Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Diese jubelnde Menge… Unbeschreiblich… Diese Euphorie die durch die Menge wie eine Welle peitschte. Diese Begeisterung die ihr Menschen an den Tag legtet, obwohl in euren überfüllten Turniergebäuden eine grauenhaft stickige Luft herrschte. Typisch für einen Ort mit vielen Menschenmassen. Und im Mittelpunkt standen wir. Du und ich. Unzählige Augenpaare gebannt auf uns gerichtet. In der Hallenmitte die Beyblade Arena. Gegenüber von uns der Gegner. Ein junger Knabe namens Brooklyn, wenn ich mich noch recht entsinne. Er und sein Bit Beast Zeus waren unglaublich stark. Einer meiner stärksten Gegner seit Dranzer. Oh, was waren das für herrliche Zeiten! Wir wurden angemessen bejubelt, wie sich das für die Weltmeister gehörte. Noch heute höre ich den begeisterten Beifall von damals. Das aufgeregte Trampeln hunderter junger Leute auf ihren Sitzplätzen und den Applaus. Es ist eine Melodie die ich nie vergessen werde. Hast du es vergessen? Wie du mich in deiner Hand hieltest? Deine Faust die in die Höhe schoss und dein gellender Freudenschrei über unseren Sieg, der sich mit dem Jubel der begeisterten Masse vermischte. Von allen Seiten schallten Zurufe und Bewunderungen zu uns herüber. Deine Freunde kamen angerannt und hoben uns auf ihre Schultern. Ehrliche Freude sprach aus ihren Augen. Jeder gönnte uns den Sieg. Wir beide, auf den Schultern deiner Freunde, Kontrahenten und Bewunderern. Wir waren die Weltmeister… Und heute, Jahre später, liege ich in einer Schachtel… Das mächtigste Bit Beast der Welt liegt in einer staubigen Pappschachtel im Kleiderschrank. Ist das zu glauben? Wie konnte es nur so weit kommen? Du beachtest mich kaum… Du beachtest mich überhaupt nicht! Morgens in der Früh verlässt du das Haus und kommst abends erschöpft heim, lässt dich auf dein Bett fallen und schaltest den Fernseher an. Dein Leben ist ein einziger sinnloser Trott. Du gehst. Du kommst. Du gehst. Du kommst. Nur manchmal, wenn du mit deinem kleinen Freund aus Amerika telefoniert hast, holst du mich aus der Schachtel hervor, streichst mit deinen Fingern über meine Legierung, kontrollierst meine Bauteile und betrachtest mich wehmütig, im Gedanken bei den alten Zeiten. Dabei bemerke ich jedes Mal wie sich dein Gesicht verändert. Es ist markanter geworden. Deine dicken Kinderbacken sind verschwunden, aus deinen tiefbraunen Augen spricht nun Erfahrung und Wissen. Doch noch immer erkenne ich einen Teil des sturen und aufbrausenden Knaben, der mich als Einziger kontrollieren konnte. Ich verstehe euch Menschen nicht. Warum verändert ihr euch? Und das in so kurzer Zeit? Es sind doch nur sieben Jahre seit der letzten Weltmeisterschaft vergangen. Für einen Geist wie mich ein Wimpernschlag. Doch kaum das ich einen Atemzug genommen habe, überragst du deinen Großvater. Beim nächsten deinen Vater und schon bist du größer als dein älterer Bruder geworden. Und mit diesem körperlichen Zuwachs, spüre ich wie unsere Verbindung schrumpft. Dein Desinteresse an mir kommt so plötzlich. Wir nehmen an keinen Worldchampionchips mehr teil. Wir nehmen an keinen regionalen Meisterschaften teil. Wir nehmen an überhaupt keinen Kämpfen mehr teil! Takao, wie konntest du dich nur so verändern? Brich aus diesem Trott aus! Ich will das Kind in dir sehen. Dieser Erwachsene ödet mich an. Ich hasse ihn. Er muss verschwinden… Mit einer fahrigen Bewegung schrak Tyson aus dem Schlaf. Er hätte schwören können ein Zischen in der Stille seines Zimmers vernommen zu haben, wie von einem leisen Wispern. Dazu gesellte sich diese Gewissheit beobachtet zu werden. Schlaftrunken rieb er sich mit der Innenfläche seiner Hand über die Augen, dann blinzelte er ein paar Mal in die Dunkelheit des Raumes. Sein erster Gedanke war, dass er den Fernseher angelassen hatte, doch dem war nicht so. Fragend wanderte sein Blick zum Fenster und als Tyson sah das es gekippt war, konnte er sich denken was ihn gestört hatte. „Also nur der Wind“, dachte er. „Oder wieder ein blöder Streuner draußen.“ Im Halbschlaf hörte sich doch alles wie ein Zischeln an. Stöhnend ließ Tyson sich zurück in sein Kissen fallen. Er brauchte Schlaf. Morgen war ein langer Tag. Er musste seine Werkstatt führen und sich abends noch um den Dojo seines Großvaters kümmern. Der alte Mann hatte vor drei Jahren einen schweren Schlaganfall erlitten und war nun unfähig, den traditionellen Familiendojo zu führen. Anfangs hatte dieser Vorfall einen herben Knick in Tysons so heile Welt gebracht, doch sein Großvater war ein zäher Mann. Nach zwei Monaten konnte er genauso zetern wie früher, nur eben aus dem Rollstuhl heraus. Leider hielt sich die Fähigkeit zu Gehen, noch bis heute in Grenzen und da Mr. Kinomiya mit seinem Gehstock, nur bedingt jungen Spunden Kendo beibringen konnte, übernahm Tyson, neben seinem eigentlichen Beruf, noch zusätzlich diese Aufgabe. Es zerrte zwar manchmal an seiner Kraft, doch er brachte es nicht übers Herz, den Dojo seines Großvaters aufzugeben. Er wusste wie viel die Schule seinem alten Herrn bedeutete. Mr. Kinomiya hatte immer davon gesprochen, dass es sein Erbe, an sein eigen Fleisch und Blut sei. Kein Gedanke erfreute ihn mehr, als die Gewissheit, dass der Dojo in hundert Jahren noch, von seinen Nachkommen geführt werden würde. Leider war Tyson der Einzige in der Familie, der genug Pflichtbewusstsein besaß, um sich dieser Verantwortung zu stellen. Auf seinen älteren Bruder Hitoshi, den die meisten Hiro riefen, war in dieser Hinsicht kein Verlass, selbst wenn ihn diese Situation so manches Mal ärgerte. Leider musste er das so hinnehmen und bis auf den Zeitaufwand, machte Tyson der Unterricht im Dojo Spaß. Gähnend zog er die Decke bis ans Kinn und drehte sich schmatzend auf die Seite, wobei seine müden Augen noch einmal den Schrank streiften. Und für einen kurzen Moment, dachte er ein schwaches bläuliches Licht, aus dem Spalt unter der Tür hervorleuchten zusehen… * „Wenn ich es dir doch sage, Kenny! Dragoon hat versucht mit mir zu sprechen!“ „Warum sollte er?“, schallte die Frage desinteressiert aus dem Telefonhörer heraus. „Er ist seit Ewigkeiten nicht mehr mit dir in Kontakt getreten. Außerdem hast du dich aus der Beyblade Branche zurückgezogen. Es gibt keinen Grund mehr für ihn mit dir zu sprechen.“ Tyson war zwar ein wenig beleidigt, als er das hörte, doch im Grunde entsprach es der Wahrheit. Er selbst hatte vor fast sechs Jahren seinen Rücktritt verkündet. Zum einen, da er als unbesiegter Weltmeister abtreten wollte, zum anderen, weil man mit knapp sechzehn Jahren einfach zu alt war, um noch mit Kreiseln zu spielen. Außerdem hatte die Beyblade Welle seit seinem Rücktritt rapide abgenommen. Bevor Tyson ausgestiegen war, hatte sein Freund, Teamkamerad und ärgster Rivale Kai, in weiser Voraussicht das sinkende Boot verlassen. Damals waren alle vollkommen bestürzt über dessen Begründung, er fühle sich zu alt für dieses Spiel. Allein das er Beyblade als Spiel bezeichnete, war für die Gruppe ein Affront der seinesgleichen suchte. Für sie war Bladen immer ein handfester Sport gewesen. Man verdiente nichts daran, aber wer leidenschaftlich dabei war, für den war das kein Hindernis. Dachten sie jedenfalls… Tyson wusste noch wie er Kai mit Rheuma und Doppelherz Bemerkungen triezen wollte, doch der hatte nur lächelnd mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Wir werden alle mal erwachsen. Vielleicht sogar du blöder Kindskopf.“ Als hätte sein schweigsamer Freund geahnt, das der Beyblade Stern am sinken war. Kein Jahr später, folgte schließlich Ray diesem Beispiel und danach Tyson selbst mit seinem besten Kumpel Max. Ohne die alte Truppe waren die Turniere einfach nicht mehr dasselbe gewesen. Immer mehr Freunde hatten sich verabschiedet, starke Kontrahenten wurden Mangelware und ehe es sich Tyson versah, hatte auch ihn die Lustlosigkeit gepackt. Seine ehemaligen Teammitglieder hatten begonnen, sich umzuorientieren, wurden reifer und erwachsener. Kai war nicht einmal zu seinem Abschiedskampf gekommen. Dem letzten Wettstreit den Tyson ausgetragen sollte. Das nagte noch heute an ihm und er warf es seinem Freund zu jeder passenden Gelegenheit vor. Hiromi hatte der Gruppe irgendwann freudestrahlend verkündet, einen Platz als Au-pair-Mädchen in Washington bekommen zu haben. Zwar fanden alle es traurig, dass ihre langjährige Freundin ins Ausland ging, doch es war schon immer ihr Traum gewesen und nach den ersten zwei Jahren, erwies es sich als Sprungbrett für weitere Jahre in den USA. Nur Daichi trat noch zu Kämpfen an. Doch in den damals gefüllten Turnierhallen herrschte heute gähnende Leere. Nur eine Handvoll Jugendlicher interessierte sich noch fürs Bladen. Dadurch hatte auch die BBA ihren Einfluss verloren und musste schließlich umdenken. Beyblades verschwanden aus dem Verkaufssortiment der Großläden und wichen neuen Spielereien wie YuGiOh Karten, was Tyson nicht wirklich verstand. Einmal hatte er sich aus reiner Neugierde einen Stapel gekauft, doch die Spielregeln waren so verworren, dass er am Ende des Tages das Booster Paket in die nächste Mülltonne kloppte. „Schuster bleib bei deinen Leisten“, hatte er sich ermahnt und sich danach seiner Arbeit zugewandt. Ray meinte einmal, dass nichts so beständig wie der Wandel war. Er hätte es nicht besser formulieren können. Die Zeiten hatten sich geändert und wenn Tyson ehrlich war, konnte er selbst nicht mehr verstehen, was ihn als Kind so am Bladen fasziniert hatte. Zwar dachte Tyson gerne an seine abenteuerliche Jugend zurück, doch er bereute seinen Ausstieg nicht. Irgendwann holte die Erwachsenenwelt einen ein und spätestens nach dem Schlaganfall seines Großvaters, spürte Tyson die Wahrheit hinter Kais Worten. Wenigstens hatte der alte Mann, in weißer Voraussicht, ein gut gefülltes Konto für seinen Enkel eingerichtet, dass Tyson nach seinem Abschluss als Automechaniker, das Startkapital zu seiner eigenen florierenden Werkstatt erbrachte. Er hatte also keinen Grund sich zu beschweren. Dennoch ging ihm Dragoon nicht aus dem Kopf… „Ich weiß auch nicht warum er aus seinem Tiefschlaf erwacht ist, aber er hat es getan!“, knüpfte Tyson wieder energisch an das Thema an. Auf der anderen Leitung hörte er seinen Freund genervt stöhnen. Seit Kenny Abteilungsleiter für Serviceleistungen, bei der japanischen Niederlassung von Microsoft war, hatte er sich zu einem wandelnden Stressbündel entwickelt. „Ma~han, Tyson! Ich habe echt keine Zeit für so einen Scheiß! Hast du wirklich nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen, als mich wegen derlei Kleinigkeiten anzurufen? Deine Probleme hätte ich gerne…“ „Kleinigkeiten? Lass das Mal nicht Dizzy hören, die würde dir die Ohren langziehen! Früher warst du Feuer und Flamme für Bit Beasts...“ Wieder ein genervtes Stöhnen. Doch dann fuhr Kenny etwas interessierter fort. „Ich weiß wie ich früher war, aber bei mir stapelt sich die Arbeit.“, das Rascheln von Papier drang aus der anderen Leitung und im Hintergrund erklang das Geschwätz von Kennys Kollegen, während in unregelmäßigen Abständen ein Telefon klingelte. „Also gut. Was hat Dragoon zu dir gesagt?“ „Nichts! Ich wollte mich gerade hinlegen, da habe ich dieses unheimliche blaue Licht in meinem Schrank bemerkt.“ „Und was hast du getan?“ „Ich bin zum Schrank. Aber als ich ihn aufgemacht habe war der Spuk vorbei.“ „Hmm…“, früher hätte Tyson darauf gewettet, das Kenny an dieser Stelle über das Problem nachdachte. Doch das Rascheln im Hintergrund ließ darauf schließen, dass er sich nebenbei lieber mit anderen Dingen beschäftigte. Multitaskingfähig war der Chef, das musste man ihm lassen. „Hört sich so an als ob du geträumt hast.“ „Ich habe nicht geträumt!“, wetterte Tyson los. „Klar. Was hast du gestern Abend gegessen?“ „Hühnerbrust mit… Pah!“, nun war der Groschen gefallen. „Verstehe! Die typische Ausrede für alle meine Probleme. Das Abendessen ist Takao Kinomiya nicht bekommen. War das deine versteckte Botschaft? Ehrlich Chef, wo sind die Zeiten hin als du noch hilfreich warst?!“ „Ich – muss - ARBEITEN!“, brüllte Kenny das letzte Wort in den Hörer. „Mir meine Brötchen verdienen! Dafür sorgen dass ich meine Miete bezahlen kann! Nur um nächsten Monat weiterzuarbeiten, damit ich wieder das Geld für diese beschissene Bruchbude habe! Mein Großvater hat mir keinen finanziellen Puffer eingerichtet, damit ich eine Werkstatt eröffnen kann. Stattdessen hat der alte Miesepeter uns seine zugemüllte Messiwohnung hinterlassen! Samt seiner Schulden! Ich wäre schon froh, wenn meine Oma mir an meinem Geburtstag ein paar Yen zustecken würde, anstelle eines kratzigen selbstgestrickten Pullovers!“ Oh weh, der Neid. Der anhänglichste Kumpel auf Erden… „Schon gut, dann hilf mir nicht. Ist ja nicht so, als ob ich dein ältester Freund wäre“, er fügte diesem Satz mit voller Absicht eine beleidigte Unternote hinzu. Einfach um an Kennys schlechtes Gewissen zu appellieren. Wie sonst auch stieß er prompt auf fruchtbaren Boden. „Ach Tyson, komm schon. Du wirst unfair.“ Kenny holte tief Luft und meinte schließlich. „Es ist ja nicht so als das ich nicht möchte, aber es gibt Dinge die haben im Moment Vorrang. Lass uns das einfach am Wochenende besprechen, wenn Max und Ray wieder im Land sind.“ Bei diesem Satz machte Tysons Herz einen euphorischen Hüpfer. Er konnte es gar nicht erwarten seine alten Kindheitsfreunde zu sehen. Es war beinahe Tradition, dass sie sich alle vier Monate trafen. Dabei war er so in seine Vorfreude vertieft, dass ihm Kennys nächster Satz beinahe entgangen wäre. „Denkst du wir bekommen Kai dieses Mal auch aus seinem Loch gezogen?“ Sofort blähte Tyson wütend die Wangen auf. Er konnte sich noch gut an die letzten drei Male erinnern, bei denen Kai mit einer fadenscheinigen Ausrede nach der anderen, abgesagt hatte. Fast ein ganzes Jahr bekam ihn die Gruppe nicht mehr zu Gesicht. Das machte Tyson rasend! Kai war noch nie gut darin gewesen, eine Freundschaft intensiv zu pflegen. Mittlerweile war Tyson auch sicher, dass er das mit Absicht tat. Wahrscheinlich hielt Kai sich für etwas Besseres, doch diese Flause würde er dem kühlen Halbrussen austreiben. Geradezu prophetisch verkündete Tyson: „Er wird kommen. Und wenn ich ihm, vor seiner gesamten Belegschaft, in seinen teuren Designerhintern treten muss!