Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 38: ------------ Er fühlte seine Finger nicht mehr. Sie waren irgendwann taub geworden. Als wären sie gar nicht mehr da. Lediglich der Ruck der permanent auf seinem Arm ausgeübt wurde, erinnerte Kai daran, dass da noch jemand war, der ihn in dieser Finsternis hielt. Sein Körper kam ihm beinahe schwerelos vor. Winzige Bläschen entstiegen seinem Mundwinkel. Das Kind fror… Er bekam keine Luft und Kai wurde so müde. Da lag ein Druck auf seinem Kopf. Eigentlich wollte er gar nicht mehr kämpfen. Einfach die Augen schließen und das unvermeidliche Geschehen lassen. Er vernahm die Stimmen über der Wasseroberfläche. Sie klangen dumpf zu ihm herab. Ein kleiner hüpfender Lichtpunkt war dort verschwommen zu sehen. Allegro… Kai bedachte aus schwermütigem Blick jenen Arm, dessen Hand seine eigene fest umschlossen hielt. Ab und an tauchte ein Gesicht im Wasser auf, als würde jemand kopfüber hineingedrückt werden. Tysons Augen waren dann stets geweitet – sie wirkten so bestürzt. Und er schien große Angst zu haben. Das tat dem Jungen Leid, weil Kai der Grund war, weshalb sein Freund so litt. Einen Moment versuchte er seine Finger zu lösen, damit wenigstens Tyson von ihm loskam, doch der hielt seine Hand eisern umschlossen – und ehrlich gesagt, bekam Kai auch Angst. Er wollte wieder hinaus an die Oberfläche. Er wollte nicht alleine hier unten bleiben. Er wollte bei seinen Freunden sein! Und er wollte noch weitere Geschichten hören. Von dem Katzenrudel, welches das Kind so mochte. Dieser finale Gedanke, ließ ihn noch einmal nach Leibeskräften strampeln. „Ich will noch mehr Geschichten hören!“ Er bewegte seine Füße. So schnell er konnte… Das Kind tat kräftige Tritte, um etwas weiter aufzusteigen. „Und ich will sie von Tyson hören!“ Seine freie Hand machte kreisende Bewegungen. Erneut sah er das Gesicht über ihm durch die Wasseroberfläche brechen. Ein verbissener Ausdruck lag darin. Tyson fletschte die Zähne, zerrte an ihm und tatsächlich schien seine Mühe, ihn etwas weiter aufsteigen zu lassen. Kai brauchte Luft. Er musste durch die Oberfläche brechen! Da oben wartete das Leben auf ihn. Doch er fror so schrecklich. Und das Wasser war so eisig… Plötzlich ging ein Ruck durch Tyson. Er sah dessen Augen vor Schreck weiter werden, da bäumte sich sein Oberkörper aus dem Wasser – und zog Kai ein Stückchen weiter mit sich ins Leben zurück. Doch noch war es einfach nicht genug. Er fühlte die Kraft, mit der Tyson ihn hoch zu zerren versuchte, auch, dass er es scheinbar endlich vollbracht hatte, sich aufzusetzen, spürte, dass seine eigenen Fingerkuppen dabei aus dem Wasser brachen. Selbst die kühle Höhlenluft empfand er als Wärmer, als die Kälte hier unten. Da stieß ein weiterer Arm in die Fluten. Aus trüben Augen beobachtete Kai, wie die ausgestreckte Handfläche nach ihm tastete, bis sich dessen Finger um sein Gelenk schlossen – und auf einmal empfand er den Anblick so merkwürdig vertraut. Als habe er etwas ähnliches schon einmal erlebt. Hände, die sich nach und nach, um seinen Arm legten… Kurz darauf schnappte er verzweifelt nach Luft als er aufstieg. Der Sauerstoff füllte prompt seine Lungen. Es tat so schrecklich weh und dennoch war Kai erleichtert, endlich wieder zu Atem zu kommen. Das Kind hustete hart, als sein Oberkörper aus den Fluten kam. Es klang mehr wie ein Gurgeln. Die dumpfen Unterwasserklänge wurden nun endlich zu den heißeren Stimmen seiner Freunde. In all diesem Chaos wirkte es auf ihn, als würden sie durcheinander sprechen. Sein Blick irrte umher. Nur schemenhaft nahm er die Gesichter wahr. Ihm kam es vor, als würde etwas hart gegen seine Schläfe pochen. „Ich habe ihn, Ray! Du kannst Tyson loslassen!“ Noch immer schaute das Kind auf die beiden Hände die ihn hielten, als sich eine weitere dazu legte und ihn aufzog. Er spürte, wie er hochgehoben wurde, wie seine Beine einen Moment in der Luft baumelten und wie das Wasser in Bahnen aus seiner Kleidung triefte. Dennoch lag sein Blick auf diesem Bündel aus Händen. Es brannte sich förmlich in seinen Kopf ein. Jede einzelne Hand, die ihn fest gepackt hielt. Aus irgendeinem Grund fragte Kai sich, wo die vierte Person abgeblieben war, die ihn einmal so gehalten hatte. Er stutzte perplex über seine eigenen Gedanken. Da hörte er etwas, was sich nicht in Einklang mit dem bringen ließ, was sich gerade abspielte. Es ging wie ein Blitz durch seinen Geist. „Wir reden später! Hör auf zu quasseln und komm!“ Er blinzelte. Immer wieder, immer wieder… Und mit jedem Wimpernschlag, änderte sich etwas an dem Szenario vor ihm. Er senkte die Lider. Die kargen Wände der Höhle wichen zurück. Er schloss sie ein weiteres Mal. Ein klarer Himmel tat sich über ihm auf. Er kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie schlagartig. Da sah er seine Freunde vor sich, diese bunt zusammengewürfelte Truppe, die besorgt zu ihm herüber schaute. Kai erblickte Tyson vor sich. Er hatte sich jedoch auf einmal verändert… Zwar lag da noch immer dieser verbissene Zug um seine Mundwinkel, doch wirkte seine Erscheinung noch jünger, als kurz zuvor. Dicke Kinderbacken prägten sein Gesicht, er kam Kai dadurch grober vor, sogar etwas wilder und er drängte ihn geradezu herrisch, endlich seine Hand zu ergreifen. Dabei meinte Kai dass er das schon getan hatte… Irritiert stellte das Kind jedoch fest, dass Tyson noch immer seine Finger nach ihm ausstreckte und plötzlich auch ein anderes Paar Handschuhe trug. Sie waren aus braunem Leder, standen ihm am Unterarm weit ab und er streckte sich weit vor, um Kai zu erreichen. „Er hat Angst! Er traut sich nicht!“ Etwas war merkwürdig hier... Das Bild vor Kais Augen flackerte. Es erinnerte ihn an eine asphaltierte Fahrbahn, die am Horizont entlangführte, während die brennende Hitze der Mittagsonne, ihre Oberfläche tänzeln ließ. Wie eine Fata Morgana… Kai hustete erneut hart. Rays Aussage kam ihm so sonderbar vor. Weshalb sollte er sich nicht getrauen zu seinen Freunden zu kommen? Doch da stellte das Kind fest, dass sie sich umringt von einer weißen Schneelandschaft sahen, die friedlich um einen gigantischen See herum ruhte, der viel größer wirkte, als alle Seen, die ihm je unter die Augen gekommen waren. Weit in der Ferne erhaschte er den Anblick, von hohen Bergen, deren Gipfel im kalten Glanz erstrahlten, sobald die Sonne sich mit ihrem Licht im Eis brach. Die Gebirgskette wirkte endlos lang. Es raubte Kai den Atem, denn er konnte sich einfach nicht erklären, weshalb sie sich auf einmal wieder im Freien befanden. Passierte das hier wirklich? Er schaute hinab und sah erneut die Eisplatte unter seinen Füßen. Wie das Wasser über die Oberfläche schwappte und sich gierig bis zu seinen Schuhspitzen fraß. Entsetzt keuchte Kai… „Er kommt wenn er begriffen hat, dass wir ein Team sind!“ Sein Blick huschte hastig zu Max. Dessen tiefblaue Augen schauten ihn verzweifelt an – als hätte er große Angst um ihn. Er stand zwischen der Menschenansammlung, die Kai eindeutig als seine Freunde wieder erkannte, wenngleich sie anders gekleidet waren und jeder von ihnen jünger wirkte. Alle waren sie da! Auf einmal machte sich ein Gefühl der Schuld in Kai breit. Ihm drängte sich in den Sinn, dass er es nicht verdient hatte, gerettet zu werden, obwohl ihm nicht ganz klar war, weshalb. Das Einzige, was er mit Gewissheit sagen konnte, war, dass er seine Freunde betrogen hatte. Er wusste es einfach… „Egal was du gedacht hast, wir waren immer für dich da!“ Kai atmete erschrocken aus, denn auf einmal erkannte er vor sich, eine vollkommen neue Person zwischen seinen Freunden. Der Junge besaß buschige, haselnussbraune Haare, die ihm geradezu verwahrlost ins Gesicht fielen, während er die dicken Gläser seiner Brille über die Stirn geschoben hatte. Er trug ein weißes Hemd, mit einer locker um den Hals hängenden, giftgrünen Krawatte. Vollkommen unpassend für die kühle Jahreszeit. Und obwohl er hätte schwören können, ihn heute zum ersten Mal vor sich zu sehen, wusste Kai prompt den Namen dieses Jungen. Kenny… Der Name tauchte einfach so aus seinem Unterbewusstsein auf, wie ein Stück Treibholz, das unter Wasser an einem Felsen hängen geblieben war und sich irgendwann, durch eine kräftige Welle befreit hatte, um geradewegs an die Oberfläche geschwemmt zu werden. „Obwohl du ein spitzen Spielverderber bist! Kai, nimm endlich meine Hand!“ Tyson war wütend auf ihn, aber dennoch überwog die Sorge. Er wollte nicht, dass Kai ertrank, trotz des Ärgers, den er verursacht hatte. Das wusste das Kind ganz genau und vollkommen unerwartet, vernahm es plötzlich seine eigene Stimme, die seinen Freunden verunsichert sagte, dass er nicht wisse, ob er sich jemals ändern könne. Dabei bewegten sich Kais Lippen doch gar nicht… Als wäre er nur der stumme Zuschauer einer Szene, auf die er keinerlei Einfluss besaß. Die Antwort seiner Freunde war jedoch lediglich, dass sie ihn weiter darum drängten, nach ihren Händen zu greifen. Tysons ausgestreckte Finger schwebten wenige Meter vor ihm in der Luft. Da brüllte er ihm den entscheidenden Satz entgegen: „Wir würden nie jemanden aus dem Team in Stich lassen!“ Es ließ Kai endlich seinen Fehler begreifen, sich für seinen Verrat entschuldigen, er fühlte wie eine einzelne verräterische Träne aus seinen Augenwinkeln trat. Er blinzelte sie energisch fort, da erblickte das Kind seine eigene Hand vor sich, die endlich nach Tyson packte. Sie wirkte größer als noch zuvor. Als würde er keine Kinderhand dort vor sich sehen. Einen flüchtigen Moment fragte er sich, ob das hier nur ein Traum war. Ihm kam es vor als wäre er gar kein Kind mehr… Tyson erreichte ihn inzwischen. Er packte zu. Ihre Finger verhakten sich fest ineinander, es gesellten sich weitere hinzu und irgendwann entstand ein Knäuel aus Händen, was energisch an ihm zog. Und als Kai sich an die Wärme erinnerte, die von diesen Menschen ausgegangen war, daran wie fest all diese Griffe um sein Handgelenk lagen, nicht willens auch nur eine Sekunde lang von ihm abzulassen, da ahnte er, dass das hier wirklich passiert war. Es war kein Traum. Es war viel mehr als das! Es war ein Augenblick der sich in sein tiefstes Innerstes gebrannt hatte. Es war der Moment indem er sich trotz allem Argwohn eingestand, dass es tatsächlich Menschen da draußen gab, die nicht nur aus reinem Eigennutzen handelten. Es war seine wertvollste Erinnerung… Es war der Tag, indem das Eis um sein Herz herum brach. * Das kleine Kind in seinen Armen war leichenblass. Der Anblick machte Tyson schreckliche Angst. Kai war sehr lange im Wasser gewesen und als Max endlich dazu stieß, war er sich bereits sicher, dass es zu spät war. Der Junge war triefend nass gewesen. Das kalte Wasser aus seiner Kleidung, fiel in Strömen von ihm ab und als Kai endlich in seinen Armen lag, fühlte sich der kleine Körper eisig an. Tyson fuhr mit seinen Fingern zaghaft über die unheilvoll blauen Lippen. Ein kleiner Spalt hatte sich zwischen ihnen aufgetan. Die Lider lagen reglos über den Augen und Tyson fürchtete, dass er tatsächlich ertrunken war. Er spürte keinen Atemzug. Schließlich riss ihn Ray aus seiner Starre, indem er eine Herzdruckmassage vorschlug. Eiligst verfrachteten sie das Kind, noch an Ort und Stelle, auf die kalte Oberfläche, während Max zurückrannte, um Galux zu holen. Egal ob sie geschwächt war, sie brauchten nun ihre Hilfe mehr denn je. Allegro hatte mitfühlend seine Hand, auf die totblassen Kinderwangen gelegt. Immer wieder schüttelte er den Kopf, als wolle er selbst nicht glauben, dass der Junge nicht mehr lebte. „Oh weh, oh weh…“, jammerte er in einer Endlosschleife. Tyson platzierte seine Handballen auf Kais Brustkorb, begann rhythmische Bewegungen mit ihnen auszuführen. Immer wieder übte er Druck auf den kleinen Kinderkörper vor ihm aus, während Ray versuchte, dem Jungen Leben einzuhauchen. „Komm schon, Kai.