Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 15: ------------ Den Weg zur Stadt schwieg die Gruppe. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach, was mitunter daran lag, dass ihre Erinnerungen langsam zurückkamen. Dranzers Tod schien diesen Effekt ausgelöst zu haben, als wäre ein Fluch der über ihnen lag gebrochen. Sie waren alle Anfang Zwanzig, hatten einen Job und Ray war sogar dabei, eine Familie zu gründen. Das waren Informationen die erst einmal verdaut werden mussten… Erschwerend kam noch hinzu, dass sich keiner von ihnen noch wie ein Erwachsener fühlte. Wenn sie auf ihre Hände blickten, waren es Kinderhände. Wenn sie sprachen, schallten jugendliche Stimmen durch die Gassen. Ihr altes Leben schien ihnen so fern, als wäre es nur noch ein Traum gewesen. Vor einer Boutique hielt Tyson und begutachtete sein Spiegelbild. Mal von rechts, mal wieder von links. Skeptisch blickte er sich selbst an, ungläubig ob er wirklich gefangen in einem Kinderkörper oder nicht vielleicht doch nur ein Kind war. Die Unterschiede zu seinem Erwachsenen Alter Ego waren enorm. Bei dem Gedanken, dass er als zweiundzwanzigjähriger Mann ein Mädchenschwarm war, spielte ein spitzbübisches Grinsen um seinen Mundwinkel. Unweigerlich drangen einpaar Erinnerungsfetzen, der besonders intimen Art, in sein Gedächtnis und er konnte nicht anders, als stolz die Brust zu heben. Wer seine jetzige Erscheinung sah, hätte ihm wohl niemals einen solchen Lebenswandel zugetraut. Er wurde abrupt aus seinen Überlegungen gerissen, als Maxs Silhouette ebenfalls auf das Schaufenster fiel. Seine Gangart war schwer und sein Gesicht ernst. Bis vor kurzem war Max der Überzeugung gewesen, dass seine Mutter noch lebte, nun kehrte die Realität zurück. Tyson beobachtete heimlich, wie Max auf Kai hinabblickte, dessen Glieder träge hinabbaumelten. Ihr Freund war bis jetzt nicht zu Bewusstsein gekommen. Er schlief ruhig in Maxs Armen, als wolle er gar nicht mehr aufwachen. Dann, als würde das Kind ihm einen sicheren Halt geben, drückte Max ihn fester an sich. Um nichts auf der Welt hätte Tyson jetzt in Maxs Haut stecken wollen… Nach einer sinnlosen Stunde des Umherirrens, machte der Trott schließlich Rast. Sie hatten nach wie vor keine Ahnung wo sich der Ausgang aus der Irrlichterwelt befand. Es war ja schließlich nicht so als ob er ausgeschildert war. Allegro konnte ihnen diesbezüglich auch nicht weiterhelfen. „Wüsste ich, wie man von hier verschwindet, hätte ich es schon längst getan.“, versicherte er ihnen. Wie sie anschließend erfuhren, trieben Strommäuse zwar elektrische Geräte in der Menschenwelt an, aber nur so lange, bis ihre Energie, die sie von den Uralten bezogen, aufgebracht war. Danach mussten sie umgehend wieder in die Irrlichterwelt zurückkommen, sonst verendeten sie qualvoll. Nur ein Bit Beast, das eigene Energieressourcen besaß, konnte dauerhaft bei den Menschen leben. Deshalb hatte es Allegro nie geschafft, von hier zu verschwinden. So gesehen, stellten also er und seine Sippe, das einfache Arbeitervolk da und wurden nur dirigiert. Tyson passte dieser Gedanke gar nicht. Vor allem missfiel ihm, dass ausgerechnet sein Bit Beast diesen Zustand guthieß. Sie passierten gerade eine Brücke, die zum Peninsula Tokyo führte, als sich Tyson seufzend auf einer Sitzbank niederließ. „Das führt doch zu nichts. Wir können nicht weiterhin so planlos durch die Stadt laufen und darauf hoffen, dass uns der Ausgang zufällig in den Schoß fällt. Last uns mal eine Pause machen und uns überlegen wie es weitergehen soll.“ Ray nickte und tat es Tyson gleich, indem er sich setzte. Seine Füße schmerzten, er war müde, Hunger und Durst plagte ebenfalls. Es wäre auch mal wieder an der Zeit etwas zu essen, wenn ihnen hier schon die Fünf Gänge Menüs quasi hinterher geworfen wurden. „Mir ist gerade etwas eingefallen“, meinte Max. Alle Augenpaare wanderten zu ihm. Seit einiger Zeit hatte sich ihr Freund nicht mehr zu Wort gemeldet. Das erste Mal sprach er jetzt wieder. „Hat Dizzy nicht zu uns gesagt, dass die Schwelle zur Irrlichterwelt, am Halloween Wochenende, immer kleiner wird?“ Die Gruppe nickte. „Was passiert, wenn wir es bis zum einunddreißigsten Oktober nicht hier raus schaffen?“ Stille kehrte ein. Und als sich die Erkenntnis in ihren Köpfen formte, klappte Tyson und Ray der Mund auf. Daran hatten sie nicht im Entferntesten Gedacht. „Ja genau! Was wird dann aus uns?“, rief Tyson erschrocken aus. „Dizzy hat doch gesagt, dass unsere Bit Beast nur an Halloween zuschlagen konnten, weil die Schwelle da am schwächsten ist. Heißt das, dass es für uns nach Halloween schwieriger wird, nachhause zu kommen?“ „Entweder das oder es ist dann unmöglich.“, antwortete Ray nachdenklich. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe und in seinem Kopf schienen die kleinen Zahnräder auf Hochtouren zu rattern. „Wir müssen verschwinden. Egal wie, es muss schnell gehen.“ Er schaute auf seine Uhr und bemerkte, dass sie stillstand. „Na toll. Weiß jemand wie spät es ist? Wie viel Zeit haben wir bisher vertrödelt?“ Tyson wollte antworten, doch dann stockte er… Er meinte zu glauben, dass sie bisher an keiner einzigen Uhr vorbeigekommen waren. Das war in Tokyo schier unmöglich! In dieser Metropole wurden riesige Bildschirme an Häuserwände befestigt, um stündlich die Nachrichten zu übermitteln. Vor zwei Jahren, war er sogar in einem ziemlich schrägen Club, über eine Toilettenschüssel gestolpert, die einem mit Angelina Jolies Stimme die Uhrzeit verkündete, wenn man Wasser abließ. Er wandte sich zu Allegro, der es sich auf der Lehne der Bank bequem gemacht hatte und fragte: „Woran merkt ihr in der Irrlichterwelt wie viel Uhr es ist?