Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 9: ----------- Die Geister die wir riefen… Ja, er kannte dieses Gesicht. Wie sollte es auch anders sein? Tyson kannte jede Kontur an Kai. Vor allem seinen Blick. Es gab niemanden mit dieser seltsamen Farbmischung, mit diesem rötlichen Stich in den Augen. Zumindest war ihm so jemand noch kein weiteres Mal begegnet. Selbst von hier unten erkannte er das Glimmen in ihnen. Doch etwas schien anders… Tyson trat näher an die Brücke heran. Wie er so hinaufstarrte, bekam er schon fast einen steifen Nacken, doch er besah sich genau das Gesicht seines Freundes, der langsam aus seiner liegenden Haltung aufstand und die Beine über das schmale Geländer schwang. Da hockte er nun, stützte die Arme links uns rechts von sich ab und lächelte Tyson an, als wäre nichts weiter dabei. Er war jünger… Eindeutig! Tyson versuchte sich daran zu erinnern wie Kai vor ihrer Reise in die Irrlichterwelt ausgesehen hatte, aber es wollte ihm nicht einfallen. Dennoch spielte es keine Rolle. Seine Erscheinung war zu Jugendhaft. Der Altersunterschied zu groß. Er wusste noch, dass jeder von ihnen Anfang zwanzig war, da oben, auf der Balustrade, saß aber ein Junge von vielleicht siebzehn Jahren, wenn überhaupt. „Kai, was machst du hier?“, fragte Tyson. „Du solltest nicht hier sein.“ Sein Freund legte den Kopf leicht zur Seite und blickte ihn an, fast schon etwas verwundert. Seine Antwort ließ eine Weile auf sich warten, war dafür umso überraschender: „Warum sollte ich nicht hier sein?“ „Warum? Du gehörst nicht hier her! Du gehörst nachhause!“ „Ich bin zuhause…“ Kai streckte die Arme aus und lächelte belustigt auf seinen Freund herab. „Das ist die Welt in die ich gehöre.“ „Was redest du da?“ „Ihr habt so viel Farbe hier her gebracht.“, wich er plötzlich ab, ließ den Kopf in den Nacken fallen und starrte nach oben. „Sogar die Sonne scheint. Es ist eine Ewigkeit her seit ich sie hier gesehen habe. Du nicht auch, Driger?“ Das Bit Beast neben ihm ließ den Blick ebenfalls nach oben wandern. „Ein seltener Anblick“, bestätigte eine tiefe Stimme. „Früher hatten wir öfters solches Wetter.“ Max zog inzwischen aus seiner Hosentasche ihr Notizbuch hervor. Schon wieder drängte sich ihm der Verdacht auf, er habe etwas Wichtiges vergessen. Er überflog ihre stichwortartige Dokumentation und spähte anschließend zu Kai, dann voller Argwohn zu Driger. „Was willst du denn hier?!“, fragte er schließlich das Bit Beast herrisch. „Wie unhöflich. Wir haben euch das Leben gerettet. Doch ich weiß bereits, dass ihr Menschen ein undankbares Pack seid.“, höhnte Driger und ein tiefes Lachen entwich ihm, dass eher an ein tiefes Grollen erinnerte. Dann huschten seine Augen zu dem Buch. Sie wurden zu schmalen Schlitzen. „Ihr führt also Tagebuch. Wie reizend…“ Tyson schnappte sich den Block und verbarg ihn hinter seinem Rücken. Insgeheim ärgerte er sich über Max. Ihre Gegner mussten nicht erfahren welchen Vorteil sie nutzten. „Kai, komm von ihm weg!“, rief Max hinauf. „Wenn du schon länger hier bist, dann hast du dasselbe Problem wie wir! Du vergisst dass unsere Bit Beast unsere Feinde sind!“ „Wir sind nicht eure Feinde!“, kam die Antwort im schneidenden Ton von ihm. Wieso wir? „Da stimmt was nicht. Das ist niemals Kai.“ kam es plötzlich von Tyson. Ihm war gerade eine Erkenntnis gekommen. Eigentlich waren sie nur wegen Kai hier. Er hatte Tyson darauf hingewiesen, dass sie zum Friedhof sollten. In anbetracht der Tatsache, dass das Wesen vor ihnen spielerisch über Flammen herrschte, fiel sein Verdacht prompt auf die richtige Wahl. „Du bist nicht Kai. Du bist Dranzer! Im Krankenhaus war es dein Drängen, dass mich dazu gebracht hat, mit Ray und Max auf den Friedhof zu fahren. Dizzys Laptop war in deinem Zimmer! Du hast sie getötet und sie gegen diese verdammte Schlange ausgetauscht!“ Als der Groschen auch bei seinen Freunden fiel, blickten beide ihn entsetzt an. Konnte es wirklich sein, dass sie der Finte einer Art Doppelgänger gefolgt waren? Wenn ja, wo war der echte Kai? War ihr Freund seit dem Brand im Hiwatari Anwesen verschollen? Von der Brücke kam nur ein leises Lachen, dann stieg Kai auf das Geländer und balancierte unbeeindruckt daran entlang. „Du musst zugeben ich war wirklich gut in meiner Rolle.“ Also doch… Dranzer gab es sogar offen zu! Um dem ganzen noch das I-Tüpfelchen aufzusetzen, feixte das Bit Beast ihnen frech entgegen. Es erhob die Stimme zu einer gehässigen Seifenoper und flehte theatralisch: „Takao, bitte geh zum Friedhof für mich. Ich habe solche Angst um meine kleine Schwester… Du bist der Einzige dem ich vertraue. Wer außer dir hilft mir denn stets in meiner Not? Was bist du nur für ein nobler Ritter!“ Von Driger kam wieder dieses belustigte Knurren und auch Dranzers Lachen schallte hämisch über den Platz. Mit den Zähnen knirschend blitzte Tyson hinauf, während seine Wangen sich zornig verdunkelten. Kaum zu glauben was für Töne er da vernahm. Plötzlich konnte er Bit Beasts überhaupt nichts Majestätisches mehr abgewinnen, ganz im Gegenteil. Von dem wunderschönen Phönix hätte er niemals solch eine Boshaftigkeit erwartet. „Du kannst mich mal kreuzweiße, du scheiß Geier!“ „Wie vulgär, aber auch typisch für das kleine Menschenkind. Habe ich dich etwa gekränkt? Oder bist du einfach nur enttäuscht, weil du doch niemals die Annerkennung von Kai bekommen wirst, nach der du dich sehnst?“ Tyson antwortete nicht, doch sein trotziger Gesichtsausdruck bedurfte auch keiner weiteren Erklärung. „Falls es dich tröstet, auch ich habe unter Kais kalter Art gelitten. Jahrelang habe ich um seine Aufmerksamkeit gerungen. Ich war geradezu versessen davon seiner kühlen Seele einen Funken Leidenschaft abzugewinnen. Doch das ändert sich jetzt…“ „Wo ist Kai?“ „Er steht vor dir.“ „Niemals!“ „Oh doch, ich bin Kai. Aber ich bin es auch nicht…“ „Hör auf mit deinen Lügen!“ „Warum misstraust du mir?“ Tyson biss sich auf die Lippe. Genau ein solcher Satz war es, der ihn dazu gebracht hatte, Dranzers Bitte im Krankenhaus nachzukommen. „Das scheint Erinnerungen in dir zu wecken, Takao.“ „Nenn mich nicht so!“ „Im Krankenhaus hat es dich nicht gestört. Da schienst du geradezu nach meiner Annerkennung zu lechzen. Du hast die lieben Worte die aus meinem Mund kamen aufgesammelt, wie ein ausgehungerter Bettelknabe dem man Brotkrümel zuwirft. “ Die Schamröte stieg Tyson ins Gesicht. Kai hatte sich so verkehrt im Hospital aufgeführt, dass es krachte. Dranzer hatte geahnt was Tyson sich von ihm am meisten wünschte. Anerkennung, weniger Widerworte, einfach mal etwas Vertrauen in seine Fähigkeiten… Das war aber nichts Kais Art. Er gab immer Widerworte. Er bat niemals um Hilfe! Wie konnte er so blauäugig sein und die Falle nicht wittern? War er wirklich so begierig darauf gewesen, sich endlich unter Beweis zu stellen und sich Kais Vertrauen als würdig zu erweisen? Ihn schockierte selbst, wie einfach er doch gestrickt war. „Wo ist er?!“, wiederholte Tyson erneut, mit einer vor Wut bebenden Stimme. „Ich sagte doch bereits, ich bin Kai. Aber ich bin es auch nicht.“ „Ich will keine Rätsel ich will klare Antworten, du aufgeputschter Papagei!“ Driger ließ ein wütendes Fauchen über den Platz schallen. Er richtete sich auf dem schmalen Geländer auf und funkelte Tyson mit glühenden Augen an. Dann schoss ein grüner Blitz aus heiterem Himmel hinab und prallte nur einpaar Meter von ihnen entfernt auf den Boden. Augenblicklich bebte die Erde und ein tiefer Spalt tat sich an der Stelle auf. Einpaar Gesteinsbrocken rieselten hinunter, während sich der Riss, wie eine tiefe Schnittwunde, bis zu ihren Füßen ausweitete. Eine Warnung… „Hör sofort auf Driger!“, befahl Ray, doch sein Bit Beast fauchte ihm nur wütend entgegen. „Wage es nicht mir Befehle zu erteilen, du verwaister Streuner!“ Rays Augen wurden groß und die tiefe Kränkung darin unübersehbar. Sie alle wussten, dass er keine Eltern hatte, aber ausgerechnet von dem Wesen, dass ihn so viele Jahre begleitet hatte, solche Worte zu vernehmen, musste ihm wie ein Verrat vorkommen. Es überraschte sie nicht, dass sich seine Augen schließlich zu katzenhaften Schlitzen formten und er seinem alten Kameraden mit genau derselben Feindseligkeit taxierte. „Shhh…“, machte Dranzer ruhig. Das Bit Beast beugte sich zu Driger und fuhr ihm sanft über das weiße Stirnfell. „Du weißt wie Menschen sind. Sie haben immer Fragen. Finden sie keine Antworten werden sie schnell verbittert.“ Es richtete sich langsam wieder auf, stand auf dem Geländer wie ein Trapezkünstler, ohne zu schwanken und sah auf die Gruppe hinab. „Glaubt es oder nicht, vor euch steht euer Freund.“ „Du. Bist. Nicht. Kai!“, rief Tyson aufgebracht und betonte dabei jedes Wort. Doch sein Gegenüber gab sich unbeeindruckt und hob den Zeigefinger. „Nur weil ich in seinem Körper stecke, heißt dass nicht, das er zwangsläufig nicht ich ist.“ „Du steckst in seinem Körper?“, fragte Max irritiert. Ein langsames Nicken folgte. „Mein Mensch hat mich Jahre lang in einem Spielzeug gehalten. Warum nicht mal meinen Menschen zum Spielzeug machen?“ „Aber was ist dann mit ihm?“ „Sagen wir, er setzt von nun an aus.“ Dranzer legte eine Hand auf die Brust und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Er ist noch da. Ganz schwach, aber noch da. Ich werde seinen Körper verlassen, wenn ich es für richtig halte. Ich habe zu lange auf diesen Moment gewartet… Warum ihn nicht genießen? Es ist die perfekte Lösung um Kai an mich zu binden. Auf diesem Weg kann er mir niemals mehr entkommen. Er ist voll und ganz auf meine Gnade angewiesen. Und ich habe noch so einiges mit meiner neuen Hülle vor. Wartet nur, wenn ich das nächste Mal in die Menschenwelt komme…“ Das Bit Beast starrte auf seine Finger hinab die vor freudiger Erregung zitterten, ein geradezu wahnsinniger Ausdruck trat auf Dranzers Gesicht. „Dann wird Kai mit seinen eigenen Händen seine Schwester erwürgen. Ich werde so fest zupacken, dass ihr blasser Nacken unter meinem Griff bricht. Es wird sich so gut anfühlen…“ „Das kann nicht dein Ernst sein!“, rief Max. „Jana ist das Wichtigste für Kai.“ Abfällige Augen trafen ihn. „So wie ich einst das Wichtigste für ihn war. Dass Kais Treue nichts wert ist, habe ich bereits zweimal am eigenen Leib erfahren. Erst Black Dranzer und nun dieses Balg? Weshalb Black Dranzer ihn in Versuchung geführt hat, kann ich noch nachvollziehen. Kai war jung und ehrgeizig. Er wusste noch nicht was er an mir hatte. Dieses Bit Beast schien mir überlegen… Doch insgeheim spürte ich damals, dass er wieder zu mir zurückfinden würde. Die Sehnsucht zwischen uns war so groß, ich hätte sie mit den Händen greifen können. Aber nun lässt er mich erneut zurück - für dieses Mädchen! Es ist so demütigend. Ich wurde erneut verraten, aber dieses Mal nicht für ein Bit Beast, welches mir überlegen scheint, sondern für ein Menschenkind, dass in seiner Unvollkommenheit nicht zu übertreffen ist. Dieses Balg ist ihm keine Hilfe - es ist ein Klotz!“ „Das ist grausam.“, sagte Ray trocken. „Aber die Wahrheit. Ich habe Kai beobachtet… seine ständigen Arztbesuche, dieses sorgenvolle Gesicht das sie ihm beschert und ihre schrecklichen Launen die er über sich ergehen lässt. Weshalb tut er sich freiwillig dieses Sorgenbündel an, wo er doch mich haben kann? Warum tauscht er einen Segen gegen einen Fluch?“ „Das ist Geschwisterliebe.“, entgegnete Ray anklagend. „Jana ist Kais Familie. Was wäre er für ein Bruder wenn er seine Schwester verleugnet, nur wegen ihrer Krankheit? Wärst du wirklich so besorgt um ihn, würdest du seine Handlung verstehen.“ Fast schon schnippisch wandte das Bit Beast ihm den Rücken zu und antwortete gelangweilt: „Was schert mich ihre Krankheit? Das Kind ist mir gleichgültig. Es ist die Demütigung die ich nicht dulden kann. Ich habe Mittel und Wege um Kai an mich zu ketten, ob er will oder nicht.“ Eine weitere Seite Dranzers kam zum Vorschein – das Bit Beast war eitel und nachtragend. Wieder begann es spielerisch auf dem Geländer zu balancieren und plötzlich wurde der Gruppe bewusst, welche Folgen es für Kai haben könnte, wenn Dranzer mit seinem Körper einen falschen Schritt tat. „Wann wirst du Kai verlassen?“, fragte Tyson, dem bei dem Anblick ein dicker Kloß im Hals anschwoll. „Wie ich bereits sagte – wenn und wann immer mir danach ist.“ „Und darf man fragen wie es weitergeht, wenn du Kais Körper endlich verlässt?“, presste Tyson wütend zwischen den Zähnen hervor. „Er bleibt hier.“, sagte Dranzer heiter, als hätte Tyson gefragt, wo die Sonne aufging. „Wo auch sonst? Hier wird es ihm soviel besser ergehen…“ „Das ist doch kein Vergleich zu unserer Welt!“, fuhr Max dazwischen. „Hier sind keine Menschen. Hier ist alles grau und neblig. Wir können hier nicht bleiben!“ „Es wird nicht mehr lange so bleiben. Keine Angst kleiner Mensch, jetzt wo die Hyänenmutter tot ist, wird der Nebel auch bald verschwinden. Seht doch was ihr in der kurzen Zeit mit diesem Ort gemacht habt.“ Die Brücke am Kanda Fluss zeichnete sich von der restlichen Umgebung wie eine farbenfrohe Oase ab. Über ihnen zogen sich weiße Wolken über den azurfarbenen Himmel. Ein Schwarm Enten landete auf der schillernden Wasseroberfläche, während der Leitvogel seinen Schnabel ins Wasser tauchte. Es war ein so alltäglicher Anblick, als wäre Tyson wieder ein Kind und würde auf seinem morgendlichen Schulweg die lange Brücke passieren. Hatte die Hyänenmutter sie zu Recht beschuldigt, diesem Ort den Nebel genommen zu haben? „Wir waren das also?“, fragte Tyson. Ein Nicken folgte. „Wie?“ Dranzer legte einen Finger auf den Mund und zwinkerte ihm zu: „Geheimnis.“ „Ist mir auch egal. Schluss mit dem Spielchen, ich will nachhause!“, warf Ray ein. „Hörst du das Driger? Dein Menschenkind verzichtet auf unsere Gastfreundschaft.“ „Weil er keinen Anstand besitzt. Das macht eine elternlose Kindheit aus. Sonst wüsste er in wessen Schuld er steht.“ Geradezu feindselig blickten sich Ray und Driger an. Ihre Blicke bohrten sich ineinander. Dranzer gab ein leises Kichern von sich und sagte nur: „Oh weh, welch Unmut liegt in der Luft. Könnt ihr es auch spüren? Aber um auf eure Befürchtungen zurückzukommen… Sie sind unbegründet. Ihr werdet es hier gut haben. Denkt nicht wir wollten euch etwas Böses. Letztendlich ist es nämlich nur unsere Sympathie und Sorge, die euch zu unseren Gästen macht.“ Mit einem fast schon aufmunternden Lächeln kniete sich Dranzer hinab. Der Blick fixierte besonders Tyson. „Da nun unser Standpunkt geklärt ist, darf ich dir eine Frage stellen, Takao?“ Angesprochener ließ skeptisch eine Braue in die Höhe fahren. Er verschränkte die Arme vor der Brust und gab ein zustimmendes Brummen als Antwort. „Du hast dich immer sehr um meinen kleinen Kai gesorgt. Warum?“ Tyson stutzte. Aus den Augenwinkeln fiel ihm auf das seine Freunde ihn beobachteten, was ihn zum Stottern brachte: „Na… W- Warum wohl?! Er ist einer meiner besten Freunde.“ „Und du willst doch dass es deinem Freund gut geht, nicht wahr?“ Etwas unsicher nickte er, nicht ganz sicher wohin dieser Themenwechsel führte. Wünschte man sich nicht für jeden Menschen, den man mochte, dass es ihm gut ging? Tyson könnte niemals ruhig schlafen, wenn er wüsste, dass einer seiner Freunde sich mit furchtbaren Problemen quälte. „Weißt du, wir sind uns eigentlich recht ähnlich.