“, zischte Tyson verzweifelt, mit jedem Ruck auf dessen Brustkorb. „Bitte!“ Das ging recht lange so. Zumindest kam es ihm wie eine Ewigkeit vor. Und irgendwann ließ Ray nach. Er schaute aus aschfahlem Gesicht zu dem Kind herab, auf die blauen Lippen, über die einfach kein Atemzug kommen wollte. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er starrte einfach nur auf Kai herab. „Er… Er war zu lange dort unten.“ Ray klang als habe er selbst Angst die Worte auszusprechen. „Nein!“ „Es war zu lange Tyson.“, seine Stimme wurde brüchig. Er stand kurz vor den Tränen. „Nein, sag das nicht!“ Tyson stieß in einem Anflug von Panik fort, um nun auch die Atemzüge selbst zu vollführen. Sein Gesicht nahm einen störrischen Ausdruck an, als wäre er der festen Überzeugung es besser zu können. Sein Verstand dachte nur daran weiterzumachen – nicht aufzugeben. Ray blickte schweratmend auf das reglose Kind vor ihnen, wirkte dabei geradezu betäubt. Ihn verließ die Hoffnung. Als noch immer keine Regung kam, umfasste Tyson Kais Schulter und schüttelte ihn. „Atme jetzt endlich verdammt!“ Ray streckte zitternd seine Finger nach ihm aus, versuchte ihn zu beruhigen. Er stieß die Hand nur wieder weg, begann von neuem mit der Herzdruckmassage und merkte dass sein Blick durch die aufkommenden Tränen verschwamm. Da schallte das erlösende Gurgeln zu ihnen herauf… Tyson hörte Ray neben sich erleichtert aufheulen. Das Kind warf mehrmals den Kopf in den Nacken, als wäre es kurz vor dem Erbrechen, da rollte er Kai auf die Seite. Gleich darauf würgte der Junge einige ordentliche Schlucke Wasser hervor. Ray vergrub neben ihm das Gesicht in den Händen. Endlich hörten sie das ersehnte Husten, wie Kai nach Luft schnappte. Schwer atmend setzte sich Tyson auf den Hosenboden und hob den Brustkorb des Kindes, in seine Arme hoch, damit es besser zu Luft kam. Er strich ihm über den Haarschopf, ließ dem Jungen Zeit sich von seiner Tortur zu erholen. Tyson war nicht gläubig. Nein, ganz und gar nicht. Doch in jenem Moment schickte er ein Dankgebet zu allen existierenden Gottheiten, ganz gleich welcher Religion sie auch entsprangen. Kais Lider zuckten, bis er sie irgendwann langsam öffnete. Ein verklärter Blick kam darunter zum Vorschein und als wäre ihm nicht ganz klar, wo er sich befand, erforschten seine Augen die felsige Umgebung. Er blinzelte irritiert. „Du kleiner Dummkopf.“, sprach Tyson. Allerdings klang es mehr belegt als böse. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Noch immer kam nichts von Kai. Stattdessen hefteten sich seine Pupillen auf ihn. Doch irgendwie beschlich Tyson der Eindruck, als sehe der Junge ihn doch nicht wirklich. Als wäre er weit weg mit seinen Gedanken. Er konnte beobachten, wie sich Kais Lider immer wieder träge über seinen Augen senkten. „Ich denke, nach allem was der Junge durchlebt hat, sollten wir von Vorwürfen ablassen.“, sprach Allegro mitfühlend. Er kraxelte an Rays Schulter hinauf, der inzwischen näher an seine Freunde heranrutschte und seine Hand auf Kais Stirn legte. „Seht euch nur diese blauen Lippen an.“, sprach er betroffen. Es ließ das Kind von Tyson wegschauen und nun Ray beobachten. Tyson nickte erschöpft. Er legte Kais Kopf kurz auf seinem Schoß ab, um sich aus seiner Jacke zu zwängen. Zwar war auch die ziemlich nass geworden, doch alles war besser, als den Jungen nun ungeschützt zu lassen. Er wickelte das Kind in den Stoff und noch immer blinzelte es seine Freunde an. Tyson fragte sich, was ihm durch den Kopf ging. „Da kommt Max.“, erkannte Ray bereits von weitem. Ihre Blicke hoben sich. Mehr schlitternd als laufend, kam er Schritt für Schritt aus der Dunkelheit hervor. Galux folgte ihm, jedoch sichtlich antriebslos. Tyson schoss die Frage durch den Kopf, ob sie momentan wirklich mit der mangelnden Energie kämpfte, oder schlicht und ergreifend um Driger trauerte. Sie schien mit den Gedanken nicht ganz da. Offenbar hatten sie jetzt nicht nur eine angeschlagene Person, in ihrer Gruppe, um welche sie sich kümmern mussten. Ihm selbst war auch furchtbar kalt. Das Zittern seines Körpers bekam Tyson kaum in den Griff. Da fühlte er Kais Finger ihn sachte am Arm berühren. Als er wieder zu ihm hinabschaute, öffnete sich sein Mund und er flüsterte ihm etwas zu, was Tyson nicht prompt verstand. Seine Stimme klang kränklich, ja geradezu hauchdünn. Er beugte sein Ohr herab. „Wo ist der Schnee hin?“ Perplex hob Tyson wieder den Oberkörper an und starrte verständnislos auf das Kind herab. „Welcher Schnee?“ „Die Berge sind weg…“, nuschelte Kai. Er schien geradezu geistesabwesend, sein Blick wirkte irgendwie trüb. Besorgt legte ihm Tyson eine Hand auf die Stirn, strich ihm mitfühlend die feuchten Strähnen aus dem Gesicht. „Du hast geträumt, kleiner Kater.“, raunte er ihm zu. „Gott sei Dank, er lebt!“ Wenige Meter vor ihnen, hielt Max inne als er bemerkte, dass Kai wieder erwacht war. Tyson vernahm sein erleichtertes Aufschnaufen. Sobald er die letzten Schritte überwunden hatte, sank er auf die Knie herab und griff nach Kais Hand. Tyson kam es vor, als bräuchte Max das, als müsse er sich selbst überzeugen, dass wieder etwas Leben in den Jungen gekommen war. Sobald Max von ihm abließ schüttelte er den Kopf. „Es tut mir so leid. Wäre ich hier gewesen… Wir hätten uns nicht trennen dürfen!“ „Hör auf Max. Das ist einfach dumm gelaufen. Dafür kannst du nichts.“, antwortete Ray erschöpft. „Wir haben einfach kein Glück was zugefrorene Seen betrifft.“ Max gluckste erleichtert, dann beugte er sich über das Kind und sprach: „Ein drittes Mal kommt das hoffentlich nicht vor. Zumindest nehmen wir dich nicht mit, wenn wir Schlittschuhlaufen gehen.“ Es ließ die Gruppe kurz auflachen. Erst recht als Max ihm spielerisch das nasse Haar zerzauste und Kai die Augen zukniff, als schäme er sich für seine Aktion. Überglücklich umfasste Tyson inzwischen die eisblaue Kinderhand und führte sie an seinen Mund, um etwas Wärme darauf zu hauchen. Ihm kam es vor als bekämen Kais Wangen augenblicklich mehr Farbe, als er das beobachtete. Seine Lippen öffneten sich, als wolle er etwas sagen, doch bis auf ein leises Krächzen kam kein Ton aus seinem Mund. „Wo ist Judy?“, fragte Ray. „Sie… Sie ist gegangen.“, Max senkte den Blick zu Boden. Zwar zeugten seine Augen noch immer von seiner Trauer, doch irgendwie schien ihn diese letzte Unterhaltung besänftigt zu haben. Er wirkte wieder ruhiger und wagte es nicht sie direkt anzusehen, als schäme er sich für seinen Wutausbruch. „Und das sollten wir nun auch tun.“, kam die drängende Warnung von Galux. „Lasst uns gehen. Wir alle haben zu lange in dieser Grauzone verbracht. Nur noch wenige Meter und wir gelangen von hier aus in die Windhöhle. Beeilt euch… Bevor der Ausgang sich schließt.“ Ein langsames Nicken ging durch die Gruppe. Eigentlich waren sie alle am Ende. Nicht nur dem Bit Beast ging es schlecht und Tyson fragte sich, wann sie das letzte Mal geschlafen hatten. Es musste gewesen sein, kurz nachdem ihnen Ray ihm Dschungel abhandengekommen war. Das schien ihm eigentlich gar nicht so lange her zu sein, dennoch fühlte er sich ausgelaugt. Die Vorstellung eines schönen, warmen Betts, kam ihm wie der Himmel auf Erden vor. Das eisige Wasser, in das er ständig, mit dem Oberkörper voraus, getaucht war, hatte ihn müde gemacht. Sie erhoben sich nach und nach, wirkten dabei wie eine betäubte Masse. Tyson positionierte das Kind so, dass es die Arme um seinen Hals schlingen konnte. Etwas zaghaft legte es die Hände um seinen Nacken und bettete müde seinen Kopf auf seine Schulter. Er wusste nicht, woher diese scheu auf einmal wieder kam, vielleicht weil sich Kai für seine misslungene Aktion schämte. „Die Sonne ist weg…“, murmelte das Kind vor sich her. „Was sagt er da?“, wollte Ray irritiert wissen, doch Tyson schüttelte nur den Kopf. „Vergiss es. Der Kleine steht neben sich.“ Galux dirigierte die Gruppe derweil vom See hinunter. Sie kletterten die steile Anhöhe wieder hinauf, durchmaßen die holprige Kammer, jener Ort, der für zwei ihrer Bit Beasts zum Grab geworden war. Dabei passierten sie den Leichnam von Dragoon. Aller Blicke hefteten sich auf die gigantische Gestalt des Drachen. Keiner von ihnen sprach auch nur ein gehässiges Wort, denn irgendwie schien sie dieser Anblick alle samt traurig zu stimmen. Es war wie ein Kindheitstraum den man zu Grabe trug – wie ein Denkmal an welchem man vorbeischritt. Tyson spürte etwas aufkommen, was ihn stark an Nostalgie erinnerte. Noch immer strahlte Dragoons Haut. Er prägte sich jede Schuppe noch einmal ein. Die Umrisse, die scharfen Kanten, den massigen Kiefer, den er früher immer so bestaunt hatte. Wie stolz war Tyson einst darauf gewesen, dieses Wesen, seinen Partner nennen zu dürfen. Ein Drache kam ihm damals so mächtig vor. Gefährlich, mutig, unbezwingbar… Und doch lag Dragoon nun hier. Er seufzte schwer, als sie an dem Bit Beat vorbei waren. Da spürte er die zarten Kinderfinger von Kai seine Wange leicht streifen. Als er einen Blick zu ihm warf, schaute der Junge ihn drängend an. „Es tut mir so leid.“, sprach er geradezu betroffen. Seine Augen wirkten verklärt. „Du meinst unseren Streit auf dem See?“ „Ja.“ „Schon okay. Vielleicht habe ich wirklich zu oft mit dir geschimpft.“ „Nicht dieser Streit!“, krächzte das Kind mit heißerer Stimme. Irritiert blinzelte Tyson auf ihn herab. Er sah Kai erschöpft die Augen reiben, sein Gesicht verzog sich gequält, dann legte das Kind seine Hand auf die Stirn, als habe es Kopfschmerzen. „Es tut mir leid. Ich will nie wieder so gemein sein…“ Tyson tätschelte dem Jungen aufmunternd den Rücken, begriff aber nicht, was ihn so aufwühlte. Er ließ den Kopf wieder auf seine Schulter sinken und murmelte wie im Fieberwahn vor sich her. Da riss Allegro aller Aufmerksamkeit auf sich. Die Strommaus sprang von Rays Schulter herab, auf einen höher liegenden Felsen und fragte: „Mademoiselle, ist es tatsächlich wahr, dass wir nicht mehr lange bis zur Menschenwelt brauchen?“ „Wie ich bereits erwähnte, sind es nur noch wenige Meter.“ Die Strommaus seufzte und wandte sich daraufhin der Gruppe zu. „Dann werden sich von hier aus unsere Wege wohl trennen.