“ Nur war das leichter gesagt als getan. Denn um jemanden in den Hintern zu treten, musste der gewünschte Hintern auch in Reichweite sein. Seit seinem Telefonat mit Kenny, hatten beide unzählige Male versucht Kai zu erreichen. Doch scheinbar war der wieder spurlos verschwunden. Zumindest konnte man ihn nie in seinem Büro erreichen. Kais Sekretärin teilte Tyson entweder mit, dass er Termine außer Haus hatte oder mitten in einer geschäftlichen Sitzung war. Als I-Tüpfelchen ging an seinem Handy natürlich nur wieder die Mailbox dran. Dutzende Male hatte Tyson das verhasste Ding schon voll gequatscht… „Hey Kai! Max und Ray kommen dieses Wochenende. Ruf mich zurück!“ „Hey Kai! Du hast immer noch nicht zurückgerufen. Wo bist du?“ „Hey Kai, hier ist Tyson noch mal. Hörst du dieses blöde Teil überhaupt ab?!“ Und beim vierten Mal völlig verzweifelt… „Hey Kai! Ich laufe in einem Rock und Strapsen durch den Park! Ich habe ordentlich einen gezwitschert und ziehe in Erwägung, splitternackt kleine Kinder auf dem Spielplatz anzusprechen. Wenn du mich davon abhalten willst – Ruf mich an!“ Natürlich hatte Kai nicht zurückgerufen… Doch Tyson wäre nicht Tyson, wenn er nicht auch für dieses Problem einen Plan B parat hätte. Freitagnachmittag landete Maxs Flugzeug in Tokio. Zwei Stunden später der Flieger von Ray. Somit konnte Operation Hiwatari Kidnappingstarten. * „Leute, das ist illegal!“ „Kai wird uns schon nicht anzeigen…“ „Woher willst du das wissen?! Das könnte mich meinen Job kosten!“, nervös kaute Kenny auf seinen Fingernägeln, während der Laptop auf seinem Schoß ruhte und den Terminplaner, auf Kais Firmen PC hackte. Über dem Gebäude kreisten Flugzeuge hinweg und manchmal passierte ein Reisender den Parkplatz des Airports, mit einem Koffer im Schlepptau. Unweit von ihrem Wagen stand eine europäische Touristengruppe, wartete auf ihren Reisebus und schoss Fotos bis das Smartphone qualmte. Eine Eigenschaft die man ironischerweise den Japanern nachsagte… „Oh man. Das ist Kriminalität auf höchstem Niveau!“ „Jetzt sei doch nicht so ein Feigling, Kenny!“, lachte Ray vom Beifahrersitz aus. Er drehte sich zur Rückbank und grinste den Chef frech an. So nannte die Gruppe Kenny seit Beginn ihrer Freundschaft. Der Schalk blitzte in den Augen des jungen Chinesen. „Wie Max bereits gesagt hat - Kai würde uns niemals anzeigen. Wir sind seine Freunde und er soll sich gefälligst etwas Zeit für uns nehmen!“ „Genau! Und was uns glücklich macht, sollte ihn auch glücklich machen.“ „Nett umschrieben, Tyson. Übrigens gute Idee mit dem Laptop. Ich hätte dir so eine kriminelle Ader gar nicht zugetraut, du kleiner Yakuza.“ Tyson, der am Steuer seines Wagens saß, fuhr gespielt entrüstet auf und antwortete: „Was ist daran kriminell, sich in das Betriebssystem einer weltberühmten globalen Firma zu hacken und den Terminplaner seines Kumpels abzuändern? Der Zweck heiligt hier ja wohl die Mittel! Kai gehört für sein Verhalten in den Knast, nicht wir.“ Ein leises Piepsen vom Laptop und Kennys furchtsames Winseln verrieten, dass er endlich in die Datenbank vorgedrungen war. Der Chef faltete die Hände vor der Stirn und flüsterte: „Ihr Götter, vergibt mir! Ich bin ein Sünder…“ Es ließ Tyson mit den Augen rollen. Kenny war noch nie stressresistent gewesen. Als Kinder hatten sie die gleiche Klasse besucht und wenn Tyson mal etwas angestellt hatte, brauchte die Lehrerin nur einen schrägen Blick zum Chef zu werfen, da knickte der Streber auch schon ein. Währenddessen spähte Max über dessen Schulter hinweg auf den Monitor und ließ einen anerkennenden Pfiff vernehmen. „Nicht schlecht. Kai hat um 19:00 Uhr ein Gespräch mit den Vorsitzenden von Chrysler. So spät noch? Hat der Junge kein Privatleben?“ „Das Gespräch kann er knicken!“ Bevor Kenny es sich versah, hatte Tyson sich zu ihm umgedreht und ihm den Laptop vom Schoß geschnappt. Dann wandte er sich zum Lenkrad, während Ray absichtlich näher heranrutschte um den Spalt zwischen den Vordersitzen zu blockieren. Nun konnte der panische Chef noch so sehr kreischen, doch von der Rückbank aus, kam er nicht mehr an seine Dizzy heran. „Also mal sehen…“, murmelte Tyson in geschäftigem Ton und betrachtet die zweispaltige Tabelle auf dem Monitor. In der ersten Spalte wurde die Uhrzeit eingetragen, in der nächsten eine kleine Bemerkung und um zum nächsten Tag zu gelangen, musste man einfach nur Weiter klicken. Nach Kennys fachmännischer Meinung, wanderte jede Änderung im Terminplaner, sofort als Kurznachricht zu Kais Sekretärin, damit diese jede Verschiebung telefonisch weitergeben konnte, was also hieß, das einige Leute heute eine Absage erhalten würden. Das war ja fast schon zu einfach und innerlich klopfte Tyson sich gönnerhaft auf die Schulter für diesen Einfall, vor allem dafür, dass er Kennys Geschwärme über Softwareprogramme, mit halbem Ohr gelauscht hatte, als dieser einmal die Ehre hatte, Kais heilige Hallen zu betreten, um seinen PC im Büro vor einem Virenbefall zu retten. Mit einem fiesen Grinsen klickte Tyson auf den Button Meeting absagen und erklärte dabei munter: „Wir wollen das ganze Wochenende ausgelassen feiern. Logischerweise muss dieser Eintrag dann also weg. Und dieser! Und natürlich der da…“ So ging das an diesem Nachmittag eine ganze Stunde. Und während draußen die Blätter von den Bäumen fielen, Kenny sich vor lauter Gram die Fingernägel abknabberte und ein leichter Herbstwind das Laub aufwehte, wurde die Stimmung im Wagen immer ausgelassener, während eine verdutzte Sekretärin in der Hiwatari Korporation haufenweise Emails von ihrem Vorgesetzten bekam, der sämtliche Termine für dieses Wochenende absagte. Sogar den neun Uhr Besuch bei Dr. Hamilton am Samstagmorgen sollte sie canceln – wovon Kai selbst nichts wusste. Nur ein einziger Termin wurde nicht gelöscht und der war am selbigen Tag um 21:00 Uhr im edelsten Restaurant der Stadt. * „21:44 Uhr. Die Zeit will einfach nicht vergehen…“, dachte Kai. Missmutig wandte er seinen Blick von der eleganten Armbanduhr, die an seinem Handgelenk angebracht war ab und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Dabei hörte er der hitzigen Debatte die am Tisch geführt wurde nur noch halbherzig zu. Im Gedanken war er bereits zuhause, ging seine dortigen Aufgaben im Kopf durch. Dieser Stress würde ihn eines Tages noch umbringen… Dennoch huschte sein Blick gelangweilt über die Anwesenden. Seine Verhandlungspartner waren mindestens dreimal so alt wie er. Alteingesessene Finanzhaie, wie man in Kais Branche gerne sagte. Trotzdem kamen selbst diese erfahrenen Herren ins Schwitzen wenn sie mit ihm pokerten, denn der junge Mann ließ sich zu keinerlei Gefühlsregungen verleiten. Er war in dieser Hinsicht ein Naturtalent. Zu Irritationen führte vor allem, dass Kai selbst sehr passiv vorging. Er hatte es nicht nötig sich einzumischen. Jede Forderung, jedes Thema, jede Wortwahl war im Voraus abgesprochen und hatte eingehalten zu werden. Das Reden übernahm für ihn sein Assistent. Ein fleißiger ehrgeiziger junger Mann. Leider auch ein ziemlicher Speichellecker, was ihn schon seit längerem störte. Mit einem unauffälligen Seitenblick huschten Kais Augen zu seinem Sitznachbarn, der großspurig verkündete, dass die Hiwatari Korporation nicht vorhatte, auf die Konditionen ihrer Vertragspartner einzugehen, während ein weiterer Angestellter ein schriftliches Protokoll führte. „Mr. Hiwatari ist durchaus bewusst, dass mein Unternehmen einer ihrer besten Kunden ist. Viele Firmen würden sich ein Bein ausreißen, um eine Zusammenarbeit mit uns zu erreichen und sie wollen uns tatsächlich mit einem verkürzten Zahlungsziel, samt Teuerungszuschlag kommen? Es ist mir egal ob die Rohstoffpreise steigen. Meine Firma ist einer ihrer besten Abnehmer. Sie sind jederzeit ersetzbar, meine Herren! Sie stellen kein Monopol da. Wir leben in einer Zeit des Angebotsüberschuss…“ „Diese Stimme… Wie ein Frosch.“, dachte Kai genervt. Er konnte diesen Kerl partout nicht leiden. Mit diesem verschlagenen Fretchengesicht und der dicken Hornbrille, war ihm von Anfang an klar, was für einen Typ Mensch er neben sich hatte. Kai vertraute ihm nicht. Er wusste einfach wann jemand Blut geleckt hat und dieser Mann wollte hoch hinaus. Vorzugsweise auf seinen Platz. In solchen Momenten bereute er, die Vorstellungsgespräche nicht selbst führen zu können, doch um alles konnte Kai sich beim besten Willen nicht kümmern. Sein Blick huschte für eine Sekunde an seinem Nebenmann hoch. Die Haare trieften vor Gel und klebten am Nacken. Zudem besaß sein Assistent die Vorliebe ihn voller Inbrunst zu bemuttern. „Möchten sie etwas Wein, Mr. Hiwatari?“ „Etwas von meinem Steak, Mr. Hiwatari?“ „Ihre Krawatte sitzt schief, Mr. Hiwatari. Darf ich?“ Das Wort buckeln musste wirklich neu definiert werden. Einen solchen Schleimer hatte Kai noch nie erlebt. Und wenn man dann wütend die helfende Hand weg schlug, wurde man auch noch schief angestarrt. „Wenn sie mir erlauben, meine Herren, habe ich den Jahresbedarf meiner Firma parat.“, verkündete der getreue Klassenstreber und holte aus einer Aktentasche einen dicken Stapel Unterlagen hervor. In Kais Magen brodelte es vor unterdrücktem Groll, doch in seinem Gesicht zeichnete sich nicht die kleinste Regung ab. Nicht der winzigste Muskel zuckte. Immerhin konnte er keine Professionalität erwarten, wenn er das nicht selbst blieb. Dennoch ging ihm durch den Sinn, weshalb sein Angestellter Hiwatari Corp als sein persönliches Eigentum sah. Ständig sprach er von meiner Firma. „Hiwatari Korporation gehört immer noch mir.“, schoss Kai der Gedanke durch den Kopf. „Wenn dieser Speichellecker noch einmal meine Firma als sein Eigentum ansieht, darf er sich seine Kündigung abholen.“ Und wie auf Kommando: „Mein Unternehmen hatte dieses Jahr eine Bestellmenge von…“ Sein Assistent konnte gar nicht ausreden, da schallte durch Kais Kopf schon ein knappes: „Gefeuert!“ Grimmig trommelte er einen leisen Rhythmus mit den Fingern auf der Tischplatte, drückte seine Zigarette aus, nur um anschließend sein Firmenhandy aus der Hosentasche zu ziehen und die freudige Botschaft seiner Sekretärin zu schicken. Ein absolutes Unding bei einer Konditionsverhandlung, was dazu führte, das einer der alten Finanzhaie ihn böse anschielte. Der kleine giftige Blick ruhte tadelnd auf ihm. Kai schenkte ihm nur ein kühles Lächeln und begann gerade zu schreiben: „Fristlose Kündigung für Assistenten aufsetzen. Bei der nächsten Stellenanzeige ausdrücklich auf keine Arschkriecher hinweisen.“ Als sein Handy genau in dem Moment vibrierend auf einen Anruf hinwies. Verstimmt zogen sich seine Brauen zusammen. Er hatte ausdrücklich angeordnet während der Verhandlung nicht gestört zu werden. Mit einer Abfuhr auf der Zunge nahm Kai den Anruf entgegen. „Ich habe gesagt keine Anrufe.“, kam er ohne Umschweife zur Sache. „Hui! Wir sind aber wieder gut gelaunt. Krieg ich nicht mal eine verbale Umarmung?“ „Tyson?!“ Die ernste Runde sah irritiert über Kais Ausruf zu ihm. „Alles in Ordnung?“, fragte einer der Herren und grinste hämisch. Anscheinend freute er sich diebisch darüber, wenigstens einmal an diesen Abend, eine Reaktion von dem kühlen Mann gegenüber zu beobachten. Kai sah den übergewichtigen Mann vor ihm mit einem strafenden Blick an, antwortete aber in einem gelassenen Ton: „Ich muss mich für einen Augenblick entschuldigen. Sie wissen was zu tun ist.“, wies er seinen Noch-Assistenten an. Dann entfernte sich Kai vom Tisch, um die örtlichen Toiletten aufzusuchen. Kurz nachdem er die Tür im Waschraum hinter sich geschlossen hatte, führte er das Handy wieder an sein Ohr und zischte: „Woher hast du diese Nummer?“ „Kumpel, du musst endlich deine Launen unter Kontrolle bekommen.“ „Ich bin absolut ruhig.“ „Bist du nicht. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, wann du angepisst bist. Du bist dann launischer als jede Hochschwangere…“ Kai presste wütend die Zähne aufeinander. Tyson war der Einzige, der ihn so zur Weißglut treiben konnte, dass er am liebsten den nächsten Stuhl gegen die Wand schlagen wollte. Er war einer dieser Menschen, die bei bissigen Kommentaren nicht duckend auswichen, sondern mit einem arroganten Grinsen so lange stocherten, bis sie bekamen was sie wollten. „Was willst du?“, fuhr er bemüht lässiger fort. „Du hast nicht auf meine Anrufe reagiert. Wofür gibst du mir deine private Nummer, wenn du nicht drangehst?“ „Was ist denn überhaupt so wichtig?“, kam es voller Sarkasmus. Selbstverständlich hatte er die Anrufe gesehen, doch Tyson dramatisierte vieles gerne. „Ray und Max sind in der Stadt. Wir wollen dich abholen.“ „Oh…“, für einen Moment machte Kais Herz tatsächlich einen kleinen Hüpfer, auch wenn er es gar nicht wollte. Es war eine unwillkürliche Gefühlsregung, wie sie öfters bei seinen Freunden vorkam. Doch sofort rutschte sein Herz wieder an seinen Stammplatz, als ihm seine weiteren Termine durch den Sinn gingen. Tatsächlich verhielt es sich nicht so, dass Kai nicht wollte. Auch wenn er es seinen Freunden gegenüber niemals zugegeben hatte, er mochte jeden von ihnen. Sogar Tyson ein wenig. Allerdings durfte man ihm das nie zeigen, sonst bildete er sich nur wieder etwas auf sich ein. Er konnte furchtbar selbsteingenommen sein. Ein Grund weshalb Kai bis heute nicht zugab, dass er bei dessen letzten Match dabei gewesen war. In den ersten fünf Jahren nach seinem Abschied von der BBA, hatten sich die ehemaligen Bladebreakers regelmäßig getroffen und Kai war immer erschienen, auch wenn man ihn mehrmals dazu auffordern musste. Doch dann hatten Ray und Mariah geheiratet. Kurz davor waren sie schon in dessen Heimatdorf in China gezogen, während Max seiner Mutter vor einem Jahr nach Amerika gefolgt war. Was nicht ganz freiwillig geschah… Nach dem Abebben der Beyblade Welle hatte das Forschungsinstitut von Max Mutter Judy herbe Verluste eingefahren. Vor eineinhalb Jahren kam dann die Hiobsbotschaft – das Unternehmen meldete Insolvenz an. Die Finanzkrise hatte dem angeschlagenen Institut den Rest gegeben und alle Angestellten verloren ihren Arbeitsplatz. Max Mutter, eine renommierte Forscherin auf ihrem Gebiet, hatte ihren Lebensinhalt verloren und war am Boden zerstört, stand sogar kurz vor einer Depression. Als sich ihre Probleme aus der Ferne nicht mehr schön reden ließen, beschloss Max zu ihr in die USA zu ziehen. Wenigstens so lange bis sie wieder ihr Leben im Griff hatte. Nachdem sein Vater alle formellen Details geklärt hatte, schloss er seinen Laden in Japan und folgte dem Beispiel seines Sohnes. Tyson, Kenny und Kai hatten ihre Freunde jedes Mal schweren Herzens an den Flughafen gebracht und sich still und heimlich geschworen, sich niemals aus den Augen zu verlieren. Kitschiger Müll wenn Kai darüber nachdachte, doch es bedeutete ihm tatsächlich etwas. Wie sollte er aber bei diesem überfüllten Terminplan Zeit für seine Freunde finden? Mit einem furchtbar schlechten Gewissen wich ihm ein leises Seufzen von den Lippen. Eigentlich kannte er doch die Antwort. Natürlich konnte er nicht. Selbst wenn es nur sein Job wäre… „Tyson. Ich schaffe es heute nicht.