist hätte sich womöglich gelangweilt, weil dessen Aufgabengebiet sich zunächst nur, auf diese wenigen Wesen beschränkte. Aber dann war da Dragoon gewesen. Er wirkte so niedergeschlagen ob des jetzigen Zustandes und so hatte sie ihre Entscheidung noch einmal überdacht. Ihr kam in den Sinn, dass das wichtigste Gefühl – nämlich die Liebe – doch eine warme Empfindung war und der Langeweile entgegengesteuert werden könnte, indem man dieses Bit Beast, auch zu einem Feuerwesen machte. Es sollte Wolborg zur Hand gehen und ihre Schwester werden. Also gebar der Weltenbaum aus einem Sonnenstrahl, ein kleines Phönixküken, das von da an als Dranzer bekannt sein sollte, füllte ihr Herz mit Empfindungen und gab ihr somit ein Stückchen von ihr selbst mit – wie sie es bei jedem ihrer Kinder tat. Dragoon war so glücklich gewesen. Seine Augen strahlten als er Dranzer erblickte und sein Herz quoll sofort über mit dieser warmen Empfindung. Liebe auf den ersten Blick… Ja, die gab es tatsächlich. Dabei wusste ihr Jüngster noch nicht einmal was da mit ihm vorging. Hätte sie Lächeln können, die Weltenbaummutter hätte es getan. Diese Naivität ihrer Kinder war einfach herzallerliebst. Die zaghaften Annäherungen in Form von neckenden Worten. Wie er Nacht für Nacht Dranzers Nähe suchte und beide gemeinsam aufbrachen, damit Dragoon sie das Fliegen lehren konnte. Es war ihre Idee gewesen, aus dem zweiten Feuer Bit Beast einen Phönix zu machen, denn so bräuchte das Küken einen Fluglehrer. Auch wenn sie etwas überrascht ob Dragoons Gerissenheit war, als er Dranzer recht hinterhältig in einen Pakt lockte. Doch das Herz wollte, was das Herz eben wollte. So dachte sie zumindest… Sie schaute gerührt auf die beiden Gestalten, welche sich des Nachts aneinanderschmiegten und empfand ihre Entscheidung damals als richtig - bis der Neid die junge Liebe zerfraß. Die Mutter aller Bit Beats war entsetzt, als sie erblickte, was diese Emotion mit ihren Geschöpfen anstellte. Selbst ihren Zwillingsbruder bat sie um Rat, doch was viele Lebewesen nicht wussten war, dass ihr Bruder, dessen Stamm in die Menschenwelt wuchs, der Weltenbaum des Todes war. Deshalb besaß jedes Wesen dort nur eine begrenzte Lebensspanne, während man in der Irrlichterwelt sein Dasein ewig fristen konnte, so lange man nicht von einem anderen Bit Beast getötet wurde. Den einzigen Rat, den er ihr also erteilen konnte, war, dass alles ein Ende fand. Selbst die zärtlichste Liebschaft konnte in einem entsetzlichen Hass enden – und er ermahnte sie, den Dingen ihren Lauf zu lassen. So sah der Weltenbaum des Lebens dabei zu, wie die Fehde zwischen Dragoon und Wolborg anschwoll. Und das alles weil sie Dranzer in die Welt gesetzt hatte. Dabei war der Anfang doch so verheißungsvoll gewesen… Die Weltenbaummutter entschied daraufhin, nie wieder einen solchen Einfluss auf die Dinge zu nehmen. Sie hatte einen Fehler gemacht. Die Natur war eben auch nicht fehlerlos. Selbst als ihr jüngster Sohn, Wolborg vertrieb, schwieg sie zu diesem Racheakt. Doch als ihre kleine Wölfin starb, da war es für die Weltenbaummutter ein großer Schmerz. Sie hatte gedacht, dass nichts ihr Leid übertrumpfen konnte – bis nun auch Driger vom Antlitz der Welt verschwand. Zwei ihrer Kinder waren tot. Dabei hatte sie jeden Schritt der beiden von klein auf verfolgt. Sie wusste noch wie Driger als winziger Tiger, das erste Mal versuchte einen Fisch zu fangen und dabei ungeschickt ins Wasser stürzte. Als er aus den Fluten wieder hervortapste, hatte er am ganzen Leib gebibbert und sein Fell klebte ihm auf der Haut. Er machte einen so betrübten Eindruck, dass es die Weltenbaummutter bekümmerte, dass sie keine Glieder besaß, um ihn in eine tröstende Umarmung zu ziehen. Wie ein kleines nasses Fellknäuel schaute er drein und leckte sich dabei schmollend trocken. Und Wolborg… Wie sie als junge Wölfin ruhig in ihrem Unterschlupf schlummerte und sich dabei in ihrem dicken Fell einrollte. Ihre Ohren hatten dabei gezuckt und manches Mal, da jaulte sie auch leise, weil sie träumte. Wann immer die Blätter rauschten, hatte sie schläfrig den Kopf gehoben, in der Luft nach Gefahr geschnüffelt, um dann doch wieder selig weiterzuschlafen. Dann war da Dranzer. Ihr putziges kleines Küken. Das war doch einst so liebreizend gewesen, bevor der Schmerz ihr Herz zerbrach. Wie hatte der Weltenbaum es nicht geliebt, wenn sie ihren Kameraden ein schönes Schlaflied fiepte. Wann immer sie es tat, ging die Sonne mit ihrem Gesang unter. Es war ihre Art gewesen, der Welt eine gute Nacht zu wünschen. Doch anstelle ihrer Liebe, war da nur noch blinder Hass. Der unstillbare Durst nach Rache. Sie konnte nicht begreifen, weshalb ihre einst so süße Tochter, ihr so wehtat. Erneut knarzte das Wurzelwerk. Der Kummer würde sie noch umbringen. „Mutter…“, hörte sie Draciels Flüstern. Die Zeit des jahrelangen Schweigens hatte die Stimme des Bit Beasts schwächer werden lassen. Als wären die Stimmbänder aus der Übung geraten. „Du… leidest.“ Ja. Sie litt Qualen. Ihr wäre es lieber zu sterben. Erneut tropfte eine von Draciels Träne auf ihre Rinde. Was hatte sie doch für ein liebes Kind… Inmitten dieses Gedankens fühlte sie jedoch Schritte auf ihrem Körper. Es waren die Menschenkinder, die den Wurzelweg passierten. Diese Geschöpfe welche von Dragoon hierher verschleppt worden waren. Der Ursprung des jetzigen Tumults. Einen Moment beobachtete der Weltenbaum die Gruppe, welche von zwei weiteren Bit Beasts begleitet wurden. Auch diese waren doch eigentlich ihre Kinder und dennoch halfen sie den Menschen. Sie musste an die Worte ihres Bruders denken, der sie ermahnt hatte, nicht mehr in das Geschehen einzugreifen. Doch sie verwarf den Gedanken. Draciel war des Schweigens überdrüssig geworden- und sie nun auch! Einer ihrer dünnen Wurzeln streckte sich in einem verzweifelten Kraftakt, zum Handgelenk ihres Kindes. Es brauchte viel Stärke um diese kleine Bewegung zu vollführen, denn ein Baum bewegte sich nur, wenn der Wind durch sein Laub wehte. Dennoch schaffte sie es behutsam über Draciels Haut zu streicheln, um ihre Botschaft zu übermitteln. Das Bit Beast schaute lange auf die Wurzel herab, bis es endlich nickte. Draciel hatte verstanden. Es wischte sich die letzte Träne fort. Damit erhob es sich endlich. ENDE KAPITEL 32 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)