“ Einen Moment kehrte entsetztes Schweigen ein. Der Satz schlug ein wie eine Bombe. Alle blickten betroffen auf ihren kleinen Helden, der in den letzten Tagen doch so viel für sie riskiert hatte und sich nun einfach so verabschieden wollte. „Das ist nicht dein ernst?“, brach Maxs Stimme fassungslos durch die Stille. „Ich dachte du kommst mit!“ „Das habe ich so nie behauptet.“ „Aber… Ich dachte das wäre selbsterklärend?“, fragte Ray irritiert. „Leider nein.“ „Galux kommt doch auch mit uns! Wieso willst du nicht?“ „Das ist keine Frage des Wollens, sondern des Könnens.“, erklärte die Strommaus. „Mademoiselle besitzt ein Menschenkind. Ich dagegen leider nicht. Meine Sippe verwendet für gewöhnlich den Quellstrom, um in eure Welt zu gelangen. Der lässt allerdings nicht zu, dass wir uns dort frei bewegen. Wir treiben lediglich die elektrischen Geräte an und kehren auf direktem Weg wieder zurück nachhause. So hatte es meine gute Freundin Dizzy auch stets gehandhabt.“ „Dizzy hatte auch ein Menschenkind - Kenny!“ „Das war aber kein herkömmlicher Pakt, wie er bei der Elite üblich ist.“, mischte sich Galux in das Gespräch mit ein. „Dieser Pakt war unausgereift, weil die Strommaus durch den Quellstrom, ihr Menschenkind gefunden hat. Sie nahm unerlaubt Kontakt zu ihrem Jungen auf und das auch noch über jenes Medium, was sie eigentlich mit Energie versorgen sollte. Das war ein grober Tabubruch, der nur unbestraft blieb, weil es niemand sonderlich scherte, was eine kleine Strommaus treibt.“ „Mit Medium meinst du Kennys Laptop?“, wollte Ray wissen. „Richtig.“, senkte Galux wissend ihre Lider. „Ich schätze, daher konnte sie das Medium, was sie bewohnte, auch niemals verlassen. Ein wahrer Pakt, lässt zu, dass sich das Bit Beast an der Energie des Kindes labt und sich in der Menschenwelt frei bewegt. Dazu muss es aber erst auf die Suche nach einem Kind gehen. Desto ähnlicher man sich ist, desto reiner ist die Energie, welche man von dem Menschen erhält.“ „Oder, um es zu versinnbildlichen… Ihr könnt den billigen Wein - der mit Wasser verdünnt ist - kaufen, oder auf das qualitativ reinere Exemplar zurückgreifen. Das eine bereitet euch Kopfschmerzen, dass andere nicht. So müsst ihr euch die passende Energie vorstellen. Das Finden eines Menschenkindes gleicht einer Weinprobe.“ Etwas perplex dachte Tyson über diesen Vergleich nach. Er hatte sich noch nie als eine Weinflasche gesehen. Irgendwie empfand er diesen Vergleich noch beleidigender als den mit der Steckdose. Dennoch warf er energisch ein: „Dann such dir einen Menschen! Du solltest mit uns kommen. Das hast du dir doch so gewünscht! Du wolltest die Menschenwelt so gerne einmal besuchen!“ Die Strommaus senkte traurig die Ohren und schnalzte bedauernd. Auch er schien betrübt über diesen Abschied. „Mein lieber Junge, sicherlich wünsche ich mir das, seit dem ersten Tag, an dem Dizzy mir von eurer Welt erzählte. Doch leider ist es ein Traum, der wohl nie für mich in Erfüllung gehen kann. Wir Strommäuse verfügen über zu wenig Energie, um lange genug in eurer Welt zu überleben. Wir sind wie ein kleiner Funken. So schnell wie er aufleuchtet, erlischt er auch wieder. Ich müsste schon sehr viel Glück haben, um gleich zu Anfang mein Menschenkind zu finden und die heilige Neujahrswende ist auch bald vorbei. Das bedeutet – keinerlei Energiezufuhr aus unserer Welt.“ Er hob hilflos die Ärmchen und sprach: „Selbst Dizzy war deshalb immer wieder gezwungen, des Nachts aus ihrem Medium zu schlüpfen und wieder zurück, in die Irrlichterwelt zu kommen, um sich dort aufzuladen. Es war ein Vorgang, den ihr Menschkind gar nicht mitbekommen hat, weil sie es immer dann tat, wenn er sie für einige Stunden entbehren konnte. Dabei blieb ihr nur der Quellstrom als Möglichkeit, um mit ihrem Kind in Kontakt zu bleiben.“ Tyson kaute auf seiner Unterlippe und dachte angestrengt nach. Dann rief er aus: „Kenny hat kein Bit Beast mehr! Die Uralten haben Dizzy getötet! Wir könnten mit ihm reden und ihn bitten, dich an ihrer Stelle aufzunehmen. Es wäre zumindest ein kleiner Trost für ihn, wenn er schon ohne Bit Beast auskommen muss!“ „Pah, pah, pah!“, klopfte die Strommaus verärgert mit dem Fuß auf und Tyson sah auch Galux bedauernd über seine Unwissenheit den Kopf schütteln. Er musste wohl etwas ziemlich Dummes gesagt haben. „Mein guter Junge, das stellst du dir zu einfach vor! Ein Menschenkind kann sein Bit Beast nicht wechseln, wie ein paar gebrauchte Socken. Das ist eine Bindung die kompatibel sein muss. Die Seelen müssen fast gänzlich identisch sein. Deckungsgleich wenn du es so ausdrücken möchtest. Dieser Junge mochte zu Dizzy passen, doch das heißt noch lange nicht, dass das auch auf mich zutrifft.“ Ray schnaufte traurig und auch Max schien mit seinem Latein am Ende. Er zog ein ziemlich bekümmertes Gesicht. Sie alle tauschten verzweifelte Blicke aus. Tyson dachte darüber nach, wie Kai sein Bit Beast gegen Black Dranzer eingetauscht hatte. Zwar schien er dadurch an Kraft zugenommen zu haben, aber auch seelisch labiler gewesen zu sein. Womöglich aus diesem Grund? Bit Beast und Seele des Bladers hatten nicht miteinander harmonisiert. Kai war nicht mehr in der Lage gewesen, Richtig von Falsch zu unterscheiden, als würde das Bit Beast ihn kontrollieren und nicht umgekehrt. „Geh nicht weg…“, sprach der nun auch traurig. Es klang so kindlich, man meinte er bat seinen Vater, ihm beim ersten Schultag nicht von der Seite zu weichen. Allegro lächelte ihn aufmunternd an und sprach umso beruhigender: „Aber, aber… Das ist doch nicht das Ende. Ich bin nicht aus der Welt, mein lieber Kleiner.“, dann wandte er sich an den Rest der Gruppe. „Immerhin kann ich behaupten, dass ich so weit gekommen bin, wie keine andere Strommaus vor mir! Das ist mehr als ich mir jemals erhoffen durfte. Ich denke, ich werde nun jedes Jahr die Neujahrswende nutzen, um für ein paar Stunden, über die Schwelle zu gehen und mir von hier aus, einen kleinen Einblick, in eure Welt zu gönnen. Doch für dieses Jahr ist es zu spät… Das Tor schließt sich bald und ich sollte dann nicht auf eurer Seite der Welt sein, wenn die Schotten geschlossen werden. Ich möchte ungerne elendig an Energieverlust verdursten, bis ich das nächste Schlupfloch in die Heimat erreiche.“ „Du wirst uns fehlen.“, sprach Ray ziemlich enttäuscht. Er beugte sich über die kleine Strommaus herab. „Das ist wirklich ein bitterer Abschied. Ich wünschte du könntest bei uns bleiben.“ „Ich auch. Aber wir müssen der Tatsache wohl ins unschöne Antlitz schauen.“ „Bitte komm wirklich jedes Jahr hier her. Wir werden dich dann besuchen.“, bat Tyson. „Vielleicht könnten wir auch mit einigen Freunden eine Tour hier hermachen, die noch keine Bit Beasts besitzen. Dann findet sich vielleicht jemand für dich!“ „Oh, nun. Das wäre eine feine Sache…“ Allein der Gedanke schien Allegro hoffen zu lassen. „Wirst du den Weg zurück denn alleine schaffen?“ „Hmm… Ich denke schon. Mademoiselle Galux war eine hervorragende Lehrerin, was das Wittern der Wege betrifft und ich habe aufmerksam zugeschaut. Den Geistern bin ich ohnehin egal.“ „Du hast keine Ahnung, wie dankbar wir dir sind!“, sprach Tyson traurig. „Wir schulden dir so viel. Wenn wir dich nicht gefunden hätten… Du bist der Grund, weshalb wir wahrscheinlich noch leben.“ „Oh weh… Bitte hört auf damit. Mit meiner Selbstbeherrschung geht es immer weiter abwärts.“, Allegro rieb sich mit dem Handrücken über die Augen und seine Stimme klang ziemlich belegt. „Immerhin kann ich sagen, in euch einige wunderbare Freunde gefunden zu haben. Das ist etwas, das wird uns niemand so leicht nehmen.“ Plötzlich schallte ein lautes Poltern zu ihnen, was sie alle zusammenzucken ließ. Die Gruppe drehte sich um, denn das Geräusch klang, als würde etwas hinter ihnen umgewälzt werden. Zunächst konnte Tyson nicht erkennen, was sich hinter ihnen abspielte, da hörte er Galuxs heißere Stimme. „Es ist soweit!“ „Was meinst du?“, fragte Max. „Na was schon, meine Herren!“, rief Allegro hektisch aus. „Diese Pforte schließt sich!“ Er tat einige unwirsche Handbewegungen, als würde er sie verscheuchen wollen. „Es ist nun aller höchste Zeit. Geht! Geht! Wir habe schon viel zu lange getrödelt!“ „Du kommst jedes Halloween hier her! Versprichst du das?“, rief Tyson aus. „Das tue ich.“ „Vergiss uns nicht!“, bat ihn Ray. „Natürlich nicht! Wie könnte ich solch hochinteressante Personen wie euch vergessen? Und nun geht. Lauft! So schnell ihr könnt, meine Herren!“ Der Geräuschpegel wurde lauter. Es klang, als würde etwas ziemlich wuchtiges, direkt in ihre Richtung geschoben werden. Wie eine Wand, hinter der sich viele Menschen positioniert hatten, um sie mit vereinten Kräften vorwärtszudrücken. „Folgt mir!“, Galux lief voraus. Nur schwer fand die Gruppe die Muße sich abzuwenden. Es kostete sie reichlich Überwindung, ihren kleinen Begleiter zurückzulassen. „Leb wohl, Allegro!“, rief Kai noch einmal von Tysons Schulter aus. Er spürte dass der Junge dem Mäuserich zuwinkte. „Auf Wiedersehen, mein kleines Menschlein. Und halte dich in Zukunft von zugefrorenen Seen fern!“ Es war das letzte was sie von der Strommaus hörten… Galux dirigierte die Gruppe zwischen einer Ansammlung Stalagmiten hindurch, die von einer glänzenden Schicht aus Eis überzogen waren. Sie ragten von unten spitz herauf, wie eine gefährliche Speerfalle. Als der Glanz ihrer Begleiterin die Eisfläche traf, reflektierten diese ihr Licht, wie ein Spiegel. Die Jungen bahnten sich ihren Weg hindurch und als sie die dahinterliegende Felswand erreichten, erkannten sie einen weiteren Stollen. Tyson unterdrückte ein gequältes Stöhnen. Die weite Kammer empfand er als weitaus angenehmer, als die Enge der Verästelungen, die zu ihr geführt hatten. Während seinem Sprint, drehte er sich noch einmal zu Allegro um und erspähte seine hüpfende Gestalt. Doch eine Sekunde später wurde sein Licht von einer schwarzen Decke verschluckt. „Was ist das?“, wollte Tyson wissen. „Die Grauzone wird nun gänzlich Schwarz.“ „Und Allegro?! Wo ist er hin?“ „Dem Mäuserich geht es gut. Er steht nun lediglich hinter der Tür.“, erklärte Galux hastig während ihrem Spurt. „Doch solltest du weiterhin deine Zeit damit verschwenden, ihn zu beobachten, anstatt angestrengt zu rennen, wirst du ihm bald Gesellschaft leisten!