“, war schließlich Kais Antwort. „Es ist wirklich nichts persönliches, aber…“ „Du hast ein Meeting.“, beendete Tyson am anderen Ende der Leitung den Satz. Kai fiel auf wie oft er ihn die letzten Monate so abspeisen musste. „Genau.“ „Das höre ich ziemlich oft von dir.“ „Ich weiß.“ „Wir haben uns mittlerweile fast ein Jahr nicht mehr gesehen.“ „Ich weiß.“ „Klar, ich verstehe dich ja irgendwo. Du leitest eine Firma. Aber das hat dich früher nicht davon abgehalten mit uns um die Häuser zu ziehen. Man musste dich zwar immer zu deinem Glück zwingen, aber ich weiß genau, dass es dir Spaß gemacht hat. Aber jetzt kommt es mir so vor, als würdest du uns absichtlich aus dem Weg gehen...“ „Im Moment habe ich einfach viel um die Ohren.“ Ein Seufzen kam von Tyson. „Okay Kumpel, dass ist kein Problem.“ Etwas erleichtert massierte sich Kai den Naserücken. Er hatte damit gerechnet das Tyson schimpfen und fluchen würde, wie die letzten Male als er abgesagt hatte. Dafür hätten ihm gerade die Nerven gefehlt. Doch dass er so verständnisvoll blieb überraschte ihn. Er konnte sich äußerlich nichts anmerken lassen, kühler wie jeder Tiroler Gletscher wirken, doch im Innern formte sich ein Klumpen aus Schuldgefühlen, der ihm schwer im Magen lag. Es war diese maßlose Enttäuschung aus den Mündern seiner Freunde, die ihm irgendwie zu schaffen machte. Wann war er bloß so ein Weichei geworden? Doch dann… „Wir kommen auch“, fügte Tyson beiläufig hinzu. Es kehrte kurze Stille ein. „Wie bitte?“, fragte Kai verwirrt. Er dachte sich verhört zu haben. Das wäre ja auch zu dreist. „Wir kommen zum Meeting.“ „Was wollt ihr bei meinem Meeting?“ „Dich sehen. Unseren verschollen Bruder, quasi.“, ein Glucksen folgte. „Ihr könnt nicht kommen. Ich bin mitten in Verhandlungen.“ „Klar können wir.“ „Könnt ihr nicht.“ „Doch.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein! Und ich habe es nicht nötig mich auf ein so kindisches Niveau herabzulassen!“ „Dein Assistent ist ein Arschkriecher. Ich mag ihn nicht.“ „Ich auch nicht, aber um beim Thema zu blei-…“ „Du solltest ihn feuern!“ „Das hatte ich auch vor.“, dann fiel Kai etwas auf. „Woher kennst du meinen Assistenten?“ „Der Penner will mir nicht seinen Platz überlassen!“, mit schreckensgeweiteten Augen hörte Kai, wie Tyson jemandem im Hintergrund mit den Worten, „Mach dich vom Acker Brillenschlange!“, anblaffte. Gefolgt von der penetrante Stimmen seines Assistenten. „Dieser Tisch ist für meine Firma reserviert!“ Langsam ließ Kai sein Smartphone sinken, trat an die Tür heran, öffnete sie einen spaltbreit und spähte mit hochgezogener Augenbraue hinaus zu seinem Tisch, der bis vor kurzem der Ursprung völliger Langeweile gewesen war. Und da saßen nun, zwischen den verwirrten Geschäftshaien, vier fröhliche Bladebreakers und winkten ihm zu. * „Also Kai, ich kann nicht glauben, dass du diese Langweiler uns vorgezogen hättest.“, meinte Tyson schmatzend, während der Kellner ihm eine weitere Platte mit Meeresfrüchten reichte. Geradezu gierig leckte er sich über die Lippen, als er die Delikatessen darauf sah. „Wenigstens hast du einen guten Restaurantgeschmack. Danke Alter!“ Schweigend sah Kai ihm dabei zu, wie er dem Alten den Teller abnahm und sich aus einer anderen Schüssel, vier weitere gehäufte Löffel, mit Bandnudeln auf seinen Teller schaufelte. Bei dem Gedanken, dass die Gruppe ihn dazu verdonnert hatte, als Entschädigung für die letzten versäumten Treffen, die Rechnung zu begleichen, tat ihm die Geldbörse weh. Tyson konnte mit seinem Appetit den reichsten Mann bettelarm machen. Anstatt Kai meldete sich sein Assistent zu Wort, der von Tyson in kürzester Zeit auf den liebenswürdigen Namen Brillenschlange getauft worden war. „Wie reden sie mit meinem Vorgesetzten?!“, empörte sich der. „Sie hätten unser Unternehmen beinahe in eine Krise gestürzt! Diese Konditionsverhandlungen waren für uns von äußerster Wichtigkeit. Hätte Mr. Hiwatari nicht so galant und überaus souverän eingegriffen, hätte Mr. Dumas beinahe eine dreiste Preiserhöhung durchgesetzt! Eine überaus bemerkenswerte Reaktionsgabe, wenn ich das noch am Rande erwähnen darf, Mr. Hiwatari. Sie waren so gewagt und inspirierend!“ Eigentlich hatte Kai bloß einmal auf den Tisch gehauen und den Herren in Grau entgegen gefaucht, sie sollen sich vom Acker machen. Seine Wut galt in diesem Moment seinen Freunden, nicht den Verhandlungspartnern. Vor lauter Angst, ihn aber als Kunden vergrault zu haben, willigten diese jeder Forderung bedingungslos ein und unterschrieben mit schwitzenden Händen den Vertrag. „Warum heiratest du Mr. Hiwatari nicht?“, äffte Ray inzwischen genervt vor sich her. Daraufhin prustete Max in sein Essen und bekam einen schallenden Lachanfall. Es lenkte die Blicke einiger Gäste auf sich, was Kais Protokollführer zu der dämlichen Frage veranlasste, ob er den Heiratsantrag auch notieren solle. Es war unglaublich schwer in der heutigen Zeit gutes Personal zu finden. Kenny sah inzwischen nur kopfschüttelnd auf seinen Teller und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. „Leute benehmt euch, dass ist ein feines Restaurant. Die Leute gucken scho-“ Ein lauter Rülpser unterbrach Kennys zaghaften Einwand. „Oh man, Tyson! Echt jetzt?!“ „Was denn? Der musste an die frische Luft!“ Kai atmete kopfschüttelnd aus, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen. Es gab Dinge die änderten sich nicht. Diese Gruppe würde immer ein Kindergarten bleiben. Er beugte sich zu seinen Angestellten herüber und flüsterte ihnen gnädig gestimmt zu, dass sie gehen durften. Der Protokollführer strahlte über beide Ohren, klappte den Laptop zu und verbeugte sich vor seinem Vorgesetzten zum Abschied. Brillenschlange blieb aber auf seinem Platz sitzen, unwillig das Feld zu räumen. „Ich lasse sie nicht mit diesen dubiosen Gestalten alleine, Mr. Hiwatari!“ „Schade! Ich wollte Kai doch so gerne heute vergewaltigen...“, maulte Tyson. Max prustete noch lauter vor sich her, stupste Ray von der Seite an und deutete ungeniert auf den Assistenten. „Die Brillenschlange erinnert mich an Mr. Smithers!“ Prompt verschluckte Ray sich an seinem Wein, bekam ein rotes Gesicht und rang schließlich hustend nach Luft. Es klang als würde er beim Zähneputzen mit Wasser gurgeln. „Na toll…, “ murmelte Kai. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände ineinander verhakt und sein Kinn darauf gebettet. Argwöhnisch blickte er zu seinem gurgelnden Sitznachbarn und verdrehte die Augen. Schließlich gab er Ray einen heftigen Schlag auf den Rücken und dessen Kloß im Hals löste sich. Doch anstatt zu husten, lachte Ray nun lauter auf, als alle zusammen und haute fröhlich mit der flachen Hand auf den Tisch. „Heilige Scheiße, Kai! Pass auf dass du in seinen Träumen nicht durchs offene Fenster geflogen kommst!“ „Wenn er dich als Aktmodell will, würde ich mir Sorgen machen! Ganz im Titanic Stil!“ Max und Ray wieherten los und Kai schloss resignierend die Augen. Einige Gäste begannen sich bei den Kellnern wegen dem Krach zu beschweren. Ein älteres Pärchen stand sogar entrüstet auf und verließ den Saal, während Kenny sich verlegen das Gesicht mit einer Serviette verdeckte. „Also wirklich!“, auf den Wangen von Brillenschlange breitete sich die Zornesröte aus und eine Ader pochte an der Schläfe. „Sie sind ein Haufen rüpelhafter… Sie haben keinerlei Anstand und Benehmen! Mir fehlen die Worte!“ Tyson, der bis dato noch seine Gabel zum Mund führen wollte, ließ das Ende einer Nudel schlürfend darin verschwinden und sah Kais Assistenten aus großen Augen an, während er in seiner Bewegung stoppte. „Anstand? Das kenn ich. Das gibt’s an der Tanke.“, es kam so tölpelhaft herüber, dass Tyson sich fragte ob er nicht Schauspieler werden sollte. Doch scheinbar verstand Brillenschlange keinen Spaß. Stattdessen rümpfte er bloß die Nase, als sei jeder an diesem Tisch, bis auf seinen gottgleichen Geldgeber, ein kleines Häufchen Waschbärkacke. „Ich kann mir vorstellen dass sie das nicht kennen! Also in meiner Firma hätte jemand wie sie nichts zu suchen…“ Tyson Braue schoss in die Höhe. Dann wandte er sich zu Kai und fragte: „Wieso seine Firma? Habe ich etwas verpasst oder ist Hiwatari Korporation neuerdings unter die Schwätzer gegangen?“ Kai antwortete nicht, gab stattdessen nur ein langgezogenes „Hmm“ von sich und blickte aus den Augenwinkeln zu seinem Assistenten hinüber. Tyson wusste was diese Reaktion bedeutete. Seit sie sich kannten, tat Kai sich immer schwer damit ihm Recht zu geben. Allerdings kamen solche Situationen, so unglaublich es auch klang, tatsächlich gelegentlich vor. Deswegen setzte Tyson gekonnt noch das I-Tüpfelchen. Um seine Rüpelhaftigkeit noch weiter zur Schau zustellen, biss er herzhaft in ein Laib Brot und schmatze mit offenem Mund, ganz beiläufig: „Hast du nicht vorhin gesagt du willst ihn feuern?“ Brillenschlange schnalzte verärgert und verschränkte die Arme vor der Brust. Allerdings sah er diesen heimtückischen Seitenblick von Kai noch immer nicht. „Ich kann mir nicht vorstellen das Mr. Hiwatari etwas auf das Geschwätz von einem…“ „Sie sind gefeuert.“ „Streunenden Schnorrer… Mr. Hiwatari, was haben sie gesagt?“ Das linke Auge von Brillenschlange begann zu zucken und mit einem plötzlichen Schweißausbruch auf der Stirn, blinzelte er Kai starr entgegen. Seine Stimme wurde piepsig. „Sie haben mich richtig verstanden.“, erklärte dessen Vorgesetzter nur gelangweilt. „Aber… Aber?!“ „Ich geben ihnen zehn Sekunden, wenn sie bis dahin nicht verschwunden sind, hetze ich den firmeninternen Schlägertrupp auf ihren Hals.“ „Aber unsere Firma hat keinen Schlägertrupp!“ „Doch, hat er!“, mischte sich Tyson ein und nickte bekräftigend. „Die haben mich auch mal erwischt. Willst du die Narben sehen?“ „Das ist doch glatter Humbug!“ „Das sollten sie nur glauben.“, kommentierte Kai gelassen. Dann startete er den Countdown. „Zehn, neun, acht, sieben…“ Als hätte er glühende Kohlen unterm Hintern, sprang Brillenschlange auf und rannte schimpfend aus dem Speisesaal. Dabei stieß er gegen einen Kellner, der seinen Teller fallen ließ und wütend dem Rempler auf Französisch hinterher fluchte. „Mince alors! Merde!“, hörten sie den Kellner brüllen, bevor alle Anwesenden am Tisch lachten. Sogar Kenny und Kai ließen sich anstecken. Es vergingen ein paar Minuten bis sich alle beruhigt hatten. Die Stimmung hatte sich endlich zum Positiven gewendet. Schließlich ergriff Ray als erstes das Wort. „Endlich ist die alte Runde unter sich. Nörgler freie Zone…“, er streckte sich nach der guten Mahlzeit genüsslich. „Hast du wirklich einen Schlägertrupp?“ Kai rollte schmunzelnd mit den Augen und hob sein Weinglas an den Mund. „Ray ich bitte dich. Glaub nicht alles was man dir erzählt...“ „Na, ich weiß ja nicht. Immerhin hast du dich von uns allen am besten gemausert, “ spielerisch zupfte er an Kais Blazer, den dieser sich über die Rückenlehne geworfen hatte. „Teure Designerklamotten, Geschäftsverhandlungen mit eiskalten Firmenbossen und vor dem Restaurant steht eine auf Hochglanz polierte Limousine. Ach übrigens, ich habe den Chauffeur nachhause geschickt.“ Er sagte es ganz beiläufig, als wäre es vollkommen selbstverständlich. Kais Lächeln wich prompt einem verdutzen Ausdruck. „Wieso das denn?“ „Damit du uns nicht wieder abhaust“, mischte sich Max ein. Es kam überraschend herrisch von ihm. Selbst Tyson kannte diesen Ton nicht. Max war eigentlich der kleine Strahlemann in der Gruppe. Er hatte flachsblondes Haar, ein offenes, einnehmendes Lächeln und tiefblaue Augen, die vor Übermut nur so strotzten. Er war der typische, amerikanische Sunnyboy. Wenn man ihn sah, brachte man ihn unweigerlich mit sonnigen Tagen, an den Stränden von Malibu in Verbindung. Obwohl Tyson wusste, dass sein Freund keine Ahnung vom Surfen hatte, hätte er ihn sich gut in Badehose, auf einer riesigen Monsterwelle vorstellen können – natürlich laut jubilierend. Doch hier und jetzt fuhr Max, entgegen seiner Natur, mit zusammengezogenen Brauen fort. „Ehrlich Kai. Wir sind enttäuscht von dir! Wie konntest du uns die letzten Male bloß ständig so versetzen? Wie lange haben wir dich nicht mehr zu Gesicht bekommen? Fast ein Jahr! Du sagst uns ab, du meldest dich nicht, du besuchst nicht einmal Tyson und Kenny, obwohl die beiden in derselben Stadt wohnen. Deine Mailboxansage kenne ich mittlerweile auswendig! Du könntest von einem Lastwagen überrollt worden sein, wir wären die Letzten die es mitbekommen würden! Sieh mal wie wir dir auflauern mussten um an dich heranzukommen! Ich fühle mich wie ein Groupie.“ „Das war nichts Persönliches. Ich habe einfach nur meine Arbeit.“ „Jeder von uns hat viel zu tun! Du bist nicht der Einzige der arbeitet. Tyson hat sogar einen gehbehinderten Großvater im Haus, muss sich um Dojo und Werkstatt gleichzeitig kümmern. Ich muss mit meinen Eltern den neuen Laden auf Vordermann bringen und bin auch ständig wegen irgendwelchen Import Geschäften auf Reisen und Ray hat sogar eine schwangere Frau daheim sitzen…“ „Mariah ist schwanger?“, überrascht sah Kai zum Vater in spe. Doch anstatt einem breiten Grinsen, schwenkte Ray nur das Weinglas leicht hin und her und ließ die rote Flüssigkeit darin ihre Bahnen ziehen. Prompt spürten alle dass etwas nicht stimmte. Tyson legte Messer und Gabel weg und sah Ray an. Das Mariah schwanger war wusste er vom letztem Treffen. Wenn er richtig rechnete, musste sie bereits im siebten Monat sein. Ray hatte gestrahlt als er ihnen verkündete, er werde bald Vater. Aufmerksam musterte Tyson das Gesicht seines Freundes. Der junge Chinese war der Einzige, der seine sprunghafte Wachstumsphase getoppt hatte. Was den Rest anging, seinen Traditionen war Ray nach wie vor treu geblieben. Selbst hier in einem fremden Land, kleidete er sich seiner Heimat entsprechend und auch der schwarze Zopf an seinem Hinterkopf war nicht verschwunden, auch wenn er an Länge hatte einbüßen müssen. Aus Ray war ein richtiger Mann geworden, doch sein Gesicht blieb immer das des ruhigen, aber freundlichen Chinesenjungen mit den hellen, bernsteinfarbenen Augen, den Tyson in seiner Kindheit kennengelernt hatte. Doch diese Reaktion war das komplette Gegenteil von der Person, die bis vor vier Monaten sein Glück noch kaum fassen konnte. Ray leerte inzwischen sein Glas in einem Zug und verkündete anschließend geradeheraus: „Es ist nicht meins...