“ „Uhr? Sind das diese komischen Ziffernblätter, die ihr Menschen benutzt?“ „J-Jah! Jetzt sag mir nicht, du weißt nicht, wozu die gut sind?!“ „Ich habe schon mal vier oder fünf mit Strom versorgt, aber einen tieferen Sinn, sah ich in diesen Geräten nicht.“ Tyson jaulte auf und vergrub das Gesicht in den Händen. „Das ist ein Alptraum“, hörten sie seine Stimme dumpf schallen. „Wo liegt denn das Problem?“, fragte Allegro verständnislos. Sie hätten es ihm gerne gesagt, aber wie sollte man etwas so simples und uraltes wie die Zeit erklären? Als keine Antwort kam, schüttelte die Maus den Kopf und meinte: „Ihr seid mir schon ein komischer Haufen. Aber wenn es euch weiterhilft, ein Tag in der Menschenwelt, entspricht zwei in unserer Welt.“ Ein erleichtertes Seufzen machte die Runde, gefolgt von einigen Kommentaren: „Das hättest du ruhig früher sagen können!“ „Gott sei Dank!“ „Ich dachte schon es wäre zu spät…“ Allegro hüpfte aufgeregt auf und ab. „Ich bin empört, meine Herren! Das ist Allgemeinwissen! So etwas bekommen wir Strommäuse von klein auf gepredigt und ihr wollt mir weiß machen, dass ihr das nicht wusstet?“ „Natürlich nicht“, entgegnete Ray. „Wir sind schließlich nicht von hier.“ „Das ist doch keine Entschuldigung! Ich bin auch nicht von eurer Welt, trotzdem weiß ich wie viele Tage bei uns vergehen müssen, bis auch bei euch die Nacht hereinbricht.“ „Das ist aber keine Information, die man sich einfach mal so aus dem Internet zieht.“, verteidigte sich Tyson lachend und kratzte sich am Nacken. Für Allegro mochte dieser Zustand normal sein, aber für sie war diese Umgebung vollkommen neu, auch wenn sie sich hinter der Fassade ihrer eigenen Welt verbarg. „Derjenige der gewillt ist, wissen zu häufen, findet immer einen Weg, es sich anzueignen.“, sprach Allegro voller Inbrunst und setzte sich dabei in die Pose eines Dichters, der sein Werk vor offenem Publikum preisgab. Von Ray und Max kam ein verkniffenes Lachen, während Tyson schmunzelnd mit den Augen rollte. „Na schön, Sokrates. Dann lass uns doch bitte einen Happen deiner geballten Power aus Weisheit abbekommen.“, er deutete hinauf. „Von dem ganzen Nebel, weiß man gar nicht ob es Tag oder Nacht ist. Wie spät ist es jetzt?“ Allegro erhob sich auf seine Hinterpfoten und schnüffelte in der Luft. „Riecht nach Abendrot, wenn ihr mich fragt.“ Ray lachte laut auf. „Wie riecht denn bitte schön Abendrot?“ „Na wie Abendrot eben.“, meinte Allegro Schulter zuckend. „Nach der Müdigkeit fleißiger Geister, die sich für die Nachtruhe vorbereiten und den Geschichten, den sie den Jüngeren erzählen, wenn sei gemeinsam in ihren Schlafhöhlen liegen. Nach der Sonne, die vom Horizont verschluckt wird und dem Mond, der seine tanzenden Sternenschare hinter sich herzieht, um sich auf den Weg zum Himmel zu machen.“ Wären ihre Gesichter aus Papier, hätte sich jemand die Mühe machen müssen, ihnen jeweils ein Fragezeichen aufzumalen. Jeder von ihnen sah verdatterter drein, als der andere. Sie hatten niemals mit so einer präzisen Antwort gerechnet. Tyson versuchte krampfhaft, auch nur eines der Dinge zu erriechen, die Allegro aufgezählt hatte, aber bis auf den dunstigen Nebel, konnte er nichts ausmachen. Er kratzte sich ratlos am Kopf und meinte schließlich: „Tja, wie ihr hört ist es eindeutig Nacht Jungs.“, er wandte sich an seine Freunde und meinte müde. „Ich will genauso von hier weg wie ihr, aber ich kann meine Augen bald nicht mehr aufhalten. Wollen wir nicht einwenig Schlaf nachholen?“ „Von mir aus gerne. Kai wird so langsam schwer, “ entgegnete Max und rückte das kleine Kind in seinen Armen in eine angenehmere Position. „Aber wohin?“ „War an dieser Stelle nicht irgendwo unser Hotel? Vielleicht existiert es hier auch?“, fragte Ray. „Ja schon. Aber…“, Max zog den Kopf leicht zwischen die Schultern. „Mir graut es davor, wenn ein Bit Beast dort auftaucht. Was ist, wenn das Gebäude genauso in sich zusammenbricht, wie das Hiwatari Anwesen? Und wir schlafen darin noch…“ Stille. „Wir sollten draußen schlafen.“, meinte Tyson eilig. „Hier kann uns schlimmstenfalls der Himmel auf den Kopf fallen. Im Hotel wissen wir sowieso nicht, was sich draußen abspielt. Wenn ein Bit Beast sich uns nähert, können wir nicht einmal rechtzeitig schalten.“ „Aber hier draußen sitzen wir doch auch wie auf dem Präsentier-…“, Ray stoppte abrupt und fixierte einen kleinen Lieferwagen, der etwas weiter hinten am Bürgersteig parkte. Die Bequemlichkeiten zum Schlafen, hatte sich die Gruppe schnell aus den örtlichen Hotels zusammengeklaubt und in den Van verfrachtet, der natürlich, wie alle anderen Autos hier auch, offen stand. Als kleinen Bonus für die Torturen der letzten Stunden, hatten sie sich zusätzlich noch mit Proviant – vor allem Süßigkeiten – eingedeckt. Die gesichtslosen Phantome, an der Rezeption des Hotels, hatten zwar entsetzt, wegen ihrem Vorhaben, die Hände über den Kopf geschlagen, doch Tyson hatte feixend auf ihr Recht als VIPs plädiert. Als der Van mit allem ausgestattet war, was das Herz begehrte, teilte die Gruppe eine Nachtwache ein – Vorsicht war bekannterweise besser als Nachsicht. Ihr Plan bestand darin, bei der kleinsten Auffälligkeit den Motor anzuschmeißen und ein eventuell angreifendes Bit Beast ihren Staub fressen zu lassen. Die erste Schicht wollte Ray übernehmen. Dazu setzte er sich auf die Fahrerseite, wärmte sich über einem kleinen Gaskocher eine Nudelsuppe auf, während Allegro ihm Gesellschaft leistete. Die Springmaus meinte, dass sie nicht jeden Tag auf Schlaf angewiesen war. Tyson beruhigte das insgeheim. Wenn Allegro das Abendrot riechen konnte, dann sicherlich auch feindliche Bit Beasts. Nach Ray würde Max die zweite Wache übernehmen und zuletzt Tyson. Hinten im Gepäckraum, hüllte sich der Rest der Gruppe, in die weichen Decken des Hotels, insgeheim dankbar darüber, dass sich jemand die Mühe gemacht hatte, Autos zu erfinden. Der Abend hatte beinahe etwas von einem ihrer früheren Campingausflüge. Das Letzte was Tyson ins Auge fasste, bevor er sich in die Kissen fallen ließ, war die Gestalt von Kai, den er und Max zwischen sich platziert hatten. Noch immer war der Junge nicht zu Bewusstsein gelangt. In ihm keimte der Verdacht auf, dass Kai nicht ohnmächtig, sondern in eine Art Koma gefallen war. „Der wird schon wieder, Kumpel.