“ Zunächst begriff Tyson nicht, was Galux damit meinte, bis er einen weiteren Blick hinter sich warf. Die Stalagmiten, die zuvor noch so hell hinter ihnen geleuchtet hatten, wurden nach und nach von der Düsternis umhüllt. Als würde sich ein pechschwarzer Vorhang über sie stülpen. Die Finsternis fraß sich vorwärts, drohte ihren Stollen zu erreichen. Reihe für Reihe… Tropfstein für Tropfstein… Bis Tyson gar nichts mehr von der Kammer hinter ihnen erspähen konnte. Womöglich spielten ihm seine Augen einen Streich, doch ihm war, als wäre dort wirklich nichts mehr. Das laute Poltern kam näher. Es erinnerte ihn an ein Schiff das in einen Hafen einlief. Ein innerer Instinkt sagte ihm, dass er gar nicht wissen wollte, was passierte, wenn der schwarze Mantel sie einholte. Die Gruppe schlitterte den Stollen vorwärts. Jeder von ihnen hatte Mühe, nicht auszurutschen, das machte sie langsamer. Dennoch tauchte irgendwann vor ihnen eine neue Öffnung auf, wie das hellerleuchtete Ende eines Rohres und dahinter kam eine weitere Kammer zum Vorschein. Tyson meinte das flackernde Licht von elektrischen Lampen zu erkennen. Dieser Gang war glücklicherweise kürzer, als die anderen zuvor. Zuerst schaffte es Galux in die nächste Kammer. Prompt änderte sich vor ihnen ihr Erscheinungsbild. Plötzlich besaß sie kaum noch Konturen, sondern wurde zu einer durchsichtigen, vagen Gestalt. Kurz darauf rannte einer, nach dem anderen, durch die Öffnung – bis Tyson an die Reihe kam. Sobald er hindurch gehuscht war, zog Kais Gewicht ihn rapide hinab, als habe er dutzende von Kilogramm zugelegt. Er japste überrascht nach Luft, als sie beide zu Boden stürzten und er im freien Fall, mit dem Schädel voraus gegen dessen Kopf prallte. Ungeschickt landete er auf Kais Brustkorb, der ihm viel größer vorkam, als noch vor wenigen Sekunden. Er hatte zuvor seine Hand schützend auf dessen Hinterkopf gelegt, nun kam ihm der Schädel zwischen seinen Fingern aber viel größer vor. Ein finales „Rumms!“ war hinter ihnen zu vernehmen. Es klang geradezu endgültig. Als Tyson stöhnend den Kopf hob, erspähte er unter sich Kais Gesicht. Es war gealtert. Einfach so… Von einem Wimpernschlag auf den nächsten. Es verschlug Tyson den Atem. Er war lediglich in der Lage auf ihn herab zu starren, fühlte die hektischen Atemzüge des Brustkorbes, der sich unter seinem eigenen Körper hob und senkte, schaute auf die blasse Haut, das dichte Haar, was sonderbarerweise an Kais Stirn immer viel heller war, als die restliche Partie in seinem Nacken. Sein geweiteter Blick heftete sich auf die Lippen, die sich ob der unsanften Landung gequält verzogen hatten, auf die Augen, deren Lider sich zuckend zu öffnen begannen. Kurz darauf erhaschte er die dunklen Iriden darunter, deren rötliche Note, im fahlen Licht der Kammer, kaum zu erahnen war, sogar eher an ein dunkles Violett erinnerten. Das war Tyson noch nie aufgefallen… Kai öffnete die Augen vollends, schaute zu ihm auf. Immer wieder senkten sich dessen Lider, als verstünde er nicht, weshalb er ihn so verdattert anstarrte. Dann fuhren seine Finger vorsichtig zu seiner Unterlippe, wo ihn Tysons Stirn, bei ihrem unerwarteten Sturz, offensichtlich getroffen hatte. Sie war leicht aufgeplatzt. Diese ganzen Eindrücke gewann Tyson innerhalb von wenigen Sekunden. Ihm kam es aber wie eine Ewigkeit vor. Dabei fühlte er ein verrücktes Prickeln in seinem Magen, was ihn schier in den Wahnsinn trieb, während seine Haut von einer heftigen Gänsehaut befallen wurde. Kais erwachsenem Selbst so nah zu sein, löste ein Wechselbad der Gefühle in ihm aus. Erst als er die Jubelrufe von seinen Freunden dicht an seinem Ohr vernahm, setzte er sich ruckartig auf, um nicht ihren Verdacht zu erregen. Er rutschte eiligst auf dem Hosenboden von Kai weg, wie von einer Feuerstelle, an welcher er sich drohte, die Füße zu verbrennen – einfach um Abstand zu gewinnen. Da spürte er auch schon Maxs Hände, die unter seine Achseln griffen, um ihm überschwänglich aufzuhelfen. Es ließ ihn stolpernd auf den Füßen aufkommen. „Wir haben es geschafft! Tyson, sieh uns an!“ Es gelang ihm nur mäßig, seinen Blick von Kai abzuwenden und seinem Freund die Aufmerksamkeit zu schenken, nach der er in seiner Euphorie verlangte. Der musterte Tyson eingehend, klopfte ihn an den Seiten ab. „Wir sind wieder erwachsen! Du auch! Und schau doch!“ Max spreizte die Arme vor ihm aus, als wolle er sich präsentieren. Er trug erneut seine dunkelblaue Levis Jeans, welche er vor ihrem Eintritt in die Irrlichterwelt angehabt hatte, mit einem grauen Pullover darüber und einem Schal um den Hals, der ein kariertes Muster aufwies. Sein Gesicht war nun wieder jenes eines jungen Mannes, die kindlichen Züge fast gänzlich verpufft. Seine tiefblauen Augen sprühten förmlich vor Erleichterung, in ihren Winkeln erblickte Tyson die verräterischen Anzeichen von Freudentränen. Als er von ihm wegschaute und sein Blick zu Ray irrte, tastete der verdattert die kalte Wand hinter ihnen ab. Überrascht stellt Tyson fest, dass der Stollen fort war, als hätte es ihn an dieser Stelle nie gegeben. Rays Finger fuhren über die kantigen Felsen, als fürchtete er, es könne nicht dabei bleiben, bis er – offensichtlich mutiger geworden – der Wand einen Tritt verpasste, um sie auf ihre Festigkeit zu prüfen. Doch es blieb dabei. Der Stollen war weg… „Da ist nichts mehr.“, sprach Ray. Es klang fast schon ehrfurchtsvoll. „Dieser Pfad ist verschlossen. Das nächste Jahr wird ihn kein Mensch mehr finden, erst recht nicht, wenn er nicht die Sinne dafür besitzt.“, sprach Galux ruhig. Als Ray sich zu ihnen umwandte, strahlten seine hellen Augen und auch Tyson musste breit grinsen bei dessen Anblick. Sein langer Pferdeschwanz hatte an Länge eingebüßt. Genau wie bei Max, trug auch er wieder seine alte Kleidung. Doch entgegen dem eher lässigen Stil seiner Freunde, hatte er einen langärmligen Tang-Anzug an, die er schon immer bevorzugte, da Ray mit Vorliebe seinen Traditionen treu blieb. Auf das blattgrüne Oberteil, war mit kunstvoll, vergoldeten Fäden, ein Tiger aufgestickt, während der sichtbare Innenstoff der gekrempelten Ärmel weiß war, passend zu den Unterhemden, die man für gewöhnlich dazu trug. Tyson blickte auf seine eigenen Hände herab. Sie waren die eines Mannes, strotzen nur so vor Kraft, nicht mehr jene eines pubertierenden Jugendlichen. Er besaß leichte Schwielen von seiner Arbeit in der Werkstatt, die ihn aber noch nie sonderlich gestört hatten. Selbst ihre aufgeregten Stimmen schallten reifer durch die Kammer, waren wieder dunkler und tiefer. Er tastete erstaunt seinen Brustkorb ab, als könne er selbst nicht glauben, dass dort wieder seine dunkle Jacke, mit dem Pullover darunter war. Er hüpfte auf der Stelle, beobachtete seine großen Sportschuhe dabei, weil sein Verstand noch nicht begriff, dass er wieder viel größer war. Der Abstand zum Boden kam ihm auf einmal so viel weiter vor. Nach vier Tagen in der Irrlichterwelt als Jugendlicher, musste er sich wieder umgewöhnen. Wenn er sich ausstreckte, konnte er sogar problemlos die Decke berühren. Er atmete voller Erleichterung aus, dennoch heftete sich sein Blick wieder schnell an Kai. Der hatte sich mittlerweile aufgesetzt, starrte wie gebannt auf seine Hände, drehte sie immer wieder von einer, auf die andere Seite, schloss und öffnete die Finger. Schließlich begann er verwundert die Linien auf seiner Handfläche nachzuzeichnen. Tyson beobachte ihn dabei, sah einen kleinen Spalt zwischen seinen Lippen aufkommen, als wäre auch Kai vollkommen überrascht, ob seiner plötzlichen Verwandlung. Dessen Garderobe war schon immer recht dunkel gewesen. Tyson konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals mit farbenfrohen Oberteilen gesehen zu haben. Er trug ein weißes, langärmliges Hemd, was bis zu den Ellbogen hochgekrempelt war, darüber eine hellgraue Weste. Er war noch relativ formell gekleidet, offensichtlich weil Dranzer ihn aufgegriffen hatte, kurz nachdem er von der Arbeit gekommen war und er im Krankenhaus noch keinen Patientenkittel bekommen hatte. Vorsichtig stemmte Kai sich auf, seine dunkle Hose wies leichte Schneespuren vom Boden auf. Tyson trat eilig an ihn heran, als er sah, wie unsicher er auf den Beinen stand. Er glich einem wackligen Fohlen, das erst Laufen lernte. Was sich hier abspielte, musste für den Jungen, der er kurz zuvor noch gewesen war, unbegreiflich sein. Kai war ein Kind, gefangen im Körper eines Mannes. Mit dieser Überlegung stand Tyson nicht alleine da. Sobald er den Oberkörper helfend unter den Arm seines Freundes geschoben hatte, um ihn zu stützen, trat Ray auf sie beide zu. „Wie geht es dir?“, wollte er wissen. Sein Kopf senkte sich, um besser ins Gesicht ihres Freundes schauen zu können, den er mit zunehmenden Alter überragt hatte. Der öffnete die Lippen, Kais Augen huschten verwirrt umher, tasteten ihre Umgebung ab. Doch er war unfähig zu sprechen. „Das muss für dich seltsam sein, nicht?“ Er nickte – es wirkte geradezu starr. Seine Freunde bildeten einen Kreis um ihn. „Das legt sich. Wir sind hier.“ „Ich verstehe eure Euphorie, doch sollten wir nicht allzu lange hier verweilen.“, erklärte Galux. Sie hatte stillschweigend der Gruppe ihren Glücksmoment gelassen, doch schien des Wartens nun Leid. „Ich habe meiner Mao gegenüber noch ein Versprechen zu erfüllen. Bitte, lasst uns nun zu ihr gehen.“ Tyson schaute sich etwas unbeholfen in der Höhle um. Dieser Teil davon war noch weitaus stärker vereist, als der andere, doch der Einfluss von Menschen, auf die Natur, war hier endlich sichtbar. Mehrere Abzweigungen stoben in verschiedene Richtungen, manche von ihnen waren mit einem Zaun abgesperrt, andere führten mit Treppen auf oder abwärts. Selbst Lampen waren über ihnen befestigt. Der Eingang zur Irrlichterwelt führte tatsächlich durch ein Abteil der Fugaku Windhöhle, der von Besuchern regelmäßig besucht wurde – und doch hatte es niemand bemerkt. Allerdings konnte jeder Weg hier unten, sie vom Ausgang weiter weg führen. „Weiß jemand von euch noch, wie wir vor ein paar Jahren hier herausgekommen sind?“, fragte Tyson etwas peinlich berührt. „Keine Ahnung.“, zuckte Max ratlos mit den Schultern. „Du Ray?“ „Die Höhle ist recht groß.“, biss der sich auf die Unterlippe. „Und wir hatten einen Fremdenführer. Ich war mehr damit beschäftigt Fotos zu schießen, als mir den Weg zu merken.“ „Na toll - Ihr seid ja witzig! Soll das heißen wir gehen jetzt hier unten bei der Kälte drauf, weil keiner von euch sich den beknackten Weg gemerkt hat?“, wollte Tyson aufgebracht wissen. „Du hättest ihn dir genauso merken können!“, kam die schnippische Entgegnung zurück. Plötzlich streckte Kai seinen Armen aus. Er deutete aus trüben Blick auf einen Gang, dessen Boden mit Rutschmatten ausgelegt worden war, um den Besuchern der Höhle mehr Schutz beim Aufstieg zu bieten. „Da entlang.“, murmelte er leise. Einen Moment wurde es Mucks Mäuschen still. Allen stockte der Atem. Sie starrten auf Kai, dessen Augen verklärt wirkten, dennoch deutete er zielstrebig auf den Weg. Schließlich räusperte sich Max, kam Kai etwas näher und fragte mit einem freundlichen Lächeln: „Bist du sicher? Woher weißt du das so genau?“ Lange Zeit kam keine Antwort. Dann sprach er wie in Trance: „Weil ich dort ein Mädchen namens Hilary auf den Hintern fallen sehe.“ * Inspektor Kato warf seine braune, abgewetzte Lederjacke über seine Stuhllehne, als er nach langem, endlich wieder im Büro eintraf. Der heutige Tag war wahrhaft scheußlich gewesen. Seit den frühen Morgenstunden rannte er, wie ein gedoptes Frettchen, durch die Straßen Tokyos und schlitterte von einem Dilemma ins Nächste. Er wusste gar nicht, an welches Problem er zuerst herangehen sollte. Sein eigentlicher Fall war doch schließlich der vermeintliche Mordversuch an Mr. Kinomiya Senior. Als er den anonymen Anruf aus der Nachbarschaft erhielt, hatte er angenommen, dass das nur das leidige Geschwätz von zänkischen Hausfrauen war. Die ältere Dame hatte sich recht streitsüchtig am Telefon angehört und es hätte Inspektor Kato nicht gewundert, wenn sie mit dem Besitzer des Dojos auf Kriegsfuß stand. Er vermutete, dass er diese Sache schnell abhacken könnte, er aber der formhalber ihr Anliegen zumindest anhören musste. Als der Inspektor die alte Dame befragte, sprach sie davon, dass die Familie Kinomiya ein schrecklich lauter Haufen sei, ständig ein reges Treiben dort herrschte und brüskierte sich darüber, dass die Liebschaften des jüngsten Enkels sich die Klinke in die Hand gaben. „Sie hätten ihn mal erleben sollen, als er noch in dieser komischen Mannschaft war.