“ Eine bedrückende Stille kam auf. Nur das klappern von Messer und Gabel und die leisen Gespräche der anderen Gäste im Saal waren zu hören, während ein Pianist seinem Instrument sanfte Klänge entlockte, um für eine entspannte Atmosphäre zu sorgen. In jedem der Köpfe wucherten auf der Stelle tausende von Fragen, doch nur Kenny fand als erster seine Stimme wieder. Er holte tief Luft. „Ray… Seit wann weißt du das?“ „Seit zwei Monaten.“ „Warum hast du nichts gesagt? Wir haben so oft miteinander telefoniert.“ „Hallo?“, ein freudloses Lachen entwich Ray. Er hielt die freie Hand an seine Stirn und streckte den Zeigefinger durch. „Ich bin ein gehörnter Ehemann. Bei uns im Dorf bringt eine treulose Ehefrau nicht nur Schande über sich, sondern über die ganze Familie. Ich bin gebrandmarkt wie ein Büffel.“ Ray ließ die Hand wieder sinken, und starrte verbittert auf seinen leeren Teller. „Es war mir peinlich. Ich wollte nicht darüber reden.“ „Wie konnte das passieren?“, fragte Max bestürzt. Ray zuckte nur mit den Schultern. „Frag mich etwas Leichteres. Wahrscheinlich während ich auf der Arbeit war…“, mit seinem Daumen fuhr er gedankenverloren langsam über den Rand seines Glases. „Es lief schon vorher nicht mehr so gut zwischen uns. Wir haben viel gestritten. Sie wollte in China bleiben. Bei ihren Wurzeln. Ich wollte raus aus der Provinz. Das habe ich dir am Telefon mal erzählt, weißt du noch Tyson?“ Der nickte langsam. Das Thema kam tatsächlich öfters zwischen ihnen auf. Tyson wusste noch wie oft Ray davon sprach, wie langweilig diese Abgeschiedenheit ihn stimmte. „Versteht mich nicht falsch, ich liebe mein Heimatdorf!“, stellte der nun klar. „Aber es wird schnell auch eintönig. In den ersten Tagen als ich dort war, dachte ich noch, es gibt keinen schöneren Ort! Die herrlichen Berge, die weite Landschaft, die Sonnenaufgänge… Aber wenn du erst einmal ein halbes Jahr, jeden Morgen, denselben Anblick aufgetischt bekommst, lässt dich das irgendwann kalt. Es gibt dort nichts, womit man sich die Zeit vertreiben kann. Die Rentner sitzen jeden Nachmittag schweigend auf der Terrasse und sehen zu, was die Nachbarschaft so treibt. Ich will nach Japan zurück. Hier in Tokio pulsiert das Leben. Außerdem hat man bessere Aufstiegschancen in meinem Beruf. So ein Dorf in China ist eher ein Urlaubsparadies, wenn man sich zur Ruhe setzten will. Außerdem ist das Geschwätz groß. Altweiber Gewäsch, versteht ihr? Der und der, mit der und jener. Ist doch zum Kotzen…“ „Wie wird es jetzt weitergehen?“, fragte Tyson. „Scheidung. Was denn sonst?“, achselzuckend schnappte sich Ray die Weinflasche vom Tisch und nahm den Verschluss ab. „Das Kuckuckskind darf sie behalten. Was soll ich denn mit dem Balg?“ Einige Sekunden herrschte Stille, bis Kai sagte: „Das tut mir leid für dich.“ „Vergiss es. Es hat mich am Anfang heruntergezogen, aber jetzt komme ich damit klar. So spielt das Leben eben. Wir sind in einem französischen Restaurant, da sollte ich wohl besser C’est la vie sagen.“ „Jeder hat sein Päckchen zu tragen…“ Es kam sehr leise von Kai. Tyson meinte etwas wie Trauer herauszuhören, doch er verwarf diesen Gedanken wieder. Ray nickte nur gedankenverloren auf diese weisen Worte, schenkte sich ein und sprach: „Das Thema ist ein echter Stimmungskiller. Reden wir nicht mehr darüber. Hey, ich bin dreiundzwanzig! Was habe ich mir dabei gedacht jetzt schon zu heiraten? Ich war davor erst drei Jahre mit dem Mädchen zusammen. Mein ganzes Leben liegt noch vor mir und ich wollte in diesem Rentnerkuhdorf sesshaft werden!“ Tyson wollte gerade den Mund zu Widerworten öffnen, da schnipste Max unauffällig gegen seine Hand. Fragend sah er zunächst an seiner Rechten hinab, dann zu seinem Nebenmann, der ihn eindringlich ansah. Max schüttelte leicht den Kopf und formte mit seinen Lippen leise zwei Wörter: „Zu früh…“ Es ging Tyson zwar gegen den Strich doch Max hatte natürlich Recht. Er nickte ihm wissend zu und lehnte sich zurück. Wenn Ray nach dieser unschönen Erfahrung seine Wunden lecken musste, dann sollte er seine Zeit bekommen. „Außerdem sollten wir uns geehrt fühlen, dass uns Mr. Hiwatari auch mal mit seiner Anwesenheit beehrt.“, fuhr Ray fort und zwinkerte Kai freundschaftlich zu. Und da war er wieder, dieser ausgelassene junge Mann den alle kannten. „Wie geht es deiner Mutter?“ „Gut.“, war die knappe Antwort von Kai. Doch sein Blick blieb weiterhin ernst. Tyson vermutete das er über den plötzlichen Themenwechsel genauso erstaunt war wie alle anderen am Tisch. „Gut? Das ist alles? Lass dir bloß nicht zu viel aus der Nase ziehen!“ „Sie kommt viel herum.“ „Also die typische moderne Frau von heute.“, hakte Ray weiter nach. „So… So kann man es wohl ausdrücken.“ Max sah Kai ein wenig argwöhnisch an, dann mischte er sich nach langem Schweigen auch wieder in die Unterhaltung ein. „Ist das nicht schlecht für deine Schwester, wenn deine Mutter sie immer mit auf Reisen nimmt?“ Kai schien keine große Lust zu haben darüber zu reden. Zumindest wollte er sich gerade das Glas an den Mund führen, hielt dann aber in der Bewegung inne. Erst nach einer kurzen Pause antwortete er: „Jana ist zuhause. Bei mir!“ „Ahaa!“, kam es wie ein Echo von der ganzen Runde und nun wusste Tyson woher die Wortkargheit kam. Nicht das Kai jemals viel mit ihnen gesprochen hätte, doch wenn es etwas gab, wovon der junge Mann gerne berichtete, dann waren es seine Mutter und kleine Schwester. Tyson hatte sich früher öfters gefragt, warum Kai anstatt von seinen Eltern, von seinem Großvater großgezogen wurde, allerdings fand er während ihrer Beybladezeit nicht den Mut, seinen Teamkameraden danach zu fragen. Erschwerend kam noch hinzu, dass Kai anfangs sehr distanziert war und er in jedem Teammitglied einen potenziellen Rivalen sah. Vor allem in Tyson. Das machte es unmöglich mit ihm auf eine Wellenlänge zu kommen. Erst nach und nach schafften seine Freunde es, ihn stückchenweise in ihre Gruppe zu integrieren. Es war ein schwieriger und furchtbar langwieriger Prozess gewesen… Oh Gott und wie langwierig! Bis vor sechs Jahren wusste Tyson nicht wo Kai wohnte, obwohl sie sich da bereits schon vier Jahre gekannt hatten. Zuvor war nicht einmal bekannt gewesen, ob die Hiwataris überhaupt in derselben Stadt wohnten. Kai kam und ging wie ein Wandervogel. Als nach eindringlichem Betteln, jeder von ihnen dann endlich Kais Telefonnummer in den Händen hielt, waren sie in Maxs Wagen gestiegen, hatten den erstbesten Schrein aufgesucht, ein Geldopfer gebracht und mit dankbar gefalteten Händen gesagt: „Es ist vollbracht!“ Kai saß damals mit verschränkten Armen und einem Blick, der Tote noch mal ins Jenseits befördert hätte, im Wagen und als sie wieder einstiegen, zischte er nur: „Hört auf so ein Drama daraus zu machen!“ Zugegeben, es war überzogen. Doch sie wollten Kai einfach verdeutlichen, wie viel Mühe seine Erziehung zu einem sozialen und gesellschaftsfähigen Menschen kostete. Dass ihre Arbeit wirklich Früchte trug, bemerkte Tyson aber erst, als Kai ihnen von sich aus erzählte, dass seine Mutter wieder nachhause kommen würde. Es war das erste Mal das er über seine Familie sprach und man sah ihm an das er glücklich war. Kai jubelte nicht. Er tanzte auch nicht vor Freude auf dem nächstbesten Tisch, aber er war einer dieser Menschen bei denen die Augen der Spiegel zur Seele sind, man musste ihn nur lange genug kennen, um die Zeichen zu lesen. Auch beichtete er ihnen endlich weshalb er seine Eltern nie erwähnt hatte. Sein Vater verließ die Familie noch bevor Kai das zweite Lebensjahr erreichte. Seine Mutter war damals noch sehr jung und so von ihrer großen Liebe sitzengelassen zu werden, warf sie vollkommen aus der Bahn. Da sie sich aus lauter Herzschmerz nicht mehr in der Lage sah, für ihren Sohn zu sorgen, überließ sie Kai der Obhut ihres Schwiegervaters Voltaire. Und der war so einfühlsam wie ein Lastwagen der ein Reh rammt… Somit war es nicht verwunderlich das Kai ungerne über seine Familienverhältnisse plauderte. Er war wohl schlichtweg verbittert über diesen Zustand. Was alle in der Gruppe damals aber stutzig machte, war, dass seine Mutter schwanger war, als sie wieder aus der Versenkung auftauchte. Kenny hatte Tyson damals unter vier Augen verraten, dass er fürchtete, sie würde sich gleich nach der Geburt wieder auf und davon machen. Insgeheim teilte Tyson auch diese Befürchtung. Glücklicherweise war dem aber nicht so. Vor fast sechs Jahren brachte Kais Mutter eine süße kleine Tochter zur Welt. Tyson konnte sich noch gut daran erinnern, wie die ganze Gruppe einen Tag nach der Geburt, Kai angebettelt hatte, den kleinen Spross im Krankenhaus besuchen zu dürfen und auch wie ihr Freund den ersten Blick auf Jana erhaschte. Sie lag damals in einem kleinen Säuglingsbett mit Rollen dran, damit man sie von der Babystation problemlos ins Zimmer der Mutter schieben konnte. Kai hatte sich über die Öffnung gebeugt und sofort die Nase gerümpft, denn Janas Gesicht war klein, rot und schrumpelig, wie bei einer Rosine – genau wie der Rest des Körpers. Total winzig. Wahrscheinlich befürchtete er, ihr Kopf sei ein Luftballon, dem nach und nach Luft entweicht. Er hatte sie argwöhnisch gemustert, wie er es bei jeder fremden Person tat und Max riss neben ihm seine Scherze: „Das Kind wird sich für den Rest ihres Lebens im Schrank verstecken, wenn du sie so angiftest.“ Kais Antwort darauf war nur ein verstimmtes Murren. Doch als er die winzige Hand seiner Halbschwester an stupste, griffen die kleinen Finger zu und wollten seinen Daumen nicht mehr loslassen, während das Kind seelenruhig weiterschlummerte. Als hätte die kleine Jana auf ihre Art gebeten, er möge sie nie mehr verlassen. Tyson war sich sicher, dass das letzte bisschen Eis in Kai in diesem Moment brach, denn er hatte Jana verwundert angeblinzelt, dieses kleine hilfsbedürftige Baby, das ihn bereits in den ersten Stunden ihres Lebens nicht mehr loslassen wollte. Die Röte stieg ihm in die Wangen. Ein ungewöhnlicher Anblick für seine Freunde und ein leichtes Lächeln huschte über seinen Mund, bis er schließlich vorsichtig über den kleinen Flaum auf dem Kopf streichelte. Von da an hatte Kai nur noch Augen für seine Schwester. Er beteiligte sich nicht mehr an den Gesprächen im Raum, schien vollkommen eingenommen von diesem winzigen Wesen zu sein, als ob es nur noch sie beide auf dieser Welt gab. Tyson konnte es ihm kaum verdenken. Er fand diesen Moment sogar rührend. Es hatte Kai von einer Seite gezeigt die sie noch nicht kannten. Von der ihr Freund wohl noch nicht einmal ahnte, dass er sie besaß. Mit den Jahren war Kai schließlich in seiner neuen Rolle als älterer Bruder perfekt aufgegangen. Er verzichtete auf seine frühere Marotte, ständig herum zu streunen, verbrachte viel mehr Zeit zuhause im Beisein seiner Schwester. Die Gruppe fand sogar, dass er um einiges umgänglicher und geduldiger wurde. Ein wirklich schöner Nebeneffekt! Aber das er jetzt den Babysitter spielte, während seine Mutter sich einen hübschen Urlaub gönnte, musste ihm bei aller Geschwisterliebe gegen den Strich gehen. Immerhin hatte der große Geschäftsmann Kai Hiwatari einen Tagesablauf voller Termine und nun musste er auch noch ein quengelndes Kleinkind bemuttern. Diesen Gedanken fand Tyson einfach zu göttlich und so sehr er auch dagegen ankämpfte, er musste es Kai auf die Nase binden. „Früher hast du immer behauptet, du möchtest nicht unseren Babysitter spielen und heute könnte man das als deinen Hauptberuf bezeichnen.“ „Ach, halt doch die Klappe.“, Kai kramte grummelnd in seiner Hosentasche herum, sich durchaus dieser Ironie bewusst und zog schließlich sein Handy heraus. „Da wir aber gerade bei dem Thema sind. Es wird Zeit zu gehen.“ „Was?!“, empörte sich die Gruppe unisono. Dann sprach auch schon jeder durcheinander… „Wieso denn?!“ „Wir sind bloß ein paar Tage hier!“ „Es ist erst dreiundzwanzig Uhr!“ „Komm schon Kai, du Spielverderber!“ Entschuldigend hob der seine Hände in die Höhe, hielt in der Linken trotzdem noch sein Smartphone auf Bereitschaft. „Hättet ihr mich nicht so blindlings überfallen wäre ich besser organisiert.“ „Von wegen! Du wärst überhaupt nicht gekommen!“, brauste Tyson auf. Dann beugte er sich schnell über den Tisch und schnappte Kai das Handy aus den Fingern. „Und das hier bekommst du erst wieder am Ende des Abends! Oder wenn du besoffen nachhause gebracht wirst. Such dir die hübschere Variante aus.“ Ein fieses Grinsen folgte. „Gib mir mein Handy zurück.“ „Nö.“, Kai wurde die Zunge entgegengestreckt. Der schnaubte daraufhin verächtlich. „Ich habe keine Zeit für deine albernen Kinderspiele!“, sprach er hochnäsig. „Oh, seht euch den tollen Mr. Hiwatari an! Wie erwachsen er doch wieder tut. Wir sollten uns alle vor ihm in den Staub werfen und ihn dafür beknien, dass er sich mit uns unwürdigen Vorschülern abgibt!“ Der Rest der Gruppe schien zu spüren, dass bald eine heftige Zankerei aufkam. Tyson wusste nach all den Jahren immer noch nicht, wann er seine Grenzen überschritt und als Kais Augen sich zu schmalen Schlitzen zusammenzogen und ihn angifteten, läuteten bei Max die Alarmglocken. Um die Situation zu entschärfen fragte der: „Hat Jana kein Kindermädchen?“ Kai wandte sich Zähne knirschend von Tyson ab, der nun auch noch Grimassen zog und Max erkannte in seinem Gesicht die ersten Anzeichen einer leichten Zornesröte. „Natürlich hat sie eine! Soll ich sie etwa alleine zuhause lassen?! Sie ist noch nicht einmal sechs!“, blaffte er Max an, scheinbar gekränkt über diese Frage. Die Wut die Kai gegen Tyson aufgestaut hatte, bekam nun die falsche Person ab. „Ich wollte dir nichts unterstellen“, lächelte der nur nachsichtig. „Aber dann kannst du noch mit uns um die Häuser ziehen. Du hast dafür gesorgt dass sie nicht alleine ist.“ „Außerdem sind wir nur dieses Wochenende da!“, fuhr Ray dazwischen. „Stell dich nicht so an- Wer weiß wie oft du uns noch die nächsten Male eiskalt abservierst?“ Kai verstummte. Dieser offene Vorwurf hatte wohl gesessen. Ernst blickte er Ray an und man konnte die kleinen Zahnräder in seinem Kopf schon klappern hören. Doch letztendlich seufzte er resignierend und sprach: „Na schön. Aber ich muss trotzdem noch einmal anrufen. Nur damit das Kindermädchen weiß, das ich später komme und nicht einfach die Kurve kratzt. Und jetzt gib mir sofort mein Handy zurück, Kinomiya.“ „Wie heißt das Zauber-… Au!