“ „Von wegen!“, schnaubte Tyson. „Mein kleiner Junge, bist du noch immer böse wegen der Geschichte im Krankenhaus? Vergiss für einen Moment deinen verletzten Stolz und denk nach, Takao.“, sprach Dranzer eindringlich, aber auch irgendwie warmherzig. Es war seltsam, aber Tyson fiel auf wie sanft Kai klingen konnte, wenn Dranzer mit seiner Stimme nur den richtigen Tonfall einschlug. „Unser Ziel ist dasselbe. Wir wollen beide, dass den Menschen, an denen uns etwas liegt, eine Last genommen wird. Das sie unbeschwerter ihr Leben genießen können.“ Die rubinroten Augen sahen ihn gutmütig an. Trotz der Entfernung hatte er das Gefühl direkt vor ihnen zu stehen. „Kai gefällt es hier sehr gut. Sein Kopf sagt zwar etwas anderes, doch ich spüre sein Herz. Es flüstert zu mir und heißt unser Vorhaben gut. Warum wollt ihr nicht auch gefallen an dieser Welt finden? Es wird euch an nichts fehlen. Wisst ihr nicht welche Chance sich euch hier bietet? Ewiges Leben und ewige Jugend! Ihr werdet nicht altern. Ihr werdet nicht sterben. Ihr werdet nicht zerfallen wie der Rest der Menschheit.“ Die Worte drangen an sein Ohr und ließen ihn in nachdenkliches Schweigen verfallen. Er wusste dass er Einwände einbringen sollte, doch sein Kontra wollte sich nicht von der Zunge lösen. Sollten Ray und Max sich doch dazu äußern… „Ihr könnt frei sein von jeglichen irdischen Gesetzen. Kai wünscht sich das auch, er weiß es nur noch nicht. Du kennst ihn, er ist ein Kopfmensch. Nicht so wie du. Er kann sich nicht frei entfalten und ausgelassen sein. Er weiß nicht wie man auf sein Herz hört. Es würde ihm viel besser tun, seinen Sehnsüchten nachzugeben. Ich will auch nur das Beste für ihn. Es bereitet mir Kummer ihn so zusehen. Wenn Kai erst einmal seine tiefsten Wünsche zulässt, wird er schon bald aufleben. Hilf mir dabei. Rette deinen Freund!“ Kai war wirklich zu ernst. Tyson wollte ihn schon immer aus der Reserve locken. Was hatte er nicht alles für ein Lächeln, Grinsen oder auch nur das winzigste Schmunzeln getan. Meistens erfolglos… „Die anderen beiden werden uns auch bald folgen. Max wird sogar mit seiner Mutter vereint sein. Wir können dafür sorgen. Kannst du dir sein glückliches Gesicht vorstellen, wenn er sie wieder in die Arme schließt? Siehst du es?“ Er konnte es sehen. Dieses strahlende Gesicht und der freundliche Übermut in Maxs Augen. „Und denk doch an Ray? Er muss nicht mehr seiner gescheiterten Ehe hinterher trauen, sondern wird wieder so ausgeglichen und heiter wie früher sein.“ Das war doch auch nichts Schlimmes… Ray würde seine Verbitterung ablegen. Max Judy wiedersehen. Und Kai endlich lernen zu Lachen! Sein Kopf sagte ihm, dass es falsch war, so zu fühlen, doch Dranzer schien ihm aus der Seele zu sprechen, als wäre sein Herz ein offenes Buch aus dem es jedes seiner Wünsche las. In seinem Geiste malte er sich das Szenario aus. Ray würde bestimmt erst sorgfältig über seinen Vorschlag nachdenken, aber letztendlich zustimmen. Er wäre nicht mehr in China und Max nicht mehr am anderen Ende der Welt. Es wäre wie in ihrer Kindheit. Und Kai… der war doch immer bockig! Selbst wenn es zu seinem Besten war. Dranzer hatte den Nagel auf den Kopf getroffen – der Junge war ein Kopfmensch. Es täte ihm fiel besser sich von Tyson führen zulassen. Kai brauchte bloß Zeit um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Er hatte schließlich auch Jahre gebraucht, um sich an seine Freunde zu gewöhnen. Tyson wusste wie sehr Kai sich an seine Prinzipien und Regeln klammerte, doch er würde den Griff lockern und ihn schließlich vorsichtig auf den richtigen Pfad leiten - bis Kai ihm freiwillig folgte. „Hilf deinen Freunden Takao. Manchmal muss man Menschen zu ihrem Glück zwingen. Du kannst sie auf den richtigen Weg bringen. Du warst und bist ein wahrer Anführer.“ „Aber wie? Was kann ich tun?“ „Vertraue uns. Glaube uns. Liebe uns.“ Tyson nickte von ganzem Herzen. Es fiel ihm so leicht. Er hatte Dragoon schon einmal geradezu vergöttert, jetzt würde er eben alle vier Uralten anbeten. „Beweise es uns.“ „Wie? Sag es mir, oh bitte!“ „Trenn dich von diesem nutzlosen Buch. Es ist nicht gut daran festzuklammern. Du wirst dich vollkommen befreit fühlen.“ Tyson schob das Notizbuch langsam hinter seinem Rücken hervor, zögerte dann aber einen Moment, als er an all ihre Erinnerungen dachte. Wären die nicht weg? Verloren… „Vertraue uns. Glaube uns. Liebe uns.“ Ja natürlich, er durfte sich von solchen Gedanken nicht abbringen lassen. Er musste einen Beweis erbringen. Wie sollte er es anstellen? Keine der Erinnerung durfte übrig bleiben. Das Notizbuch musste weg. Es ekelte ihn an es in den Händen zu halten. „Der Fluss… Wirf es hinein!“ Warum hatte er nicht eher daran gedacht? Wie von selbst führten ihn zwei kleine Schritte ans Ufer. Vor ihm verschwamm die Sicht auf seine Freunde. Ihm den Rücken zugewandt, schien Ray mit irgendjemandem zu diskutieren und auch Max schenkte ihm keine Beachtung. Auf ihren Gesichtern lag zorniger Trotz und ihre Münder öffneten sich abwechselnd – doch Tyson konnte kein Wort vernehmen. Ihm war als würde ein Stummfilm vor ihm ablaufen. Nur Dranzers Stimme schallte durch seinen Kopf… „Vertraue uns. Glaube uns. Liebe uns.“ Tyson streckte den Arm aus, ließ das Buch über die Fluten des Kanda baumeln. Er hörte das Rauschen des Flusses. Es verhieß Erlösung und ewiges Glück. „Vertraue uns. Glaube uns. Liebe uns.“ Er ließ los… PLATSCH Zufrieden vernahm er das Geräusch, als der Notizblock auf die Oberfläche klatschte und stellte fest, dass er sich tatsächlich befreit fühlte. All die Sorgen die in der Menschenwelt auf sie warteten, trieben jetzt in den Wogen des Kandas davon. Die verräterischen Seiten wurden von Wasser aufgesogen und unleserlich. Sie stellten keine Gefahr mehr da. Ein seliges Lächeln trat auf sein Gesicht. Er hatte wirklich Grund zur Freude… „Tyson! Nein!“ Jemand rüttelte ihn an den Schulten und das löste einen heftigen Schwindelanfall in ihm aus. Er schwankte hin und her, spürte wie einpaar Arme an ihm zogen und zerrten. Sie versuchten ihn gerade zu halten, doch es half nichts... Die Welt begann sich um ihn zu drehen, wie ein Strudel und er löste sich in ihren Sog auf. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es ihm gleich war. Und bevor er die Augen schloss und sich einfach allem hingab, vernahm er das leise Lachen von Dranzer, dass ihm etwas zuflüsterte: „Du ahnst nicht wie sehr du mir geholfen hast, Takao.“ * Inspektor Kato war zufrieden mit sich. Zuerst die Befragung der Nachbarn, das Gespräch mit Hitoshi Kinomiya und die Unterhaltung mit dem Anwalt von Mr. Kinomiya Senior, hatte er alles an einem Vormittag erledigt. Eine Reife Leistung, für die er sich aber nur eine Nudelsuppe, in seinem kleinen klapprigen Mitsubishi Lancer gönnen konnte. Das Leben war manchmal schon ungerecht… Doch er konnte dafür den Durchsuchungsbefehl für das Kinomiya Anwesen beantragen. Jetzt in diesem Moment, lag sein Diensthandy auf dem Armaturenbrett und erwartete sehnsüchtig eine Nachricht vom Präsidium, während der Inspektor den bisherigen Tag Revue passieren ließ. Das Gespräch mit dem Anwalt hatte viel Licht ins Dunkel gebracht. Er war für die Verwaltung des Testaments zuständig und auch ein langjähriger Freund des alten Mannes. Als der Inspektor von ihm erfahren hatte, dass Mr. Kinomiya sein gesamtes Vermögen, nach seinem Tod, seinem jüngsten Enkel hinterlassen wollte, war ein siegessicheres Lächeln über seine Lippen gehuscht. Nun war die Sache klar. Laut dem Anwalt wusste Takao Kinomiya zwar nichts von dem Testament, doch sein Großvater konnte ihm auch am Tattag davon erzählt haben. Theoretisch wäre auch Hitoshi Kinomiya und dessen Vater verdächtig, doch der hatte seit Monaten nicht mehr mit seinem Großvater gesprochen und Letzterer war im Ausland mit Ausgrabungen beschäftigt. Allerdings hätte sie der Mord an dem alten Mann nicht reicher gemacht. Das Testament stand bereits fest. Zudem war Takao seit Stunden spurlos verschwunden. Das sprach gegen ihn. Das und die Tatsache, dass er zum Tatzeitpunkt im Haus war. Wenn der Inspektor ehrlich war, er war schon selber von dessen Schuld überzeugt. Es gab zu viele Ungereimtheiten. Mittlerweile schlich sich auch der Gedanke in seinen Kopf, ob Takaos Freunde auch in die Sache verwickelt waren. Vor allem ob der Fall auch in Verbindung mit dem Brand im Hiwatari Anwesens stand. Das Wieso und Warum, würde sich bald zeigen… Gerade als er seinen becherförmigen Teller anhob und die übrige Suppe austrank, machte sich sein Handy bemerkbar. Hastig schluckte er den letzten Happen hinunter und nahm ab. „Kato“ „Inspektor, ihr Antrag wurde gestatten. Sie können ihren Durchsuchungsbefehl abholen.“ * Während seiner Bewusstlosigkeit jagte Tyson ein Wirrwarr aus Bildern durch den Kopf. Da war das kleine Notizbuch, es öffnete sich und die Wortfetzen darin sprudelten hinaus und trieben auf den Wellen des Kanda Flusses davon. Unter den vielen schwimmenden Wörtern erkannte er Max, der bewusstlos im Wasser trieb und von der Strömung mitgerissen wurde. Eine riesige Schildkröte erhob sich am Ende des Flusses, die er sofort als Draciel erkannte. Sie öffnete ihr Maul und verschluckte seinen Freund und Tyson konnte nichts weiter als entsetzt dabei zuzusehen. An Land stand Ray seinem Bit Beast gegenüber. Der stolze Tiger erhob sich vor ihm, wuchs zu einer unglaublichen Größe heran und ein lautes Fauchen entrang sich seiner Kehle. Es stampfte mit seinem Fuß auf den Boden und wie auf sein Kommando, tat sich die Erde unter Tyson und Ray auf und beide fielen in ein tiefes schwarzes Loch. Mit aller Macht versuchte Tyson seinen Freund, während dem Fall, zu fassen zu kriegen, doch als er seine Hand packte, löste er sich auf und seine Überreste wehten als Blätter im Wind davon. Tyson stürzte ins Innere der Erde. Gerade noch rechtzeitig bekam er eine riesige Baumwurzel zu fassen. Als er daran hinaufkletterte, thronte auf einer der vielen Verzweigungen Kai. Die roten Augen starrten ihn an, waren aber leer und ein lebloses Lächeln erschien auf dem blassen Gesicht. Er tat einpaar Schritte auf ihn zu, berührte leicht seine Hand, doch sie war eiskalt und mit einem weiteren Wimpernschlag, hatte sich Kai in eine Marionette verwandelt. Dann schoss eine Stichflamme auf, nahm ihm die Sicht und Kai verbrannte vor seinen entsetzten Augen – während sein Ruf zu ihm drang. Tyson schrie seinen Schmerz hinaus. Von irgendwo erschallte das Lachen Dranzers. Er wollte seinem Freund zu Hilfe eilen, doch desto schneller er rannte, desto weiter entfernte er sich von ihm, bis er an der großen Wurzel abrutschte und weiter ins Erdinnere fiel. Er hatte glühende Lava erwartet, doch als er im freien Fall hinuntersah, lag da in völlige Finsternis umhüllt, ein riesiger Drache. Die bläulich schimmernden Schuppen blitzten zu ihm hinauf. Der schlangenförmigen Körper lag zusammengerollt unter ihm, bis das Tier sein Haupt hob und ihm die Schnauze entgegen reckte. Tyson drohte hinein zustürzen. Er sah die spitzen Reißzähne auf sich zukommen. Dann schnappten sie zu… Und Tyson erwachte. Sein Atem ging schnell, während sich sein Brustkorb, wie nach einem Marathonlauf, eilig hob und senkte. Es knisterte neben ihm und die Stimmen seiner Freunde schallten leise zu ihm herüber. Als Tyson den Kopf langsam in ihre Richtung wandte und aus müden Augen zu der Stelle blickte, saßen beide an einem kleinen Lagerfeuer und brieten etwas in den Flammen das köstlich duftete. Sie hatten es geschafft etwas Essbares aufzutreiben und ließen einpaar Fleischstückchen an Spießen, wie Marshmallows, brutzeln. Ein weiterer träger Blick nach oben genügte und Tyson erkannte, dass sich die Gruppe immer noch unter der Brücke befand. „Er war nicht er selbst.“, hörte er Rays Flüstern. „Irgendetwas hat nicht mit ihm gestimmt…“ „Meinst du?“ Ein Nicken folgte. „Er sah so bleich aus… Was hat er eigentlich gesagt bevor er es weggeworfen hat?“ Unwissend zuckte Ray mit den Schultern. Tyson bemerkte das seine Wunde wieder verschwunden war. Nur noch eine dunkelrote Stelle auf seinem Hemd, erinnerte an den Angriff der Hyäne. „Ich habe nur mitbekommen wie er etwas vor sich hergemurmelt hat. Dann ist etwas im Wasser gelandet.“ Ray nahm einen der Spieße aus dem Feuer um zu sehen ob das Fleisch durch war. Nebenbei erzählte er weiter. „Als ich hingeschaut habe stand Tyson da und hat Löcher in die Luft gegafft… mit diesem komischen Blick.“ Eine kurze Denkpause kam auf. Dann fragte Max vorsichtig: „Glaubst du er war… besessen? So wie Kai?“ „Keine Ahnung. Ich hoffe aber nicht.“ Ray seufzte und ließ deprimiert den Kopf hängen. „Schlimm genug dass Kai wieder verschwunden ist. Wenn Tyson jetzt auch…“ „Kai ist weg?“ Zwei sorgenvolle Blicke wanderten zu Tyson, der sich langsam versuchte aufzuraffen. Doch das Vorhaben scheiterte kläglich und er plumpste wieder zurück auf seine Liegefläche. Inzwischen krabbelte Max auf allen Vieren näher an ihn heran und setzte sich schließlich vor ihm in die Hocke. „Wie fühlst du dich?“ Tyson wollte antworten, doch aus seinem trockenen Mund entwich nur ein Krächzen. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich total Scheiße. Sein Körper war schwer und ausgelaugt, das Hirn durcheinander gewühlt, als hätte man ihm die Schädeldecke abgeschraubt und ordentlich mit einem Mixer im Kopf gerührt. Ray kam mit einer kleinen Wasserflasche dazu. „Hilf mir mal. Er muss sich aufsetzten.“, wies er Max an. Gemeinsam hievten seine Freunde ihn vorsichtig in eine sitzende Lage und lehnten Tyson an die Brückenmauer. Zwar schwankte er etwas, kippte aber nicht seitwärts und als er mit zitternden Händen die Flasche entgegennahm und die ersten Schlücke seine Kehle befeuchteten, war das für ihn wie ein göttliches Geschenk. Schließlich konnte er nicht genug bekommen und trank sie gierig leer, obwohl die Kohlensäure bereits im Hals schmerzte. „Langsam, wir sind hier nicht beim Marathonsaufen“, lachte Max, als er sich letztendlich doch verschluckte. Unter mehreren Hustern brachte Tyson schließlich seine Frage hervor: „Was ist passiert?“ „Das weißt du nicht?“ Auf Rays Frage schüttelte er verneinend den Kopf, der wie leergefegt war - ein Vakuum. Sein Freund sah ihn nachdenklich an, bis er meinte: „Du bist einfach umgekippt. Davor hast du unser Buch in den Fluss geworfen.“ „Warum?“ „Das wüsste ich auch gerne… Was ist das Letzte woran du dich erinnerst?“ Tyson kratzte sich am Kinn und ließ die kleinen Zahnräder in seinem Schädel auf Hochtouren arbeiten. Er sah Kai auf dem Geländer der Brücke stehen. Nein, nicht Kai. Dranzer! Das verdammte Bit Beast hatte sich ja in dessen Körper eingenistet. Sie unterhielten sich und Dranzer hatte ihm eine Frage gestellt: „Und du willst doch dass es deinem Freund gut geht, nicht wahr?