“, hatte der Inspektor das eingefallene Gesicht der Nachbarin noch vor Augen. Ihre grauen Strähnen waren zu einem strengen Dutt gebunden, während ihre buschigen Brauen in sämtliche Richtungen abzustehen schienen. Um ihre Mundwinkel lagen tiefe Falten, während unter ihren Augen dicke Tränensäcke, bei jeder Bewegung wippten. Sie besaß ein unansehnliches Muttermal am Kinn, aus dem zwei Härchen sprossen und er hatte Mühe, ihr wirklich vorzugaukeln, dass er ihre Aussage ernst nahm. Ihm schien es mehr, als würde die Frau einen langangestauten Groll ablassen. „Als Takao noch jung war, gingen seine Freunde in dem Haus ein und aus. Ständig hat man das Geplapper gehört und selbst nachts gaben die Bälger keine Ruhe. Ich musste immer mal wieder einen Schrei fahren lassen, dass diese Rüppel doch endlich mal die Klappe halten sollen! Es gibt Leute die müssen schließlich noch arbeiten. Da hat Takao aber immer nur herüber gerufen, dass ich ihn mal gerne haben könne – und dass ich ein ekelhafter Besen sei! Eine bodenlose Unverschämtheit ist das, aber der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm! Ich kenne seinen Großvater seit wir zusammen zur Schule gegangen sind. Der war genauso ein vorlautes Großmaul!“ Ihre Augen blitzten zornig. Inspektor Kato hatte dagegen nur gehofft, dass sie endlich mal zum Punkt kam. „Dann waren da noch diese albernen Spielzeuge! Sie wissen schon, diese merkwürdigen Kreisel - die haben einen Radau gemacht, sage ich ihnen! Ständig ist bei denen dort drüben etwas zu Bruch gegangen. Einer seiner Freunde hat mal meine Scheibe kaputtgemacht. So ein kleiner Rotschopf. Hat sich aufgeführt wie ein Wilder. Als Takao durch diese affige Sportart auch noch Weltmeister geworden ist, hörte der Besucherstrom gar nicht mehr auf. Immer tauchten irgendwelche komisch gekleideten Gestalten in unserer schönen Gegend auf. Zustände wie in Mexiko, sag ich ihnen - wie bei einem Bandenkrieg!“ Inspektor Kato hätte beinahe mit den Augen gerollt und fragte sich an dieser Stelle, ob die gute Frau jemals in Mexiko gewesen sei, um solche Vergleiche ziehen zu können. Sie machte den Eindruck, als wäre sie noch nie aus ihrem Viertel herausgekommen. „Da war sogar mal ein Junge, mit wilden schwarzen Haaren, stechend grünen Augen und einer einzelnen roten Strähne, die aus diesem Vogelnest - was sich Frisur schimpft – hervorstand. Ich denke, das war ein Okkultist! Diesen Punk hätten sie mal erleben sollen! Grässlich schaute der aus und nicht einmal ordentlich gekleidet war der Junge. Wo sind die hübschen Schuluniformen von früher hin? Ich verstehe nicht, was gegen einfache Knickerbockerhosen und Hemdchen spricht! Dieser Punk hat mich mehr an diese lächerlichen Spielzeugpuppen aus den Sechzigern erinnert. Die mit den hochstehenden, knallbunten Haaren, ja wie hießen die denn gleich noch mal?“ „Sie meinen die Zaubertrolle?“, kam es monoton von Kato. „Ja, genau die! Und frech war der Bursche! Hat mir geradezu befohlen, ich solle Takao ausrichten, Ozuma sei da gewesen. Er wolle ihn zu einem Match herausfordern. Lächerlich! Ich habe ihm gesagt, einen feuchten Dreck würde ich ausrichten und ich würde die Polizei anrufen, wenn er weiterhin, über anderer Leute Grundstücksmauern gesprungen kommt, anstatt wie ein anständiger Mensch die Klingel zu benutzen! Ja ist das hier ein Urwald?! Ich lasse mich doch nicht von einem Punk einschüchtern! Hab dem Lümmel dann meinen Pantoffel hinterhergeworfen!“ Inspektor Kato wäre wahrscheinlich noch bis zum nächsten Morgen dort gestanden, hätte er die alte Dame nicht irgendwann verärgert abgewürgt, um zu jenem Vorfall zurück zu kommen, weshalb er überhaupt die Befragung durchnahm. Er hatte das ganze hier tatsächlich für einen unnötigen Einsatz gehalten, doch leider bestätigte ihm die restliche Nachbarschaft ebenfalls, dass es wirklich zu einem Streit gekommen war, kurz bevor der alte Mann vom Krankenwagen abgetragen wurde. Einer seiner Freunde sei vorher mit einer jungen Frau aus dem Anwesen spaziert, die hochschwanger gewesen war, während der alte Herr zeterte, dass Takao und seine Gruppe doch weich in der Birne wären. Einige beschrieben allerdings die Familie als von Natur aus „äußerst lebhaft“. Abgesehen von dem zänkischen Weib, hatten sich die verbliebenen Nachbarn, auch eher vorsichtiger ausgedrückt, ganz so, als wolle man den Kinomiyas nichts anlasten. Das war durchaus normal, denn die meisten Leute behielten im Hinterkopf, dass sie mit diesen Menschen in ihrer Nachbarschaft, noch weiterhin zusammen leben müssten. Die wenigstens waren so unvorsichtig wie seine Tippgeberin und er wäre froh gewesen, wenn die übrigen Nachbarn, ihre Aussage, dementiert hätten. Zum jetzigen Zeitpunkt waren die Zufälle aber einfach zu groß. Streitereien durfte es in den besten Familien geben, das stand außer Frage, nur landete für gewöhnlich nicht jemand gleich danach im Krankenhaus – mehr tot als lebendig wohlbemerkt. Dass die Kinomiyas problematisch waren, konnte Kato immerhin nun auch bestätigen. Allein die Enkel waren ein Trauerspiel… Dort wo der Jüngste auftauchte, herrschte Mord und Totschlag, immerhin war kurz nach seiner Ankunft im Hiwatari Anwesen, dass Haus abgebrannt. Nachdem die Gruppe aus dem Krankenhaus verschwand, war eine Pflegerin schwer entstellt aufgefunden worden, während der Großvater, mit der Schwester des Hiwatari Oberhauptes, das Weite gesucht hatte. Kato war aus allen Wolken gefallen, als er kürzlich durch die Videoaufnahmen entdeckte, wie der alte Mann aus dem Gebäude hinausspazierte – ganz zu schweigen in welchen quicklebendigen Zustand er zu sein schien. Er wusste mittlerweile auch, wann Takao, mit seinen Freunden, das Krankenhaus verlassen hatte, aber seitdem war der Junge untergetaucht. Ihm ging einfach nicht in den Kopf, warum die Gruppe verschwinden sollte, wenn sie nichts zu verbergen hatte. Prompt danach, mischte sich der älteste Enkel bei der Suche ein und gab einer eifrigen Reporterin, einen so ungeschickten Schubs, dass sie vor ein Auto geriet und überrollt wurde. Eigentlich tat ihm dieser bedauernswerte Tropf Leid, denn er wäre gar nicht in die Geschichte verwickelt worden, hätte Kato ihn nicht auf die familiären Probleme hingewiesen. Er hatte sich doch nur erhofft, dass ihn der älteste Enkel zu seinem Bruder führte. Einen so tragischen Zwischenfall konnte doch niemand vorhersehen... Das Erdbeben war dann nur noch der Gipfel des Eisberges gewesen. Die Telefone klingelten daraufhin ununterbrochen. Kato nahm einen Moment schnaufend an seinem Schreibtisch Platz und schob die oberste Schublade, des angelehnten Rollcontainers auf. Dort lag eine Schachtel Zigaretten, gleich daneben eine Schachtel Nikotinpflaster. Seine Hand schwebte unschlüssig zwischen den beiden Packungen hin und her. Kurz darauf huschte sein Blick auf das Familienfoto, was in einem schlichten Rahmen, auf der Schreibtischkante stand. Das Abbild seiner Frau schien ihn vorwurfsvoll zu beobachten. „Du hast es ihr versprochen!“, schoss es ihm durch den Sinn. Er gab einen grunzenden Laut von sich, griff zu den Pflastern und schob zähneknirschend die Schublade wieder zu. Gerade als der Inspektor dabei war, den Klebestreifen aus der flachen Verpackung zu fingern, rief einer der jüngeren Polizisten ihm zu, dass der Anwalt von Hitoshi Kinomiya eingetroffen sei. „Jetzt schon? Ihr habt doch gesagt, der Kerl hätte noch nicht einmal telefoniert!“ „Er meinte, er komme im Auftrag von Kinomiyas Verlobten.“ Der Inspektor stöhnte entnervt. Allein an der Aufmachung der jungen Frau, hatte er erkannt, dass sie aus wohlhabendem Hause kam. Es gab nichts schlimmeres, als die Anwälte, von kleinen verzogenen Firmentöchtern. Er riss schnaubend die Schublade wieder auf und packte nach der Zigarettenschachtel, kurz danach beugte er sich zum Foto herab: „Entschuldige Liebling, aber dieser Tag ist einfach zum Kotzen.“ Etwas später hob Hitoshi Kinomiya verwundert den Kopf, als die vergitterte Tür geräuschvoll aufgeschlossen und sein Name gerufen wurde. Eigentlich hatte er erwartet, die ganze Nacht hier verbringen zu müssen und darüber sinniert, wie es für ihn jetzt weitergehen sollte. Ihm war klar, dass er einen freien Anruf hatte, doch der war bisher ungenutzt geblieben. Umso erstaunter war er deshalb, als ihm mitgeteilt wurde, dass sein Anwalt eingetroffen sei. Er hatte nicht erwartet, so schnell einen Pflichtverteidiger zu bekommen, umso grantiger wurde er, als der seriös gekleidete Mann vor ihm sagte, im Auftrag von Hana zu kommen. „Ich habe ihr gesagt, ich will die Hilfe von ihrem Vater nicht!“ „Deshalb hat auch sie mich beauftragt, nicht ihr Vater. Ich bin ein Studienfreund von ihr.“, das erklärte weshalb er so jung war. Hiro hatte schon eine spitze Bemerkung auf der Zunge, dass er sich erst einmal die Eierschalen hinter den Ohren abkratzen sollte, da sprach sein Verteidiger: „Übrigens, wir beide kennen uns auch.“ „Wir? Das wüsste ich…“, meinte er ungläubig. „Du kannst dich nicht mehr an den Typen erinnern, der dir eine reingehauen hat, weil du mit seiner Freundin geschlafen hast?“ Stille… Hiro blinzelte ihn mehrmals an. Dann huschten seine Augen peinlich berührt nach oben, als er erkannte, dass er Hanas Ex vor sich hatte. „Hups.“ „Ja. Hups.“ „Benjiro, richtig?“ „Schön dass du das wenigstens noch weißt.“ „Jah… Tut mir leid dafür.“, Hiro räusperte sich, um über die unangenehme Situation hinwegzutäuschen. „Obwohl ich mich fragen muss, wie du dazu kommst, gerade meinen Fall zu übernehmen. In Anbetracht unseres gemeinsamen Hintergrundes, bin ich doch verwundert.“ „Junge, du bist nicht der Einzige, der eine steile Karriere hingelegt hat.“, sprach sein gegenüber mit einem verächtlichen Augenrollen. „Und jetzt bist du hier um mir das unter die Nase zu schmieren.“ „Es ist nicht der Hauptgrund, aber warum soll ich nicht auch meinen Spaß haben?“, er durchmaß die winzige Zelle auf seinem Weg zu ihm. „Auch wenn ich genau weiß, dass du kleiner, beschissener Angeber dich für einen ganz abgebrühten Kerl hältst. Nichtsdestotrotz wäre ich heute nicht hier, wenn ich nicht auch Typen wie dich vertreten würde. Ich bin professionell und das weiß Hana. Deshalb hat sie mich engagiert.