“ Kenny gab Tyson unterm Tisch einen heftigen Tritt gegen das Schienbein. Glücklicherweise brachte es ihn aber zur Vernunft. Leise fluchend schob Tyson das Smartphone über den Tisch und meinte dann etwas versöhnlicher gestimmt. „Aber du gibst es mir wieder zurück, ja? Nur damit du nicht bei der ersten Gelegenheit deinen Chauffeur anrufst. Ich fahre sowieso. Außerdem will ich auch mal mit so einem schicken Handy in der Jackentasche herumlaufen.“ Über diese typische Ehrlichkeit konnte Kai nur schmunzeln. * Gegen vier Uhr morgens waren jegliche Streitigkeiten die im Restaurant aufgekommen waren vergessen. Nicht sonderlich verwunderlich, wenn man bedachte wie viel Alkohol an diesem Abend noch floss. Alle bis auf Tyson waren gut dabei gewesen, was ihn selbst nicht wirklich störte. Er war einer der Menschen die keinen Alkohol brauchten um Spaß zu haben. Was man von Kenny leider nicht sagen konnte… Als sie aus dem Restaurant in Tysons Wagen stiegen, hatte der als Erwachsene auch recht klein geratene Mann, doch tatsächlich seinen Laptop hervorgezaubert und Dizzy gebeten ihm auszurechnen, wie viel Liter jemand mit seiner Körpergröße trinken durfte, ohne anschließend das Auto vollzukotzen. „Weißt du wie sinnlos du mein Dasein mit solchen Fragen machst?!“, hatte das Bit Beast nur gekränkt geantwortet und sich für den Rest der Nacht in den Standby Modus versetzt. Max konnte Dizzy nur zustimmen. So wurde der zweiten Person an diesen Abend eine Sperre verhängt und der Laptop flog in den Kofferraum. In der ersten Bar machten sich die Geselligeren des Teams daran Kenny etwas aufzulockern. Mit anderen Worten, ein Saufgelage von epischem Ausmaß zu veranstalten. Da Kenny nicht als Spielverderber gelten wollte und auch sonst sehr leicht zu überreden war, hatte er schon innerhalb der ersten Stunde eine leichte Schnapsnase, die im Laufe des Abends an ziemlicher Intensität gewann. Kai konnte man dagegen nicht so offensichtlich abfüllen… Er durchschaute solche Spielchen ziemlich schnell, zudem war er ein Perfektionist und hasste es seine Fassung zu verlieren. Auch Nein zu sagen, stellte für ihn kein Problem dar. Er war schon immer kein Freund von Gruppenzwang gewesen. Max kam aber schließlich der Einfall stündlich das Lokal zu wechseln, so konnte man immer wieder beim Betreten des Ladens mit Sprüchen kommen wie: „Was? Du trinkst nichts Kai? Das kommt doch total blöd, wenn du nur hier sitzt und nichts bestellst!“ Oder… „Willst du wirklich Wasser trinken?! Ehrlich Kai, du erinnerst mich an meine Ex! Muss ich dir gleich noch einen kleinen Salat mit fettarmer Soße kaufen?“ Das ließ sich kein Mann gerne nachsagen und schon war auch der kühle Halbrusse nach der fünften Bar leicht beschwipst. Von da an ging es auch endlich mit seiner Disziplin steil abwärts. Irgendwann schien er selbst keine Lust mehr zu haben sich immer zu sträuben und ließ sich nur noch murrend, von der fröhlichen Meute mitziehen. Tyson war irgendwann sogar so unverfroren und warf seinen Arm um Kais Schultern, um ihn schön davon abzuhalten, seine eigenen Wege zu gehen. Alles in allem war also jeder auf seine Kosten gekommen. Als Tyson in den frühen Morgenstunden seine Freunde nachhause fuhr, war die Sonne über der Stadt noch nicht aufgegangen. Es herrsche kaum Verkehr. Die nächtlichen Straßen waren beleuchtet und der Großteil der Bevölkerung schlummerte tief und fest. Genau wie die Insassen im Wagen. Grinsend spähte Tyson in den Rückspiegel, um einen Blick auf Max, Kenny und Ray zu erhaschen, die auf dem Rücksitz friedlich schliefen. Max hatte seinen Kopf gegen die Scheibe gelehnt und bei jeder kleinen Unebenheit auf der Fahrbahn, fuhr er kurz zusammen, murmelte sinnloses Zeug vor sich her und schlief wieder ein. Kenny saß in der Mitte, hatte seinen braunen Haarschopf in den Nacken geworfen und sein Mund stand sperrangelweit offen, während seine Krawatte viel zu locker um den Hals baumelte. Sein ganzer Kopf glühte. Er vertrug einfach nichts… Als Tysons Blick Ray streifte, verschwand sein Grinsen aus dem Gesicht und sofort keimte wieder Sorge in ihm auf. So sehr er sich auch bemühte es nicht zu zeigen, Ray schien die Trennung von Mariah nicht so gut zu verkraften, wie er ihnen vorgaukeln wollte. Von allen Anwesenden im Wagen hatte er am meisten getrunken und als Tyson ihn in der letzten Diskothek ermahnte es nicht zu übertreiben, hatte Ray ihn nur wütend angefunkelt und ihm geantwortet, man lebe nur einmal. „Sei kein Spießer!“ hatte er ihm noch an den Kopf geworfen, dann wandte er sich ab und war für den Rest des Abends in der tanzenden Menge verschwunden. Eine vollkommen untypische Reaktion für den sonst so vernünftigen Chinesen. Andererseits, vielleicht musste Ray einfach mal abschalten? Tyson konnte nicht sagen wie er sich aufführen würde, wenn eine Frau ihm ein Kuckuckskind unterjubeln wollte. Das musste eine furchtbare Kränkung sein. Immerhin hatte Mariah seinem Freund alles bedeutet. Er musste vor Rays Abreise auf jeden Fall noch mal mit ihm sprechen. Womöglich wäre es sogar besser, wenn er seinen Rückflug ein paar Tage verschob. Insgeheim hatte Tyson nie verstanden, was Ray so an China faszinierte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er in Japan bleiben sollen. Dasselbe galt für Max… Weshalb dessen Mutter so klammerte, seit sie arbeitslos war, war ihm ebenso ein Rätsel. Als Judy ihren Sohn jahrelang in der Obhut seines Vaters ließ und sich nur noch in ihre Forschung stürzte, hatte sie sich auch kein Bein ausgerissen, um den Kontakt zu Max zu pflegen. Musste diese Frau wirklich ein Kündigungsschreiben vor die Nase gesetzt bekommen, damit ihr einfiel dass sie noch einen Familie besaß? Ohne es unterdrücken zu können, breitete sich in Tyson der egoistische Wunsch aus, seine beiden Freunde mögen in Japan bleiben und ihre Probleme im Ausland versauern lassen. Sie fehlten ihm. Ihre Anwesenheit war wie ein tröstender Hoffnungsschimmer vom langweiligen Alltag. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit, als das Leben noch voller Abenteuer war. Und so viel einfacher als heute… „Jeder hat sein Päckchen zu tragen.“, schallte der Satz durch seinen Kopf. Als der Wagen an einer Ampel hielt, schaute Tyson gedankenverloren zum Urheber dieser Worte. Kai schlief auf dem Beifahrersitz und sah dabei aus, als könne er überhaupt kein Wässerchen trüben. Das gelbliche Licht einer Straßenlaterne fiel auf sein Gesicht, das zwar erschöpft, aber auch entspannt wirkte. Sein Brustkorb hob und senkte sich in ruhigen Intervallen. Er wirkte gelöster als noch am Anfang des Abends. Doch wer wäre nach acht Tequilas nicht gelöst? Tyson grinste als er daran dachte, wie pflegeleicht ihr Freund unter Alkoholeinfluss geworden war. Geradezu handzahm ließ er sich von ihm, in ein Lokal nach dem anderen schieben und lachte sogar über Tysons Späße. Warum konnte Kai nicht immer so locker sein? Im Grunde verstanden sie sich eigentlich gut, doch man musste bei ihm ständig an der Oberfläche kratzen. So lange bis der Bürospießer endlich ab war. Als die Ampel umschaltete, atmete Tyson seufzend aus und sprach schmunzelnd: „Wenigstens hast du keine Probleme, Kai.“ * „Komm Ray, steh auf Kumpel.“ „Mir ist schlecht…“ „Du hast ja auch der Sake Industrie einen Umsatzboom verschafft. Max kannst du mir nicht helfen?“ Von der anderen Seite des Rücksitzes kam nur ein gequältes Stöhnen. Dann öffnete sich träge die Tür dort und Max stieg aus. Mit schleppenden Schritten und müden Blick lief er um den Wagen herum und als er endlich bei ihm ankam, musste sich sein Freund erst einmal am Auto abstützen. „Na toll, du bist mir eine schöne Hilfe!“, wetterte Tyson los. „Warum lässt du dir dann nicht von Kai helfen?“ „Weil er schläft. Außerdem bist du eh wach!“ „Würde Kai hinten sitzen, wäre er statt mir aufgewacht, als du Kenny herausziehen wolltest.“ Tyson gab für einen Moment sein Vorhaben auf, Ray aus dem Wagen zu stemmen, stattdessen richtete er sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Tadelnd schob er seinen Kiefer vor. „Kai ist genauso abgefüllt wie du! Die Arschkarte habe ich mit euch beiden gezogen. Außerdem ist das auch dein Hotel Max. Du musst sowieso hier raus!“ Max brummte etwas auf Englisch vor sich her, das so ähnlich wie „lucky bastard“ klang, dann beugte er sich zu Ray hinunter und die beiden jungen Männer, machten sich daran ihren Freund herauszuziehen. Allein der Versuch dauerte fünfzehn Minuten, denn immer wieder gaben Rays Füße unter ihm nach. Irgendwann stemmte er sich plötzlich alleine aus dem Sitz und erbrach sich neben dem Wagen. Wenigstens beschwerte er sich von da an nicht mehr über Übelkeit. Eine weitere halbe Stunde verging, bis sie ihn an der empörten Nachtrezeption, die Treppe hinauf in sein Hotelzimmer geschleppt hatten. Danach erlaubte Tyson dem maulenden Max, in sein eigenes Zimmer zu torkeln, um sich dort endlich aufs Ohr zu hauen. Das ließ der sich natürlich nicht zweimal sagen und erst als er sicher war, dass Ray nun getrost seinen Rausch ausschlief, ging Tyson wieder zurück zum Wagen. Genervt setzte er sich hinters Steuer und murmelte verbissen: „Nächstes Mal lasse ich mich so zulaufen, dass ihr meine Leiche aus einem Pool fischen müsst!“ Dann startete er den Motor um seinen letzten Fahrgast abzuladen. Kai wohnte auf der anderen Seite der Stadt, in einer sehr noblen Gegend, die etwas höher lag als der Rest des Ortes. Als wollte dieses Viertel allein dadurch verdeutlichen, wie hoch die Menschen hier in der Nahrungskette der Gesellschaft standen. Zwar hatte man von dort einen atemberaubenden Ausblick auf die funkelten Lichter der nächtlichen Stadt, doch Tyson hatte sich in diesem Ortsteil nie wohlgefühlt. Als er durch die Straßen fuhr, sah er sich umgeben von prächtigen Gärten, pompösen Residenzen und Sommersitzen, doch in solchen Gegenden kannte keiner den anderen. Außerdem war jedes Grundstück umringt von hohen Zäunen, Mauern oder ordentlich gestutzten Hecken. Dabei wurden die meisten Häuser während der Herbst und Wintersaison gar nicht bewohnt, da der Weg hier her doch recht abgeschieden war. Tyson hielt das für eine maßlose Verschwendung. Aber hier lebten nun einmal Menschen, die sich von der Außenwelt abschirmten, ihr Leben mit Luxus bereicherten und ihre Privatsphäre für das kostbarste Gut hielten. Menschen wie Kai. Tyson beobachtete mit offenem Mund eine Baustelle, für einen weiteren dieser kleinen Paläste, als er sich nach vorne wandte und die Augen erschrocken aufriss. Mit quietschenden Reifen trat er auf die Bremse, sein Wagen schlitterte, auf dem mit Laub bedeckten Asphalt, ein paar Meter vorwärts, doch entkam noch knapp der Bekanntschaft mit einem Umleitungsschild. Glücklicherweise hatte er dafür gesorgt, dass jeder im Wagen angeschnallt war. Als das Auto zum Stehen kam, atmete er erleichtert aus und beobachtete das von seinen Scheinwerfern angeleuchtete Schild. Vor ihm lagen die Reparaturarbeiten an unterirdischen Rohrleitungen, durch die man die Straße aufgerissen hatte. Wäre er nicht so schnell auf die Bremse getreten, hätte sein Wagen samt den Insassen darin, einen Abstecher in die Baugrube vor ihnen gemacht. „Das war knapp“, kam es leise vom Beifahrersitz. Erschrocken blinzelte Tyson zu Kai, der mit einem matten Gesichtsausdruck und aus schlaftrunkenen Augen auf die Baustelle blickte. „Ich hätte dir sagen sollen dass hier eine Umleitung ist. Tut mir Leid.“ Tyson saß der Schreck noch viel zu tief in den Gliedern, um sich darüber zu wundern, dass Kai sich überhaupt bei ihm entschuldigte. Für gewöhnlich pochte er auf seine Meinung und gestand sich nur ungerne Fehler ein. Und das hier hätte er ihm nicht einmal vorgeworfen… „Schon okay, du warst ja bis vor kurzem noch im Delirium.“, Tyson legte den Rückwärtsgang ein, um zu wenden und fuhr dann schließlich in die Richtung die ihm das Schild vorwies. Erst nach ein paar Minuten fiel ihm auf, dass er mit Kai richtig alleine war. Das kam nicht so oft vor. Als er noch geschlafen hatte, war das für ihn kein Problem, doch jetzt da er wach war, drängte sich Tyson das Gefühl auf, die Stille im Wagen durchbrechen zu müssen. Es machte ihn auch irgendwie immer nervös. Tyson konnte sich nach all den Jahren selbst nicht erklären woran das lag. Es war einfach so… Das war einfach nicht Ray neben ihm, mit dem er stundenlang reden konnte. Auch nicht Max der für jeden Spaß zu haben war. Sondern Kai. Die absolute Anti-Max-Ray-Mischung. Ein Anti-May oder Anti-Rax. Gerade in dem Moment, als Tyson sich entschloss einfach die Klappe zu halten, da ihm nichts Gescheites für eine gepflegte Konversation einfallen wollte, ergriff gerade Kai das Wort. „Wirst du noch mal mit Ray reden?“ „Äh…“, etwas perplex blinzelte Tyson. „Worüber?“ „Mariah.“ „Ach das? Natürlich werde ich mit ihm sprechen.“, antwortete er verblüfft, doch dann lächelte er, als ihm bewusst wurde, dass Kai sich tatsächlich um Ray sorgte. Scheinbar nahm ihr kühler Eisklotz, doch etwas Anteil an den Problemen seiner Freunde, es bedurfte wohl einfach ein paar Promille mehr, bis er sich entschied mit jemandem darüber zu sprechen. „Ich glaube aber er würde sich freuen, wenn du auch einmal auf ihn zukommst.“ „Für so etwas fehlt mir das entsprechende Taktgefühl.“ „Ray ist kein pubertierendes Mädchen. Mit dreiundzwanzig bricht er bestimmt nicht in Tränen aus, wenn du etwas Falsches sagst.“ „Ich will aber nichts Falsches sagen. Deshalb solltest du lieber mit ihm sprechen. Dann kommt er vielleicht wieder auf die Beine. Du bist in solchen Dingen besser als ich…“ Tyson musste in sich hinein lächeln. Manchmal hatte Kai so eine Art an sich, da konnten sie zuvor noch so sehr zanken, ihm deshalb lange böse sein wollte Tyson einfach nicht. Er war ohnehin nicht nachtragend. „Mach dir keine Sorgen. Ray wird schon wieder, er ist hart im nehmen. Du kennst ihn doch.“ „Er war heute Nacht seltsam.“ „Er wollte einfach nur auf den Putz hauen. Das ist alles…“, zumindest hoffte Tyson das. „Ich verstehe nicht wie es so weit kommen konnte.“, meinte Kai nachdenklich und lehnte seinen Kopf müde gegen die Scheibe. „Als er geheiratet hat, da schien er so glücklich. Und jetzt, innerhalb von wenigen Jahren, lässt er sich wieder scheiden.“ „Umstände können sich schneller ändern als einem lieb ist.“, antwortete Tyson betrübt. „Allerdings…“, es kam wie ein Flüstern und er glaubte wieder diese seltsame Unternote in Kais Stimme heraus zu hören. Als er zu seinem Freund schielte, sann dieser mit geschlossenen Augen abwesend seinen Gedanken nach. Das war eine Angewohnheit die Kai schon immer hatte. Wenn er nachdachte schloss er seine Augen, senkte sein Gesicht und enthielt den Anwesenden seine Gedanken. Doch dieses Mal fehlten die verschränkten Arme, die ihm etwas Unantastbares verliehen. Momentan wirkte er einfach nur müde von der durchzechten Nacht. Dieser Anblick eines stark angetrunkenen Kai, der sich mit solchen Problemen plagte, ließ ihn verschmitzt lächeln und Tyson bekam das Bedürfnis ihn zu necken. „Du erstaunst mich. Früher warst du ganz anders.