“ Er konnte sich an diesen Satz erinnern. Danach sah er nur noch ein rötliches Augenpaar, welches ihn in seinen Bann zog. Was hatte er gesagt? Was hatte er gedacht? Wie hatte er sich verhalten? Die Antwort blieb ihm verwehrt. Außerdem jagte ihm die Erinnerung an Dranzers Stimme einen kalten Schauer über den Rücken. Kai sprach nicht so. Es war zwar seine Stimme gewesen, doch es lag eine ganz andere Tonlage darin. Komplett gegensätzliche Wesenszüge spiegelten sich in ihr… Hinterlist, Spott, Niedertracht und vor allem eine gehörige Portion an Heuchelei. Kai war kaltschnäuzig, aber so ehrlich das es weh tat! Lügner waren ihm schon immer zuwider und Intrigen spinnen nicht seine Art. Einpaar Erinnerungsfetzen drangen in sein Bewusstsein zurück. „Ich weiß dass Dranzer mit mir gesprochen hat“, antwortete Tyson nachdenklich. „Es hat die ganze Zeit über mit mir geredet. Ich glaube es hat mir vorgeschlagen, dass Buch ins Wasser zuwerfen…“ Ray und Max warfen sich vielsagende Blicke zu. „Dranzer hat dir eine Frage gestellt aber nach deiner Antwort ist nichts mehr gekommen.“, meinte Letzterer vorsichtig. „Ihr habt beide keinen Ton mehr von euch gegeben.“ Tyson lehnte zuvor träge an der Wand, doch dieser Satz ließ ihn kerzengerade aufsitzen. „Nein! Ich weiß noch wie Dranzer mit mir gesprochen hat! Es hat gesagt ich soll das Buch wegwerfen! Warum sollte ich das sonst tun?“ Eine böse Vorahnung keimte in ihm auf. „Ihr glaubt doch nicht dass ich das absichtlich getan habe? Ich würde euch niemals so in den Rück-…“ „Schon gut. Beruhige dich.“, sprach Ray sanft auf ihn ein. „Wir glauben dir ja. Weißt du, wenn ich so darüber nachdenke, hätte uns vorher auffallen müssen, dass Dranzer und du so wortkarg geworden seid.“ Erleichtert atmete Tyson aus. Das sein Freund ihm glaubte ließ ihn ruhiger werden. „Ich suche uns ein neues Notizbuch.“, versprach er schuldbewusst. „Ich habe uns diese Sache eingebrockt, da sollte ich sie auch wieder ausbaden. Außerdem sind wir hier in Tokio! Schreibwarengeschäfte gibt es hier zu Dutzenden.“ „Deine Mühe in allen Ehren aber das wird nicht mehr funktionieren.“, ließ Ray seine Träume zerplatzen. „W- Was? Wieso?“ Wieder sahen seine Freunde sich an und gleichzeitig entwich ihnen ein deprimierter Seufzer. „Verdammt! Lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen!“ „Naja“, druckste Max schließlich herum. „Da gibt es eventuell ein klitzekleines Problem...“ Dabei war klein noch untertrieben… Was Tyson nämlich nicht ahnte war, dass Ray und Max nicht untätig Däumchen gedreht hatten, während er in seiner Bewusstlosigkeit schlummerte. Nachdem ihre Bit Beasts verschwunden waren und ihr Freund auf einer halbwegs bequemen Liegefläche ruhen konnte, wollte Max nicht länger warten und auf der Stelle ein neues Notizbuch suchen. Ray hatte ihn in der Zwischenzeit mehrmals daran erinnern müssen, dass Draciel nun sein Feind war und beim dritten Mal, wurde es dem jungen Amerikaner zu dumm. Obwohl Ray darauf beharrte zu warten, bis Tyson wach war, damit Max nicht alleine in dieser gefährlichen Welt umherzog, wurden seine Einwände völlig ignoriert. So musste er zähneknirschend mit ansehen, wie sein Freund den Hang am Fluss hinaufstapfte und aus seiner Sichtweite entschwand, während Ray auf den bewusstlosen Tyson aufpasste. Max musste sich eingestehen, dass er doch etwas Bammel vor seinem Vorhaben hatte, doch als er in der Innenstadt vorsichtig aus einer Seitengasse heraus, um die Ecke spähte und seinen Blick in die Einkaufspassage Tokios wandern ließ, bekam er eine Kiefernstarre. Da wimmelte es plötzlich von hunderten Menschen – alle ohne Gesichter. Alte Gesichtlose, junge Gesichtlose, dicke, dünne… Es gab junge Mädchen in Schuluniformen. Hausfrauen die kleine störrische Kinder hinter sich her zerrten. Hektisch voranschreitende Geschäftsmänner, die seltsamerweise telefonierten… Wie ging das ohne Mund? Als Max etwas unsicher den ersten Schritt in die Einkaufspassage wagte, schien sich niemand an ihm zu stören. Nur eine Gruppe Schulmädchen kreuzte seinen Weg und hielt sich kichernd die Hand an die Stelle, an der im Normalfall der Mund gewesen wäre. Was ihn verwunderte war, dass er sogar einpaar Laute vernahm und als er mit zuckender Augenbraue an der Gruppe vorbeilief, hätte er schwören können, dass eines der Mädchen flüsterte: „Nein, ist der süß! Kawai!“ Im Großen und Ganzen also wie jeder Spaziergang durch Tokio… Max musste verlegen grinsen, obwohl er nicht wusste, was er davon halten sollte. Etwas später kam er an dem Laden vorbei, an dem die Gruppe das erste Mal ihr Notizbuch gekauft hatte. Doch der Schreck ließ nicht lange auf sich warten. Am Schaufenster hing ein Schild, welches in bunten Lettern verkündete: „Schreibwaren ausverkauft!“ Wie um ihn zu verhöhnen, war dahinter ein fröhlicher Smilie abgebildet, der ihm die Zunge entgegenstreckte. Als er in den Laden stürmte und den gesichtlosen Verkäufer aufgebracht fragte, was der Aushang zu bedeuten hatte, zauberte dieser nur ein Schild hervor. „Sorry. Lieferverzug.“ „Aber ich brauche doch nur einen Block! Einen verdammten Block! Wie kann man so etwas nicht vorrätig haben! Ist mir auch egal wie das Teil aussieht und wenn es von Hello Kitty ist!“ Wieder ein Schild. „Mach keine Panik Kumpel. Passiert eben mal.“ „Wir brauchen diesen Block um nicht unsere Erinnerungen zu verlieren! Das ist Lebenswichtig! Sonst vergesse wir, dass wir eigentlich schon über zwanzig sind!“ Ein neues Schild. „Siehst aber nicht wie zwanzig aus.“ „Das weiß ich selber!“, dieser Typ brachte Max zur Weißglut. „Brauchst du nicht was anderes?“, lautete die Frage auf dem nächsten Schild. „Was denn sonst?“ Dann die Antwort: „Weiß nicht. Einen Therapeut? Alkohol darf ich dir ja nicht ausschenken.“ „Verarschen sie mich nicht! Ich sage die Wahrheit. Wir stehen unter irgendeinem verdammten Zauber, der mich und meine Freunde immer jünger werden lässt!“ Auf dem nächsten Schild: „Wie beim seltsamen Fall von Benjamin Button?“ „Wenn man es so dumm ausdrücken will… JA!“ Dann… „Wow. Sachen gibt’s.“ „Damn it!“ Max konnte nur fluchend aus dem Laden rennen. Auch wenn dieser Gesichtlose keine Mimik zeigen konnte, war ihm als würde er ihn belustigt angrinsen. Beim nächsten Geschäft dasselbe Spiel. Überall ein Aushang am Schaufenster und alle mit der ähnlichen Aufschrift: „Schreibwaren ausverkauft“ „Lieferverzug bei Schreibwaren“ „Schreibwaren nicht länger erhältlich“ Als er eine Dreiviertelstunde herumgeirrt war, wurde ihm schließlich klar was los war - Ihre Bit Beast bestimmten den Markt. Sie wollten ihnen keine Gelegenheit geben, ihre Erinnerung durch irgendeinen Trick niederzuschreiben. Alles womit man sich Notizen machen konnte, war aus den Läden verschwunden. Notebooks, Blöcke, Handys, Kalender, Tagebücher, Stifte… Sogar Klopapier! Die Bit Beast Welt war eine zentrale Planwirtschaft! Für Max als gebürtiger Amerikaner der Horror schlechthin. Er stand kurz davor sich mitten auf die Straße zu stellen, die Haare zu raufen und dabei ein langgezogenes „NEIN!!!“ zu brüllen. „Und was hast du stattdessen getan?“, fragte Tyson ihn ungläubig. „Ich bin in den nächsten Supermarkt gestürmt und habe mir den Bauch mit Süßigkeiten vollgestopft. Das alles hat mich total gefrustet, weißt du…“ „Oh“, entgegnete Tyson verständnisvoll, der wusste das Max ein Frustesser war. Jetzt ahnte er auch, woher das ganze Essen herkam. Deprimiert lehnte er sich an die Wand und ging Maxs Erzählung noch mal im Kopf durch. Was sollten sie denn jetzt machen? Sie durften unter keinen Umständen vergessen wer sie waren! Warum hatte er bloß dieses Notizbuch weggeworfen?! Innerlich verfluchte er Dranzer. Kaum zu fassen das dieses hinterlistige Bit Beast einem seiner besten Freunde gehörte. „Habt ihr wirklich nicht mitbekommen was Dranzer zu mir gesagt hat?“, kam die Frage. „Wir müssen ungefähr zehn Minuten miteinander gesprochen haben?“ Ein verneinendes Kopfschütteln ging durch die Runde. „Driger hat danach das Wort an sich gerissen.“, erzählte Max. Neben ihm zog Ray seine Brauen tief ins Gesicht und seine Miene verfinsterte sich. „Er hat uns vorgeworfen, wir seien ein undankbares Volk, das ohne ihre Bit Beasts nichts wert wäre.“ „Nein!“, fuhr Ray dazwischen. „Er hat damit ganz speziell mich gemeint. Du hast gehört was er gesagt hat Max. Allein diesen Blick den er mir zugeworfen hat…“ „Das kann man auch anders verstehen.“ „Ich weiß wie es gemeint war.“ Tyson verstand nur Bahnhof. Er saß zwischen den beiden Jugendlichen, die dabei waren, in eine unnötige Diskussion abzudriften. „Was hat er denn gesagt?“ Ray biss sich wütend auf die Unterlippe. Langsam erhob er sich und fauchte: „Driger hat gesagt, Menschen sind wie Untertanen, denen man zuviel Freiraum lässt. Sie werden schnell übermütig, vergessen wem sie Loyalität und Gehorsam entgegenbringen sollten.“ Ein freudloses Lachen kam aus seinem Mund. Ihm schien nach diesen Worten klar geworden zu sein, wie tyrannisch sein Bit Beast dachte. Ein tyrannisches Bit Beast… Bis vor kurzem war dieser Gedanke unvorstellbar für Tyson. Zu seiner Kinderzeit kamen ihm diese Wesen wie treue Schutzengel in Tiergestalt vor. Doch sie schienen soviel fassettenreicher zu sein. Sie konnten stolz, heimtückisch oder sogar Seelenfresser sein. „Ich dachte immer Driger würde mich als Freund sehen. Aber für ihn bin ich ein ungezogener Bengel…“ „Das hat er nicht gesagt…“ „Nimmst du ihn in Schutz?!“, blaffte Ray Max an. „Natürlich nicht! Warum sollte ich? Unsere Bit Beast sind Schuld dass wir hier in dieser Welt festsitzen, “ der Tod seiner Mutter war schon wieder vergessen. „Aber du hast dich provozieren lassen. Dass er sich aus deinem Leben raushalten soll, hättest du ihm nicht sagen müssen! Wir haben keine Ahnung wie wir nachhause kommen. Unsere Bit Beast bestimmen scheinbar jeden Winkel hier. Der einzige Strohhalm an den wir uns klammern können, ist sie soweit zu besänftigen, dass sie uns wieder gehen lassen.“ „Ich kusche nicht vor Driger!“, bekräftigte Ray standhaft. „Das sagt doch auch keiner. Ich bin aber sicher, wir können mit ihnen reden. Sie sind doch unsere Bit Beast. Sie wollen uns nichts Böses…“ „Max, deine Mutter ist wegen Draciel tot!“ „Ach Quatsch! Hör auf damit. Mit so etwas macht man keine Scherze. Draciel ist bloß etwas eingeschnappt, mehr nicht. Ich bin sicher es mag mich noch…“ „Deine Mum ist tot! Wenn du zurück nach Amerika gehst, wirst du einen tot unglücklichen Vater vorfinden!“ „Amerika? Was soll ich denn da? Dad hat seinen Laden in Tokyo… Man Ray, hast du dir den Kopf angeschlagen? Meine Mum ist quicklebendig!“ Tyson stöhnte gequält. Max Erinnerung wurde mit jeder Stunde die verging ausgemerzt. Er bewegte sich in seinem Denken immer weiter nach hinten. Wenn das so weiter ging, würde er sich bald für einen elfjährigen Knirps halten und nicht für einen Mann von ungefähr… Ja, von ungefähr was? Wie alt waren sie eigentlich? „Oh nein, “ sprach Tyson, als ihm bewusst wurde, dass er nicht einmal sein richtiges Alter mehr wusste, geschweige denn, wie er als erwachsener Mann aussah. Während Ray und Max sich wie kleine Kinder, die sie schon bald wieder sein würden, in den Haaren lagen, stemmte er sich von dem Brückenpfeiler ab und stand mit wackligen Knien auf. Er torkelte auf den Fluss zu und betrachtete im Wasser sein Spiegelbild und ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren starrte ihm entgegen. Sein Gesicht war wieder rundlicher und weicher. Seine Augen wirkten größer. In der unsinnigen Hoffnung es handle sich nur um eine knetartige Maske, packte er seine fülligen Wangen und zog an ihnen, solange bis sie rot anliefen. Natürlich ohne Erfolg… Igitt! Er war wieder in der Pubertät. Als ob einmal nicht genug gewesen wäre… Unreine Haut, Mädchen wurden nicht mehr als „Bäh“ und „Doof“ angesehen und wenn man ein Wort wie Penis oder Brüste in den Mund nahm, wurde gegluckst was das Zeug hielt. Jetzt musste er die ganze Scheiße noch mal durchmachen. Das war doch echt nicht fair! Er blickte zu seinen Freunden, die immer noch wild miteinander diskutierten. Keiner wollte einlenken und pochte auf sein Recht. Dabei hatten sie wirklich andere Probleme. „Hey Leute, hört sofort auf mit dem Mist!“, sprach er schließlich ein Machtwort. Augenblicklich verstummten alle Anwesenden und Tyson hielt sich peinlich berührt die Hand vor den Mund. Dann… „Oh nein! Wie geil ist dass denn?!“, lachten Max und Ray schallend auf. Sie begannen zu grölen und hielten sich prustend den Bauch, bis sie nicht mehr aufrecht stehen konnten und japsend zu Boden sanken. Tyson hätte beide am liebsten verprügelt. Es kribbelte ihm in den Fäusten. Was konnte er denn dafür, dass er mit dem Rückwärtsgang in den Stimmbruch donnerte?! * Mariah öffnete die Fenster um etwas frische Luft in ihr stickiges Hotelzimmer zu lassen. Dabei kaute sie nervös auf ihrer Unterlippe. Was ihr Galux berichtet hatte bereitete ihr Sorgen. Sie konnte keinen einzigen der Gruppe erreichen. Im Haus der Kinomiyas herrschte seit Stunden Funkstille und ihr Mann ging nicht ans Handy. Lediglich die Bandansage verkündete, dass der Gesprächspartner momentan nicht erreichbar war. Ihre Gedanken drehten sich einzig und allein um Ray. Sie wusste dass es egoistisch war, doch seine Freunde rutschten in den Hintergrund. Ihr Herz fühlte sich an als wolle es vor Angst zerspringen. Diese Ungewissheit, ob es ihm gut ging, nagte an ihrem Nervenkostüm und ihre Augen schwammen in den aufkommenden Tränen. „Au“, Mariah zog scharf die Luft ein, als das Ungeborene in ihrem Bauch, einen heftigen Tritt von sich gab. Es schien sagen zu wollen: Mama, reiß dich zusammen! Einpaar Atemzüge wurden in die Lunge aufgesogen um ihr Gemüt zu beruhigen, erst dann wischte Mariah die Tränen fort und wandte sich der Gruppe zu. Jana kämmte auf dem Bett einer kleinen Stoffkatze, die sie bei sich trug, das Fell. Weil sie gejammert hatte, da ihr Stofftier von der Fahrt total zerzaust war, gab ihr Mariah dafür eine ihrer Bürsten. So konnte sie sich selbst voll und ganz auf ihr Bit Beast fixieren, während der alte Mr. Kinomiya vollkommen irritiert da saß. Er konnte Galux nicht sehen. Für ihn musste es ein eigenartiges Bild sein, das die werdende Mutter mit etwas sprach, dass für ihn nicht gegenwärtig war. So konnte er nicht verstehen, was ihr so großen Kummer bereitete. „Warum kann er dich nicht sehen?“, sprach sie die Frage aus. „Warum Jana und ich?“ „Er sieht mich nicht weil ich mir keine Hülle gesucht habe…“ „Aber wir sehen dich auch ohne mein Beyblade.“ Galux schien zu Lächeln. Das Bit Beast senkte den Kopf und schloss die Augen. „Ihr seid etwas anderes.“ „Warum?“ Der lange Schweif von Galux wanderte zu Jana und strich ihr sanft über den Haarschopf. „Sieh sie dir an, Mao. Trotz ihrer Krankheit ist sie das glücklichste Kind auf Erden. Solche Kinder sind etwas Besonderes. Ihr Mund wird bis zum Ende ihrer Tage die Wahrheit sprechen. Deshalb sieht sie auch nur die Wahrheit…“ Jana summte im Gedanken versunken leise vor sich her, nahm am Gespräch nicht teil. „Es bedarf nicht viel um die Liebe eines solchen Menschen zu erhalten. Sie hat eine ehrliche und reine Seele. Das ist so kostbar heutzutage. Das große Laster der Menschen ist, dass sie ihren Kindern Werte vermitteln wollen, die sie selbst nicht einhalten. Und irgendwann vergiften sie ihre nächste Generation.“ Ein Seufzen kam von Galux. „Es ist traurig, doch in der heutigen Zeit, findest du kaum Menschenkinder die uns noch sehen. Vor einpaar Jahrzehnten war das noch anders…“ „Und ich?