“ Tyson sah zu Max, der ihn wohl heimlich beobachtet hatte. Ein aufmunterndes Lächeln spielte um seinen Mund. „Das ist Kai. Der steigt immer wie Phönix aus der Asche.“ Zwar schwang in seiner Stimme eine kleine Note Sorge mit, doch Tyson überhörte sie geflissentlich und tat, als ob Max Worte ihm die Angst genommen hätten – auch wenn dem nicht so wahr. Er wollte seinen Freund nicht noch mit seinen Problemen belasten… Dass Max davon nämlich genug hatte, merkte er, kurz bevor dessen Wache an der Reihe war. Mitten im Schlaf wurde Tyson durch ein leises Schluchzen geweckt. Er drehte sich vorsichtig zu Kai, doch bei ihm hatte sich nichts getan. Dann konnte er im Dunkeln Rays Silhouette ausmachen, die neben Max kniete und leise auf ihn einsprach. Zwar lag er mit dem Rücken zu ihm, doch Tyson konnte sehen, wie Maxs Schultern bebten. Inzwischen flüsterte Ray tröstend auf Max ein und versicherte ihm, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde. „Was mache ich jetzt? Meine Mum ist tot…“, hörte er ihn schluchzen. Die Erinnerung war nun vollkommen zu ihm durchgedrungen und er wurde sich der Tragweite bewusst. „Ich war so ein Arschloch. Bei unserem letzten Telefonat habe ich sie nur angeschnauzt. Ich habe mich noch nicht einmal entschuldigt…“ „Du konntest es nicht wissen, Max. Es ist nicht deine Schuld.“, flüsterte Ray eindringlich auf ihn ein, um die anderen nicht zu wecken. Er hatte wohl nicht bemerkt dass Tyson wach war. „Ich wünschte ich wäre bei Dad. Es muss ihm furchtbar gehen. Hoffentlich macht er sich keine Sorgen um mich.“ Max Schluchzen wurde leiser und er räusperte sich. Dann richtete er sich einwenig auf und sprach fast schon beschwörend. „Ray, wir müssen nachhause! Mein Vater hat meine Mutter schon verloren. Wenn ich jetzt auch noch verschwinde, hat er niemanden mehr. Ich muss unbedingt zurück!“ „Ich weiß Max.“ Tyson vernahm die Spur eines Lächelns in Rays Stimme. „Wir schaffen das. Ich verspreche es dir. Keiner von uns hätte geahnt dass wir Dranzer überleben, trotzdem haben wir es vollbracht.“ Er hörte wie Ray Max aufmunternd auf die Schultern klopfte. „Warum sollten wir es also nicht nachhause schaffen? Wir helfen dir, wann immer du uns brauchst. Sei es in der Irrlichterwelt, oder…“ Eine kurze Pause „ …wenn du in der Menschenwelt die Beerdigung vorbereiten musst. Sobald du glaubst, dir wächst alles über den Kopf, sagst du uns sofort Bescheid. Wir lassen dich nicht alleine, okay?“ „Okay.“ Wieder trat ein kurzes Schweigen ein, bis Max es mit belegter Stimme unterbrach: „Danke, Ray.“ „Dafür brauchst du mir nicht danken. Wir haben alles als Team gemeistert. Jetzt meistern wir auch das – Deine Sorgen sind unsere.“ Tatsächlich meinte Tyson, dass Max daraufhin etwas ruhiger wurde und wer konnte es ihm verübeln? Ray hatte eine unerschütterliche Aura, er war ein Fels in der Brandung. Durch seine Ehekrise war dieser Fels zwar ins Wanken geraten, doch nun schien er wieder mit ganzer Macht anwesend zu sein. Diese Welt konnte noch so chaotisch und verwirrend sein, doch ihren Zusammenhalt konnte sie nicht zerstören. Dieser Gedanke machte Tyson so glücklich, wie die Tatsache dass sie jetzt alle wieder vereint waren. Gefühlte zehn Minuten später stand Ray auf und ging wieder zurück in den Fahrerbereich. Tyson drehte sich noch einmal zu Max, etwas unsicher ob es seinem Freund nicht peinlich war, dass er seinen Gefühlsausbruch miterlebt hatte... Der war aber vor Erschöpfung wieder eingeschlafen. „Aufstehen, Tyson.“ Als er zum zweiten Mal die Augen öffnete, sah man Max die Trauer über seine verstorbene Mutter nicht mehr an. Entweder ging es ihm wirklich besser oder er war ein verdammt guter Schauspieler. Mit seinem typischen Strahlemann Lächeln meinte er nur: „Du bist jetzt dran. Und nicht wieder einschlafen! Die Ausrede dass du nur deine Augen kurz ausruhen wolltest, kennen wir alle zu gut.“ Tyson seufzte, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen. Als er sich streckte und die Decke von seinen Füßen strampelte, kam ihm der Vorfall von zuvor in den Sinn. Er überlegte noch, ob er Max darauf ansprechen sollte, aber da der es sich schon wieder auf seinem provisorischen Bett gemütlich machte, ließ er von dem Gedanken ab. Ihn pausenlos an den Tod seiner Mutter zu erinnern, schien Tyson nicht hilfreich. Als er sich in den Fahrerbereich setzte und sich aus ihrem Proviant etwas zum Essen schnappte, dachte er an die Zeit zurück, als seine eigene Mutter gestorben war. Damals war er anfangs von der Anteilnahme gerührt gewesen, aber irgendwann belastete es ihn immer mehr, vor allem wenn die Leute ihn mit ihren mitleidigen Blicken musterten. Der Tod seiner Mutter war dadurch tagtäglich präsent geworden. Er hörte Nachbarn darüber sprechen, wie elend es ihr doch ergangen war und sah sie schlagartig vor seinem inneren Auge wieder im Bett liegen, wo doch das Zimmer bereits leer stand. Das Bild von ihrem ausgezehrten Gesicht und dem abgemagerten