“ „Wie war ich denn?“, verwundert öffnete Kai seine Augen, blinzelte ein paar Mal verwirrt. Er war noch nicht nüchtern genug und so handzahm, da konnte Tyson sich einige harmlose Sticheleien erlauben. „Du warst ein Kameradenschwein. An manchen Tagen hätte ich dir liebend gerne für deine kalte Schnauze den Hals umgedreht.“, grinste er gewitzt. „Ich wusste nur was ich wollte. Das war alles.“, kam die Antwort überheblich. Es klang aber zu gespielt. Er konnte hören dass Kai ebenfalls lächelte. „Wer im Glashaus sitzt sollte außerdem nicht mit Steinen werfen. Du warst eine wandelnde Nervensäge.“ „Du warst der Begründer der Emoszene.“ „Du warst ein kleiner fetter Zwerg.“ „Hey! Das war Babyspeck! Und du bist heute einen ganzen Kopf kleiner als ich. Also hüte dich mit solchen Kommentaren!“ „Ich denke gar nicht daran. Dein Kleidungsstil war damals übrigens ätzend. Alles war so quietschbunt, du sahst aus wie ein Paradiesvogel.“ „Sprach der Knabe mit der Kriegsbemalung im Gesicht… Hau Winnetou!“ „Na und? Du hast deine Mütze nicht einmal zum Schlafen abgenommen. Das Teil war widerlich, es hat angefangen nach Schweiß zu riechen!“ Als er Kai neben sich angeekelt frösteln sah, musste Tyson lauthals lachen. Es steckte mehr Wahrheit in diesem Satz als ihm lieb war. Doch jeder Bursche hatte so seine Kindheitsmacken und seine saß damals eben auf dem Kopf. Irgendwie tat es gut sich auf diese Weise mit seinem Freund zu unterhalten. Seit er Kai kannte hatten sie sich immer nur gegenseitig angegiftet, aber das gehörte für Tyson einfach auch dazu. Hier im Auto mit ihm zu debattieren erinnerte ihn wieder an seine Kindheit. „Das Teil hätte ich auf Ebay verkaufen sollen, als ich noch Fans besaß. Heute kennt uns ja keine Sau mehr.“, Tyson hörte Kai neben sich leise lachen und das gab ihm den Mut etwas Persönlicheres zu Fragen. „Vermisst du unsere Jugend manchmal auch?“ Kurze Zeit herrschte Stille im Wagen und er schielte zum Beifahrersitz. Kai legte nachdenklich den Kopf zur Seite und schien seine Antwort sorgfältig abzuwägen. „Es gibt vieles das ich nicht vermisse.“, da war er wieder. Sein Freund mit der kalten Schnauze. „Aber ein paar Dinge...“, Er verstummte ertappt und Tyson lächelte wissend. Schließlich beendete er stattdessen den Satz: „Ein paar Dinge waren nicht schlecht.“ Kai nickte langsam, dann sprach er: „Damals war alles viel leichter. Viel weniger Stress...“ „Das du soviel Stress hast, liegt ja wohl an dir! Zieh öfters mit uns um die Häuser und komm aus deiner blöden Firma heraus! Du bist nicht einmal Mitte zwanzig und führst schon ein eigenes Unternehmen. Wenn du dich jetzt am Anfang deiner Karriere schon so abhetzt, sage ich dir ein kurzes Leben voraus.“, demonstrativ fuhr Tyson mit seinem Zeigefinger von einer Seite seines Halses zur anderen. „Ich habe keine Lust dich mit dreißig an deinem Grab zu besuchen, weil du an einem Herzinfarkt gestorben bist. Willst du wie dein Großvater enden? Nichts gegen den alten Herrn, möge er selig bis in die Ewigkeit im Himmel keifen…“ Kai musste schmunzeln und auch Tyson entlockte der Gedanke des zeternden Großvaters im Engelsgewand ein Glucksen. Wahrscheinlich suchte man im Jenseits schon verzweifelt den Panik Knopf, weil Voltaire einfach nicht aufhören wollte grantig vor sich her zu Quaken. Im Geiste hörte er bereits die herrische Stimme des alten Hiwatari Oberhaupt. „Die Wolke ist hart!“ „Die Luft ist zu kühl!“ „Die Harfe ist aus Taiwan! Pah… Stümper!“ Tyson fand schon immer das Kais Großvater etwas von Ebenezer Scrooge besaß, deshalb verstellte er seine Stimme um den alten Griesgram nachzuahmen. „Was? Du willst Weihnachten feiern, Kai? Humbug!“ Zu seiner Freude erklang vom Beifahrersitz ein heiteres Lachen und in Tyson breitete sich eine riesige Portion Stolz aus. Früher konnte er Kai nur ein leichtes Schmunzeln entlocken und heute hob er sich vor Anstrengung den Bauch und japste vor Freude. Na gut. Der Alkohol trug auch seinen Teil bei… „Weißt du noch wie du uns das erste Mal mit zu dir nachhause genommen hast?“ „Natürlich“, antwortete Kai und versuchte ein weiteres Lachen zu unterdrücken. „Großvater hat dich an den Ohren und Max im Genick gepackt und euch beide fluchend durch den Hinterausgang hinausgetreten. Anschließend hat er Ray und Kenny mit dem Schürhaken durch den Garten gejagt, obwohl die Sprinkleranlage lief. Ihr hattet nicht einmal Zeit eure Schuhe wieder anzuziehen, da hat er sie mit der Post zuschicken lassen.“ Tyson hatte die skurrile Szene von damals noch gestochen scharf vor Augen. Voltaire hatte nach der Sache mit Biovolt seine Haftstrafe abgesessen und war an diesem Tag zum ersten Mal wieder nachhause gekommen. Seine Todfeinde, in seinem Wohnzimmer, vor seinem High Definition Fernseher, in seiner edlen Couchgarnitur vorzufinden, hatte ihn zunächst zur Salzsäule erstarren lassen. Und dann war der dritte Weltkrieg im Hause Hiwatari ausgebrochen… Voltaire beschimpfte die Bladebreakers, die Bladebreakers beschimpften Voltaire, dann beschimpfte Voltaire seinen Enkel und Kai seinen Großvater, wobei letztere Debatte auf Russisch stattfand und als der bereits erwähnte Schürhaken zum Einsatz kam, rannten alle nur noch panisch um ihr Leben. Ein denkwürdiger Nachmittag… Drei Tage nach dieser unschönen Begegnung besaß Voltaire tatsächlich noch die Dreistigkeit, ein Schreiben von seinen Anwälten ins Haus Kinomiya flattern zu lassen, wegen Hausfriedensbruch. Nachdem er seinem Enkel wegen der Anzeige erst einmal die Ohren langgezogen hatte, war Tysons Großvater schließlich wutschnaubend mit dem Taxi zum Hiwatari Anwesen gefahren. Was dort passierte, tuschelte man unter sich wie eine historische Legende, aber Kai hatte von einem der Hausmädchen erfahren, dass einige schöne Antiquitäten und Nasen an diesem Morgen zu Bruch gingen. Und da Mr. Kinomiya mit einem blauen Auge zurückkam, aber stolz einen ausgeschlagenen Schneidezahn in die Höhe hielt, konnte Tyson sich vorstellen, dass an dieser Version tatsächlich etwas dran war. Sein Großvater besaß nämlich noch alle Zähne… „Dafür dass Voltaire so alt war tat mein Hintern noch Wochen lang weh.“, erinnerte sich Tyson. „Weichei. Ich hatte acht Monate Hausarrest.“ „Woran du dich nie gehalten hast! Du hattest immer Probleme mit Autoritätspersonen.“ „Das sagt gerade der Richtige!“, klagte Kai ihn prompt an. Beide sahen sich für einen Augenblick herausfordernd an, dann wandte sich Tyson wieder der Straße zu und sein Nebenmann schaute aus dem Fenster. Allerdings zierte beide Gesichter ein verräterisches Zucken um die Mundwinkel. Ein paar Sekunden war es ruhig zwischen ihnen, bis Tyson die Stille mit einer weiteren Frage durchbrach. „Heute Abend war bis auf einige Ausrutscher von Ray und Kenny doch eine klasse Nacht. Und morgen ist Samstag. Da wollen wir gleich weitermachen. Übrigens, du hast am Sonntagabend doch sicherlich nichts vor, oder? Da steht auch schon was an.“ „Ich weiß nicht Tyson…“ „Es ist Sonntag! Arbeiten wirst du ja wohl bestimmt nicht.“ „Ich will meine Schwester nicht wieder so lange alleine lassen. „Dann schiebt dein Kindermädchen eben Überstunden! Drück ihr ein paar tausend Yen in die Hand, gib ihr einen Tag Urlaub, gönn ihr ein dreizehntes Gehalt und dann noch einen kleinen Klaps auf den Hintern. Sie wird dich auf Ewig lieben!“ „Tyson du verstehst das nicht.“, antwortete Kai kopfschüttelnd. „Es ist nichts Persönliches, aber ich bin bis zu vierzehn Stunden am Tag in der Firma. Ich komme nachhause und meine Schwester schläft bereits…“ „Dann sage ich es dir noch mal - Hör auf so viel zu arbeiten!“ Kai seufzte schwer und ließ sich tiefer in den Sitz sinken. Er schien definitiv zu müde für solche Debatten. Tyson nutzte seinen momentanen Vorteil schamlos aus, um ihm eine Standpauke zuhalten. Sicherlich fiel ihm das gerade auch auf und er fragte sich, wo der alte Kai abgeblieben war, vor dem seine Freunde gekuscht hatten. Der war heute Abend offensichtlich in einem der Tequila Gläser verschwunden… „Was wollt ihr am Sonntag machen?“, fragte Kai resignierend. In Tysons Bauch jubilierte es. Sieg auf ganzer Linie. „Wir haben den einunddreißigsten Oktober. Was glaubst du?“ „Halloween? Das ist nicht dein Ernst?“, kam es ungläubig. „Was hast du dagegen?“ „Das klingt so kindisch. Ich dachte wir gehen einfach was trinken.“ „Tun wir auch! Das wird klasse. Es gibt dutzende von Veranstaltungen in der Stadt. Wir könnten uns verkleiden.“, Tyson warf ihm ein feixendes Grinsen zu. „Du hättest endlich mal Gelegenheit als richtiger Indianer um die Häuser zu ziehen.“ „Sehr witzig.“ „Gefällt dir nicht? Hmm… Dann eben als Al Capone? Deine Familie hat es ja nicht so mit dem Gesetzt. Passt doch auch?“ Kai blieb stumm und Tyson befürchtete schon er würde abspringen, doch dann antwortete er: „Ich lass es mir noch mal durch den Kopf gehen. Aber ich kann dir nichts…“ „Versprechen? Den Spruch kenne ich schon auswendig!“, antwortete Tyson genervt. Doch dann grinste er wissend. Immerhin gab es da noch seine Geheimwaffe. „Falls du Angst hast das dieses Wochenende noch ein paar Termine anstehen, die kannst du getrost vergessen.“ „Das sagst du so einfach…“ „Nein, Kai. Ich meine es ernst.“, Tyson schüttelte den Kopf und sprach weiter. Noch immer grinsend, wegen ihrem tollen Streichs. „Ich habe dafür gesorgt, dass du dieses Wochenende vollkommen frei für uns bist. Hast du dich nicht gefragt wie wir dich heute aufgespürt haben?“ „Wahrscheinlich habt ihr bei meiner Sekretärin angerufen und euch als meine Geschäftspartner ausgegeben, die nicht mehr wussten wo der Termin stattfindet.“ Tyson stutzte. Irgendwie kam er sich gerade dämlich vor. „Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit gewesen. Warum ist mir das nicht eingefallen? Naja, wie auch immer. Bei dir waren wir ziemlich einfallsreich. Wir haben uns mit Kennys Hilfe ein bisschen auf deinem Terminplaner umgesehen. Hat der sich vielleicht in die Hose deshalb gemacht!“, munter plapperte Tyson weiter, ohne auf Kais Reaktion zu achten. „Du hättest ihn mal sehen müssen. Typisch Chef! Der rennt wahrscheinlich auch vor Pudeln weg. Jedenfalls hat er erkannt, dass ihr so ein Etepetete Programm auf dem Rechner habt, der automatische Änderungen in deinem Planer, sofort an deine Sekretärin leitet. Und rate mal wer heute dutzende von Absagen verschickt hat? Schmeiß die gute Frau nicht raus, sie kann nichts dafür, das Kenny so ein genialer Hacker ist.“ „Ihr habt meine Termine abgesagt?“, sagte Kai. Er richtete sich kerzengerade auf. Dieser Einfallsreichtum, musste ihn wohl wirklich umhauen. Tyson lachte laut auf, einfach weil seine Reaktion zu genial war. „War darunter auch ein Arzttermin?“, fragte Kai zwischen seinem Gackern. Da hielt Tyson kurz inne und dachte nach. Da war doch etwas gewesen. Irgendein englischer Name…. Dr. Pedington? Nein. Dr. Hamilton… Bingo! „Da war doch was. Meinst du diesen Dr. Hamilton?“, fragte Tyson nachdenklich und meinte dann mit einem beiläufigen Schulterzucken. „Jepp. Der Termin ist auch weg. War der etwa wich-… AARRGH! VERDAMMT?!“ Der Wagen fuhr in Schlangenlinien, dann trat Tyson auf die Bremse und wieder brauchte er länger, um auf dem Laub zum Stehen zu kommen. Die Bremsung kam so plötzlich das er mitten in einer Kreuzung liegen blieb. „Bist du bescheuert?!“, brüllte er wütend und presste die Hand auf die aufgeplatzte Lippe. Kai hatte ihm mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen und Tyson spürte bereits, wie etwas Blut sich seinen Weg aus seinen Nasenlöchern bahnte. Fassungslos wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und fluchte lauthals über seinen Beifahrer, doch der schnallte den Gurt ab, stieß die Wagentür auf und stieg aus. Mit empörtem Mund starrte Tyson auf die offene Beifahrertür und dann auf Kai, der im Licht der Scheinwerfer mit schnellen Schritten die Straße vor ihm überquerte. Es war noch ein ganzes Stück bis zu ihm nach Hause. „So kommst du mir nicht davon!“, knurrte Tyson, die Brauen tief zusammengezogen. Mit mehr Schwung als nötig riss er die Tür auf, stieg aus und eilte Kai mit großen Schritten hinterher. Selbst wenn es nicht mitten in der Nacht gewesen wäre, hätte er keinen Gedanken daran verschwendet, was aus seinem sperrangelweit geöffneten Auto passieren könnte. Eine kalte Oktoberbrise wirbelte die Blätter am Wegrand auf, blies sie in sein Sichtfeld, doch Tyson fixierte immer nur Kais Rücken der noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Kurz vor der nächsten Kreuzung holte er ihn ein und bekam Kai an der Schulter zu fassen. Mit einem groben Griff drehte er ihn zu sich, fauchte ihm wütend entgegen: „Glaubst du ernsthaft du kannst mir eine blutige Lippe verpassen und dich dann vom Acker machen?! Für wen hältst du dich?!“ „Für wen ich mich halte?“, wiederholte Kai und schlug Tysons Hand von seiner Schulter. Trotzig sah er auf. Sein Blick schien pures Gift zu sprühen. „Für wen hältst du dich?! Du kannst nicht einfach in meinen Terminen herumpfuschen wie du möchtest!“ „Mag sein das wir etwas skrupellos vorgegangen sind, aber das gibt dir nicht das Recht mir eine zu donnern, klar?! Wir wollten dich nur aus deiner verdammten Firma hervorlocken! Aber du willst ja unbedingt da drinnen verschimmeln! Wenn das so weitergeht müssen wir mit einem Pfannenwender vorbeikommen, damit du dich in deinem Bürostuhl nicht wund sitz-… Hey! Hör auf!“ Tyson wich gerade noch Kais Faust aus, die wieder zuschlagen wollte und bekam sein Handgelenk zu fassen. Reflexe hatte er dank seiner Bladerzeit zur genüge… „Dir steigt der Alkohol wohl zu Kopf!“ Mit einem Fauchen riss sich Kai los, drehte ihm den Rücken zu und lief weiter. Jeder seiner Schritte war wutgeladen, trotzdem folgte ihm Tyson. In seinem Kopf geisterte bereits ein Mantra das immer wieder beteuerte: „Das ist nur der Alkohol. Das ist nur der Alkohol. Der Idiot ist betrunken und weiß nicht mehr was er tut!“ Trotz des Grolls den er gegenwärtig hegte, bemühte er sich um einen ruhigeren Ton, schließlich waren Kais Macken und Launen allgemein bekannt unter ihnen. „Du hast eindeutig zu viel getrunken!“, rief Tyson ihm hinterher. „Steig wieder in den Wagen! Wenn ich dich frei herumlaufen lasse, beißt du der nächsten Person, die dir über den Weg läuft, ein Ohr ab.“ „Ich bin nicht betrunken!