“ Einen Moment verzog sich Hitoshis Miene angesäuert und er spürte einen Hauch von Eifersucht aufkommen. Ihm missfiel der Gedanke, dass seine Verlobte, mit ihrem früheren Liebhaber noch Kontakt hatte. Es gab doch gewiss auch andere seriöse Anwälte, stattdessen sollte ausgerechnet der Mann ihn verteidigen, dem er die Frau ausgespannt hatte. In seinem Kopf malte er sich die schlimmsten Szenarien aus. Sollte sich Benjiro aber an seiner Lage ergötzen, ließ er sich tatsächlich wenig anmerken. Vielmehr setzte er sich zu ihm auf die Pritsche und begann ihn sachlich über seine Rechte aufzuklären. Er schien überrascht, wie viel Hitoshi davon auch wusste, und noch mehr, als er erfuhr, von wie wenigen seiner Rechte er gebraucht gemacht hatte. „Hiro, du bist doch nicht auf den Kopf gefallen.“, sprach Benjiro fachmännisch. „Es muss doch einen Grund geben, weshalb du noch nicht einmal nach einem Anwalt gefragt hast.“ Er blickte verbissen auf seine Finger bei diesem Satz, denn es gab einen Grund. Hitoshi war schuldig. Daran ließ sich doch ohnehin nichts ändern. Er hatte Ming-Ming in den Tod gestürzt, egal ob Absicht, oder nicht. Anstatt zu antworten, fragte er: „Wann hast du mit Hana gesprochen?“ „Vor circa einer Stunde. Ich war gerade beim Abendessen mit meiner Frau. Da ruft sie mich an, und meint, sie hätte einen dringenden Notfall und bräuchte einen Mann, der etwas von seinem Handwerk versteht.“ „Vor einer Stunde…“, wiederholte er nachdenklich. Unweigerlich fragte sich Hitoshi, ob sie schon etwas erreicht hatte. Als er in die Zelle kam, nahm man ihm bei der Leibesvisitation das Handy ab, daher besaß er keine Möglichkeit, mit seiner Verlobten noch zu sprechen. Inspektor Kato zeigte sich zuvor äußerst gnädig mit ihm und behielt ihn auf den Laufenden, was seinen Fortschritt über den Verbleib seiner Familie betraf, doch als das Erdbeben kam, hatten die Telefone hinter der Tür zum Polizeibüro, angefangen im Chor zu singen. Hitoshi war selbst erschrocken, als die Erde bedrohlich vibrierte und selbst seinen betrunkenen Leidensgenossen, hatte es von seiner Pritsche gehoben, der seinen Rausch anschließend auf dem Boden ausschlief. Draußen waren Sirenen zu hören gewesen und auch die Wärter, vor der Tür, waren im Angesicht dieser heftigen Katastrophe, nur hilflos auf die Knie gesunken. „Geht es ihr gut?“, wollte Hitoshi besorgt wissen. „Alles bestens. Mach dir keine Sorge. Sie ist zusammen mit einem Freund von dir, bei einem Hotel untergekommen und wartet darauf, dass die Behörden die Entwarnung geben.“ „Das man dich überhaupt zu mir gelassen hat. Ich hätte gemeint, dass man Momenten andere Probleme da draußen hat.“ „Ich bin überzeugend.“ „Wie ist die Lage da draußen.“ Benjiro schnaufte einmal. Es klang nicht verächtlich, sondern eher etwas erschöpft. „Eingestürzte Häuser, einige umgekippte Bäume. Shibuya hat es meines Wissens nach etwas heftiger erwischt. Dort soll ein Teil des Metro Tunnels eingebrochen sein. Glücklicherweise führte keine Bahn in diesem Moment durch, aber für diejenigen, die nachhause kommen wollen, ist die Metro nun natürlich gestrichen. Du musst mit langen Wartezeiten rechnen und selbst dann weißt du nicht, ob der Zug wirklich kommt. Das Epizentrum liegt außerdem mehr außerhalb im Norden.“ „Wie schwer war das Beben?“ „Nicht so schlimm wie 2011, aber stärker als das Letzte. Die Leute sind daher ziemlich beunruhigt.“ „Es gab aber keinen Tsunami?“ „Doch, den gab es. Aber seit dem letzten schweren Beben, sind wir schlauer. Die Dämme haben gehalten.“, er klang recht unbekümmert, was Hitoshi als geradezu fahrlässig empfand. 2011 hatte sich Japan auch für gut gewappnet gehalten, bis ein Beben sie erreichte, dass in solchem Ausmaß, noch nie in ihrer Geschichte vorkam. Der Mensch konnte noch so sehr versuchen, die Natur zu zähmen, irgendwann fand sie einen Weg, um auszubrechen. Doch bald holte ihn Benjiro wieder aus seinen düsteren Überlegungen. „Vergiss nun erst einmal das Beben. Du hast andere Sachen die wir anpacken müssen.“ Er kramte in der Innentasche seines Anzuges nach einer Packung Zigaretten und hielt sie ihm hin. Hitoshi war zwar Gelegenheitsraucher, lehnte aber ab – doch Benjiro senkte die Packung nicht. „Ich rauche wirklich selten.“ „Bei Stress?“ „Zum Beispiel.“ „Dann solltest du jetzt mal anfangen. Denn was ist stressiger, als eine Verhandlung, wegen fahrlässiger Tötung.“ Etwas genervt blickte Hiro zu ihm auf. Benjiro sprach es so provokativ aus, dass er sicher war, dass dieser Mistkerl ihm eins auswischen wollte. Da stutzte er jedoch. Sein Anwalt besaß schmale tiefschwarze Augen, die kurz zu dem Wärter huschten, der vor seiner Zelle schmiere stand. Dann hoben sich die Brauen von ihm auffordernd. Irritiert blinzelte er Benjiro an. Bisher hatte Hitoshi die Ellbogen auf seine Knie gestützt um nachdenklich seine Finger vor seinem Gesicht zu verhaken. Nun irrten auch seine Pupillen flüchtig zu dem Wärter, bevor er seine Haltung zögerlich löste und zu der Packung griff. Als er die Schachtel öffnete, erkannte er auf der Innenseite des Deckels ein paar Kanji Zeichen. Die Botschaft darin lautete: „Großvater gefunden. Alles in Ordnung mit ihm. Morgen früh habe ich vielleicht deinen Bruder. Erkläre dir dann alles. Liebe dich, Hana.“ * Tyson hatte lange mit sich gehadert, ob er Kai die entscheidende Frage stellen sollte, denn er wirkte eigentlich noch recht geistesabwesend. Manchmal blieb er einfach so stehen, blinzelte auf einen Punkt, wo doch nichts war außer kahler Felswand und schüttelte dann irritiert den Kopf, als müsse er einen hartnäckigen Gedanken verscheuchen. Es kam auch vor, dass er einfach die Augen fest zusammenpresste. Dann verstummte Kai gänzlich und ging leicht in die Knie, als müsse er sich sammeln. Die Gruppe ließ ihm dann stets die Zeit, welche er dafür brauchte, während Tyson seinen Griff um dessen Taille verstärkte, damit er nicht neben ihm zusammenklappte und mit hinabriss. Falls Kai seine Erinnerungen tatsächlich zurückbekam, war es allein verwunderlich, dass er Tyson gestatte ihn zu stützen. Er nahm sonst kaum Hilfe an. Hinter ihnen war in der Zwischenzeit das Getuschel immer lauter geworden, weil Ray und Max sich insgeheim dieselbe Frage stellten. Man hörte gut vernehmbar ein: „Fragst du?“ „Ich?“ „Ja.“ „Wieso nicht du?“ „Wieso ich?“ „Wieso immer ich?“ „Jetzt mach schon…“ „Nein! Stell dich nicht so an, jetzt mach du auch mal.“ „Stell du dich doch nicht so an!“ Tyson schnalzte missbilligend mit der Zunge. Diskretion war etwas anderes. Er schaute zu Kai, der das Getuschel hinter sich genau hörte, jedoch kein Kommentar dazu abgab, stattdessen mit steinernem Gesicht neben ihm herlief, bis Tyson das Wort an ihn richtete: „Ich muss dich das jetzt fragen, bevor die beiden vor Neugierde platzen - Erinnerst du dich an etwas? Irgendetwas?“ Es wurde totenstill hinter ihnen, man konnte förmlich spüren, wie die hinteren Reihen ihre Ohren spitzten. Alle erwarteten Kais Antwort, während sie Schritt für Schritt voran gingen. Es brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis eine Regung von ihm kam. Er machte auf Tyson den Eindruck als wäre er in einem Schockzustand. „Ich weiß nicht…“ Seine Stimme klang rau – und sehr leise. Er wirkte komplett in sich versunken und schaute ihn nicht einmal an. „Das vorhin mit Hilary hättest du nur wissen können, wenn du dich wieder erinnerst.“ Doch darauf sagte er nichts. Diese Wortkargheit kam Tyson leider beunruhigend bekannt vor. Ihm fiel ein, dass damit der kleine Junge, den er doch so gemocht hatte, mit Kais wiedererlangten Erinnerungen, für immer in den endlosen Tiefen seiner Seele begraben war. Dabei konnte Tyson sich nicht einmal richtig von ihm verabschieden. Als wäre nicht nur Allegro hinter der Wand zurückgeblieben, sondern auch sein kleiner Kater. Ihm war, als fühle er noch die Ärmchen, die sich hilfsbedürftig um seinen Hals legten, dass Köpfchen das sich vertrauensselig auf seine Schulter bettete. Plötzlich hielt Kai wieder geschockt inne. Er fokussierte starr einen Punkt vor ihnen. Tyson bemerkte wie seine Pupillen begannen, hin und her zu huschen, als verfolgte er die Bewegungen einer Person, welche für ihre Augen verborgen war. Ziemlich irritiert blickte er ebenfalls voraus und hob seine Braue argwöhnisch an. Dort war nichts… Lediglich eine Treppe führte hinauf. Ihre Stufen wirkten glatt, als wären sie vereist, die Rutschmatten waren äußerst unpräzise darauf drapiert worden. Tyson kam die Stelle bekannt vor. „Was ist los?“, fragte er. „Ich weiß nicht so genau…“ „Kai, irgendetwas ist doch? Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“ Er schüttelte sich unwillig, auf einmal kam ein Keuchen von ihm. Etwas fahrig trat er zwei Schritte zur Seite. Es kam so plötzlich, dass beide ins Wanken gerieten. Gleich darauf beobachtete Tyson, wie Kai seinen Blick langsam nach vorne schweifen ließ, als verfolgten seinen Augen jemanden, der sich seitlich an ihnen vorbeidrängte. „Kai?“ Sein Gesicht schnellte zu ihm. Er riss sich auf einmal los. „Wie… Wieso bist du hier?“, kam die entsetzte Antwort. „Leute, mir gefällt das nicht!“, sprach Ray. „Halluziniert er?“ „Er sieht die Geister der Vergangenheit.“, entgegnete Galux auf einmal entschieden. Aller Blicke wandten sich ihr zu. Da fuhr sie auch schon fort. „Ganz offensichtlich kann sich der Junge noch sehr lebhaft an euren Besuch, in dieser Höhle erinnern. Er besitzt einen wachen Verstand, andernfalls kämen ihm wohl kaum sämtliche Bewegungsabläufe, von damals noch in den Sinn.“ Sie tippelte näher an Kai heran. Der beobachtete inzwischen wachsam die Treppe. Auf einmal hob er erstaunt die Braue, als habe sich dort etwas Außergewöhnliches abgespielt. „Bisher war sein Verstand eine versiegte Quelle. Etwas muss jedoch dafür gesorgt haben, dass sie wieder sprudelt. Ich kann euch leider nicht sagen, wie Dranzers Magie im Detail funktioniert, dass liegt außerhalb meines Verstandes, doch mir kommt es zumindest so vor, als sehe der Junge sein altes Leben an sich vorbeiziehen.“ „Der See!“, rief Tyson aus. Endlich begriff er was Kai in der Kammer gemeint hatte. „Als wir ihn aus dem See gefischt haben, sprach er von Gebirgen und Wäldern. Um den Baikalsee gab es welche!“ „Galux, was meinst du mit Geistern aus der Vergangenheit?“, fragte Ray. „Das klingt so dubios. Erinnert er sich jetzt, oder nicht?“ Das Bit Beast wiegte den Kopf unsicher hin und her. „Es ist eine besondere Form des Erinnerns. Womöglich weil er auf ebenso besondere Weise seine Erinnerungen verloren hat. Hier war böse Magie am Werk, kein Unfall, der seinen Verstand durch eine Verletzung in Mitleidenschaft gezogen hat. Dranzer muss seine Erinnerungen förmlich verbrannt haben. Daher müssen sie wieder neu aufleben. Eine, nach der anderen. Wie der Phönix der seiner Asche entsteigt.“, sie bedachte Kai nachdenklich. „Ich kann euch nicht versprechen, dass sein Zustand bald nachlässt – doch sicherlich wird diese Phase irgendwann auch wieder vorbei sein. Wann, kann ich euch jedoch nicht sagen. Gebt seinem Verstand die Zeit, sämtliche Geschehnisse aus seiner Vergangenheit, wieder nachzuspielen. Ihr seid noch junge Menschen. Allzu viele Erinnerungen dürften es nicht sein.