Körper, der Tag für Tag im Bett vor sich hin vegetierte, ließ sich immer schwieriger aus seinem Kopf verbannen. Dieses müde Lächeln das sie ihm schenkte – erschöpft von dem Kampf gegen die Krankheit, den sie jeden Tag aufs Neue aufgenommen hatte. Irgendwann war es soweit gewesen, dass, wann immer er an ihrem leerstehenden Zimmer vorbei ging, das ständige Piepsen ihrer Geräte zu hören glaubte. Eines nachts - nachdem Tyson sich erneut von der einen Seite der Matratze auf die andere gequält hatte, nur um letztendlich doch resignierend aufzustehen, um zu seinem Bruder ins Bett zu kriechen - war er in der Finsternis des Flurs, an ihrer offenen Zimmertür vorbeigeschlichen. Übermüdet wie er war hatte er gedacht, seine tote Mutter erneut in ihrem Bett liegen zu sehen, angeschlossen an den Tropf, dessen Flüssigkeit in kleinen Perlen durch den Schlauch rollte und dabei im Mondschein schaurig funkelte. Er hatte einen heulenden Laut von sich gegeben und war die letzten Schritte zum Zimmer seines Bruders gerannt. Hitoshi wachte entsetzt auf, als seine Tür plötzlich aufgerissen wurde und sein siebenjähriger Bruder weinend auf sein Bett zugestürmt kam, nur um unter seine Decke zu schlüpfen und sich dort zu einem schluchzenden Bündel zusammenzurollen. Beide hatten in dieser Nacht kein Auge mehr zubekommen, weil Tyson nicht aufhören konnte zu weinen, aber auch nicht in der Lage war zu beschreiben, was ihn so aufgewühlt hatte. An dem Trugbild in jenem Zimmer, war nichts schmerzhafter gewesen als das Gesicht seiner Mutter. Ihre eingefallenen Wangen, die schwarzen Strähnen und der trockene Mund, der sich wieder zu diesem kraftlosen Lächeln formte und ihn aufmunterte näher zu kommen. Erneut hatte er gedacht das Piepsen der Maschinen zu hören, dieses Mal aber vom Röcheln ihres sterbenden Atems begleitet. Diese Erinnerungen hatten sich in Tysons Kopf seit damals eingebrannt… Dabei hatte er sich damals geschworen, nicht ihren Tod, sondern ihr Leben im Gedächtnis zu behalten. Das Gegenteil war nun der Fall. Tyson sinnierte noch einige Zeit über diese Tage nach, als Allegro vom Gepäckraum zurück gehüpft kam. Mit einem hohen Satz sprang die schwarze Springmaus auf die Autoarmatur und hockte sich hin. Nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also ich weiß nicht… Dieses Kind… Ein so tiefer Schlaf scheint mir recht unnatürlich.“ Tyson schreckte aus seinen Gedanken. „Wie bitte?“ „Dieses neue Kind. Dieser Kai…“ Tyson drehte sich auf seinem Sitz und spähte durch die Tür dahinter, in den Gepäckraum. Kai lag noch immer still auf seiner Matte und hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt. Wie er dort schlief, mit seiner blassen Haut und dem ausdruckslosen Gesicht, hätte man ihn für eine Puppe halten können. „Ich weiß was du meinst.“, antwortete er. „Der Gedanke geht mir schon länger durch den Kopf.“ „Das ist einer von Dranzers Zaubern. Es kann nicht anders sein.“ „Aber… Sie ist doch tot.“ „Warum sollte das eine Rolle spielen? Fluch ist Fluch…“ In den Märchen die Tyson kannte war das nie der Fall gewesen. War die Hexe erst einmal weg, ging es allen Verzauberten wieder blendend. Da hatten die Gebrüder Grimm wohl einen Trugschluss in die Welt gesetzt. „Also, bevor wir von einem Fluch ausgehen, will ich erst einmal etwas ausprobieren.“ Tyson erhob sich und betrat den Laderaum. Leise, um ihn nicht zu wecken, stieg er über Ray hinweg, beugte sich zu Kai hinab und schlug dessen Decke zurück. Er nahm das Kind auf seine Arme und trat langsam wieder nach vorne. Im Fahrerbereich öffnete er die Tür und stieg, samt seinem Mitbringsel, ins Freie. „Wo willst du hin?“, piepste Allegros Stimme zu ihm. „Zum Fluss.“ „Weshalb?“ „Ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht schütten. Wenn das nicht klappt, dann stimmt wirklich etwas nicht.“ Tyson stieg vorsichtig mit seiner Last den Hang zum Fluss hinab, watete durch die Erde. An dessen schlammigen Ufern angekommen, kniete er sich hin und tauchte seine rechte Hand ins Wasser. Es war klar, aber auch eisig kalt und verursachte eine Gänsehaut. Er schöpfte einen kleinen Schwall mit seiner Hand und ließ ihn auf Kais Gesicht tröpfeln. Die Tropfen perlten an den Wangen hinab und bahnten sich ihren Weg an seinem Hals hinunter - ließen ihn kurz aufzucken. Von der Reaktion ermutigt, wiederholte Tyson das vorhaben. Immer wieder, bis Kais Kragen bereits feucht von den Wasserflecken war. Doch immer gab das Kind nur ein Zucken von sich, seine Lippen öffneten sich leicht, als würden ihm einpaar Worte auf der Zunge liegen, nur um anschließend weiter zu dösen. „Hmm, vielleicht…“, Tyson hatte etwas Skrupel davor, doch schließlich stieg er mit dem rechten Fuß voraus ins kalte Wasser. „Sei vorsichtig!“, rief Allegro oberhalb des Hangs hinab. „Ja doch, geh wieder in den Wagen! Ich komme gleich.“ Am Ufer war die Strömung nicht besonders stark und der Fluss nicht tief. Tyson watete einige Schritte hinein, dann hielt er inne und tauchte Kai ins Wasser, bis nur noch sein Kopf herausschaute. Augenblicklich kam Leben in den Jungen. Es durchzuckte ihn wie ein Donnerschlag. Er wälzte den Kopf von einer auf die andere Seite und kniff die Augen verbissen zusammen. Es wirkte als wollte Kai mit ganzer Kraft zu Bewusstsein kommen, aber etwas schien ihn in seiner Traumwelt festzuhalten. In Tyson drängte sich das Gefühl auf, als ob Kais Körper sich erwärmte. Selbst im kühlen Nass spürte er die Hitze die auf Kais Haut brannte. Das Wasser um sie herum nahm an Temperatur zu, als hätte man ein glühendes Stück Eisen hineingetaucht. „Komm schon Kai, wach auf!“, schüttelte Tyson ihn. „Du musst doch nur die Augen öffnen! Es ist doch ganz leicht. Tu es endlich!