“, fragte Mariah beklommen. „Oh Galux, du glaubst doch nicht, dass ich noch ein unschuldiges Kind bin? Sieh mich an! Ich bin eine erwachsene Frau. Und gelogen habe ich schon dutzende Male. Für mich müsstest du noch unsichtbarer sein als für Mr. Kinomiya.“ „Ach Mao“, Galux schüttelte belustigt den Kopf. Es hüpfte vom Bett und tapste mit sanften Pfoten auf sie zu. „Rede nicht über dich als wärst du etwas Verwerfliches! Uns Bit Beast ist klar, dass Menschen nicht vollkommen sind. Und das verlangen wir auch nicht. So wie ihr, haben auch wir unsere Fehler. Die Kunst besteht darin seine Fehler zu erkennen. Wer die Demut besitzt, seine eigene Unvollkommenheit einzugestehen und sich einer neuen Welt zu öffnen, kann manchmal hinter die Fassaden blicken.“ Das Bit Beast schmiegte sich an ihr Bein. Es war seltsam, aber wenn Mariah es berühren wollte, glitt ihre Hand durch Galux hindurch. Umgekehrt klappte es aber bestens. Sie fühlte ein warmes Streicheln an ihrer Wade, fasst als hätte sie sie in warmes Wasser getaucht. „Das soll nicht heißen, dass der alte Mann ein schlechter Mensch ist. Es gehört aber noch etwas mehr dazu. Zum Beispiel sich seine kindlichen Erinnerungen zu erhalten. Manchmal wollen Bit Beasts aber auch einfach nicht gesehen werden, weil sie manche Menschen nicht mögen. Du siehst, wir sind fast wie ihr in unserem Verhalten.“ Das Bit Beast schielte zu Mr. Kinomiya, der sich kopfschüttelnd dem kleinen Fernseher im Schrank zuwandte und etwas vor sich her brabbelte, dass verdächtig nach, „Der Brummer sieht alles, aber ich krieg nichts mit. Ist doch Scheiße.“, klang. Er betätigte den Knopf am Gerät und einpaar Sekunden später, schallte die Stimme eines Nachrichtensprechers durch den Raum. Dann machte er es sich in einem kleinen Sessel davor bequem um die Wartezeit zu überbrücken und brummte: „Hoffentlich ist die bald fertig. Was ist hier bloß los? Saftladen…“ Mariah beobachtete schmunzelnd den alten Man, bis Galux mit einem kleinen Sprung auf die Fensterbank hüpfte. Sie lagen nun fast auf gleicher Augenhöhe. „Du hast mich nie vergessen, Mao. Ich weiß es. Wie oft habe ich dich über deine wundervolle Kindheit sprechen hören… So viele Male. Und jedes Mal, wenn deine Worte mich betrafen, haben deine Augen gestrahlt vor Glück. Ich kannte bisher keinen Menschen, der so stolz war, mich sein Bit Beast nennen zu dürfen. Du liebst deine Erinnerung.“ Wissend legte Galux den Kopf leicht zur Seite. „Deshalb wolltest du auch nicht nach Japan. Nicht wahr?“ Mariah musste Lächeln und nickte schließlich. „Ich habe in China die schönste Zeit meines Lebens verbracht. Ich liebe dieses kleine Dorf. Egal um welche Ecke, Straße oder über welche Wiese ich laufe – es steckt eine Erinnerung dahinter. Lee, Gary, Kevin… alle die ich kenne sind dort. Und natürlich Ray.“ „Er scheint aber nicht so zu denken.“ Galux Stimme wurde ernst. Mariah glaubte auch etwas Verächtliches heraus zu hören. „Ray war schon immer ehrgeizig. Er möchte in seinem Beruf weiterkommen. Das kann er nicht in unserem Dorf…“ „Dann soll er gehen wenn wir ihm nicht reichen! Oder er soll in der Irrlichterwelt bleiben. Meine Hilfe kann er nicht erwarten. Vielleicht lernt er dich dort zu schätzen.“ „Oh bitte, hilf ihm! Tu es für mich! Warum redest du so schlecht über ihn?“ „Weil er dich unglücklich macht!“ Das Bit Beast wandte schnippisch den Kopf zur Seite. „Er versteht dich nicht. Er will dich nicht begreifen. Es bricht mir das Herz dich so unglücklich zu sehen. Jede Nacht treibt er dir die Tränen in den Augen und tritt deine Gefühle mit den Füßen.“ Mariah sah Galux lange an. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr Bit Beast jede Zankerei mit Ray mitbekam. Es sprach ihr aus der Seele, doch es schien nur ihr Unglück zu erkennen. Das sie ihren Mann ebenfalls verletzt hatte ignorierte es. „Weißt du Galux, es ist auch meine Schuld, dass er so ist.“, gestand Mariah. „Ich habe behauptet, dass das Kind, worauf er sich so gefreut hat, nicht von ihm ist. Noch nie habe ich ihn so wütend und enttäuscht erlebt wie an diesem Tag. Er ist sonst immer ausgeglichen, freundlich und verständnisvoll, aber danach…“ Ein Seufzen folgte. „Danach hat er sich total von mir abgewandt. Er hat seine Sachen gepackt und ist gegangen. Nicht einmal eine Telefonnummer hat er hinterlassen.“ „Aber du hast deinen Fehler eingestanden! Es ist sein Kind. Du bist ihm nie untreu gewesen. Ich weiß das. Ich spüre wenn du lügst. Warum kann er das nicht?“ „Du spürst wenn ich lüge?“ „Das kann fast jedes Bit Beast. Die Emotionen unserer Menschen liegen vor uns wie ein offenes Buch. Wir sind immer mit ihnen verbunden. Ich kenne deine Wünsche, deine Ängste, deine Gedanken… und all deine Taten. Selbst wenn ich in der Irrlichterwelt bin, ich fühle was in dir vorgeht.“ „Wie ein Schutzengel“, meinte Mariah leise. Sie hatte nicht geahnt wie umsorgt sie wurde. Es tat gut zu wissen, dass es jemanden gab, der die Hand schützend über sie legte. „Wir Menschen können das aber leider nicht, Galux. Wir sind nicht wie ihr Bit Beast. Eine solche Verbindung besteht zwischen uns nicht. Der einzige Weg für uns besteht darin, Vertrauen in den anderen zu haben… Und das habe ich verloren. Ich habe Ray tief gekränkt und jetzt glaubt er mir nicht mehr.“ „Vertrauen“, wiederholte Galux das Wort nachdenklich. „Wie seltsam. Ich spüre immer wer die Wahrheit spricht und wem ich glauben kann. Doch wenn es stimmt was du sagst...“ Mariah wurde fragend gemustert. „Wenn du nicht seine Gedanken lesen kannst, wenn du nicht weißt wie er fühlt, wie kannst du wissen was er denkt?“ „Das ist einfach…“ Galux blickte Mariah erstaunt an. „Weil ich Ray kenne. Seine guten und seine schlechten Seiten. Ich muss keine Telepathie beherrschen um ihn zu verstehen. Ich weiß wie er sich im Moment fühlt. Ray ist ein guter Mann. Ein viel besserer als ich verdient habe. Ich habe ihn verbittert. Es ist meine Schuld dass er so geworden ist. Und deshalb bitte ich dich Galux. Bitte hilf ihm.“ Mariah blickte ihr Bit Beast aus flehenden Augen an. Wenn es ihre Emotionen wirklich spüren konnte, dann musste ihre Verzweiflung wie ein Gewitter auf Galux nieder regnen. „ZUM TEUFEL!“ Erschrocken blickten beide zu Mr. Kinomiya. Selbst Jana zuckte zusammen, verstummte in ihrem leisen Gesang und funkelte mit ihren Knopfaugen zum alten Greis. „Mara! Opa laut schimpf!“, empörte sie sich. „Opa nerv! Blödmann!“ Über so viel Ehrlichkeit hätte Mariah beinahe gelacht, doch es blieb ihr im Halse stecken, als sie den Grund für den wütenden Ausruf sah. „Lauter!“, wies sie Mr. Kinomiya an, der genauso blass wie sie geworden war. Mit fahrigen Händen suchte er nach der Fernbedienung und drehte die Lautstärke hoch. Auf dem Bildschirm berichtete ein Nachrichtensprecher, über den gestrigen Brand im Anwesen der Hiwataris. Links oben, war ein Miniaturfenster eingeblendet, in dem Ming-Ming darauf wartete, dass ihr Kollege das Startsignal für ihren Bericht gab. „Wieder live vor Ort ist für sie unsere Reporterin. Ming? Was kannst du uns über die derzeitige Situation sagen?“ Das Fenster der Angesprochenen wurde vergrößert. „Nun, ich muss sagen, die Polizei scheint noch so ziemlich im Dunkeln zu tappen. Niemand weiß wie die Leiche ins Hiwatari Anwesen gekommen ist und bestätigen will man auch noch nichts. Man hält sich zurück mit irgendwelchen Zugeständnissen. Laut den Zeugenaussagen sollen sich aber nur zwei Personen im Haus aufgehalten haben. Kai Hiwatari und seine jüngere Schwester. Von einer weiteren Person war nie die Rede. Gestern Abend war das ausgerückte Feuerwehrteam noch erleichtert, dass alle Bewohner des Hauses mit dem Schrecken davon gekommen sind. Umso enttäuschter sind die Gemüter über den Fund der verkohlten Leiche.“ "Sie sagen der Befund ist noch nicht bestätigt." "Das wird nur die übliche Zurückhaltung von Behörden sein, aber ich weiß aus ziemlich sicherer Quelle, dass es eine Leiche gibt." Mariah hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Bei ihrem gestrigen Telefonat mit Ray, hatte er mit keinem Wort erwähnt, dass noch eine weitere Person in dem Haus gewesen war. „Kann schon etwas über die Identität des Opfers gesagt werden?“, fragte der Nachrichtensprecher. „Leider nein“, entgegnete Ming-Ming. „Aber soviel konnte mir gesagt werden – nach den Überresten zu urteilen handelt es sich um eine Frau.“ „In welchem Teil des Hauses wurde die Leiche gefunden?“ Ein verschmitztes Lächeln huschte über Ming-Mings Gesicht. Etwas schien sie ziemlich zu belustigen. Mariah brachte das zum Kochen. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie man bei einer solchen Tragödie nicht ernst bleiben konnte. „Nun, das ist eine interessante Frage, denn die Leiche wurde angeblich im Schlafzimmer vom jungen Hiwatari Oberhaupt entdeckt.“ „Eine Geliebte?“ „Wer weiß? Das Hauspersonal hat zu dieser Zeit schon den verdienten Feierabend angetreten. Demnach lässt sich eine Angestellte ausschließen. Doch wenn ich mir die Vermutung erlauben darf, man weiß nicht viel über das Privatleben des Geschäftsmagnaten, nicht wahr? Erst gestern wurde ich mit der Nachricht überrascht, dass seine Schwester an Trisomie leidet. Wer weiß wie viele Leichen dieser Mann noch im Keller versteckt hält?“ „Oh! Dieses Miststück!“, fluchte Mariah erbost. In ihr tat sich die Vermutung auf, das Ming-Ming eine wahre Freude daran hatte, Kais Privatleben öffentlich zu machen. „Mara! Nich schimpfe!“, entrüstete sich Jana. Das kleine Mädchen ahnte nicht, wie indiskret Ming-Ming ihre Krankheit gerade an den Pranger stellte. Natürlich war Mariah nicht der Auffassung, dass man Kinder wie sie verstecken musste, aber wenn Kai nicht der breiten Öffentlichkeit davon erzählen wollte, war das seine Sache! Ihr kam es vor, als startete Ming-Ming grundlos eine Hetzkampagne. „Wie kann dieses beschränkte Kuh! Wenn ich die in die Finger kriege, dann…“ „Ganz ruhig, Kleines.“, sprach Mr. Kinomiya gelassen auf sie ein. „An der willst du dir doch nicht die Finger schmutzig machen.“ Dann hörte er Ming-Ming sagen: „Besonders interessant ist, dass nach einem von den anwesenden Zeugen des Brandes, seit heute Morgen gefahndet wird – Takao Kinomiya.“ „ICH WILL IHR BLUT SEHEN!“, schrie der alte Herr. „Takao Kinomiya steht im Verdacht der vorsätzlichen Körperverletzung und versuchten Mordes an seinem Großvater.“ Augenblicklich wurde Mr. Kinomiya aschfahl. Tyson? Ihn töten? Das war doch ein Witz! Niemals hätte sein Enkel ihm etwas angetan. Sie zankten und kabelten sich gerne mal, aber das gehörte für beide zum Standart. „Es ist mehr als suspekt, dass wenige Stunden nachdem Takao Kinomiya das Grundstück betritt, das Hiwatari Anwesen in Flammen steht. Wie ich von einer zuverlässigen Quelle weiß, waren auch zwei weitere Freunde bei dem Brand anwesend. Es handelt sich dabei um den amerikanischen Staatsbürger Max Tate und den Chinesen Ray Kon. Ob als ahnungslose Zeugen, Eingeweihte oder Komplizen ist noch unklar.“ Mariah fasste sich an die Brust und spürte ihr Herz darunter laut hämmern. Nun wurde ihr Mann auch noch hineingezogen. Wie viele Leute musste sie noch davon überzeugen, dass Ray ein guter Mensch war? Die erste Träne rollte ihre Wange hinab, doch mit einem Fauchen wurde sie fortgewischt. Genug geheult! Hormone hin oder her, dass war keine Entschuldigung sich so gehen zu lassen! Wann war sie bloß zu einer solchen Heulboje verkommen? Entschlossen machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zum Garderobenschrank. Mr. Kinomiya beobachtete sie und fragte: „Wo willst du hin?“ „Zur Polizei. Mein Mann hat nichts mit der Sache zu tun!“ „Na da komm ich doch glatt mit!“, meinte der alte Mann und rappelte sich auf. Selbst vom Flur aus hörte sie seine Knochen knacken. „Ich werde denen zeigen wie quicklebendig ich bin. Keiner meiner Enkel kommt auf ein Fahndungsplakat und wenn ich dem ganzen Präsidium die Hammelbeine langziehe!“ „Mao. Überstürze nichts!“ Mariah war gerade dabei ihre Jacke vom Kleiderhaken zu nehmen. Abrupt hielt sie in ihrer Bewegung inne und starrte ihr Bit Beast an. „Galux, ich muss etwas unternehmen! Ich kann hier nicht tatenlos herumsitzen!“ Das Bit Beast schritt langsam auf sie zu und nickte ihr wissend zu. „Ich weiß Mao. Doch im Moment sind dein Ehemann und seine Freunde, dort wo sie sind, unerreichbar. Kein Mensch wird sie für etwas bestrafen können, dass sie nicht begangen haben.“ „Das mein Mann in einer Geisterwelt herumirrt ist kein aufmunterndes Argument.“ „Mao. Bleib hier.“, der Kopf des Bit Beast wandte sich zum Fernseher. „Ich vermute dieser Frauenkörper ist Dranzers Hülle.“ „Wie kannst du einen Menschen nur als Hülle bezeichnen?“ „Ihr tut das doch auch, Mao. Aber nur wenn die Seele den Körper verlassen hat.“ Mariah hielt den Atem an, als ihr klar wurde, worauf Galux hinaus wollte. „Du meinst… Diese Frau war schon tot?“ Ein Nicken folgte. „Dranzer hat einen Weg gefunden sich toter Menschen zu bemächtigen. Dazu müssen sie in dem Element des Bit Beasts umgekommen sein. Diese bedauernswerte Frau war wohl vor kurzem Opfer eines Brandes. Dranzer muss ihre Hülle wieder hergestellt haben um unerkannt, durch die Menschenwelt zu wandeln. Kaum zu glauben wie mächtig die Uralten bereits geworden sind. Für mich ist so etwas unmöglich…“ „Oh mein… Das ist furchtbar! Was hat er mit dem Körper denn vorgehabt?“ „Der Leichnam dieser Frau ist für Dranzer nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Es wollte selbstständig zu seinem Menschen gelangen. Ich vermute, dass es den Körper wieder zu sich rufen wird, wenn es ihn braucht. In einem Blade könnte es sich nicht ohne Hilfe fortbewegen. Man munkelt bei uns sogar, dass die Uralten es schaffen, tote Menschenkörper in der Irrlichterwelt erscheinen zu lassen.“ „Aber jetzt hat Dranzer was er wollte! Er ist bereits in Kais Körper! Wenn Dranzer dieser Krankenschwester etwas angetan hat, dann müssen wir der Polizei sagen…“ „Kleines, ich weiß ja nicht worüber du mit deinem imaginäre Kuscheltier redest, aber der Polizei ausgerechnet das erzählen?“, fuhr Mr. Kinomiya dazwischen. „Lasst mich ruhig außen vor, aber klingt nach einer recht bescheidenen Idee, die du dir da austüftelst.“ Mariah zog eingeschnappt eine Schnute, doch Galux antwortete: „Der alte Mann spricht die Wahrheit, Mao. Ein weiteres Laster der Menschen ist, das sie nach Beweisen verlangen, selbst wenn die Opfer mit einem aufrechten Gewissen sprechen. Außerdem bereitet mir eine weitere Angelegenheit Sorgen…“ „Was?“ „Oh Mao, ich wünschte ich könnte dir diese Wahrheit ersparen, denn ich weiß sie wird dir Angst bereiten, doch dich zu belügen bringe ich nicht übers Herz…“ „Sag es mir Galux.“ „Was ich dir noch nicht gesagt habe ist, dass ich den alten Mann und das Kind vor Dranzers Rache gerettet habe. Es war nicht die Krankenschwester die es suchte. Es hatte die Aufgabe diese beiden Menschen zu töten.