“, blaffte Kai über seine Schulter hinweg und beschleunigte sein Tempo nur weiter. „Verschwinde einfach! Lass mich in Ruhe!“ „Ich kann nicht glauben dass du auf uns sauer bist! Erst vorhin hast du mir vorgejammert das du zu viel Stress hast und jetzt flippst du aus, weil wir dir ein freies Wochenende beschert haben! Du solltest mir auf Knien danken, dass ich dich vor einem weiteren Meeting, mit Mister Großkotz von einer Firma Arschkriecher gerettet habe!“ So schnell das er in ihn hineinrannte, drehte Kai sich plötzlich um, nur um Tyson sofort wieder wegzustoßen. Seine Schultern bebten vor Zorn und auch der Wind, der spielerisch eine seiner helleren Strähnen an der Stirn einfing, konnte das Bild der Wut in seinem Gesicht nicht dämpfen. Seine tiefbraunen Augen, mit diesem ungewöhnlichen rötlichen Schimmer darin, blickten ihn voller Hass an. Die kühle Herbstluft und der nur von vereinzelten Straßenlaternen beleuchtete Weg, trugen nur weiter zu der kalten Atmosphäre bei. „Es geht mir nicht um die Firmentermine!“, erklärte Kai und seine Wangen röteten sich vor Zorn. „Es geht mir um diesen einen Termin! Dieser Arzttermin war wichtig!“ „Warum? Bist du krank? Das erklärt wieso du überschnappst!“ „Der Termin war für Jana du bescheuerter…“, Kai suchte nach Worten. Doch ihm schien keine angemessene Betitelung einzufallen. Das war eher ungewöhnlich, konnte aber auch am Alkohol liegen. Kai war mit einer messerscharfen Zunge gesegnet, wenn er seine boshafte Ader entdeckte. Fehlende Vokale waren da eher eine Seltenheit. Immer noch beleidigt, aber doch etwas versöhnlicher bemüht, antwortete Tyson: „Wolltest du deshalb heute Abend nicht weg? Du hättest mir sagen können dass Jana krank ist. So schlimm kann es aber nicht sein, wenn du dir noch dutzende Besprechungen aufhältst.“ Kai atmete hörbar aus, blieb aber stumm und Tyson war sich sicher ihm einen Schuss vor den Bug verpasst zu haben. Obwohl es falsch war empfand er Schadenfreude. „Wer austeilt muss auch einstecken können, Mr. Hiwatari.“, flüsterte eine boshafte kleine Stimme in seinem Hinterkopf. Doch da tat Kai etwas, was Tyson in all den Jahren noch nie bei ihm erlebt hatte. Mit bebenden Schultern presste er sich die Hände vors Gesicht und für einen Moment, machte es wirklich den Anschein, als ob ihn die Tränen übermannten. Verstört starrte Tyson ihn an. Diese Geste wirkte so unsagbar verzweifelt. Und dafür gab es doch keinen Grund für Kai… Er besaß Geld, Einfluss, Macht, einen exzellenten Ruf und Ansehen. Seine Firma galt in Japan als eine der erfolgreichsten Unternehmen, die das Land hervorgebracht hatte und doch ließ ihn etwas so simples, wie ein abgesagter Arzttermin, nun die Fassung verlieren? Tysons Mund blieb offen. Das Kontra das ihm auf der Zunge lag unausgesprochen. Das sah aus wie ein Nervenzusammenbruch… Nach einer gefühlten Ewigkeit atmete Kai ein paar Mal um Fassung ringend aus. Endlich ließ er die Hände etwas sinken und das Gesicht dahinter schien unglaublich erschöpft. Das komplette Gegenteil von zuvor. Als habe er sich eine Maske abgenommen. Der sonst so wache Blick wirkte matt und kraftlos. Kai schüttelte leicht den Kopf, schaute in seine Richtung, schien aber durch ihn hindurchzusehen. Als endlich wieder ein Wort von ihm kam, klang seine Stimme wie er momentan aussah. Schwach… „Du verstehst das nicht.“, seine Hände sanken ganz herab und resignierend schloss er die Augen. Tyson suchte sein Gesicht nach Tränenbahnen ab. Die hatte sich Kai jedoch verkniffen. Stattdessen wiederholte er gedankenversunken: „Du kannst das nicht verstehen.“ „Was ist denn bloß los mit dir?“, jetzt machte er sich wirklich sorgen. Tyson tat einen Schritt an ihn heran, beugte sich ein wenig vor, um einen besseren Blick auf Kais gesenktes Gesicht zu erhaschen. Doch der schaute weg. Er schien das nicht zu wollen. „Kai?“ „Kennst du das Down-Syndrom?“, fragte er plötzlich. Völlig perplex wegen dieser merkwürdigen Frage blinzelte Tyson. Doch irgendwann nickte er und antwortete mit aufgezogener Braue: „Diese komischen Mongos? Klar kenn ich die. Gibt ja allerhand Witze darüber. Warum fragst…“ Es machte erst in seinem Kopf Klick als es schon zu spät war. Er hörte wie Kai scharf die Luft einzog. Als sich ihre Blicke trafen lag in beider Augen Fassungslosigkeit. Tyson musste das Gehörte erst richtig begreifen. Und Kai schien nicht mit so einer abfälligen Bemerkung gerechnet zu haben. Nach ein paar Sekunden wurde Tyson die Tragweite seiner eigenen Worte bewusst. Die Erkenntnis jagte ihm förmlich das Blut aus den Wangen. Er starrte schuldbewusst zu Kai, der nur leicht nickte und seine Enttäuschung offensichtlich die trockene Kehle hinunterschluckte. Geradezu verbittert schaute er zur Seite und doch schwang in jeder Silbe sein bedauern mit. „Ja. Genau. Diese Mongos…“, es war nicht mehr als ein Flüstern. Das machte die ganze noch viel schlimmer. Tyson wäre es lieber gewesen angeschrien zu werden, doch zum ersten Mal schien Kai Maslos enttäuscht von ihm zu sein. Kurze Stille kehrte ein. „Jana hat also…“, fragte er vorsichtig. „Sie ist ein kleiner Mongo. In deiner Sprache formuliert.“, lachte Kai freudlos. „Oh ver-… Ich wusste doch nicht. Ich meinte damit nicht deine Schwester!“, er geriet ins Stottern. Klar hatten beide manchmal ihre Differenzen, doch mit diesen Worten musste er Kais Schmerzgrenze überschritten haben. „Das wollte ich nicht! Ich hätte nie gesagt dass sie ein Mongo ist, wenn ich gewusst hätte…“ „Du hättest es gedacht!“, fiel Kai ihm schneidend ins Wort. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, erlebte er ihn wahrhaftig gekränkt. „Das ist noch viel schlimmer! Du hättest mir etwas vorgeheuchelt, aber dich in Wirklichkeit vor ihr geekelt!“ „Nein! Niemals! Sie ist deine Schwester und du bist doch einer meiner besten Freunde!“ Kai schnaubte aufgebracht. Er streckte den Arm aus und deutete auf die Aussicht der nächtlichen Stadt die sich vor ihnen bot. „Und wenn sie nicht meine Schwester wäre?! Wenn sie die Schwester eines anderen wäre? Du würdest ihr auf der Straße begegnen und dich über sie lustig machen. Mit deinen hohlen Scherzen! Sie wäre für dich eine Witzfigur wie die anderen Kinder mit Trisomie! Ein behinderter kleiner Mongo! Dabei hast du keine Ahnung wie viel Aufrichtigkeit in solchen Menschen steckt…“ Tyson zog den Kopf tiefer zwischen die Schultern, biss sich auf die Unterlippe. Genau betrachtet war das richtig. Als Kind hatte er sich schon einmal darüber ergötzt. Es war eine dieser Jugendsünden, die einem im Nachhinein grausam vorkamen. „Es tut mir Leid. Wirklich, Kai. “, und als ihm das noch nicht ausreichend vorkam „Es war nur dumm daher geredet. Ich empfinde wirklich keinen Ekel. Meine Zunge war einfach schneller als mein Verstand. Aber du hast Recht wenn du mir nicht glaubst. Es gibt nichts was meine Worte entschuldigt.“ Wieder kehrte Stille ein. Doch Kai schien tatsächlich etwas besänftigt. Sein Blick sprühte zwar noch pures Gift, doch sein Arm senkte sich. Er schaute ihn nur wortlos an, bis sich sein Gesicht von ihm abwandte. Irgendwie war seine Enttäuschung aber noch immer allgegenwärtig. Tyson konnte es förmlich in der Luft fühlen. Als er sicher war Kai wieder ansprechen zu können, fragte er vorsichtig: „Was genau ist das Down-Syndrom eigentlich?“ Kai schien zu überlegen ob er überhaupt noch mit ihm sprechen wollte. Doch dann… „Es ist eine Chromosom Störung“, sprach er leise. „Der gesunde Mensch besitzt sechsundvierzig Chromosome. Dreiundzwanzig vom Vater, dreiundzwanzig von der Mutter. Beim Down-Syndrom ist das einundzwanzigste aber dreifach statt doppelt vorhanden. Deswegen heißt die Krankheit auch Trisomie 21.“ Tyson war kein Ass in Biologie, doch das meiste basierte auf einfachem Basiswissen, dass er nur sehr lange nicht mehr abgerufen hatte. Jetzt erst bemerkte er wie lange er Jana nicht mehr gesehen hatte. Als sie noch ein paar Wochen alt war, hatte die Gruppe öfters einen Abstecher zum Hiwatari Anwesen gemacht. Der kleine Säugling war einfach zu sehenswert gewesen. Keiner der hartgesottenen Jungs konnte anders, als sie putzig zu finden. Wie hätte es auch anders sein können – Babys waren immer süß und machten aus jedem Kerl ein Weichei. Max verstellte seine Stimme zu einem ulkigen Goofy Imitat, Tyson hatte Donald gespielt und Ray hatte Jana an den winzigen Fußballen gekitzelt, bis sie vor Freude quietschte. Doch nach einer Weile ließen die Besuche nach. Nicht weil ihr Interesse nachgelassen hatte. Kai lehnte es ab seine Freunde zu sich nachhause einzuladen. Irgendwann erzählte er ihnen, das Baby sei zu aufgedreht nach ihren Besuchen und da niemand Kais Mutter zur Last fallen wollte, verzichteten sie von da an auf weitere Stippvisiten. Tyson ahnte nun dass sie damals belogen worden waren. „Ist das lebensbedrohlich?“, fragte er. Kais Blick sank zu Boden und die Wut verschwand, machte dem verzweifelten Ausdruck wieder platz. „Sie ist mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen. Die Ärzte waren eigentlich sicher das sie nicht einmal das sechste Lebensjahr erreicht.“ „Oh nein…“ „Oh doch!“, Kais Stimme wurde wieder streng. Er sah auf und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, die ihn von oben herab geringschätzig anzustarren schienen. „Der einzige Grund weshalb Jana solange durchgehalten hat, ist, weil ich zu hundert Prozent hinter ihr stehe und nicht das kleinste Übel an sie herankommen lasse! Kein Medikament wird unpünktlich genommen, ich sorge nur für die besten Ärzte, bei jeder Kleinigkeit, selbst bei einem harmlosen Schnupfen, lasse ich in der Firma alles liegen! Und verdammt noch mal, bevor du gewesen bist, habe ich keinen einzigen Arzttermin versäumt, abgesagt oder auch nur um fünf Minuten verschoben!“ „Ich hätte das nie getan wenn du mir gesagt hättest was los ist.“ „Muss man dir das Denken immer abnehmen?! Es war ein Arztbesuch! Den hatte ich nicht ohne Grund da drinnen. Erst recht nicht an einem Samstag! Wie viele Ärzte kennst du, die ihre Termine an einem Samstag vergeben? Da hättet ihr euch doch denken müssen, dass es etwas Wichtiges ist!“ Autsch. Das hatte gesessen. Aber wahrscheinlich hatte er das verdient. Reumütig ließ Tyson Kais Standpauke über sich ergehen, wie ein Schuljunge der von seiner Lehrerin getadelt wurde. Er kam sich hundeelend vor. Wie der letzte Arsch auf Erden… Kai registrierte das mit voller Genugtuung, verstummte daraufhin und begann in seiner Jackentasche nach etwas zu suchen, während Tyson dutzende Gedanken durch den Kopf gingen. Die Ärzte hatten nicht einmal damit gerechnet, dass Jana durch ihren Herzfehler solange durchhalten würde. Das hieß doch eigentlich, dass es ihr jeden Tag schlechter gehen könnte. Von heute auf morgen, einfach tot. Dieser Gedanke jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken und er konnte nicht einmal erahnen, wie es wohl für Kai sein musste, Tag für Tag mit dieser Furcht durchs Leben zu gehen. Als Tyson vom Boden aufsah und die dämliche Frage stellen wollte, ob sich das mit dem Herzfehler nicht mit einer Extraportion gesundem Spinat einrenken ließe, zündete sich Kai gerade eine Zigarette an. Moment was… Dieses Bild war vollkommen falsch. Kai rauchte nicht. Das durfte er nicht! Es war doch der Todbringer schlechthin. Kai hatte immer mit seiner eisernen Disziplin geglänzt und das schloss auch eine gesunde Ernährung mit ein. Er war ein so entsetzlich perfektes Vorbild, dass es dem Rest von ihnen, an manchen Tagen schier den letzten Nerv raubte. „Was machst du da?!“, fragte Tyson entsetzt. „Wonach sieht es denn aus?“, murmelte Kai mit der Zigarette im Mundwinkel und hielt seine Hand schützend um die zuckende Flamme des Feuerzeugs. „Das sieht aus als ob du rauchst!“ „Kluges Kind.“ „Seit wann rauchst du?“ „Seit einer Weile…“ „Seit wann genau?!“ Kai nahm einen tiefen Zug und entließ eine Ladung Rauch aus seinen Lungen, verstaute nebenbei sein Feuerzeug in der Jackentasche und war wohl der Meinung ihm keine Antwort schuldig zu sein. Das machte Tyson so rasend das er einen Satz nach vorne tat, sein Handgelenk packte und die Zigarette aus Kais Fingern riss. „Verdammt, lass das!“, ein heftiger Hieb mit der freien Hand knallte gegen seinen Kopf. „Geh mir nicht auf die Nerven, Kinomiya! Du hast dein Limit für heute überschr-…“ „Halt die Klappe! Kaum hast du eine kranke Schwester im Haus lässt du dich gehen! Keiner meiner Freunde fängt mit so etwas an!“ „Ich nehme keine Drogen, ich rauche nur! Es entspannt mich und ich brauche es nach diesem Ärger! Außerdem musst du es dann der halben Welt verbieten!“ „Die halbe Welt interessiert mich nicht. Nur meine Freunde!“ Demonstrativ ließ Tyson die Zigarette auf den Boden fallen und stampfte sie zornig mit dem Fuß aus. Soweit würde es noch kommen… „Denk doch mal an deine Schwester! Du könntest Lungenkrebs bekommen oder das ganze andere Horrorzeug von dem man erzählt. Du rauchst doch hoffentlich nicht vor ihr, oder?“ „Natürlich nicht! Ich denke pausenlos an meine Schwester!“, brauste Kai auf. „Was glaubst du warum ich wie ein Wahnsinniger arbeite? Damit ich mich so schnell wie möglich ihr wieder widmen kann.“ Kai rieb sich mit der Hand über die Schläfen als habe er Kopfschmerzen. „Morgen früh hätte sie ihre Untersuchung bei ihrem Arzt gehabt. Seit ein paar Tagen ist sie wieder total apathisch und starrt nur vor sich hin. Aber dieser Arzt, Dr. Hamilton… Ich weiß nicht wie er das schafft, aber bei ihm blüht sie ständig auf. Wahrscheinlich weil er besser als jeder andere weiß, wie man mit solchen Fällen umgeht.“ Er blickte Tyson wieder aus wütenden Augen an. „Nur wegen dir wird meine Schwester morgen todunglücklich sein! Ich habe keine Ahnung wie ich ihr das erklären soll. Sie wird es nicht verstehen. Sie ist doch noch ein Kind!“ „Dann ruf deine Mutter an und bitte sie um Hilfe!“, kam Tyson die Idee. „Sie kann Jana bestimmt beruhigen! Mütter können so etwas!“ „Das geht nicht…“ „Ach komm schon! Die paar Minuten ihres Urlaubs kann sie doch wohl opfern. Ich verstehe sowieso nicht, wie sie dich alleine lassen kann und irgendwo am Strand in der Sonne brutzelt. Du hast schließlich noch deine Firma zu leiten!“ „Meine Mutter hat sich seit neun Monaten aus dem Staub gemacht!“, brach es aus Kai heraus. Und wie so oft an diesem Abend, tat sich eine fassungslose Stille zwischen ihnen auf. Tyson schluckte. Sein Mund öffnete sich wieder. Dann schüttelte er den Kopf. Er brauchte mehrere Anläufe um die Welle aus Fragen, die sich auf seiner Zunge gleichzeitig bildeten, nacheinander vorzutragen. Neun Monate? Neun Monate… Das entsprach genau der Zeit, die sie Kai nicht mehr gesehen hatten. Deshalb war er also nicht mehr gekommen! Er musste so stark von all diesen Problemen belagert werden, dass ihm gar keine Zeit mehr blieb, um sich etwas anderem zuzuwenden. „Wieso erzählst du uns so etwas nicht?