“ Die Gruppe blickte besorgt zu ihm. Tyson folgte Kais Blick, fuhr zu jenem Punkt, den er gerade so konzentriert fokussierte. Er dachte fieberhaft nach, was sich dort zugetragen hatte, dass es ihm so lebendig im Kopf hängen geblieben war, da klatschte er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Daichi war damals auch in der Höhle dabei. Er hatte sich ständig über die kalten Temperaturen beklagt, da er von der tropischen Insel, auf welcher er aufgewachsen war, derartiges nicht gewohnt war. Auch sein ehemaliger Partner hatte nicht die Weitsicht besessen, festes Schuhwerk zu verwenden, doch anders als bei Hilary, war das nicht aus sturer Eitelkeit passiert, sondern weil der Kleine einfach nicht wusste, was sie erwarten würde. Als Daichi also diesen Gang entlanglief, war er so mit seinem Gejammer beschäftigt gewesen, dass er nicht genug auf seine Schritte achtgab. Kurz vor der Treppe, geriet er heftig ins Straucheln und packte ausgerechnet nach Tysons Pferdeschwanz, um nicht rücklings umzustürzen. Allerdings half das wenig, stattdessen landeten beide auf dem Boden, während er selbst, Daichi am liebsten vor Wut erwürgt hätte. „Dort bin ich gestürzt.“, sprach er. „Wirklich?“, Max schaute fragend hinauf. Es war so lange her, dass manches einfach in Vergessenheit geraten war. „Ja doch. Wegen Daichi!“ „Oh jah!“, meinte Ray nun mit einem angesäuerten Augenrollen, als es ihm ebenfalls wieder in den Sinn kam. „Ich musste dazwischen gehen, weil ihr euch beide bald geprügelt hättet!“ „Wer ist da?!“ Wie unter einem Peitschenhieb zuckte die Gruppe zusammen. Eine herrische Männerstimme schallte von oberhalb der Treppe zu ihnen herab. Ihr Echo hallte noch lange nach, bis sie die schweren Schritte von Stiefeln, auf gefrorenen Boden vernahmen. Der Lichtkegel einer Taschenlampe legte sich auf die Stufen und irgendwann wandte sich der Strahl, direkt in ihre Richtung. Tyson vernahm schnaufende Atemzüge. Wer immer hier herunterkam, er war nicht sonderlich gut in Form. Er hob die Hand, blinzelte irritiert hinein, bis der Mann das Licht senkte und er in das grantige Antlitz des örtlichen Fremdenführers blickte. „Wo zum Geier kommt ihr denn her?!“, bellte er unfreundlich. Tyson schielte zu Galux, die absolut gelassen auf dem Boden saß. Ihr Schweif hatte sich geschmeidig um ihren Körper geschlungen. Scheinbar schien der Mann sich ihrer Anwesenheit nicht bewusst. Etwas nervös begann Ray zu lügen: „Wir sind mit der Mittagstour hier hereingekommen und…“ Tyson verdrehte die Augen, denn sein Freund war noch nie ein sonderlich guter Lügner gewesen. Man sah Ray an der Nasenspitze an, dass seine Ausrede geflunkert war. Tyson hätte sich gewünscht, dass er ihm den Forttritt gelassen hätte, einfach weil er seinen Weibern auch stets das Blaue vom Himmel herunter lügen konnte. Er war einfach geübt darin. „Ja, ja… Ich weiß mit welcher Tour ihr hineingeschlichen seid!“, bellte er verstimmt. „Habt euch für ganz schlau gehalten und wolltet keinen Eintritt zahlen! Solche wie euch kenne ich nur zu gut! Wisst ihr wie lebensgefährlich es ist, ausgerechnet heute hier unten zu sein?!“ Anstatt sich zu rechtfertigen, sprach Ray kleinlaut: „Tut uns leid.“ Er ließ die Flinte ziemlich schnell ins Korn fallen, doch es gab momentan auch wirklich schlimmeres, als wegen dem versäumten Eintrittspreises, ein paar auf die Finger zu bekommen. Sie wollten eigentlich nur noch hinaus. „Habt euch ja einen feinen Tag ausgepickt. Euch gehören ein paar hinter die Ohren gepfeffert. Mitkommen! Und etwas dalli, wenn ich bitten darf! Ich muss nachhause, um nach meiner Frau zu sehen!“ „Wie spät ist es denn?“ „Viel zu spät.“ Tyson schnaubte entnervt. Der alte Kerl erinnerte ihn irgendwie an seinen Großvater, nur weitaus ungepflegter. Er trug eine dicke, abgewetzte Daunenjacke, mit runden Reflektor Aufklebern an den Ärmeln. Im Gegensatz zu ihnen schien er nicht so jämmerlich zu frieren. Seine Stiefel waren zumindest dick gefüttert. Die Gruppe folgte ihm wortkarg, bis auf Kai, der noch immer verträumt vor sich herschaute. Als Tyson seine Hand auf dessen Schulter legte, schrak der aus seinem Tagtraum. „Komm mit.“, er setzte ein freundschaftliches Lächeln auf. „Deine Schwester wartet auf dich.“ Kai blinzelte ihn einige Sekunden irritiert an. Dann fragte er: „Ich habe wirklich eine Schwester?“ Die Stufen waren nicht sonderlich symmetrisch. Eine war schmal, die nächste breiter, die darauffolgende wiederum total in der Schräglage. Während dem Aufstieg, ließ sich der Fremdenfrüher verärgert darüber aus, wie dämlich man sein musste, um bei ihrer dünnen Aufmachung, hier hinunter zu kommen. Es war etwas, was er ihnen nicht extra hätte sagen müssen, denn sie froren ohnehin wie verrückt. Das Klappern ihrer Zähne war ihr ständiger Begleiter geworden, seit sie den Wurzelpfad verlassen hatten. Tyson freute sich schon darauf, endlich wieder frische Luft zu riechen. Er hoffte dass es nicht regnete, am liebsten wäre ihm, dass sie strahlender Sonnenschein empfing. Doch seltsamerweise blieb es beim Aufstieg weiterhin so kalt. Mehrmals huschten seine Augen zu Kai. Er beobachtet, wie der mit jeder Stufe, seine Handfläche an der Wand abstützte. Einmal geriet er ins Straucheln. Als Ray ihm helfen wollte, schüttelte er jedoch den Kopf und meinte, dass er nicht angefasst werden wolle. Es ließ Tyson seufzen. Seine alten Marotten kamen schnell wieder zum Vorschein, auch wenn es eher wie eine Bitte vorgetragen wurde, als wie eine harsche Abfuhr. Es klang als würde Kai momentan Abstand brauchen. Irgendwann huschte Galux zwischen ihren Füßen hindurch, passierte den zeternden Greis vor ihnen und hüpfte flink, Stufe um Stufe, hinauf zu einer Öffnung, die sich vor ihnen auftat. Als sich der Ausgang aus der Fugaku Windhöhle näherte, erhaschte Tyson einen Blick auf den Himmel. Zunächst bemerkte er die grauen Wolken, was ihn enttäuscht stöhnen ließ und kurz darauf entdeckte er noch entsetzter, dass dicke Schneeflocken vom Himmel herabtänzelten. Es war erst Ende Oktober! Draußen sollte eine herbstliche Stimmung herrschen, mit farbenfrohen Blättern, die von den Baumkronen wehten. Stattdessen trafen seine Füße auf den letzten Stufen auf eine dicke Schneeschicht. Augenblicklich fröstelte es Tyson noch mehr. Sobald sie im Freien waren, schlang der Großteil von ihnen die Arme um den eigenen Oberkörper und trat auf der Stelle. Sie waren mitten in den Aokigahara-Wäldern herausgekommen. Neben dem Ausgang thronte, auf einem riesigen Erdhöcker, ein morscher Baum. Seine Wurzeln fraßen sich um den Klumpen herum. Der Anblick erinnerte Tyson an den Wurzelpfad. „Oh nicht das noch! Es schneit!“, klagte Max bibbernd. „Jaa… Schon den ganzen Tag, du Neunmalkluger!“ Kai entfernte sich einige Meter von ihnen. Er blickte schweigsam hinauf in den Himmel. Ein letzter Fetzen Abendsonne brach durch die Wolkendecke. Es schien ihn regelrecht in den Bann zu ziehen. Tyson fragte sich, ob erneut eine Erinnerung in ihm hochkam. Da lenkte ihn Rays Stimme ab. „Fahren die Busse noch?“ „Die Antwort wird dir nicht gefallen, Junge.“ „Wie sollen wir dann nachhause kommen?!“, jaulte Max fassungslos. „Na, wie seid ihr denn hier hergekommen?“, blaffte der alte Mann. „Das ist… eine ziemlich lange Geschichte.“ Tysons Blick huschte wieder zu Kai. Er reckte eine Hand in den Sonnenstrahl. Ihn hätte brennend interessiert was er dort sah. Inzwischen ging die Diskussion neben ihm weiter. „Können wir irgendwo ein Telefon benutzen um ein Taxi zu rufen?“ „Hah!“, schallte es höhnisch. „Du glaubst doch nicht, hier fährt noch ein Taxi hoch?“ „Können wir es trotzdem einmal versuchen?“ „Wir sind mitten im Wald und es wird bald dunkel. Ihr könntet zwar zum Försterhaus laufen, aber ob ihr bei der jetzigen Situation dort Glück habt, bezweifle ich. Die sind alle schon vor Stunden zu ihren Familien gerannt. Da hat man nur noch Staubwolken gesehen.“ „Das nenne ich Arbeitsmoral…“, kam es sarkastisch von Max. „Jungchen, es ist nicht jeder so schlau, nach einem Erdbeben hier her zu kommen, um klammheimlich in eine Höhle einzusteigen! Da denken die Leute in erster Linie an ihre eigene Verwandtschaft und nutzen die Gunst der Stunde nicht, um den Eintrittspreis zu prellen.“ Tysons Blick schnellte zu dem Fremdenführer, genau wie der seiner Freunde. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Galux geradezu alarmiert die Ohren spitzte. Sie waren recht lang, daher wirkte sie in diesem Moment eher wie ein Hase, der im Gras auf der Lauer lag. „Ein Erdbeben?“, wiederholte Ray stockend. „Wann war das?“ „Ja Himmel eins! Was habt ihr denn überhaupt da unten mitbekommen?“, rief der alte Mann nun aus. Er ließ die Hände fassungslos über den Kopf fliegen. „Vor einigen Stunden hat hier die Erde gewackelt, man meinte, die Götter bearbeiten den Boden mit einem Presslufthammer!“ Tyson sah Rays geweiteten Blick starr zur Seite huschen, im Gedanken wohl bei seiner Mao, die laut dem letzten Stand, in ihrem Hotel, auf seine Rückkehr gewartet hatte. Wenn das Gebäude nicht mehr stand, konnte sie jetzt sonst wo sein – oder schlimmeres. Er biss sich auf die Unterlippe bei dessen Anblick, denn er selbst musste an seinen Großvater und Bruder denken. Allein wie es Kenny gehen mochte, ließ ihm keine Ruhe. Tyson fuhr sich stöhnend über die Nasenwurzel, als er Max mit dem alten Mann diskutieren hörte, weil der wissen wollte, ob man in den Nachrichten irgendetwas darüber gesagt hatte, dass der Flughafenverkehr wegen den Unwettern zum Erliegen gekommen war. Jeder von ihnen besaß seine eigenen schwerwiegenden Sorgen… „Das muss mit der Abwesenheit der Uralten zusammen hängen.“, sprach Galux mit ruhiger Stimme neben ihm. Er hätte gerne mit ihr darüber gesprochen, doch in Anwesenheit des Fremdenführers ließ sich das kaum einrichten. „Haben sie ein Handy?“, fragte Max inzwischen drängend. „Wir müssen wirklich nachhause!“ „Ach! Jetzt habt ihr es eilig? Aber vor einigen Minuten…“ „Ist doch scheißegal was da war! Wir brauchen ein Taxi!“ „Blaff mich nicht so frech an, Bursche! Kein Taxifahrer der etwas Grips im Hirn hat, kommt jetzt, bei diesem Wetter hier hoch! Der bleibt doch kläglich stecken! Und die Handyleitungen sind seit Stunden überlastet. Da kommt man nur mit viel Glück durch. Wo steht denn euer Wagen?“ „Vor einem Tempel in der Stadt.“, erklärte Tyson verstimmt und nannte ihm das Krankenhaus, indessen Nähe die Anlage war. „Wie zum Geier seid ihr dann hier hoch gekommen? Das ist doch ein riesen Stück zu Fuß!“ Ihre Geschichte wurde immer fragwürdiger. Fieberhaft versuchte er, eine plausible Erklärung zu finden, wie sie bei diesem Wetter – auch noch bei Einbruch der Dämmerung – in die Höhle gelangt waren. Die Stadt war ein ganzes Stück entfernt und ohne Auto die Strecke kaum zu überwinden. „Mit euch stimmt doch etwas nicht… Seid ihr Junkies die sich einen Platz gesucht haben, um in Ruhe ihr Gras zu rauchen?“ Tyson lachte trocken auf. Selbst das wäre plausibler, als ihre tatsächliche Geschichte. Da hätte er dem Mann gleich erzählen können, dass sie durch ein Hasenloch im Wunderland gelandet waren. Auf einmal wandte der den Blick hinter Tyson. Der fuhr herum und beobachtete verwundert, wie Kai noch immer die Hand in die Sonne ausstreckte und vor sich her murmelte. „Und der hat wahrscheinlich einen zu viel geraucht!