“ Mariah wurde blass und sah zu dem kleinen Kind, das auf dem Bett mit ihrem Stofftier spielte. Warum? Warum diese beiden? Ein altersschwacher Mann und ein Trisomie krankes Mädchen. Was hatten diese beiden Menschen getan, dass sie den Zorn eines Bit Beasts auf sich zogen? Beinahe wäre ihr diese Frage laut herausgerutscht, doch sie wollte keinen von beiden beunruhigen, so blieb sie stumm. Doch Galux schien tatsächlich ihre Gedanken zu lesen. „Der alte Mann ist Dragoon lästig. Er möchte ihn loswerden. Und das Kind… Dranzer hasst sie. Es gibt ihr die Schuld an dem gleichgültigen Verhalten ihres Menschenjungen. Es ist furchtbar eifersüchtig und teilt nicht gerne.“ Zum ersten Mal fiel Mariah auf, dass sich Galux nie auf das Geschlecht festsetzte, wenn sie über Dranzer sprach. Konnte es sein… „Ist Kais Bit Beast weiblich oder männlich?“ „Beides, und doch keins von beidem. Das gilt für jeden von uns. Wir sind was wir sein wollen. Ich bevorzuge das Weibliche, sowie Dranzer auch und Dragoon das Männliche. Doch ich ahne worauf deine Frage hinausläuft. Du willst wissen ob Dranzer sich zu Kai hingezogen fühlt. Leider kann ich dir keine Antwort geben… Bit Beast können nicht lieben. Zumindest habe ich noch nie von einem gehört. Diesem Gefühl seid ihr Menschen uns voraus. Doch ich weiche ab…“ Galux schüttelte etwas verärgert den Kopf. „Der Punkt ist, dass ich nicht weiß, wo sich Dranzer zurzeit aufhält. Ist es in der Irrlichterwelt? In der Menschenwelt? Und ich weiß nicht was die Uralten mit dir vorhaben. Deine Rolle in diesem Trauerspiel ist so undurchschaubar. Alles hängt davon ab, ob du deinem Mann noch wichtig bist. Wenn ja, weiß es Driger und er wird in Kürze auch jagt auf dich und dein Ungeborenes machen. Die Wahrheit ist: Egal wer von ihnen kommen wird, ob Driger, Dranzer oder einer der anderen Uralten… Ich bin nicht stark genug um dich zu beschützen! Ich kann dich nur vor ihrem Blick verstecken, mehr nicht. Du musst hier bleiben! Du und die anderen. Niemand außer mir weiß wo du dich aufhältst. Denk an dein Kind Mao! Was ist wenn du dort draußen, auf offener Straße, einem Uralten in die Arme läufst? Du könntest noch von Glück reden, wenn du wie die bedauernswerte Frau im Krankenhaus endest!“ „Nein!“, Mariah berührte fassungslos mit ihren Händen den kleinen Babybauch. „Ich habe Driger nichts getan! Keinem dieser Bit Beasts! Und mein Kind schon gar nicht! Warum?“ Panik vermischte sich mit der Angst um ihr Ungeborenes. Mariah hatte Angst. Angst Ray zu verlieren. Angst ihr Kind zu verlieren. Ihre Familie war das Teuerste was sie besaß. Sie war nach Japan gekommen um sie vor der Scheidung zu bewahren und nun wollte ausgerechnet ein Bit Beast alles zerstören. Galux seufzte und ein mitleidiger Ausdruck schlich sich in den Blick der Katze. „Es ist wie du gesagt hast, liebste Mao. Du hast Ray verbittert. Ein gebrochenes Herz ist nichts anderes, als ein weiterer Schritt zur Erwachsenwelt.“ * „Komm schon sag was, Tyson! “ flehte Ray und knuffte seinen Freund spielerisch in die Seite. „Ach bitte! Deine Stimme ist so urkomisch.“ „Wir haben so wenig zu lachen. Sieh es als deine verdammte Kameradenpflicht!“ Tyson blieb stehen. Seine Wangen waren gerötet vor unterdrücktem Zorn und die Lippen fest aufeinandergepresst. Statt einer Antwort hob er eine Faust und präsentierte seinen Freunden den Mittelfinger. Ein enttäuschtes „Och Schaaade“ ging durch die Runde, gefolgt von: „Kollegenschwein“ „Miesepeter“ „Es ist doch so lustig…“ „Ich würde mir für dich vor Lachen auch in die Hose machen, dann hättest du auch was davon.“ Tyson blähte die Wangen auf und zeigte Max den Vogel. Wer war er denn, der Clown vom Amt?! Ihm ging es gehörig gegen den Strich dass seine Freunde nicht die Höflichkeit besaßen, einfach über sein Problem hinwegzusehen. Stattdessen ritten sie seit einer geschlagenen Stunde darauf herum. Man merkte dass sie wieder zu Kindern wurden. Sie wurden der Sache nicht überdrüssig. Unglücklicherweise hatte Tyson vergessen, wie seine Freunde als Erwachsene klangen, sonst hätte er sie darauf hingewiesen, dass ihre Stimmen nun ebenfalls einen Recht kindlichen Ton besaßen. Doch er blieb stumm und ließ sich lieber ins nächste Kaufhaus schleifen, wo die Gruppe sich erstmal mit neuer Kleidung eindeckte. Das war mehr als nötig! Maxs Pullover hatte Ähnlichkeit mit einem Zelt und Ray musste seine Hosenbeine mehrmals umschlagen. Tyson ging in seiner Kleidung total unter. Als er sechzehn war hatte er einen enormen Wachstumssprung gemacht, was ihm jetzt bewies wie klein er zuvor war. Er konnte ziehen und krempeln soviel er wollte. Die Hose rutschte über die Hüften, die Shorts darunter auch und einpaar Mal fand er seinen entblößten Hintern an der Frischluft. Natürlich brachte ihm das noch mehr Gelächter ein. In der Shopping Mall folgte dann eine Überraschung… Sofort als die Gruppe ein Geschäft betrat, blieben sie stehen und stutzten. Es standen nur wenige Outfits zur Auswahl. Und die Hundertfach! Die Boutique war in vier Abteilungen gegliedert. Über jeder baumelte ein Schild von der Decke, das jedem der Jungen einen eigenen Bereich zuordnete. Natürlich liefen auch hier gesichtslose Verkäufer wild durch die Gegend. Gleich nach dem ersten Schritt über die Ladenschwelle, wurde jeder von ihnen an seinen Kleiderständer dirigiert. Ray hatte keine Zeit zu flüchten, da packte ihn eine Schar von geschäftigen Angestellten und trug ihn auf Händen, über ihren Köpfen, in seine Abteilung. Es sah aus als wäre er ein Gitarrist der sich von der Bühne in die jubelnde Menge fallen lässt, nur das er dabei mehr fluchte und strampelte. Die nächste Schar kesselte Max ein, der panisch rief: „Ich komm schon mit! Keine Hektik, Leute!“ Tyson wurde von drei Smoking tragenden Gesichtslosen zu der letzten Abteilung ganz Rechts geschoben und siehe da… Seine alte Jeans, sein gelbes Sweatshirt und sogar seine rote Jacke, wie er sie früher getragen hatte, in hundertfacher Ausführung, fein säuberlich in einer Reihe, an dutzenden Kleiderständern. Erstaunt zog er eines des Sweatshirts aus der Kleidermasse hervor. Er wollte nur einen Blick darauf werfen, da hoben die Verkäufer bereits einpaar Schilder hervor: „Passt!“ „Wunderbar!“ „Das ist ihr Style, mein Herr!“, der letzte Gesichtslose bewegte sich verdächtig… feminim. Er wirkte wie Jack Sparrow ohne Gesicht. Kam es ihm so vor oder war diese gesamte Situation grotesk? „Ähm… was anderes habt ihr nicht, oder?“, fragte er mit zuckender Augenbraue. Einstimmiges Kopfschütteln war die Antwort, was Tyson resignierend seufzen ließ. Alles war besser als entblößt durch die Straßen zu rennen. Er klaubte sich seine Kleidung zusammen und wollte bereits in die Umkleidekabine verschwinden, da streifte sein Blick einen Wühltisch vor einem großen Spiegel. Er trat näher heran und konnte dutzende Exemplare seines roten Cappys ausmachen. Es juckte ihn in den Fingern und ehe Tyson es sich versah, nahm er eines vom Stapel und setzte es sich auf den schwarzen Haarschopf. Dann betrachtete er eine Weile sein Spiegelbild gegenüber… „Irgendwie sieht das Teil doch cool aus“, gestand er sich schließlich ein und ein spitzbübisches Grinsen huschte um seine Mundwinkel. Nach einer halben Stunde trat die Gruppe, gefolgt von einer applaudierenden Belegschaft, wieder aus dem Laden. Schilder mit besten Wünschen für die Zukunft und Danksagungen wurden emporgehoben, dann schloss sich die automatische Schiebetür hinter ihnen. „Wow. Das war… seltsam.“, kommentierte Max trocken und ein einstimmiges Nicken folgte vom Rest. Das ging auch locker als Begegnung der dritten Art durch. Tyson begutachtete seine Freunde und musste grinsen. Dasselbe Spiel wie bei ihm. Max trug seinen orangen Overall von früher, dessen Ärmel er sich um den Bauch gebunden hatte, anstatt über den Oberkörper und dazu sein gelbes Shirt, mit den kurzen grünen Ärmeln. Ray war wie immer asiatisch gekleidet. Schwarze weite Hose und ein weißes, ärmelloses, langes Hemd, mit einem leichten Stehkragen und drei dunklen Knotenknopfleisten. Um seine Taille lag ein langer roter Gürtel, dessen Enden locker an der rechten Seite baumelten. Er war eigentlich der Einzige, dem man seinen Sprung in die Kindheitsmode nicht zu deutlich ansah, dafür war er seiner Tradition in all den Jahren zu treu geblieben. Tysons Augenmerk blieb an einer Tüte hängen die Ray in der Hand hielt. Er legte den Kopf irritiert zur Seite und fragte: „Hast du dir einen Vorrat besorgt? Mensch Alter, wir müssen nichts bezahlen! Diese Outfits bekommen wir hinterher geschmissen und du nimmst dir zusätzlichen Ballast mit?“ „Das ist nicht für mich“, antwortete Ray. Er kramte in der Tüte und zog einen dunklen, ärmellosen Overall hervor, an dem ein roter Gürtel befestigt war. „Ich dachte mir… wenn wir ihn wiederfinden, dann… Naja… er wird immerhin auch jünger. Wir können ihn ja schlecht nackt herumlaufen lassen…“ Seine Tonlage wurde mit jedem Wort leiser. „Oh“, gab Tyson monoton von sich und beugte sich über den Beutel. Es gab Kleinigkeiten im Leben, die ließen jede Laune in den Keller rutschen. Bei einer Frau konnte das ein altes Foto von der zerflossenen Liebe sein. Bei Kindern ein gestrickter Pullover von der Oma, welches einen zum Gespött der Klasse machte und in Tysons Fall ein weißer Schal, der in einer Einkaufstüte lag und den ein verschollener Freund früher immer zu tragen pflegte. Ein Seufzen kam aus seinem Mund. Geknickt holte Tyson das lange Tuch hervor und hielt es in den Händen, ließ den weichen Stoff durch die Finger gleiten. Anschließend griff er in seine Hosentasche und zog das Feuerzeug hervor, welches er im Krankenhaus Kai abgenommen hatte und in der Umkleidekabine in seiner Jacke bemerkt hatte. So sehr es ihm nicht passte, dass ihr Freund als erwachsener Mann rauchte, er konnte es nicht über sich bringen, dass Einzige wegzuwerfen, was sie im Moment von ihm hatten – nicht so lange Kai wieder zurück war. Er drehte das Feuerzeug in seiner Handfläche von einer, auf die andere Seite und seine Gedanken schweiften ab. Seine bedrückte Stimmung griff auf die Gruppe über und jeder Einzelne hätte alles darum gegeben, um zu wissen wie es Kai im Moment ging. * Wer die Sagen um Yggdrasil kannte, wusste dass es sich dabei um einen mystischen Baum aus der nordischen Mythologie handelte. Dieser Weltenbaum soll eine prächtige Esche gewesen sein, die von dem jüngsten Göttergeschlecht gepflanzt wurde, nachdem sie den Riesen Ymir getötet und aus seinem Leichnam alle weltlichen Dinge erschuf. Natürlich war das nichts weiter als die grenzenlose Fantasie der Menschen, während der Zeit des Heidentums, denn wie jedes Bit Beast wusste, hatten Menschen viele Laster und eine davon war, sich unerklärliche Dinge mit Hirngespinsten zu erklären – so auch den Anfang der Welt. Trotzdem steckte auch in dieser Legende ein Funken Wahrheit, denn einen solchen Baum gab es tatsächlich in der Irrlichterwelt. Die heimischen Wesen dort schoben diese Parallelen aber mehr auf einen Zufall, als auf die Möglichkeit, dass ein Mensch diesen Baum womöglich erkannt hatte. Manche Bit Beast mussten über die Unwissenheit der Menschen sogar belustigt Kichern. Sie konnten den Baum nicht sehen, obwohl seine herrlich grüne Blätterkrone ihren gesamten Planeten, in Form von farbenfrohen Wiesen bedeckte, auf denen sie sich im Frühjahr zu Duzenden tummelten. Ihr sagenumwobener Yggdrasil war direkt unter ihren Füßen. Außerdem war der Baum laut der Legende eine Esche. Das war glatter Unfug. Was war an einer Esche schon besonders? Yggdrasil war jeder Baum und doch keiner… An vereinzelten Stellen in Europa nahmen seine emporragenden Zweige die Formen von Trauerweiden, Zypressen oder Tannen an, in Asien sah er aus wie ein blühender Kirschbaum oder ein zierlicher Bonsai und in Nevada schoss er in Form eines Kaktus empor, an sonnigen Küstengebieten sogar als Palme. Es war lächerlich. Die Menschen hatten ihren sogenannten Yggdrasil direkt unter sich und erkannten ihn nicht. Weder seine dicke braune Rinde, die sie Erde nannten, noch seine glühenden Wurzeln im Zentrum ihres Planeten. Bit Beasts hatten diesem Baum nie einen Namen gegeben. Weshalb auch? Warum musste alles einen Namen haben? Warum konnte man sich nicht damit abfinden, dass etwas Fremdes einfach da war, ohne es durch seltsame Betitelungen etwas vertrauter zu machen? Yggdrasil klang so eigenartig… Der Höflichkeitshalber nahmen Bit Beasts diesen Namen aber amüsiert hin, selbst als die Menschen ihre eigene Sage um den wundersamen Weltenbaum vergaßen. Stattdessen machte diese Geschichte neuen Legenden platz. Von Göttern die auf Bergen hausten, Erzählungen über weiße Könige wie Salomon, bis hin zu Menschen die über Wasser liefen. Eine bemerkenswerte Vielfalt… Yggdrasil geriet dadurch aber in Vergessenheit. Was Menschen ebenfalls nicht ahnten war, dass dieser Baum einen Zwilling besaß. Beide Exemplare sprossen aus derselben glühenden Wurzel. Der eine wuchs nach oben in die Menschenwelt, der eine nach unten in die Irrlichterwelt. Wollte ein Bit Beast zu den Menschen, musste es nur die Baumkrone emporsteigen, den Stamm entlang, durch das Wurzelgeflecht dahinter und von dort aus auf den anderen Baum steigen. Zuletzt bedurfte es nur eine spirituelle Stätte und schon konnte man das Tor zur Menschenwelt passieren. Es war so einfach… Für ein Bit Beast! Menschen taten sich da schwer. Sie kannten ihren Planeten nur als Kugel. Dass man beim Durchqueren des Erdinnern in eine andere Welt abtauchte war ihnen nicht bekannt. Schlimmer noch! Manche Bit Beasts hatten das närrische Gerücht gehört, dass Menschen dachten, man komme in China raus, wenn man in Europa bloß tief genug grabe. Wie einfältig, aber auch belustigend! Hätten Menschen den, wie sie nannten, technologischen Stand dafür erreicht, würden sie es wohl sogar versuchen. Sie hatten aber Probleme durch die Masse an Gestein und Wasser, an der Oberfläche, zu gelangen und selbst wenn diese Hürden überwunden waren, kamen sie nicht an den heißen Wurzeln, die sie Erdkern nannten vorbei. Sie brauchten Hilfe. Sie brauchten bei allem was sie taten Hilfe. Es bedurfte Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken, Erde zum Anbauen und Licht zum Leben, damit sie einigermaßen zufrieden waren. Vernachlässigte man sie einwenig, gingen Menschen ein und verfluchten Himmel und Hölle dabei. Zuviel von den Elementen wollten sie aber auch nicht. Besaßen sie alles im richtigen Maß, wussten sie es nicht zu schätzen… Ein launisches Volk. Voller Widersprüche. Dragoon lächelte amüsiert während er diesem Gedankenspiel nachhing. Um ihn herum war alles finster, eine tiefe Schwärze, die nur von der glühenden Wurzel des Baumes durchbrochen wurde, auf der er saß. Er stand kurz vor dem Grenzübergang. So nannten die Bit Beast die Stelle, an der die Wurzeln der Irrlichterwelt, in die des Menschenbaumes übergingen. Von hier aus konnte man alles und jeden beobachten. Dragoon brauchte nur seine Hand auf eine der kleineren Wurzeln zu legen und schon spürte er was die Menschen und Bit Beasts an der Oberfläche taten. Nur wenige seiner Gattung durften hier her. Um genau zu sein, nur seine drei Gefährten und er selbst. Von hier aus hatte sich so manch einer von ihnen einen kleinen Schabernack erlaubt, denn hier am Wurzelwerk, dem Ursprung des Planeten, war ihre Kraft grenzenlos. Erst neulich hatte Driger ein Erdbeben in der Menschenwelt verursacht. Nur zur Belustigung… und natürlich um seinen Ärger freien Lauf zu lassen. Das stumme Draciel ging sogar noch