“ Er rüttelte noch energischer, bis ihn plötzlich ein Stoß Wasser im Rücken traf. Tyson japste erschrocken auf und spähte schnell hinter sich. Nichts… Das Wasser war ruhig und die Strömung schwach. Was war das? „Tyson komm schnell heraus!“ Er wandte seinen Blick den Hang hinauf, wo Allegro aufgeregt herum sprang. Was immer ihn aufregte, es schien nichts Gutes zu bedeuten. Tyson setzte sich in Bewegung, watete zum Ufer zurück und fluchte gedanklich vor sich hin – er war so nah dran gewesen Kai wach zu bekommen. Da erreichte ihn plötzlich ein donnerndes Rauschen. Er blickte zum Ursprung und erbleichte… Zwischen den hohen Ufern des Flusses bahnte sich eine riesige Flutwelle ihren Weg zu ihnen. Sie schwappte über den Hang und erfasste alles, was nicht weit genug von ihrer Reichweite entfernt lag. Selbst die Brücke, die über dem Fluss ragte, gab angesichts der schweren Wassermasse nach und wurde in Stücke gerissen. Tyson drehte sich von dem Anblick weg und sprang eiligst auf das sichere Land zu. Seine Hose hatte sich bereits vollgesogen und es kostete ihn viel Mühe vorwärts zu kommen. Die Welle hatte ihn bereits erreicht, da formte sich ihre Gischt zu tausenden von weißen Händen. Tyson drückte Kai fester an sich, hörte wie Allegro nach ihm rief und machte sich bereit, fortgespült zu werden. Keine Sekunde später packte ihn auch schon die Woge. Gerade noch rechtzeitig schnappte Tyson noch einmal nach Luft. Er verlor den Boden unter den Füßen und alles begann sich zu drehen. Dann verwandelte sich die Welt in ein Karussell. Er stieß mit der Schulter gegen etwas. Dann wieder mit dem Fuß gegen etwas anderes. Er versuchte nach oben zu schwimmen, musste aber feststellen, dass er keine Ahnung mehr hatte, wo oben war. Er kämpfte gegen die Strömung an, obwohl es ihn viel Mühe kostete, hielt Kai fest umschlungen und versuchte, so wenig wie möglich Angriffsfläche zu bieten. Doch als er wieder mit dem Rücken gegen einen Felsen prallte, entglitt ihm das Kind für einen kurzen Moment. Gerade noch rechtzeitig bekam Tyson ihn am Oberarm zu fassen – da bockte Kai auf. Er war aufgewacht! Zwischen den tosenden Fluten, in denen sie schwammen, konnte Tyson für einen kurzen Moment, ein rötlich schimmerndes Augenpaar erkennen. Entsetzen sprach aus ihnen… Und Schmerzen. Er beobachtete wie Kai sich an den Hals fasste. Ihm ging die Luft aus. Tyson selbst erging es nicht besser. Jede Bewegung war anstrengend und ihm fehlte die Kraft, weiterhin gegen die Welle anzukämpfen. Er war müde und erschöpft. Ein letztes Mal wurden sie um die eigene Achse rotiert, dann ließ die Strömung urplötzlich von ihnen ab. So schnell wie der Aufruhr gekommen war, ebbte er wieder ab. „Endlich…“, flüsterte eine ausgelaugte Stimme in Tysons Kopf. Nach Sekunden der Orientierungslosigkeit, konnte er wieder die Wasseroberfläche ausmachen. Einpaar schwache Sonnenstrahlen brachen durch sie hindurch, trotzdem wärmten sie nicht. Es war kalt. Kälter als jemals zuvor. Tyson nahm noch einmal seine letzten verbliebenen Kraftreserven auf und strampelte. Richtung Oberfläche. Zur Sonne… Zur Luft… Bloß raus aus den eisigen Fluten. Er verstärkte den Griff um Kais Arm und zerrte ihn mit sich hinauf. Bald hatten sie es geschafft. Nur noch wenige Meter trennten sie von der rettenden Luft. Dieses Farbenspiel über ihm, wenn die Sonne in das Wasser tauchte, war Balsam für seine Seele - es verhieß Luft. Er wurde davon angezogen wie Motten vom Licht. Tyson machte sich bereit aufatmend durch die Oberfläche zu brechen… Stattdessen knallte er mit dem Kopf dagegen. Vor Schreck entwich ihm das letzte bisschen Luft aus der Lunge. Panisch tastete er die steinharte Fläche über sich ab, die doch eigentlich gar keine steinharte Fläche hätte sein dürfen! Warum war Wasser hart??? Er pochte gegen die Oberfläche. Sie hörte sich wie eine Scheibe an. Bei jedem Klopfen entstanden sanfte kreisförmige Wellen darauf. „Ist das Eis?“ Urplötzlich erschrak Tyson. Er hatte gesprochen. Unter Wasser! Nicht dieses unverständliche Geblubber, das man im Kindergarten beim Badeausflug machte, um seinen Freunden zu beweisen, dass man ein Wassermensch war – Worte, in klarem Laut und Ton! An seiner Hand begann Kai zu zerren. Er fasste sich immer noch an den Hals und rang um Luft, kniff die Augen dabei fest zusammen. „Kai, du kannst atmen! Mach den Mund auf!“, lachte Tyson erleichtert auf. Doch anstatt das er eine Ladung Luftblasen entließ, entwich aus Kais Kehle ein Schwall heißer Dampf. Tyson riss entsetzt die Augen auf. In der Finsternis des Wassers krümmte sich sein Freund vor Schmerzen und keuchte gequält auf. Man sah ihm an, dass er litt, doch Tyson fiel nichts ein, was dagegen hätte helfen können. Endlich… Kai stieß erschöpfte Laute von sich, doch das letzte bisschen Dampf entwich ihm aus der Kehle. Währenddessen tänzelte der Dampf hinauf, nahm eine ovale Form an und brach unfairer Weise durch die Oberfläche. Davon ermutigt, versuchte Tyson noch einmal hinauf zu gelangen, doch zwecklos – er kam nicht hindurch. Erstaunt beobachtete er, wie der Dampf sich auf der anderen Seite, zu einem goldenen Ei formte und an der Wasseroberfläche trieb. Ihm klappte die Kinnlade hinunter. Kai hatte tatsächlich ein Ei gelegt! „Heilige Scheiße! Du bist eine Henne!“, entfuhr es Tyson. Dann ging ein Ruck durch ihre Körper, der sie gegen die Oberfläche branden ließ. Die Schwerelosigkeit, die man für gewöhnlich im Wasser spürte, war dahin. Wie auf stinknormalem Erdboden, blieben sie auf der Oberfläche liegen. Ihre Umgebung begann sich zu drehen, als wäre die Welt eine Münze, die man je nach belieben auf die andere Seite wendete. Einpaar Sekunden blieb Tyson bewegungsunfähig liegen, schaute diesem seltsamen Spektakel kommentarlos zu. Erst als der sandige Erdboden des Flussbeets über ihnen schwebte und dort verharrte, richtete er sich wieder auf. Die feinen Sandpartikel begannen sich von oben zu lösen und auf ihrem Weg zu ihnen hinab, wurden sie zu weißem… „Schnee?