“, rief Tyson vorwurfsvoll aus. „Das kannst du doch nicht verheimlichen! Wir sind deine Freunde! Was ist denn bloß los bei dir?!“ Kai atmete tief ein und wieder vergrub er das Gesicht ein paar Sekunden in den Händen, rieb sich erschöpft über Augen. Doch Tyson hatte das Gefühl, das er nur versuchte, die aufkommenden Tränen zu vertreiben. Ihn so zu erleben fühlte sich furchtbar an. Er kam sich schuldig vor, ihm all die Jahre nicht beigestanden zu haben. Als Kai endlich erzählte bebte seine Stimme kaum hörbar. „Wir haben uns gestritten. Meine Mutter und ich. Sie hat gesagt Janas Krankheit würde ihr über den Kopf steigen. Sie hat gesagt, sie kann Jana nicht lieben. Sie hat gesagt… Jana ekelt sie an!“, die letzten Worte kamen geradezu erstickt. Kai schien selbst nicht zu glauben, dass eine Mutter so empfinden konnte. Dann kniff er die Augen zusammen, presste die Lippen fest zusammen. Irgendwann spie er trotzig aus: „Eine Woche später war sie weg. Keine Ahnung wo die Schlampe sich jetzt herumtreibt! Ist mir auch vollkommen egal. Zum Teufel mit diesem Miststück. Ich will sie nie wieder zu Gesicht bekommen!“ Diese vulgäre Ausdrucksweise passte nicht zu ihm und ließ Tyson erst begreifen, wie frustriert er über diese Situation sein musste. Vor kurzem hatte Kai ein erfolgreiches Familienunternehmen übernommen. Das allein war ein Fulltimejob – aber jetzt noch ein krankes Kind im Haus? Und das alles alleine… Niemand war ihm die letzten Monate beigestanden. Tyson zog die Augenbrauen zusammen. Kenny hatte also Recht behalten. „Kann man einer Frau vertrauen, die aus Herzschmerz ihren einzigen Sohn bei einem solchen Großvater zurücklässt?“, waren seine Worte gewesen. Tyson dachte damals dasselbe. Doch er wollte Kais Glück nicht trüben. Und nun das… Er hätte ihm von Anfang an raten sollen, eine solche Rabenmutter mit Vorsicht zu genießen. Inzwischen kramte Kai wieder in seiner Jacke nach Zigaretten. Dabei sprach er ziemlich verbittert: „Du hast doch keine Ahnung. Du lebst in deiner kleinen heilen Welt, in der du dir deine dummen Streiche erlauben kannst. Was weißt du schon…“ Für einen Moment herrschte Stille. Doch dieses Mal weil in Tyson der Zorn hochbrodelte. Er rührte sich lange Zeit nicht, sah Kai düster an, während seine Brauen tiefer und tiefer wanderten. Dann fragte er: „Seit wann weißt du das Jana diese Krankheit hat?“ Kai stoppte kurz in seiner Suche und schaute mit argwöhnischem Blick auf. „Ein paar Tage nach ihrer Geburt kam der Verdacht auf…“ „Und warum erfahre ich das erst jetzt?“, blaffte Tyson ihn an. So sehr es ihm Leid tat um seine Schwester, diesen Schuh würde er sich nicht anziehen lassen. Er hatte selbst einen Pflegefall in der Familie. Natürlich konnte man seinen recht selbständigen Großvater nicht mit einer Sechsjährigen vergleichen, aber Kai hatte doch nie die Klappe aufgemacht. Einen solchen Streich hätte er sich doch niemals herausgenommen, wenn er auch nur ansatzweise geahnt hätte, wie schief der Haussegen bei den Hiwataris saß. Doch Kai stellte ihn wie einen regelrechten Unmenschen da, einen egoistischen Scheißkerl, der über Leichen ging. „Du weißt also seit fast sechs Jahren, dass du eine Schwester mit diesem Down-Syndrom hast und trotzdem…“ „Ich hätte alles unter Kontrolle, wenn ihr euch nicht ständig so dreist einmischen würdet!“, fuhr Kai dazwischen. Doch Tyson überging den Vorwurf. Stattdessen rief er: „Und trotzdem erfahre ich davon erst jetzt! Ich bin einer deiner ältesten Freunde. Einer deiner besten Freunde, Kai! Ich habe immer zu dir gehalten, egal wie viel Scheiße du gebaut hast, genau wie die anderen! Wissen die aber davon? Nein? Natürlich nicht! Mr. Hiwatari kriegt ja nie die Klappe auf!“, Tysons Worte wurden immer lauter und Kais Zorn offensichtlich schlimmer. Beide Männer ballten die Fäuste vor Wut. Ein Außenstehender hätte befürchtet, dass sie gleich wie blutrünstige Wölfe aufeinander lospreschen würden. „Ray und Max wohnen im Ausland. Die können dir nicht helfen! Aber was ist mit Kenny und mir?! Ist es so schlimm deine Freunde um Hilfe zu bitten?! Wir wohnen in derselben Stadt und jeder von uns könnte ein paar Stunden für dich aufbringen. Ich brauche nur zwanzig Minuten mit dem Auto hier her, ich würde dir jederzeit helfen! Sieh dich doch an wie überfordert du bist! Du bist an deiner Grenze! Spätestens als deine Mutter die Kurve gekratzt hat, hättest du etwas sagen müssen! Doch anstatt von deinem hohen Ross herunterzukommen, dir endlich einmal eingestehst, dass es etwas gibt, was du nicht mehr alleine schaffst und uns reinen Wein einschenkst, stürzt du dich lieber in deine Arbeit und den Zigarettenkonsum! Und vergraulst alle Menschen, die dir Nahe stehen!“ „Das Einzige worin ich mich niemals hätte stürzen dürfen, war der heutige Abend mit euch!“, brüllte Kai ihm entgegen. In Kindertagen wäre Tyson eingeschüchtert zurückgewichen, doch nun erkannte er die Reaktion eines hoffnungslos überforderten Dickkopfes. Dieser falsche Stolz. Das war so typisch für ihn… Lieber biss dieser Mistkerl sich die Zunge ab, anstatt etwas Hilfe anzunehmen. Tyson schnaubte verächtlich. Spie geradezu vor Verachtung aus. Es wäre noch stark untertrieben zu behaupten, er sei gerade blind vor Zorn. Seine Fäuste bebten. Er unterdrückte mit aller Kraft dem Impuls Kai seine Rechte spüren zu lassen. „Deine Hochnäsigkeit bringt dich irgendwann ins Grab! Du bist immer noch genau so wie früher! Immer noch dieser sture Einzelgänger! Immer ein Querdenker! Ich dachte eigentlich, wir hätten das ewige Sorgenkind namens Kai, in den letzten Jahren endlich einmal begraben, aber anscheinend hat es sich nur hinter einer falschen Fassade versteckt!“, fauchte Tyson mit verschränkten Armen und merkte gar nicht wie abfällig seine Worte klangen. Erst als Kai vor ihm die Luft anhielt, er sah wie geschockt ihn sein Gegenüber anstarrte, spürte Tyson, dass da eine Grenze überschritten worden war. Kais Mund stand leicht geöffnet und seine sonst so kalten Augen verrieten, dass er tief gekränkt war. Dieser verletzte Blick. Es ließ Tyson erst die Härte seiner Worte begreifen, sich selbst auf die Zunge beißen. Er kniff die Augen gequält zusammen. Sein Mundwerk war schon wieder schneller gewesen als sein Verstand. „Kai…“ „Ich bin also das Problemkind der Bladebreakers Familie?“, kam es in schneidendem Ton. Er wich etwas zurück, schaute ihn von der Seite her geringschätzig an. „Das war nicht so gemeint. Ich bin wütend. Du bist wütend… Wir haben uns heute einige böse Worte an den Kopf geworfen, aber das war ja nicht das erste Mal.“ Tyson tat einen Schritt auf seinen Freund zu und wollte ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen. Doch der stieß seine Finger weg. „Es wird auch nicht mehr vorkommen.“, versicherte Kai eiskalt. „Komm schon, mach kein Drama daraus! Das hat doch alles keinen Sinn mehr. Lass uns morgen weiterreden. Wenn wir beide wieder etwas ruhiger sind. Vielleicht kann ich bei dem Arzt anrufen und ihm erklären was passiert ist…“ „Dann sagt das Sorgenkind mal Lebwohl!“ Er wandte sich ab, doch Tyson folgte ihm noch einige Schritte, in einem hoffnungsvollen Versuch die Wogen noch einmal zu glätten. „Ich fahre dich nachhause. Komm steig in den Wagen! Bitte, komm schon!“ „Lass dich nie mehr blicken, Kinomiya!“ „Du tust es schon wieder. Du benimmst dich wie in unserer Jugend!“ Ein letztes Mal blieb Kai stehen, drehte sich zu ihm und sprach: „Du redest auffällig oft von unserer Kindheit, aber soll ich dir was sagen? Beyblades und Turniere interessieren niemanden mehr! Die Zeiten in denen mein Großvater versucht hat mit Kinderspielzeugen die Weltherrschaft zu übernehmen sind vorbei. Biovolt und Bega sind Vergangenheit, genau wie die Bladebreakers! In ein paar Jahren wird sich niemand mehr an den Kindergarten von damals erinnern und wenn ich die Wahl hätte, zwischen Dranzer, dir und meiner Schwester, würde ich jederzeit auf Jana wetten – und auf euch andere einen Scheiß geben! Fang an wie ein verantwortungsbewusster Mensch zu denken und nicht wie der dreizehnjährige Kindskopf, der du schon immer warst! Die Realität ist kein Spielplatz. Die Realität ist ein Mienenfeld! Wenn du einen falschen Schritt machst, jagt sie dich in Luft! Bevor du also Ratschläge im Erwachsen werden erteilst – werde selber endlich erwachsen!“ Das Gespräch war beendet. Kai schob den Kragen seiner Jacke hoch und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, lief er um die nächste Häuserecke und verschwand aus seinem Sichtfeld. Mit einem schlechten Gewissen in der Magengrube fixierte Tyson den Punkt, hinter dem einer seiner längsten Freunde verschwunden war. Womöglich aus seinem ganzen Leben. Wie konnte ein Abend, der so gut angefangen hatte, nur so aus dem Ruder laufen… „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, fluchte er laut vor sich her, trat frustriert einen Stein weg, der ein geparktes Auto an der Seite traf und einen tiefen Kratzer hinterließ. Zeitgleich sprang die Alarmanlage an. Doch anstelle in Panik zu verfallen, rief Tyson nur in die Welt hinaus: „Früher war alles besser! Kind müsste man noch mal sein!“ Einige Male atmete er laut aus, doch dann wurde ihm bewusst, dass es nicht half, ständig der Vergangenheit hinterher zu trauern. Das war genau das, was Kai ihm gerade vorgeworfen hatte. Ein Funken Wahrheit lag wohl doch in seinen Worten. Energisch schüttelte Tyson den Kopf und fasste einen Entschluss. Schluss mit dem Kinderkram! Morgen würde er sofort die Nummer von diesem Dr. Hamilton herausfinden und dort durchklingeln. Vielleicht ließ sich Jana noch irgendwo zwischen seine Termine hineinschieben. Es musste einen Weg geben, mit Kai wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Er kannte ihn fast zehn Jahre. So eine lange Freundschaft konnte man doch nicht in fünf Minuten zerstören. Tyson wollte nicht dass es so zwischen ihnen endete… Außerdem müsste er dem Rest der Gruppe, seine boshafte Zunge erklären. Die vorwurfsvollen Gesichter, konnte er sich bereits detailgetreu ausmalen. Nachdenklich schloss Tyson die Augen und hatte das Gefühl, das ihm diese Situation über seinen Verstand hinauswuchs. Zu seinen Knöcheln wirbelten Blätter umher und als er gedankenverloren nach oben zum Sternenhimmel blickte, wehte ein starker Windzug durch die hochgewachsenen Bäume, die die Allee rechts und links von der Straße säumten. Der kräftige Hauch fegte durch sein dunkles Haar. Plötzlich überkam Tyson das Gefühl beobachtet zu werden. „Kai?“, fragte er hoffnungsvoll und wandte sich um. Doch um die Häuserecke herum kam niemand hervor. Über seine eigene Unruhe verärgert, schüttelte er den Kopf und wollte sich auf den Weg zum Wagen machen, da erblickte Tyson auf der anderen Straßenseite eine Person. Er dachte zuerst nicht richtig zu sehen. Eine unglaublich attraktive Frau saß auf einer niedrigen Grundstücksmauer, mit übereinander geschlagenen Beinen und schaute seelenruhig zu ihm herüber. Ein knielanges rotes Fransenkleid umspielte ihren Körper und Tyson hätte beinahe laut gepfiffen, obwohl er es seltsam fand, dass jemand bei dieser kalten Herbstnacht, so freizügig gekleidet war. Selbst auf Schuhe hatte die Dame in Rot verzichtet. Das sie ihn beobachtete irritierte ihn noch mehr. Eine Hand ruhte auf ihrem Schoss. Der andere Arm fungierte als Stütze. Ihr Haar war hell, es wirkte fast bleich und fiel ihr in sanften Locken bis zur Hüfte, während eine Strähne ihr rechtes Auge verdeckte. Ein solches Blond hatte Tyson noch nie gesehen. Er war sich nicht einmal sicher ob es blond oder nicht stattdessen ein sattes Silber war. Er wusste dass es unhöflich war, doch Tyson konnte kaum seine Augen abwenden. Sie besaß eine faszinierende Aura. Sein Blick wanderte an den graziösen Beinen entlang, zur schlanken Taille bis zum Kopf – und plötzlich erstarrte er. Seine Nackenhaare richteten sich auf und über seinen ganzen Körper zog sich eine Gänsehaut. Tyson konnte nicht sagen warum, doch an diesem Gesicht schien etwas unmenschlich zu sein. Selbst von hier aus erkannte er die unnatürliche Blässe… „Alles in Ordnung?“ Tyson fuhr erschrocken um. Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann, der selbst ihn noch mal um zwei Köpfe überragte. Dabei war er so stolz darüber gewesen, endlich seinen Wachstumsschub bekommen zu haben. Sein Gegenüber schien nicht so viel älter als er. Womöglich waren sie sogar gleich alt. Dafür wirkte seine Kleidung und sein auftreten eleganter. Er hatte etwas Selbstsicheres an sich und schien wie ein Draufgänger. Schon komisch was einem ein kurzer Blick verraten konnte. „Alles bestens, “ meinte Tyson kurz angebunden und blickte wieder auf die andere Straßenseite. Doch da war niemand mehr. Auf dem Platz wo die Dame in Rot gesessen hatte, pickte der erste Spatz, in den dunklen Morgenstunden herum, während die Morgenröte langsam über die Berge heraufzog. Verblüfft starrte Tyson auf die Mauer, blinzelte einige Male und war sich nicht sicher ob er neuerdings nicht Halluzinationen bekam. „Du solltest jetzt nachhause gehen.“, sagte die tiefe Stimme seines Gegenübers. „Ich gehe Heim wenn es mir…“, Tyson schaute das erste Mal in das Gesicht des Fremden. Und schon wieder diese Totenblässe… Der Satz blieb ihm im Halse stecken und er musste zugeben, dass ihm unbehaglich wurde. Sein Kopf sagte ihm, dass es lächerlich war. Doch sein Instinkt ließ die Alarmglocken läuten. Irgendwas stimmte mit diesem Mann nicht… Sein Gegenüber schaute ihn aus tiefschwarzen Augen an, Tyson konnte nicht einmal die Pupillen erkennen. In seinem Gesicht zeichnete sich keinerlei Regung ab, als wäre dieser Mensch überhaupt nicht dazu im Stande. Während der Wind durch das kurze Haar wehte, sagte sein Gegenüber mit einer tiefen Bassstimme: „Geh nachhause Takao.“ Es brauchte einige Sekunden, bis seine Gliedmaßen den Befehl seines Gehirns ausführten. Doch dann machte Tyson auf dem Absatz kehrt und eilte die Straße entlang. „Schlafentzug. Schlechter Tag. Zu viel Stress.“, dachte er beim Rückweg, konnte es aber nicht unterlassen, noch einmal über seine Schulter zu spähen. Der Zombiemann war weg. Als Tyson im Wagen saß, die Türen fest verschloss und den Motor jaulend startete, hielt er einen Augenblick inne. Ihm war ein Gedanke gekommen. Woher kannte der Kerl seinen richtigen Namen… ENDE Kapitel 1 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)