rabiater vor. Einmal ließ es eine riesige Flutwelle über den asiatischen Kontinent rollen. Es gab unzählige Tote. Für einige seiner Sippe war das ein gefundenes Fressen, denn manchmal verirrte sich eine verstorbene Seele in die Irrlichterwelt, weil sie auf dem Weg ins Jenseits am Erdkern vorbei musste und eine falsche Abzweigung nahm. Ein melancholischer aber auch faszinierender Anblick... All diese glänzenden Nebelschwaden, die auf ihrer Reise, die Finsternis mit ihrem schwachen Schein erhellten. Eine traurige Geisterkarawane… Dragoon ließ seine dunklen Augen zu Draciel wandern. In dem geborgten Körper saß es teilnahmslos auf einer der größeren Wurzeln, ließ die glühenden Verästelungen an den Pulsadern, tief in das Menschenfleisch stechen. Auf diese Weise konnte es die gesamte Umgebung genauestens beobachten. Die Augenlider geschlossen, war es hochkonzentriert, jedenfalls nach der Mimik der Mutter zu urteilen, der Draciel das Gesicht gestohlen hatte. Seit der Ankunft der Kinder, verfolgte es jede noch so kleine Bewegung des blonden Jungen. Dragoon sah auch ab und an nach Takao. Aber nur um seine Fortschritte zu bemerken. Es fehlte nicht mehr viel… Nur noch etwas mehr und er würde wieder zu sich selbst finden. Ein bisschen und Takao würde gar nicht mehr nachhause wollen. Er war auf dem besten Weg… Schritte näherten sich. Dragoon wusste wer kam. Er hatte die Neuankömmlinge erwartet. Sein Menschenkörper erhob sich von der Sitzfläche langsam in die Luft und schwebte auf eine der höher gelegenen Wurzeln zu, die in ihrer Breite und Dicke alle anderen übertraf. Sie wirkte wie der gigantische Stamm eines Mammutbaums. Es wäre kein Problem gewesen sechs Personen in einer Reihe darauf zu platzieren. Er landete lautlos auf der Wurzel. Sie machte den Eindruck, als wäre sie ein langer geschlungener Pfad, der als schimmernder Wegweiser fungierte. Das Glimmen ihrer feuerroten Verästelungen, die überall kreuz und quer hervor stoben, wurde von der Düsternis gierig verschluckt, wie das Leuchten einer Kerze, die sich immer weiter entfernte. Links und Rechts daneben ging es steil hinab in die dunkle endlose Tiefe. Auf diesem wundersamen Weg erhoben sich zwei Konturen aus den umliegenden Schatten, schritten langsam näher. Kurz bevor sie ankamen, sagte Dragoon: „Ihr ward lange fort…“ Nicht wütend, nicht laut, sondern ganz ruhig. „Es gab Schwierigkeiten. Doch das weißt du sicher…“, antwortete Driger. Das Bit Beast hatte wieder die Gestalt eines Menschen angenommen, was seine bronzene Haut mit der Umgebung verschmelzen ließ. Nur die raubtierhaften Augen schimmerten unverkennbar. Dragoon antwortete nicht, sondern wandte seinen Blick zur nächsten Person, die er von oben bis unten begutachtete. Dann hoben sich seine Brauen fragend. „Warum noch dieser Körper?“ „Warum nicht?“ „Spiel nicht mit mir, Dranzer. Ich wünsche eine Antwort.“ Der Junge neben Driger blickte zur Seite. „Ich will ihn nicht hergeben…“, kam ein leises Flüstern. „Das wirst du aber müssen.“ „So? Muss ich?“ „Er wird sterben. Du verbrauchst zu viel seiner Kraft.“ „Ich weiß wo seine Grenzen sind - und meine. Glaubst du ich würde nicht spüren, wenn er kurz vor der Todesschwelle stünde?“ Dragoon trat auf den Jungen zu und ergriff dessen Arm, den er so drehte, dass seine Handfläche nach oben deutete. Mit seinem Finger, fuhr er eine der Adern entlang, die sich auf der blassen Haut dunkel abzeichneten, bis er am Puls ankam und dort verweilte. „Du hättest ihn schon längst freigeben müssen. Er ist am sterben…“ Mit einem Fauchen riss sich Dranzer los und trat von ihm weg. „Ist er nicht! Was schert es dich überhaupt?! Er gehört mir, also ist es meine Angelegenheit!“ „Unsere…“, korrigierte Dragoon. „Nein, meine! Ich bin noch nicht fertig… Lass mich noch einmal in die Menschenwelt! Ich will dieses Mädchen finden. Ich werde sie mit diesem Körper töten! Kai soll sie mit seinen eigenen Händen vernichten! Erst dann lasse ich von ihm ab… Er soll neben ihrer leblosen Leiche erwachen und an seiner Tat verzweifeln, bis er mich auf Knien anbettelt, ihm diese Erinnerung zu nehmen!“ „Für eine erneute Reise in die Menschenwelt fehlt uns die Zeit. Der einunddreißigste Oktober steht vor der Tür, unsere Kraft wird dort also bald wieder schwinden und du weißt genauso gut wie ich, dass die Menschlinge unserer Kinder wie vom Erdboden verschwunden sind. Selbst mit Yggdrassil können wir sie nicht finden. Wir haben noch andere Dinge auf die wir uns konzentrieren müssen, also lass es für dieses Mal gut sein.“ „Sie hat auch bekommen was sie wollte!“, entrüstete sich Dranzer und deutete auf Draciel, das unbeteiligt an seinem Platz saß und sich nicht rührte. Die Unterhaltung schien für sie nicht von Bedeutung. „Weshalb durfte sie in die Menschenwelt, um der Frau das Gesicht zu stehlen, aber mir verwehrst du meinen Wunsch?“ „Weil die Menschenmutter für uns wichtig war. Wie sonst hätte Draciel den Verstand ihres Menschenkindes verwirren sollen? Ich will das Takao alle seine Freunde beisammen hat. Wenn dein Mensch dir, unter deinen Klauen, davon stirbt, können wir keinen der anderen Jungen glauben lassen, dass sie wieder in ihrer Kindheit sind. Kai gehört zum festen Bestandteil ihrer Jugend. Die Gruppe muss zusammen bleiben! Sie werden uns hassen, wenn sie erfahren, dass er tot ist. Dein Wunsch hat auch bis nächstes Jahr Zeit – der Junge aber nicht. Du wirst ihn auf der Stelle freilassen. Das ist mein letztes Wort!“ Dranzers Wut loderte auf. Die Augen fixierten Dragoon. „Keine weitere Minute werde ich warten! Ich will das Mädchen töten! Er ist mein Mensch, es hat dich nicht zu interessieren was ich mit ihm anstelle!“ „Reize mich nicht.“ Die Stimmung schien sich zu laden. Zum ersten Mal seit Beginn der Debatte, unterbrach Draciel ihre Tätigkeit und sah mit ausdruckslosem Blick hinauf. Es machte sich tatsächlich etwas Neugierde in dem Bit Beast breit, obwohl es für absolute Gleichgültigkeit bekannt war. Stumm sah es dabei zu wie Dragoons Miene sich verfinsterte. „Du hattest deine Chance. Fast einen ganzen Tag warst du in der Menschenwelt, um deine Rache auszuleben, doch stattdessen ist dir das Kind durch die Klauen entwischt, samt meinem Menschen! Deine Unfähigkeit ist nicht unser Problem.“ Ein schriller Laut erfüllte die Umgebung, wie eine kreischende Vogelmeute und Dranzers Augen begannen zornig zu leuchten. Das anziehende Gesicht verzog sich zu einer wütenden Maske. „Wer hat den Alten nicht getötet, als er zweimal die Chance hatte?! Du wolltest dir deine Finger an ihm nicht schmutzig machen, so waren doch deine Worte! Meine Fähigkeiten waren es, die dir deinen dreckigen Bengel hier her brachten! Meinen Fähigkeiten verdankt ihr, dass wir überhaupt so weit gekommen sind! Womit kannst du dich brüsten? Mit gar nichts! Du scheuchst uns herum wie Schachfiguren!“ Dranzers menschlicher Körper entflammte. Das Feuer bildete die Form des Phönix, von dem der Junge besessen war. Eine gewaltige Flammenfontäne zog sich durch die Finsternis, doch Dragoon wich keinen Millimeter zurück. Nicht einmal als Dranzer mit einer schnellen Bewegung ihrer Klauen, vier tiefe Kratzspuren in seinen Menschenkörper riss. „Dranzer, zügle dich!“, warnte Driger. Es sprach Sorge aus seiner Stimme, doch der Phönix begann nur zu kreischen. Beunruhigt blickte er zu Dragoon, der jedoch stumm blieb. Er sah nur an sich hinunter, zu der Wunde die ihm Dranzer zugefügt hatte. Aus seinem toten Körper quoll kein Blut hervor, doch die tiefen Schnittwunden klafften auf seinem blassen Fleisch, während das Hemd darüber in Fetzen hing. Er begann leise zu lachen. „Womit ich mich brüsten kann willst du wissen?“ Die Wunden schlossen sich wieder. Dragoon hob den Kopf und sah seinem Gegenüber tief in die Augen. Ein kaltes Lächeln folgte. „Vielleicht damit, dass ich es war der dieses Vorhaben in die Wege geleitet hat?“ Er tat einen Schritt auf den entflammten Menschenkörper zu. „Vielleicht aber auch damit, dass ich es war, der euch alle bis hier her geführt hat! Immerhin bin ich das stärkste Bit Beast unter uns. Ohne mich kann kein Mensch oder Bit Beast existieren.“ „Ohne mein Feuer als Lebensenergie ebenso wenig!“, entgegnete Dranzer angriffslustig und als Dragoon noch einen Schritt näher trat, holte es wütend mit der Faust aus. Das Vorhaben scheiterte, als Dragoon durch die Flammen griff und das Handgelenk des Bit Beats in einem schraubstockartigen Griff verschwand. Dranzers andere Arm holte aus, wurde aber gleichermaßen abgeblockt. Die zornigen Bit Beasts blickten sich hasserfüllt an. Es entbrannte ein kurzfristiger Kampf zwischen ihnen, mit dem Ziel, den jeweils anderen zurückzudrängen. Einen Augenblick hielt Dranzer stand, bis Dragoons Worte es aufhorchen ließen. „Ich bin der erste Atemzug der ein Neugeborenes zum Leben erweckt! Ohne meinen Atem geht dein Feuer in den Menschenkörpern kläglich ein. Ohne mich bist du gar nichts! Du erstickst ohne mich, also geh auf die Knie, zoll mir deinen Respekt und liebe mich für meine Gnade!“ Tatsächlich ließen Dranzers Flammen nach, als ginge ihnen die Luft aus. Dafür erfüllte ein bläuliches Leuchten die Umgebung, dessen Ursprung Dragoon war und die Dunkelheit schien verängstigt zurückzuweichen. Die kleinen Nebelschwaden der verstorbenen Seelen stoben eiligst davon und das gesamte Wurzelwerk schien zu vibrieren. Driger wich keinen Schritt zurück, griff aber auch nicht ein, stattdessen beobachtete er nur ernst das Schauspiel. „Vergiss nicht, wer dich in all den Jahren jedes Mal besiegt hat! Nie ist es dir gelungen mich zu bezwingen, obwohl du schon seit Jahrtausenden versuchst, meine Stellung einzunehmen. Ständig scheiterst du an mir und du wirst es auch dieses Mal! Also überleg dir gut in welchem Ton du mit mir sprichst! Du stehst unter mir, merk dir das!“ Dranzer ließ ein unterdrücktes Keuchen von sich, denn der Druck um die Handgelenke wurde erbarmungslos verstärkt und hinterließ Spuren. Sie war ein Geist und kannte keinen Schmerz. In einer Leiche hätte sie nichts gespürt, doch ihre jetzige Hülle lebte noch. Die gesamten Nervenstränge in diesem Körper schrien geradezu vor Pein auf. Diese Erfahrung war vollkommen neu für das Bit Beast. „Wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, töte ich deinen Jungen hier und jetzt!“, erschallte die Drohung. „Dann haben wir alle einen Rückschlag erlitten, ist es das was du willst?!“ Und als keine Antwort kam, entließ Dragoon ein Handgelenk. Sein freier Arm wuchs zu einer schuppigen Klaue heran, deren scharfe Krallen sich der Halsschlagader von Dranzers Körper näherten. „Soll ich ihn töten? Ist es das was du willst? Ein Wort von dir und ich tue es. Bist du dann glücklich, mein mordgieriger Phönix?“ Lange Zeit wurde er aus hasserfüllten Augen angestarrt. Dann senkte Dranzer resignierend die Lider und ließ die Flammen um den Körper vollkommen verstummen. Sein Gegenüber nahm das mit einem süffisanten Lächeln hin. „Brav“, flüsterte Dragoon. Er tätschelte Dranzers Gesicht, als wäre das Bit Beast ein kleines Kind. „Warum nur immer diese Widerspenstigkeit?“ Dann entließ er das Bit Beast aus seinem Griff. Das bläuliche Licht erlosch und machte der Finsternis platz, während die menschliche Haut wieder knisternd über Dragoons Schuppen wuchs. Die Wurzeln hörten auf zu beben. „Eure Zankereien sind ermüdend.“, brummte Driger, als es wieder ruhiger wurde und verschränkte die Arme vor der Brust. „Fast täglich müssen wir uns das anhören. Ist es so schwer euren Zwist beizulegen?“ „Das ist nicht mein Verdienst. Wir wissen beide wer gerne Zwietracht sät.“, Dragoon zog Dranzer näher an sich heran, nur um das Kinn zu umfassen und seiner Kontrahentin über die Wange zu streicheln. Es hätte beinahe zärtlich gewirkt, wenn nicht der pure Spott in seinem Lächeln lege. Er verhöhnte Dranzer nach Strich und Faden. „Es wäre soviel einfacher, wenn sie einfach gehorchen würde. So lange mich keiner besiegt, haben sich alle mir unterzuordnen.“ Mit einem Fauchen riss sich Dranzer los, stürmte von ihm fort und warf sich Driger in die Arme. Es vergrub den Kopf in seiner Kriegertracht und murmelte leise Flüche über den Drachen gegen seine Brust, während der hochgewachsene Mann dem aufgebrachten Bit Beast beruhigend zusprach und über den Kopf strich. Dann wandte er sich Dragoon zu, der das Schauspiel mit einem widerstrebenden Ausdruck beäugte. „Du musst sie nicht so hart anpacken. Niemand zweifelt deine Position an.“ „Das will ich auch hoffen.“ Dragoon wandte sich leicht ab. Dranzer warf ihm einen verächtlichen Blick hinterher und rieb sich anschließend eines der wunden Handgelenke. Dunkle Spuren zeichneten sich an ihnen ab, jeder Finger haftete daran wie ein eingebrannter Abdruck. „Wenn sie Reue zeigt, werde ich nicht nachtragend sein. Dafür möchte ich aber etwas hören, mein Singvogel.“ Er winkte mit dem Zeigefinger, als könne er damit die Entschuldigung aus der Kehle des Bit Beasts locken. Dranzers Brauen zogen sich wütend zusammen, doch ein Blick auf Drigers strenge Miene, gab zu verstehen, dass es selbst von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. Schließlich gab es ein geschlagenes Seufzen von sich, wandte sich Dragoon zu und deutete eine leichte Verbeugung an. „Verzeih mir Dragoon, Herr der Lüfte, Winde und Stürme…“ Es entstand eine Pause. Dragoon wandte sich Dranzer zu, grinste arglos wie ein Kind und fragte: „Und weiter? Das hatten wir doch bereits geprobt, oder muss ich meine Lektion mit dir wiederholen?“ Dranzer presste die Lippen aufeinander, zischte dann aber: „Ohne deinen Atem wird meine Flamme erlischen. Deine Kraft ist auch meine Kraft. Mein Leben hängt von deiner Güte ab. Ich gelobe Besserung…“ Wieder eine Pause. „Sag den Rest auch noch Dranzer. Mir wird immer so warm ums Herz, wenn ich deine Stimme diese Worte sprechen höre.“ „… und bin deine treue… Dienerin.“ Dragoon summte genüsslich, als habe er von einem guten Wein gekostet und meinte schließlich: „Herrlich!“ Er gab Dranzer mit einem Zeichen zu verstehen, dass es sich aufrichten durfte. „Das nächste Mal aber mit mehr Hingabe. Ich will das es wie eines deiner hübschen Lieder aus deinem Mund kommt.“ Erbost zischte das Bit Beast und Dragoon sah es fragend an. „Sag nicht, du hast das Singen verlernt? Bestimmt liegt es daran, dass du nicht magst, wovon du sprichst. Du solltest dir die Verse, immer und immer wieder vorsprechen, bis du sie lieben lernst. Dann fällt es dir das nächste Mal sicher einfacher.“ Er spielte an Dranzers Haaren, bewusst um es zu provozieren. „Übrigens wirst du sofort deinen alten Menschenkörper hier her rufen und den Jungen aus deinen Diensten entlassen. Wir haben uns verstanden, nicht wahr mein Singvögelchen?“ Ein Schnippischen „Hmm“ und Dranzer zog ein Gesicht, als würde es Dragoon lieber den Tod wünschen. Stattdessen kam die herrische Antwort: „Wie du wünschst. Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen…“ „Das ist es nie. Aber umso besser für dich, dann kannst du dein Gedicht öfters aufsagen. Takao würde jetzt sagen: Immer positiv denken! Ich halte das für eine wundervolle Redewendung, du nicht auch?