“, verdattert öffnete Tyson seine Handfläche und fing die erste Flocke auf. Zierlich und fein lag sie auf seiner Haut, bis sie durch seine Körperwärme zu schmelzen begann. Als er sich umsah, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sich unter der Wasseroberfläche, kein Kanal oder dergleichen mehr befand, sondern eine andere Welt. Die Düsternis wich und machte einer weißen Winterlandschaft platz, die spiegelverkehrt und von den Blicken der anderen Bit Beasts verborgen, unter dem Wasser schlummerte. In der Irrlichterwelt schien es keinerlei Logik zu geben. Dem wurde sich Tyson nun zu deutlich bewusst. Nun wusste er auch, warum sie nicht mehr auf die andere Seite kamen. Ihr Teil des Flusses war zugefroren, während der spiegelverkehrte munter vor sich hin plätscherte. „Verrückt…“, flüsterte Tyson verwirrt. „Das ist total grotesk.“ Was ihm aber mehr Sorgen bereitete, als diese bizarre Welt, war, wie sie wieder zurück zu den anderen gelangen sollten. Seufzend kniete sich Tyson hinab und wischte die feine Schneeschicht vom Eis, um einen Blick auf die andere Seite zu erhaschen. „Wann hast du Tyson das letzte Mal gesehen?“ „Freitagabend. Wir waren alle was trinken und er hat mich nachhause gebracht.“ Tyson stockte der Atem. Er ließ sich auf die Handflächen fallen und beugte sein Gesicht hinab, um mehr zu erspähen. Ihm eröffnete sich der Blick auf die Menschenwelt. Die wahre Menschenwelt, wie er sie kannte! Nur eben aus der Sicht des Flusses… Links und Rechts vom Wasser türmten sich die Hochhäuser auf. Der Autolärm schallte durch die Stadt und die Menschen – sie hatten Gesichter! Nicht diese ätzenden Phantome, wie sie sich hier tummelten. Zwei Gesichter erkannte er auf Anhieb. Am Flussufer lief Kenny… Zusammen mit Hiro! Beide sahen besorgt aus und den Gesprächsfetzen nach zu urteilen, musste sein Verschwinden bereits aufgefallen sein. Verzweifelt begann Tyson gegen das Eis zu pochen und rief nach seinem Bruder. Doch weder Hitoshi noch Kenny hörten ihn. „Hätte ich mich bloß mehr mit ihm befasst…“, begann sein Bruder. Tyson wollte mit seiner Faust zu einem weiteren Schlag ausholen, doch sie verweilte reglos in der Luft. „Er muss irgendwelche Probleme haben. Weshalb sollte er sonst abtauchen? Ich habe ihn all die Jahre mit Großvater alleine gelassen. Diese ganze Verantwortung… es muss ihm über den Kopf gewachsen sein.“ Hitoshi rieb sich müde über die Augen und flüsterte: „Ich hätte ihm helfen müssen.“ Das Bild unter der Eisfläche trübte sich plötzlich. Es verschwand so schnell wie es gekommen war und ließ Tyson wie vom Donner gerührt zurück. „Hiro“, drang der Name leise über seine Lippen. Die letzten Jahre hatte er kein gutes Haar an seinem Bruder gelassen. Er hatte sich von Hiro verlassen und ausgenutzt gefühlt. Nie war er da gewesen, wenn man ihn brauchte. Nie hatte er ihm etwas Zeit geopfert, wenn er über seine Probleme sprechen wollte. Theoretisch hätte die Tatsache, dass er nun krank vor Sorge war, eine wohlige Genugtuung in Tyson auslösen müssen. Stattdessen breitete sich nur Beklommenheit in ihm aus. Genugtuung fühlte sich anders an und hinterließ nicht so einen fahlen Nachgeschmack. „Verdammt“, murmelte er vor sich hin. „Das darf doch alles nicht wahr sein. Was machen wir jetzt?“ Es kam keine Antwort. „Kai?“ Tyson blickte links von sich und sein Herz blieb stehen. Von seinem Freund war nichts zu sehen. Verwirrt blickte er sich um und die frischen Fußspuren im Schnee, erregten seine Aufmerksamkeit. Schnell sprang er auf und am Ufer konnte er eine kleine Kindergestalt ausmachen, die hinter einem Schneehügel verschwand. „Kai! Wo willst du hin?“, rief Tyson hinterher. Als keine Antwort kam, setzte er ihm nach. Mehr schlitternd als rennend, überquerte er den zugefroren Fluss und betrat das Ufer. Er folgte den Fußspuren und als Kai schon einen weiten Vorsprung hatte, verfiel er in einen schnellen Spurt. Von Häusern war in dieser Welt nichts mehr zusehen. Überall herrschten nur Schnee, hügelige Landschaften und vereinzelte Bäume. Die Spuren führten Tyson schließlich in einen kahlen Wald. Der Schnee lag schwer auf den Ästen und nur das schwarze Holz der Stämme, durchbrach das satte Weiß. Tyson richtete seinen Blick weiterhin auf den Boden – bis sich die Spur mitten in einer Lichtung verlor. Abrupt blieb er stehen. Kai konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben… Eine kahle Erle ragte neben ihm aus dem Boden. Tysons Blick tastete sich ratlos an ihr hinauf und ein Ast fiel ihm dabei besonders ins Auge. Anders als die restlichen Zweige, war dieser Ast nicht von Schnee bedeckt. Jemand musste sich vor kurzem daran hinaufgezogen haben. „So ist das also…“, grinste Tyson in sich hinein. Er vermied einen weiteren Blick hinauf und unterdrückte dem Impuls, den Baumstamm von der anderen Seite zu inspizieren. Zwar wusste er nicht, was Kai ausgerechnet jetzt zu solchen Spielchen trieb, aber wenn er es so wollte… „Verdammt! Ich habe ihn verloren!“, fluchte er. Er tat als ob er die toten Büsche noch einmal genauer inspizierte, dann wandte er sich um und murmelte, laut genug damit jemand in unmittelbarer Umgebung ihn auch verstand. „Vielleicht ist er tiefer in den Wald gelaufen.