“, kam der Vorwurf vom Fremdenführer. „Wir hatten einen Unfall mit seinem Wagen.“, dachte sich Tyson eine Lüge aus. „Und er muss etwas am Kopf abbekommen. Als wir ihn einen Moment aus den Augen gelassen haben, war er weg und wir haben ihn erst in der Höhle wieder gefunden.“ Eigentlich hatte er ein schlechtes Gewissen, Kais geistige Verwirrung zu ihrem Vorteil zu missbrauchen, doch irgendwie musste er an das Mitleid des alten Greises appellieren. Tatsächlich glättete sich die Zornesfalte auf dessen Stirn ein wenig. „Es geht ihm wirklich nicht so gut und wir würden ihn gerne ins Krankenhaus bringen. Wir müssen sicher gehen, dass er nichts hat.“ Der alte Herr begann verstimmt zu schmatzen, als kaute er grübelnd auf seiner Zunge herum. Sein Blick huschte argwöhnisch zu Kai, der sich auf einmal langsam zu ihnen umwandte. Er lächelte zu ihnen herüber und sprach: „Der Feuervogel ist schön. Findet ihr nicht auch?“ Nun wurde Tyson endlich klar, was er vor sich sah. Der Rest der Gruppe tauschte vielsagende Blicke aus, doch keiner entgegnete etwas, bis der alte Mann seufzte. Die Falte auf der Stirn war nun gänzlich geebnet, sein Groll offenbar verflogen. „Naja, der scheint wirklich nicht ganz da zu sein. Keiner soll dem alten Shinji nachsagen, er hätte ein Herz aus Stein. Ihr könnt bei mir mitfahren. Der Tempel von dem ihr gesprochen habt, ist auf meinem Heimweg. Ich kann euch leider nicht ins Krankenhaus fahren, das wäre ein zu großer Umweg für mich, aber zumindest bei eurem Wagen kann ich euch ablassen.“ Tyson lächelte beruhigt und bedankte sich. Etwas später halfen sie Shinji, seinen Wagen erst einmal vom Schnee zu räumen. Interessanterweise war auch er eher unfreiwillig hier oben. Er wollte eigentlich nur die Rehe, im örtlichen Freigehege versorgt wissen, bevor er sich ebenfalls auf den Heimweg machen wollte, als er ihre Stimmen aus der Höhle hinausschallen hörte. Im Nachhinein war er froh, sie gefunden zu haben, denn sein kleiner Truck, war durch ihre längere Diskussion schon wieder eingeschneit. „Ist man vorne fertig, ist er hinten schon wieder zugekleistert. Deshalb hasse ich den Winter.“ Ohne ein weiteres aufmüpfiges Wort, halfen sie ihm dabei, die Schneeketten an den Reifen zu befestigen, die er in einer Holzkiste auf der Ladefläche verstaut hielt. „Man kann hier oben nie wissen. Meine Kollegen haben mich sonst immer dafür ausgelacht. Bin mal gespannt ob die es bis nachhause geschafft haben…“, erklärte er brummig. Keiner von ihnen beschwerte sich darüber, dass Kai nicht mithalf. Der beobachtete fasziniert einen Eisklumpen, der von einem Baum gefallen war und eine tiefe Versenkung im Schnee hinterließ. Als die Gruppe bereit zum Aufbruch war, riss Tyson ihn aus seinen Überlegungen heraus, indem er ihm sachte die Hand auf die Schulter legte. Als er ihm mitteilte, dass sie bereit zum Aufbruch waren, fragte Kai ihn aus heiterem Himmel, ob er sich an den Eisklumpen erinnerte, den ihm Wolborg geschenkt hatte. „Weißt du noch die Farben von dem Schmetterling darin?“ „Ja.“ „Sind wir hier in Wolborgs Welt?“, Kai blinzelte irritiert in die Umgebung. „Nein. Wir sind wieder zuhause.“ „Oh…“, kam es leise von ihm. Er wirkte auf Tyson recht orientierungslos. Dann fragte er: „Glaubst du unser Schneemann steht dort noch?“ Dabei klang Kai überraschend kindlich, fast schon wie der kleine Junge, den Tyson so gemocht hatte. Offenbar war die Erinnerung an diese Zeit noch tief in seinem Kopf verankert, während sein altes Leben, nur nach und nach in sein Bewusstsein zurückdrang, wie ein leeres Fass, was Tropfen um Tropfen gefüllt wurde. „Vielleicht…“, antwortete Tyson und schlang die Arme frierend um seinen eigenen Körper. Ein kräftiger Windhauch peitschte durch die Baumwipfel. Es ließ einige der stumpfen, kleinen Eiszapfen, die von den Ästen herabhingen abbrechen und in einer schrägen Flugbahn zu Boden fallen. Tyson fiel auf, wie schön sie dabei funkelten, als das letzte Licht der Abendsonne sich in ihnen brach, erhob sich Kai rasch. Auf einmal wurde sein Gesicht todernst. Er blickte den Eisbröckchen nach, die im Glanz der Sonne, wie auseinanderbrechende kleine Sternschnuppen wirkten. „Ich war mal an einem Ort, da hat es Sternschnuppen geregnet.“, sprach Kai plötzlich mit heißerer Stimme. „Ich glaube… Du warst auch da. Nur wir beide.“ Er wandte sich mit einem verwirrten Ausdruck Tyson zu. „Es wirkte damals alles so… sonderbar. Wie ein unglaublicher Traum.“, Kai schaute ihn aus großen Augen fragend an. „Ist das wirklich passiert oder bilde ich mir das nur ein?“ Es ließ Tyson überrascht aufatmen. Eigentlich dachte er auch manchmal, sich die Geschehnisse während ihrem finalen Match, nur eingebildet zu haben. Doch ein sanftes Lächeln trat kurz darauf auf seine Lippen. Er dachte so gerne an diesen letzten Kampf zwischen ihnen, daher war die dritte Weltmeisterschaft, immer etwas ganz besonderes für ihn geblieben. Es war wie ein kostbarer Schatz für ihn. „Nein.“, versicherte er Kai. „Das ist wirklich passiert…“ Kurz darauf bestiegen sie die Ladefläche des kleinen Trucks, eng aneinander gereiht. Shinji hatte ihnen eine mottenzerfressene Decke aus dem Fahrerhaus nach hinten geworfen und sie ermahnt, sich gut festzuhalten, denn es würde kein leichter Ritt werden. „Ich muss langsam machen, wegen dem verdammten Schnee. Aber lieber langsam die Straße hinunter, als schnell den Abhang hinab.“ Ray versicherte ihm, dass sie in den letzten Stunden genug Turbulenzen hatten und es eine angenehme Abwechslung sei, einfach mal gemächlich voranzukommen. Als der alte Motor geräuschvoll startete, schien der Fremdenführer so konzentriert auf die Straße zu schauen, dass sie endlich miteinander sprechen konnten. Sobald Tyson das Gefühl hatte, nicht belauscht zu werden, fragte er Galux: „Denkst du das bleibt so mit dem Unwetter?“ Das Bit Beast hatte zuvor verdrossen über den Rand der Laderampe geschaut. Offensichtlich passte ihr diese Art der Fortbewegung nicht sonderlich. Ihm fiel auf, dass sie kleiner geworden war, als würde Galux immer weiter in sich zusammenschrumpfen. Sie wandte sich ab und sprach an Tyson gewandt: „Ich meinte, Driger hätte mir davon erzählt, dass die Uralten für solche Fälle gewappnet sind.“ „Du weißt aber nicht wie?“ „Gewiss nicht. Es ist den unteren Klassen nicht gestattet, die Vorgänge der Uralten zu hinterfragen. Sie sind es die uns kontrollieren, nicht umgekehrt.“ „Sie existieren aber nicht mehr.“, warf Max ein. „So wie ich das sehe, seid ihr Bit Beasts momentan führerlos. Da solltet ihr nicht blind auf eine höhere Macht hoffen.“ „Uns bleibt keine Wahl.“ „Ihr könntet diesen Umstand doch nutzen und ein neues System einführen.“, schlug Ray vor. „Nach allem was ich mitbekommen habe, wäre etwas mehr Unabhängigkeit von den Uralten doch nichts Schlechtes.“ „Und wie stellst du dir das vor? Wir benötigen die Kraft, welche von ihnen ausgeht. Keiner der unteren Klassen kann sich auf Dauer selbst versorgen.“ Tyson stellte sich das ganze wie ein Kraftwerk vor, was außer Betrieb war. Momentan herrschte in der Irrlichterwelt wohl eine Art Stromausfall. Die Bit Beasts versorgten sich nun vorübergehend mit Kerzen und hofften, dass das Werk wieder Energie lieferte, bevor sie hinuntergebrannt waren. Galux rollte sich müde zu einem Knäuel zusammen und schloss die Lider. „Ich vertraue auf Drigers Worte. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Uralten so unachtsam waren und den Tod einen ihrer, nicht wenigstens einmal in Erwägung gezogen haben.“ Diese Worte beruhigten Tyson, dennoch fragte er sich, ob sie auch einmal den Extremfall einkalkuliert hatten - nämlich dass jeder von ihnen sterben könnte. Inzwischen fuhr Galux fort: „Wir werden vorerst einen furchtbaren Energieengpass haben. Ich vermute, dass die meisten Bit Beast einen Massenansturm auf die Menschenwelt antreten werden, um sich dort ihre Kraft, aus ihren Kindern zu ziehen. Selbst jene, die kein Kind in ihre Obhut nehmen wollten, werden wohl jetzt eines suchen.“ „Gibt es auch solche Bit Beasts?“, fragte Max überrascht. „Gewiss. Manche mögen dieses Band einfach nicht. Oder ihnen kam noch kein würdiger Mensch unter die Augen.“ „Dieser Massenansturm… Könnte der nicht schädlich für die Kinder dieser Bit Beasts sein?“, wollte Ray argwöhnisch wissen. „Wenn sie ihren Kindern nicht wohlgesonnen sind, vielleicht.“ Nachdenklich schaute Tyson geradeaus in die Ferne. Ein kleiner Teil des Waldes lichtete sich zu ihrer linken Seite, ließ den Blick auf die Stadt Tokyo zu. Alles lag dort wie unter einer weißen Schicht aus Puderzucker begraben. Er hoffte inständig, die anderen früheren Turnierteilnehmer, waren schlauer als er und hatten ihr Bit Beast nicht so vernachlässigt. Hätte das Tyson auch nicht getan, würde Dragoon jetzt noch leben. Er biss sich auf die Unterlippe bei dieser Überlegung. Zwar hatte sein Bit Beast ihm so schrecklich mitgespielt, doch ein kleiner Teil in ihm, musste ständig daran denken, dass es erst gar nicht so weit gekommen wäre, wenn er mit seinen Partner umsichtiger umgesprungen wäre. Sie alle… Er schaute auf Galux Gestalt und machte sich doch etwas Vorwürfe, nicht so weise mit seinem Bit Beast umgegangen zu sein, wie Mariah. Vielleicht waren Frauen einfach einfühlsamer was das betraf. Auf einmal hielten sich alle fest und Shinji machte eine Vollbremsung. Die Erde bebte. Die Gruppe beobachtete, wie die Bäume am Straßenrand bedrohlich schlingerten. Ihr Blätterwerk rauschte geräuschvoll. Irgendwo aus den Tiefen des Waldes, vernahm man ein lautes Knacken eines umstürzenden Stammes. „Das ist nur ein Nachbeben!“, rief Shinji zu ihnen nach hinten, überraschend gelassen. „Das Beben vor einigen Stunden war noch weitaus Schlimmer. Einfach Zähne zusammenbeißen und warten!“ Als hätten sie eine andere Wahl gehabt… Die Ladefläche unter ihren Hintern vibrierte und sie klammerten sich an ihrem Rand fest, um nicht wegzurutschen. Kurz darauf bemerkte Tyson, wie eine kühle Schneelawine auf ihn stürzte. Ein Aufschrei ging durch die Gruppe, doch glücklicherweise, war oberhalb der Berghänge, die sich zur anderen Seite der Straße auftürmten, nicht noch mehr Schnee ins Rollen geraten. Dennoch saßen sie jetzt mittendrin. So schnell wie der Spuk über sie kam, verklang er kurz darauf wieder. „Na ganz toll!“, stöhnte Max entnervt und strampelte sich aus der kühlen Masse hervor. „Als wäre uns nicht schon kalt genug!“ Ray sträubte sich angewidert und hob die Decke vorsichtig an, um den Schnee über die Ladefläche zu befördern. Kais dünnes Hemd klebte an ihm wie eine zweite Haut, denn von ihnen allen, war er am unpassendsten gekleidet. Die feuchten Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Tyson beobachtete, wie er sie mit den blassen Fingern aus der Stirn strich. Seine Lippen waren bläulich angelaufen, dennoch beklagte er sich nicht. Es brauchte seine Zeit, bis sie wieder losfuhren, doch eine Stunde später, waren sie endlich vom Berg hinunter und auf der Hauptstraße Richtung Tokyo, nichtsahnend was sie dort erwarten würde. ENDE Kapitel 38 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)