“ Dann sprach er etwas versöhnlicher. „Dieser Kai hat etwas, aber das Feminine steht dir besser. Ich finde dich dann immer zum Anbeißen…“ Er deutete einen Kuss in den Nacken an, wurde aber geblockt, als Dranzer ihm unwirsch die Hand ins Gesicht rammte und ihn wegstieß. „Von einem uralten Drachen sollte man mehr Weisheit erwarten.“, damit wandte sich Dranzer erbost ab und schritt den Wurzelweg zurück. Die anderen Bit Beast sahen der verschwindenden Silhouette hinterher, bis sie gänzlich von der Dunkelheit verschluckt wurde. Erst dann riss Driger das Wort an sich: „Ich weiß sie ist störrisch aber musst du sie stets bis aufs Blut reizen?“ „Das Reizen allein hat auch seinen Reiz.“ „Sagtest du nicht Dranzer säe Zwietracht? Ich sehe bei euch beiden keinen Unterschied.“ Dragoon gab nur ein finsteres Lachen von sich. Natürlich war ihm das bewusst. Aber so lange er hier die Befehle erteilte, kehrte er das ohne Gewissensbisse von sich. Dazu triezte er sie zu gerne. Dieses Gefühl der Überlegenheit wenn er sie in ihre Schranken verwies, war wie ein berauschendes Suchtmittel. Er brauchte es, weil es ihn glücklich machte. Die Menschen bezeichneten seines Wissens so etwas als „sadistische Veranlagung“. Meistens verwendeten sie es als abfällige Bemerkung, was Dragoon nicht ganz verstand, da er in seiner Handlung wirklich nichts Verwerfliches sah. Lag es nicht in der Natur aller Lebewesen, sich zu behaupten und die Schwachen zu unterwerfen? Er freute sich bereits auf die nächste Gelegenheit, denn er war sich sicher ihren Stolz irgendwann zu brechen – und dann würde sie ihm aus der Hand fressen. „Sie ist die Jüngste unter uns. Du könntest mit gutem Beispiel voran gehen und etwas geduldiger sein. Ein so uraltes Bit Beast wie du hat gewiss tausende Weisheiten, die es ihr auf den Weg mitgeben könnte.“ „Dazu müsste sie aber den Willen besitzen sich mir zu beugen.“ Er sah den ungläubigen Ausdruck auf Drigers Gesicht. Er schien selbst nicht zu glauben, dass Dranzer jemals diesen Willen aufbringen könnte. „Na schön. Ich weiß dass du dich immer väterlich um unser Kücken sorgst. Ich werde mir deine Worte durch den Kopf gehen lassen. Doch zunächst widmen wir uns anderen Dingen zu. Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass die Hyänenmutter tot ist.“ „Richtig. Bevor wir sie über unsere Absichten mit den Kindern informieren konnten, hat sie sich bereits mit ihrer Brut auf die Jungen gestürzt. Dabei ist sie in den Fluss gefallen…“ „Ist das so?“, Dragoon legte seinen Finger nachdenklich an sein Kinn. Er wusste um die Tücken der Irrlichterwelt. Nur weil die Hyänenmutter in den Fluss gestürzt war, musste das nicht heißen, dass sie tot war. Genaugenommen konnte sie jetzt in irgendeinen anderen Teil des Jenseits gespült worden sein. Flüsse waren hier wie magische Türen. Fiel man unbeabsichtigt in einen hinein, konnte man sich plötzlich ganz woanders wiederfinden. Womöglich war das hässliche Bit Beast sogar im Jenseits der Menschen gelandet und verschlang friedliche Seelen. Dem musste Einhalt geboten werden und er wusste bereits, welches Bit Beast am besten dafür in Frage kam. Ein Räuspern von Driger lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zu ihm. „Außerdem haben wir uns die Freiheit genommen, ihre Brut zu vernichten… Ich weiß wir hätten deine Erlaubnis benötigt, aber sie haben sich auf die Jungen gestürzt und deine Anweisung hieß doch, dass den Menschen kein Leid zugefügt werden darf.“ „Wie herrlich du meine Worte im Mund verdrehst. War es nicht viel mehr so, dass Dranzer es nicht erwarten konnte, ihre Mordlust auszuleben?“ Driger verstummte und schaute ertappt, kratzte sich verlegen am Kinn, doch Dragoon winkte mit einer Handbewegung ab und lächelte gutmütig: „Es soll mir Recht sein. Mein Singvogel hat mir ausnahmsweise einen guten Dienst damit erwiesen. Diese Biester waren mir schon länger ein Dorn im Auge. Ich lasse mir mein Jenseits nicht durch einpaar missgebildete Bit Beasts verpesten. Früher oder später hätte ich sie auch so getötet.“ Dann verfinsterte sich sein Blick und er sprach leise: „Das mir das aber nicht zur Gewohnheit wird. Dranzer hat immer noch eigenmächtig gehandelt und du tust nicht gut daran, ihr jeden Frevel durchgehen zu lassen.“ „Ich weiß.“ „Warum duldest du es dann?“ „Sie ist so… ungestüm. Wenn sie erst einmal aufbegehrt, kann man sie kaum bändigen.“ „Wenn du sie als ihr Mentor nicht gezähmt bekommst, könnte ich es doch künftig versuchen?“ Ein böses Lächeln stahl sich über seine Lippen und Driger zog verärgert die Brauen zusammen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sprach: „Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht gut gehen würde! Sie mag mich zwar auch manchmal übergehen, doch ich bin der Einzige der zu ihr durchdringt. Dich hasst sie…“ Dragoon lachte. Die Aussage kränkte ihn nicht, schien ihn sogar zu erfreuen. Driger ging nicht weiter darauf ein, sondern meinte: „Genug von Dranzer. Was hast du als Nächstens vor? Gibt es etwas, was wir noch tun sollen?“ „Bisher läuft alles wunderbar, mein alter Freund. Lass uns das Schauspiel einfach beobachten. Wenn unsere Gäste nichts verängstigt werden, werden sie schon bald Gefallen an dieser Welt finden.“ * An anderer Stelle saß eine kleine Gruppe Jugendlicher in einem Eiscafe und beobachte deprimiert durch die Scheiben, wie hunderte Gesichtslose, geschäftig in der Shopping Mall auf und ab liefen. Diese Wesen hatten sich in der kurzen Zeit zu Milliarden multipliziert und jeder schien seinem Zweck zu haben. Nur sie wussten nichts mit sich anzufangen. Tatenlos, Ahnungslos, Nutzlos… Drei Eigenschaften die auf sie voll ins Schwarze trafen. Keiner von ihnen wusste wie es jetzt weiterging, keiner wusste wie sie ihre Situation ändern konnte, keiner wusste wie sie nachhause kamen. Ohne Kai war das zum jetzigen Zeitpunkt sowieso nicht möglich. Es stand außer Frage, dass sie diese Welt nicht ohne ihn verlassen würden. Die Einkaufstüte mit seiner Kleidung thronte auf einem der Stühle, als wollte sie mit jeder Minute in Erinnerung rufen, dass noch jemand in ihrem Team fehlte. „Noch einen!“, rief Tyson zum Tresen. Eine gesichtlose Bedienung kam um die Ecke, mit einem bunt geschmückten Eisbecher und hob ein Schild in die Höhe: „Das ist schon ihr Vierter!“ „Ist doch bloß Eis!“ „Mit Eierlikör!“ „Als VIP kann ich machen was ich will, also her mit dem Teil und Schilder in den Arsch geschoben, Penner!“ Lauter als nötig wurde das Tablett auf den Tisch geknallt und der leere Becher abgeräumt. Als sich die Bedienung abwandte, konnte die Gruppe ein Schild erkennen, mit der Aufschrift: „(Flüstern) Arschloch!“ „Das hab ich gelesen!“, rief Tyson, dann wandte er sich kopfschüttelnd an Max. „Denkt der ich bin Legastheniker?!“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Da fragst du den Falschen. Aus diesen Gestalten werde ich nicht schlauer.“ „Wisst ihr, als ich klein war, hat in unserer Welt in diesem Eiscafe so eine hübsche Europäerin gearbeitet“, begann Tyson zu erzählen und seine Wut verflog. Er wurde verlegen und kratzte sich am Nacken. „Das war so eine süße Brünette, mit Sommersprossen und einer total hübschen Stupsnase. Wenn Hitoshi und ich hier einkaufen waren, hat er mir immer ein Eis geholt. Dann hat sie immer gelächelt und mir eine Kugel extra auf die Waffel gepackt.“ Sabber lief Tyson am Mundwinkel zusammen und er rieb sich grinsend den Bauch. „Man hat das lecker geschmeckt. Viel besser als das von dem ollen Gesichtslosen. Die hübsche Dame war total nett. Sie hat mir immer zugezwinkert, weil sie dass ja eigentlich nicht durfte. Stellt euch mal vor sie hätte das bei jedem Kind getan. Der Laden wäre schnell pleite.“ Ray und Max mussten lächeln. Tysons Herz ließ sich schon in seiner Kindheit mit Essen gewinnen. Letzterer schüttelte schließlich den Kopf und meinte: „Tja, die Menschen hier sind einfach nicht dieselben. Das wird diese Scheinwelt uns nie vorgaukeln können. Lasst uns weiter gehen. Vielleicht finden wir Kai…“ Der Rest der Gruppe nickte und Tyson schaufelte eiligst die letzten Löffel in den Mund. Dann erhoben sie sich und liefen aus dem Eiscafe hinaus, natürlich ohne zu zahlen. Schließlich waren sie in dieser Welt VIPs! Wäre ja noch schöner… Keiner von ihnen wandte seinen Blick noch einmal hinter die Eisdiele, sonst hätten sie bemerkt, dass dort seit einpaar Sekunden eine brünette Verkäuferin mit Sommersprossen arbeitete, die mit einem freundlichen Lächeln, kleinen gesichtslosen Kindern eine Extrakugel in den Eisbecher tat, und ihnen anschließend verschwörerisch zuzwinkerte. Die Gruppe ließ sich mit der Rolltreppe, vom ersten Stock nach unten ins Erdgeschoss befördern. Ein herrlicher Springbrunnen plätscherte dort vor sich hin, an dessen Rand sich einige Gesichtslose tummelten, um eine kleine Pause einzulegen. Sie wollten gerade aus der Shopping Mall hinaus, als sie etwas hörten, das für sie schon vollkommen in Vergessenheit geraten war – Stimmen. Andere Stimmen außer ihren eigenen. Einige gesichtslose Schülerinnen rannten an ihnen vorbei. Auf ihren Schildern prangte: „IGITT! IST JA EKLIG!“ Fragend sahen die Jungs der aufgescheuchten Meute nach, bis noch mehr folgten. „Was ist denn los?“, fragte Max. „Keine Ahnung. Lasst uns mal nachsehen!“, antworte Ray und bildete die Vorhut. Neugierig kämpfte die Gruppe gegen den ansetzenden Strom aus davon laufenden Gesichtslosen an und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Die Stimmen wurden lauter, das Erdgeschoss leerte sich und als sie am Brunnen ankamen, blieb ihnen die Spucke weg. Beinahe wären sie am Ursprung des Tumults vorbeigelaufen. Auf der Rückseite des Springbrunnens, hatte sich eine große Schar aus leuchtenden Mäusen gebildet. Sie hockten überall. Vor dem Brunnen, auf dem Brunnen, auf Sitzbänken, Stühlen und Tischen der Eiscafes. Manche guckten aus Blumentöpfen hervor oder saßen auf den Blättern der Pflanzen. Jede erdenkliche Art schien anwesend. Zwergmäuse, Hausmäuse, Streifenmäuse, Springmäuse… Es gab schwarze, graue, weiße, gescheckte, gestreifte und alle leuchteten matt und hinterließen einen kleinen silbrigen Funkenregen hinter sich, wenn sie davon sprangen. Eine graue Hausmaus stand am Rand des Brunnens als wäre es ihre Bühne. Hinter ihr standen vier weiße Zwergmäuse, die immer wieder im Takt ihr Wehklagen beteuerten, wenn die Hausmaus ihre Parolen verkündete. „Denn meine Kinder, sie wusste es nicht besser!“, rief sie über die Menge. „Sie wusste es nicht besser!“, klagten die weißen Mäuse. „Sie wollte nicht auf uns hören!“ „Sie wollte nicht hören!“ „Und nun ist sie tot! Möge Gott ihrer Seele gnädig sein!“ „Ihrer Seele gnädig sein! Amen!“ Ray gab neben Tyson ein unterdrücktes Lachen von sich. Diese Gospel Beerdigung schien er mehr als komisch zu finden und wenn er ehrlich war, konnte Tyson sich auch nur mehr schlecht als recht zusammenreißen. Wie die graue Maus mit ihren kleinen Ärmchen herumfuchtelte und sich aufplusterte – es sah zu drollig aus. „Lasst euch das eine Warnung sein!“ „Eine Warnung! Ja!“ „Nehmt euch kein Beispiel an dieser aufmüpfigen Ketzerin!“ „Kein Beispiel, oh nein!“ „Denn Dizzy hat ihre Strafe bekommen!“ „Eine bittere Strafe! Wie wahr!“ Sofort hielt die Gruppe die Luft an. Mit offenen Mündern sahen die Jungen sich an. Sie waren auf Dizzys Beerdigung und lachten sich auch noch ins Fäustchen! Die Schuldgefühle die in ihnen hochkamen, waren mit keinem Wort zu beschreiben… „Wie oft habe ich ihr gesagt sie soll sich nicht mit den Menschen anfreunden!“ „Freundet euch nicht mit Menschen an!“, sangen die weißen Mäuse. „Doch sie wollte nicht hören. Sie wollte immer zurück zu ihrem Menschen.“ „Zurück zu diesem verruchten Menschen!“ „Sie hat gesagt, wir müssen uns weiterentwickeln. Wir müssten aus unserer Stellung in der Bit Beast Welt ausbrechen. Was hat es ihr gebracht, frage ich euch? Nichts weiter als den Tod und Schande über sie! Sie ist ohne Ehre gestorben! Als Ausgestoßene…“ „Oh du glücklose Ausgestoßene…“, piepste der jammernde Chor kopfschüttelnd. Tyson blieb der Kiefer vor Empörung offen. Der Redner ließ ja kein gutes Haar an ihrer wunderbaren Dizzy. Sie war eine treue Ratgeberin und ehrliche Persönlichkeit gewesen. Wo erwähnte er das? „Hey! Tote soll man nicht in den Dreck ziehen!“, rief er wütend. Gleichzeitig drehten sich alle Mäuseköpfe zu ihm. Dutzende kleine Knopfaugen blinzelten ihn verwundert an. Dann… „Hört nicht auf dieses Phantom! Es ist nichts weiter als eine Täuschung der Uralten! Nun lassen sie diese seelenlosen Geschöpfe bereits sprechen. Und das alles für eine Bande Menschen…“ Die Köpfe wandten sich wieder dem Sprecher zu. Tyson wollte gerade loszetern, als eine kleine schwarze Springmaus aus der Menge hervorhüpfte. „Ausgerechnet ein Phantom spricht mehr Wahrheit als du!“, schimpfte sie. Mit einem weiteren Satz landete sie auf dem Brunnenrand. „Wie kannst du eine deiner Schwestern bloß so verleugnen? Gerade in so schwierigen Zeiten sollten wir zusammenhalten! Dizzy ist keine Ketzerin, sie ist eine Märtyrerin, für alle unterdrückten Bit Beasts die sich von der uralten Generation tyrannisieren lassen!“ „Bist du wahnsinnig?! Rede nicht so laut! Sie könnten dich hören!“, ängstlich blickte die graue Maus umher. Die weißen Zwergmäuse stoben aufgeregt davon. „Mir doch egal!“, antwortete die Springmaus standhaft und klopfte mit ihrem länglichen Fuß demonstrativ auf den Brunnenrand. „Sollen sie doch kommen! Ich fürchte keinen von ihnen! Weder diesen arroganten Singvogel noch den zerzausten alten Kater! Von dem schuppigen zahnlosen Reptil will ich gar nicht anfangen!“ Ein erschrockener Aufruhr ging durch die Mäusemenge. Einige erhoben sich von ihren Plätzen und rannten eiligst weg. Die Ratten verließen das sinkende Schiff… „Driger wird dich in der Luft zerreißen, Allegro! Und uns wirst du mit ins Verderben stürzen! Du kannst denken was du willst, zieh uns aber nicht mit in den Abgrund! Verschwinde!“ „Ich tue was mir gefällt! Soll ich stumm dasitzen und mit anhören, wie die Feigen die Mutigen entehren? Dizzy hat sich mehr getraut als du, trotzdem wagst du es über sie herzuziehen.“ „Ich muss ein Exempel statuieren. Sonst kommen junge Bit Beast auf die Idee es ihr gleichzutun. Ich sorge mich um meine Brüder und Schwestern, im Gegensatz zu dir! Du bist Schuld wenn noch mehr von uns den Uralten zum Opfer fallen…“ „Aber das geschieht doch bereits!“, brauste die Maus namens Allegro auf. „Täglich macht sich Driger einen Spaß daraus uns herumzukommandieren. Er sucht faule Ausreden um einen von uns in seinen gierigen Rachen wandern zu lassen! Draciel überflutet unsere Bauten und lässt uns elendig darin ertrinken! Von Dranzer möchte ich gar nicht erst anfangen. Man kann keinen Schritt auswärts gehen, schon jagt das geflügelte Ungetüm einen durch die Straßen! Und was tut Dragoon? Er rührt keinen Finger! Er heißt das auch noch gut, weil wir für ihn nichts weiter als eine minderwertige Unterklasse sind!