“ Damit stapfte Tyson weiter durch den Schnee. Er ging einige Schritte tiefer in den Wald, bis er sicher war, dass die Bäume ihn, vor Kais Blick versteckten. Dann schlüpfte er hinter den dicksten Stamm den er fand… und wartete. So verharrte er einige Zeit. Tyson lauschte angestrengt in den Wald hinein, doch nichts rührte sich. Es vergingen weitere Minuten und er dachte schon, sich geirrt zu haben, da hörte er hinter sich ein leises Knacken. Er spähte hinter dem Stamm hervor und tatsächlich… Da kletterte Kais kleine Kindergestalt gerade von der Erle hinab. Er konnte seinen Atem, in Form von Wolken, in die kalte Luft entweichen sehen, seine geröteten Wangen und das konzentrierte Gesicht – er war voll und ganz mit dem Abstieg beschäftigt. Langsam trat Tyson aus seinem Versteck hervor. Er schritt vorsichtig zu Kai, der ihm den Rücken zugewandt, auf dem Boden landete. Der Junge klopfte sich gerade den Schnee von den Knien, als Tyson seine Hand auf dessen Schulter legte. „Kai?“ Das Kind fuhr herum und prallte mit dem Rücken gegen den Stamm. Eine ganze Ladung Schnee fiel auf ihn hinab und er schüttelte sich fröstelnd. „Ganz ruhig, ich bin es doch nur!“, lachte Tyson auf. Diese heftige Reaktion… So schreckhaft kannte er Kai gar nicht. Das war ja zu komisch! Noch nie war es ihm gelungen, seinen Freund so aus der Reserve zu locken. Vor allem wie entsetzt Kai ihn anstarrte. Dieses Bild war Gold wert. Noch nie hatte er soviel Angst in seinen Augen gesehen… Angst? Tyson zog skeptisch die Brauen zusammen und sein Lachen verklang, kurz darauf erstarb auch sein Lächeln und machte einem fragend Ausdruck platz. Kais Atmung ging flach, er zog den Kopf zwischen die Schultern und zitterte am ganzen Leib, als würde er dem Leibhaftigen gegenüberstehen, was Tyson aber auf die Kälte schob. „Alles in Ordnung?“ Keine Antwort. „Was ist los?“ Er kniete sich zu dem Kind hinab, streckte seine Hand nach ihm aus, der aber eine unwirsche Abfuhr erteilt wurde. „Nein!“ „Was hast du denn?“ „Geh weg!“ „Warum?“ „Du sollst weg gehen!“ „Bist du wütend? Das war doch nur ein Scherz…“, Tyson blinzelte verständnislos. „Jetzt hab dich nicht so. Es tut mir leid, okay? Lass uns die anderen suchen und dann nachhause gehen.“ „Nachhause?“, plötzlich wurde das Kind ruhiger. „Zur Dame Solowéj?“ „Die Dame Solo… von wem sprichst du?“ Kai wich wieder zurück. Seine Augen wurden zu Schlitzen, die Tyson argwöhnisch musterten. „Dann bist du also kein Freund von ihr!“, es klang wie ein Zischen. „Nein… Ja. Ich meine, ich kenne die Frau gar…“, er begann vor Verzweiflung zu stammeln. „K-Kai, erkennst du mich nicht?“ Der Junge sah ihn nur schweigend an. Die Antwort die folgte war nur ein verneinendes Kopfschütteln. Das erschütterte Tyson. Auf sein Gesicht trat ein enttäuschter Ausdruck, wie der eines Kindes, dessen Eltern ihm zu erklären versuchten, dass sein bester Freund in eine andere Stadt zog. Nach all der Anstrengung die sie damit verbracht hatten, Kai zu retten, konnte Tyson einfach nicht anders – er fühlte sich gekränkt. Gekränkt weil er einfach so vergessen wurde. „Ray Kon und Max Tate?“, fragte er unvermittelt. „Sagen dir diese Namen etwas?“ „Nein.“, das Kind blinzelte ihn böse an. „Und jetzt verschwinde!“ „Du erinnerst dich nicht an deine Freunde?“ „Hab keine Freunde…“ Tyson seufzte resignierend. Er stand auf und meinte: „Komm. Wir versuchen nachhause zu kommen.“ „Zur Dame Solowéj?“ „Nein. Zu deiner Schwester, verdammt noch mal!“ Das Kind zuckte durch den schroffen Tonfall zurück. „I-Ich habe doch kei-…“ „Komm jetzt.“, forderte Tyson, doch er rührte sich nicht. Stattdessen sah der Junge nur verbissen zu Boden. „Was ist denn? Wir müssen raus aus dieser Kälte! Ich frier mir den Ar-… ARGH!“ Urplötzlich trat ihm Kai gegen sein Schienbein. Vor Schmerz sackte Tyson auf die Knie, doch kurz bevor das Kind die Gelegenheit nutzen konnte, um über ihn hinweg zu springen, bekam er Kais Hosenbein zu fassen. Gemeinsam stürzten sie zu Boden und sanken in den tiefen Schnee. Es entbrannte eine heftige Rangelei zwischen ihnen, die Tyson aber durch seine größere Körperstatur mit Leichtigkeit gewann. Als Kai ihm wie in Raserei in die Hand biss, wurde es Tyson zu bunt – er drehte den Junge auf den Bauch, verschränkte seine Arme hinter seinem Rücken und setzte sich auf Kai drauf. So war sein Freund zwischen ihm und der Schneedecke eingequetscht. Das Kind strampelte wie wild unter ihm. Es zappelte und fauchte wie am Spieß. Wüste Beschimpfungen drangen an Tysons Ohr, manchmal bekam Kai, durch sein heftiges Gestrampel, selbst eine Ladung Schnee ab, die ihn aufhusten ließ. Trotzdem wurde Kai des Fluchens und Tretens nicht Leid, insgeheim bewunderte Tyson ihn sogar für seine Ausdauer. Es vergingen fünf Minuten. Es vergingen zehn Minuten… Doch nach einer gefühlten Ewigkeit ging auch diesem Kämpfergeist endlich die Puste aus. Geschlagene dreißig Minuten später, war Kai am Ende seiner Kräfte. Seine Wangen glühten vor Anstrengung und seine Bewegungen wurden schwerfälliger. „Na endlich, “ dachte Tyson und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Als Kai schließlich resignierend seufzte und reglos unter ihm liegen blieb, fragte er: „Fertig?“ Keine Antwort. „Sogar zum Reden zu schwach, wie?“ Er stieg von seinem Freund runter. „Selber schuld. Was machst du auch so ein Theater…“ Er blieb neben ihm sitzen und beobachtete wie das Kind sich langsam aufrichtete. Der Kleine war fix und alle, er atmete schwer und rieb sich erschöpft mit den kleinen Handflächen, über die Augen. Natürlich war Tyson klar, dass Kai wie jeder andere auch einmal ein Kind gewesen war, aber dieses Verhalten? Es war so gar nicht Kais Art. Im Schneidersitz und mit neugierigem Blick, beobachtete Tyson seinen Gegenüber eine Weile. „Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein. Komm nicht noch mal auf die Idee abzuhauen.