“ Er wandte sich der Mäusemeute zu. „Ich sage: Das muss aufhören! Wir müssen anfangen uns zu wehren! Wir sind vielleicht klein und schwach, aber unsere Arbeit ist in der Menschenwelt auch von Nöten, genau wie die von einem hochwohlgeborenen Dragoon, Draciel, Driger oder Dranzer! Heutzutage sind wir sogar wichtiger als noch vor drei Jahrzehnten! Wer wandert durch die Stromkabel in die Lampen der Menschen und erhellt ihre Welt bei Nacht? Wer bringt ihre gesamte Elektronik zum Laufen? Batterien, Akkus, Ladegeräte, alles wir! Himmel, man stelle sich mal vor, was die Menschen ohne Strommäuse tun würden? Was meint ihr wie viele Kinder mit einer Beule auf dem Kopf zur Schule gehen würden, weil sie nachts auf dem Weg zur Toilette die Treppe runtergestürzt sind! Wir sind genau so wichtig wie diese arroganten Uralten!“ „Schweig Allegro! Du vergiftest die Jugend!“, die graue Maus versuchte verzweifelt ihn vom Brunnenrand zu schieben. „Hast du schon mal daran gedacht, von wem wir unsere Energie für unsere Arbeit bekommen? Von den Uralten! Alles basiert auf den vier Elementen. Sie haben das gute Recht uns zu kommandieren!“ „Aber nicht uns zu töten! Wir müssen Dizzy rächen! Vielleicht können uns die Menschen helfen? Wir könnten mit Dizzys Menschen sprechen. Er hat sie geliebt, wie keine andere!“ „Du bist des Wahnsinns! Ein Mäuse Bit Beast hat sich noch nie mit einem Menschen eingelassen. Wegen diesen Menschen haben wir doch diese Probleme. Schau doch was es Dizzy eingebracht hat!“ „Die Uralten sind das Problem nicht die Menschen. Sie handeln aus reiner Willkür! Wir müssen es wie die Menschen tun! Wenn bei denen etwas nicht klappt, dann streiken die Menschen! Ja genau! Wir streiken!“ „Hört nicht auf ihn! Hört nicht auf ihn!“ „Generalstreik! Flächenstreik! Schwerpunktstreik! Viva la Résistance!“, rief Allegro und kämpfte gegen die graue Maus an, die ihre ganze Energie darin einsetzte, ihn vom Rand zu stoßen. Tyson hatte das Gefühl, dass Allegro nicht genau wusste, was er da hinausposaunte. Er schien die Worte irgendwo aufgeschnappt zu haben. Trotzdem fand er ihn sympathisch. Allegro hatte etwas wunderbar Rebellisches an sich und traute sich mehr zu, als seine Artgenossen. Der Junge trat etwas näher an den Brunnen heran, ging davor in die Hocke und beobachtete die rangelnden Mäuse. „Wenn ich mich mal einmischen darf, ich finde Allegro hat Recht.“, sprach Tyson schließlich. Sofort hielten die beiden Mäuse in ihrer Bewegung inne. Dabei saßen sie in einer irrwitzigen Position fest. Allegro hatte sein Ärmchen im Maul der grauen Maus versenkt, während die ihren auf sein rechtes Auge presste. „Wie bitte?“, fragte Allegro ungläubig. „Naja. Was du gesagt hast… Menschen sind ohne Elektrizität voll am Arsch.“ „Am Arsch?! Wie vulgär!“, piepste die graue Maus schnippisch. Tyson schenkte ihr keine Beachtung. Sie kam wie die Klassenpetze rüber. Die Art von Leuten, denen auf dem Schulhof gerne die Unterhose über den Kopf gezogen wurde. „Wenn ihr wirklich so viel in der Menschenwelt bewegt… Wow! Davon hatte ich echt keine Ahnung! Was ist wenn ich Game Boy spiele? Seid ihr da auch drin!“ „Oh! Ein Phantom das seinen Horizont erweitern möchte? Das lobe ich mir!“ Die graue Maus ließ von Allegro ab, nahm Anlauf und wollte ihn mit Schwung von der Kante stoßen. Doch der hopste zur Seite und mit einem Aufschrei rollte sie stolpernd vom Brunnenrand. Allegro widmete sich voller Freude Tyson zu. „Ja aber gewiss! Da sind wir auch! Wir sind überall wo Energie gebraucht wird!“ Max und Ray kamen näher. Ersterer fragte: „Auch in meiner elektrischen Zahnbürste?“ „Natürlich.“ „Fernbedienung?“ „Freilich.“ „Was ist mit meiner Autobatterie?“, fragte Tyson - Ganz der Autonarr. „Alles wir.“ „Cool!“, kam es im Chor von der Gruppe. Da tauchte die graue Maus wieder auf und kletterte ächzend den Brunnenrand hoch. Sie konnte es bei weitem nicht so elegant wie Allegro. „Wie auch immer…“, keifte sie und sprang hinauf, wandte sich der Mäusemeute zu. „Ihr habt gesehen was mit Dizzy passiert ist. Lasst euch also auf gar keinen Fall auf das Menschenpack ein, dass die Uralten hier angeschleppt haben! Helft ihnen nicht, sprecht nicht mit ihnen oder noch besser - seht sie einfach nicht! Wenn ihr einem Menschen begegnet, geht ihm aus dem Weg! Ein kilometerweiter Bogen um diese Kreaturen!“ Eine kleine Mäusepfote hob sich aus der Menge. „Die grauweiß getüpfelte Maus ganz Links hat das Wort.“ Ein unsicheres Räuspern kam von dem angesprochen Bit Beast und ganz schüchtern fragte die kleine Maus: „Entschuldigung ehrenwerter Vorsitzender, aber wie sollen wir die richtigen Menschen von den Phantomen unterscheiden? Ein Stockwerk höher hat eines von ihnen bereits ein Gesicht und mein Cousin sagt, dass er schon drei oder vier mit Stimmen entdeckt hat.“ „Das ist ein Problem. Hmm… Da müssen wir eine Lösung finden.“ „Wir können helfen“, meinte Max grinsend. „Pah… Dieses Phantompack! Warum können die bloß neuerdings sprechen? Als sie dumm und gesichtslos waren, mischten sie sich in weniger Dinge ein…“ „Ach Gott. Das tut mir aber Leid, “ antworte Max und gaukelte eine mitleidige Schnute vor. „Aber ich mach es kurz, nur um dich nicht weiter zu belästigen: Wir sind die Menschen.“ Stille. Die gesamten Köpfe der Mäuse wandten sich der Gruppe zu. Dann wieder zu ihrem Anführer. Und plötzlich brüllte der: „MENSCHEN!!!“ Dann brach ein Tohuwabohu aus! Überallhin stoben dutzende der Nagetiere davon. Egal welche Fellfarbe sie zuerst gehabt hatten, plötzlich verwandelten sich alle in kleine, blaue, zischende, mäuseförmige Blitze. Sie verschwanden hinter Ladenecken, rannten aus der Shopping Mall, einige schossen Funken sprühend in die Deckenlampen über ihnen. Die Gruppe rührte sich nicht von der Stelle, aus lauter Angst, eines der scheuen Tierchen zu zertreten. Tyson balancierte wacklig auf einem Bein, während die Bit Beasts, wie eine elektronisch geladene Flut, bestehend aus einer Masse von kleinen Köpfen, Knopfaugen und Ärmchen, an seinem Fußknöchel entlang schossen. Erst als der Strom der Flüchtenden nachließ, traute er sich wieder das andere Bein auf dem Boden abzusetzen. „Wow! Was für eine Massenpanik!“, meinte Max lachend. Er hatte es mit seinem Geständnis wohl darauf angelegt, denn er lachte lautstark. Ein Piepsen drang zur Gruppe. Eine leicht verwirrte Maus konnte sich nicht entscheiden wohin. Sie rannte nach links, überlegte es sich auf halber Strecke anders, dann wieder nach rechts und dasselbe Spiel noch mal. Ein gemeines Grinsen huschte über Tysons Gesicht und er stampfte mit einem „Buh!“ einmal hart auf dem Boden auf. Sofort machte die Maus einen erschrockenen Satz, verwandelte sich in einen Blitz, schoss durch ein verglastes Schaufenster, das in dutzende Scherben zerbarst und verschwand in einer elektronischen Registrierkasse. Die zerbrochenen Scheibenstücke prasselten laut klirrend auf dem Boden, während der gesichtslose Verkäufer im Laden, fassungslos die Hände über den Kopf schlug und wild gestikulierte. „Das war gemein Tyson!“, tadelte Ray verständnislos, doch seine Freunde brachen nur in schallendes Gelächter aus und hielten sich vor Anstrengung den Bauch. Sie fühlten sich wie kleine Kinder die in einer Einkaufspassage Tauben jagten. Allein die Panik der „Obermaus“ war Gold wert gewesen. Dann… „AUTSCH!“, prallte ein kleiner Funken gegen Tysons Wange. Dann Max: „AUA! HEY!“ Wieder Tyson. Dann noch mal Max. Und schon prallte der kleine Blitz immer wieder zwischen ihren Köpfen hin und her, bis sich die Jungs schützend die Hände darüber schlugen und wild durch die Gegend rannten. Keine Minute verging und die ersten roten Stellen erschienen auf den Gesichtern seiner Freunde, doch der kleine Funken wurde seiner Tätigkeit nicht müde. Ray stand Hilfe suchend daneben, bis sein Blick auf einen Intersport Store fiel. Draußen an der Eingangstür, ragten dutzende Golfschläger, aus einem trommelförmigen Behälter. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, rannte er auf den Laden zu, klaubte sich einen aus dem Eimer und schritt eiligst zurück. Gerade als der Blitz noch einmal Max attackieren wollte, ging er dazwischen und schlug mit aller Kraft nach dem Bit Beast. BAMMM! Plötzlich sprühten die Funken nur durch die Gegend und Ray ließ zuckend einen lauten Schrei fahren. Irgendwann glitt der rauchende Schläger zu Boden. Dann wurde alles still. Ihr Freund schwankte einpaar Schritte nach hinten und landete benommen auf einer Sitzbank, wo er erstmal stöhnend sitzen blieb. Er hatte einen Blick drauf, als wüsste er selbst nicht was mit ihm passiert war. Sofort rannten Tyson und Max zu ihm. „Ray! Alles in Ordnung?!“ „Wie viele Finger siehst du?“ Tyson fuchtelte wie wild mit seiner Hand vor dessen Gesicht. Doch Ray gab keine Antwort. An vereinzelten Stellen standen seine Haare zu Berge und sein rechtes Augenlid zuckte. „Scheiße, was war denn das?“, fragte er fassungslos. „Der Golfschläger ist aus Metall! Nicht einmal der Griff ist aus Gummi… Da kannst du doch nicht nach einem Blitz schlagen!“, meinte Max. Er tätschelte seinem Kumpel fürsorglich über die Schulter. „Ray, das lernt man in der fünften Klasse. Wenn nicht sogar durchs Fernsehen…“ Ein geknicktes „Upps… Vergessen…“ kam von seinem Freund. Dann ließ er sich in die Lehne fallen. Einpaar Sekunden starrten sie mitleidig auf Ray herab, bis ein Stöhnen zu der Gruppe drang. Neben dem Golfschläger torkelte die kleine Gestalt von Allegro hin und her. Die schwarze Springmaus konnte nicht einmal gerade laufen. Irgendwann ließ sich das Bit Beast einfach auf den Hintern plumpsen, schloss die Augen, während das kleine Köpfchen benommen in alle Richtungen schwankte. Er sah aus wie ein zu klein geratener Wackeldackel. Tyson tat das winzige Kerlchen irgendwie Leid. Er schritt langsam auf das Bit Beast zu und ging davor in die Hocke. „Alles klar bei dir?“ „Du! Rede nicht mit mir!“, bockte Allegro. Es sollte wohl mutig klingen, doch die Erschöpfung war deutlich herauszuhören. „Erschreckst einfach so meine Sippe. Schämst du dich nicht?“ Tyson kratzte sich am Nacken und meinte: „War doch bloß ein Scherz. Ich hab das nicht so gemeint…“ „Dank deinem Scherz werden Strommäuse niemals vertrauen zu Menschen fassen! Ach, die gute Dizzy... Ich wünschte sie wäre noch hier. Sie hat mir stets so viele Geschichten über ihren Menschenjungen erzählt. Der schien viel netter als ihr.“ „Ich kann auch nett sein!“, beteuerte Tyson wichtigtuerisch. „Das glaube ich weniger. Geschieht euch Recht was euch passiert ist! Obwohl… Um den anderen Jungen tut es mir Leid. Den wollte ich nicht treffen. Der schien mir ganz vernünftig.“ Tyson und Allegro blickten zu Ray, der noch immer total groggy auf der Bank saß. Er stand total neben sich und rief: „Ich find dich auch toll! Wollt schon immer mal von einem Blitz getroffen werden!“ Max gab ein mitleidiges Lachen von sich. Allegros Funken hatte sich angefühlt, als würde jemand einen Ballon am Haarschopf reiben und die elektrische Ladung nutzen, um seinem Kumpel einen kleinen Stromschlag zu verpassen. Es war unangenehm, aber nicht besonders schmerzhaft gewesen. Ray hatte aus purer Freundschaft die ganze verstärkte Wucht abbekommen. Max schlang einen Arm um dessen Taille, hievte seinen Freund von der Bank hoch und zusammen schritten sie auf Tyson zu. Der meinte zu Allegro: „Du hast Dizzy gekannt?“ „Die gute Dizzy? Natürlich. Sie war mein Vorbild.“ Das Bit Beast schüttelte traurig den Kopf, ließ die kleinen Ohren hängen. „Es ist ein Jammer. Einfach so getötet… Keine andere Maus hat sich das getraut, was sie getan hat. Stärkere Bit Beast haben Angst euch zu helfen, aber Dizzy als schwächstes Glied, hat den Mut aufgebracht.“ „Deine Familie hat eine seltsame Art ihre Bewunderung auszusprechen.“ Ein verächtliches Schnauben kam. „Die?! Wer sich auf die verlässt, ist selbst verlassen! Feiges Pack. Kein Funken Stolz im Mäuseleib. Das Schlimme ist, alle aus meiner Sippe sind so. Nur Dizzy… Sie war anders. Und jetzt ist sie tot.“ Allegro senkte den kleinen Kopf. „Sie wollte mir auch irgendwann einen Menschen finden. Einen guten Menschen. So wie ihren, damit ich für immer von hier weg kann. Ich wollte schon immer mehr von der Menschenwelt sehen. Aber die Menschen denken nicht mehr an Bit Beasts. Sie nennen uns einen vorübergehenden Trend.“ Tyson wollte das Gegenteil behaupten, doch ihm fiel ein, dass er nicht besser war. Jede Antwort wäre pure Heuchelei gewesen. Dann kam ihm ein Gedanke… „Weißt du, nicht die Bit Beast sind in Vergessenheit geraten, Beyblades sind nicht mehr im Trend. Die Leute von damals sind erwachsen geworden. Gibt es denn keine anderen Hüllen in die ihr Schlüpfen könnt? Etwas Alltäglicheres? Muss es ein Beyblade sein?“ „Das kann ich dir nicht beantworten. Ich war noch nie in einer Hülle.“ „Allegro, weißt du wie man aus der Irrlichterwelt gelangt?“, fragte Max unvermittelt. Das kleine Kerlchen schien das einzige Bit Beast zu sein, mit dem man normal sprechen konnte. „Warum sollte ich euch helfen?“ „Naja, weil du so viel netter bist.“, antwortete Tyson. Er wollte nicht schleimen, es war einfach die Wahrheit. Hier vor ihnen saß das erste Bit Beast, das sie nicht fressen oder zerfleischen wollte. Man konnte mit Allegro sprechen wie mit einem Menschen. „Wir hatten bisher nur die Bekanntschaft mit ziemlich… Sagen wir mal, fragwürdige Kreaturen. Du scheinst anders zu sein.“ „Ihr meint die Hyänen?“ „Woher weißt du das?“ „So etwas bleibt nicht lange geheim. Die ganze Hyänensippe ist ausgelöscht worden! Ich würde lügen, wenn ich sage, dass es mir um diese ekligen Geschöpfe Leid täte. Sie haben uns gejagt. Dranzer und Driger haben uns ungewollt einen Dienst erwiesen. Doch die Art wie sie es getan haben… Einfach furchtbar. Eine ganze Sippe ausgelöscht, innerhalb von einpaar Minuten.“ Ein kalter Schauer jagte durch den Mäusekörper. „Seid dem ist sich kein schwächeres Bit Beast sicher, ob es nicht als nächstes getötet wird. Wir sind eigentlich Geister und unsterblich. Nur in unserer Welt kann man uns töten. Und die Uralten. Die können jeden hier töten…“ „Wenn das so ist, solltest du uns nicht helfen.“, sprach Tyson. „Ich will nicht dass dir dasselbe passiert wie Dizzy. Schlimm genug dass sie nicht mehr da ist.“ Ein zustimmendes Nicken kam von Max. Ray wäre wohl auch dafür gewesen, aber er schien leicht… abwesend. Wobei das noch untertrieben war. Allegro sah auf und blickte Tyson in die Augen. Die schwarze Springmaus legte den Kopf leicht zur Seite und Tyson hatte das Gefühl, als würde er ihn röntgen. Irgendetwas schien das Bit Beast aus seinen Augen zu lesen. Nach kurzer Zeit, sprang es nämlich auf und sagte: „Wer wäre ich denn, wenn ich nicht das Werk der edlen Dizzy beenden würde? Ich bin doch nicht so ein Feigling wie der Rest meiner Sippe! Ich hoffe schwer, ihr meintet das nicht ernst, sonst wäre ich mehr als verstimmt, meine Herren!“ Tyson musste Grinsen. Er behielt Recht mit seiner Vermutung. Allegro war ein waschechter Rebell. Ende Eigentlich wollte ich das Kapitel jetzt noch gar nicht posten, weil ich im Moment eine riesige Schreibblockade habe. Ich weiß wie die Geschichte endet, ich weiß worauf sie hinausläuft, nur der Weg dorthin, der will nicht so recht aus meinem Kopf kommen. Das Ganze lief noch flüssiger als ich mich vor einem Jahr an das erste Kapitel gesetzt habe. Außerdem fehlt mir komplett die Motivation weiterzuschreiben. v__v Naja, wie auch immer. Ich versuche weiterzumachen. Stellt euch aber auf längere Wartezeiten ein. LG Eris Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)