“, drohte er und musste zugeben - es verschaffte ihm einen ziemlichen Kick Kai herumzukommandieren. Deshalb setzte er noch einen drauf. „Ich erkläre dir mal jetzt die Klassenordnung, du freche Rotznase! Kennst du den Spruch: Wenn das Brot spricht haben die Krümel zu schweigen?“ Keine Antwort, dafür traf ihn ein bitterböser Blick. „Ich…“, Tyson deutete theatralisch auf sich „bin das Brot und du kleiner Zwerg…“ er gab Kai eine leichte Kopfnuss „bist ein winziger Krümel. Hier wird gemacht was ich sage und ich will keinen Ton von dir hören, es sei denn ich frage dich. Und wehe du beißt mich noch mal, sonst zeig ich dir, was ich in der Schule mit Leuten gemacht habe, die mir auf den Wecker gefallen sind, klar?!“ Wieder keine Antwort. Stattdessen zog Kai nur eine bockige Schnute und sah zur Seite. „Ich fasse das mal als Zustimmung auf.“ Tyson verschränkte die Arme vor der Brust und taxierte Kai mit unverhohlener Neugier von allen Seiten. „Sag mal, für wie alt hältst du dich?“ Ein fragender Ausdruck traf ihn. Mit dieser Wortwahl konnte der Junge eindeutig nichts anfangen. Tyson räusperte sich und korrigierte seine Frage. „Ich meine… Wie alt bist du?“ Kai senkte den Blick zu seinen Händen und begann, an seinen Fingern sein Alter abzuzählen. Er zog die Brauen konzentriert ins Gesicht und flüsterte leise vor sich hin. In diesem Moment konnte Tyson einfach nicht anders… Der Anblick war so niedlich dass er lächeln musste. Es hatte etwas so argloses und naives an sich, dass er dem Impuls widerstehen musste, Kai so richtig fest in die Backen zu kneifen. Ebenso wenig überrascht war Tyson, als Kai ihm schlussendlich sechs Finger entgegenstreckte. „Sechs Jahre also, hm?“ Der Junge neigte den Kopf leicht zur Seite und nickte schüchtern. Mit einer solchen Antwort hatte Tyson fast gerechnet. Kai war viel jünger geworden, als sie alle zusammen. „Sieben Jahre Altersunterschied.“, murmelte Tyson vor sich her und legte seine Hand nachdenklich an sein Kinn. „Kein Wunder das du uns nicht mehr kennst. Als ich sechs war, wusste ich nicht einmal dass es dich gibt. Aber warum haben wir unsere Erinnerung zurück und du nicht?“ Die Frage war mehr an ihn selbst gerichtet, trotzdem blinzelte Kai ihn an, als würde er eine fremde Sprache reden. Sein Gesichtsausdruck zeugte von purer Verwirrung. „Naja, wie auch immer.“, Tyson stand auf und klopfte sich den Schnee vom Hosenboden. „Wir müssen weiter. Ray und Max werden sich bestimmt schon Sorgen machen.“ Er streckte dem Jungen die Hand entgegen um ihm aufzuhelfen, doch der regte sich nicht. Das Misstrauen in seinen Augen sprach Bänder. Warum war es Kai bereits in diesem Alter schwer gefallen anderen zu vertrauen? „Kai bitte“, flehte Tyson. „Ich will dir nichts Böses. Ich bin dein Freund.“ Wieder nur dieser stumme Blick. Hatte Dranzer ihm die Lippen zusammengeklebt oder war Kai schon damals nicht besonders gesprächig gewesen? Was ging in diesem kleinen Kopf vor? „Wie soll ich wissen, was dein Problem ist, wenn du nicht mit mir sprichst?!“, herrschte er ihn an. Die Wörter hallten laut um die schlafenden Bäume, trugen seinen Vorwurf bis in den verschlungensten Winkel des Waldes. Doch obwohl Tyson Kai Zeit zum Antworten gab, traf ihn wieder nur dieser stumme Gesichtsausdruck. „Na schön, dann behalt es für dich“, meinte er mürrisch. Er packte nach Kais Oberarm und wollte ihn gewaltsam hinaufzerren… „Ich will zur Dame Solowéj!“ „Ich weiß doch gar nicht wer das ist!“ „Sie ist meine Seelenverwandte.“ „Deine was?“, Tyson hielt inne. „Wie kommst du denn darauf? Wo bist du dieser Frau überhaupt begegnet?“ „Sie wohnt in unserem Haus. Sie kümmert sich um mich.“ Tyson blinzelte verdutzt. Dann schlug er sich mit der Handfläche auf die Stirn und sagte: „Ach so, deine Mutter! War Solowéj ihr Mädchenname? Hört sich aber überhaupt nicht japanisch an.“ „Ich habe keine Mutter. Nur Anastasia.“ „Dann ist sie… dein Kindermädchen?“ Kai schüttelte den Kopf. Jetzt verstand Tyson gar nichts mehr. Es hätte ihn brennend interessiert, ob es sich dabei um einen Menschen aus Kais früher Kindheit handelte, der seinem Freund, nun, da er wieder zum Sechsjährigen geworden war, wieder in den Sinn kam. Wenn ja, weshalb hatte er ihnen nichts von ihr erzählt? Sie schien ihm äußerst wichtig zu sein, wenn er von einer Seelenverwandten sprach. Allerdings, wie offen war Kai schon? Er galt ja bereits als zugänglich wenn er einem einen Guten Morgen wünschte. „Ich kann nicht mit dir kommen, wenn du kein Freund von der Dame Solowéj bist. Sie sagt, dass ich mich vor den Menschen in Acht nehmen muss.“ „Sehe ich aus wie ein Verbrecher?“ „Menschen darf man nicht vertrauen…“ „Sagt wer?“ „Die Dame Solowéj.“ Was war denn das für eine Spinnerin? Die rabiate Weltansicht dieser Frau, mit der sie Kai regelrecht infiltriert hatte, machte ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung. In seiner Not tat Tyson das, was ihm in dieser Situation am Geschicktesten schien – er log. „Oh mein Gott! Ich bin so doof, “ lachte er gespielt auf und kratzte sich am Nacken. „Natürlich kenne ich die gute Solowéj! Die wohnt gleich bei mir um die Ecke. Wenn du mitkommst, bringe ich dich zu ihr.“ „Lügner!“ „Nein im Ernst! Ich kenne sie! Nette Frau...“ „Haarfarbe?“ „Wie?“ „Ihre Haarfarbe? Wie ist die?“ „Scheiße!“, schallte eine Stimme laut durch Tysons Kopf. Nun hieß es nachdenken… Wie viele Haarfarben gab es? Im Grunde fünf. Schwarz, braun, blond, rot und… blau? Nein. Blau war nur Ming Ming und die färbte sich die Haare. Eigentlich war sie gebürtige Brünette, behauptete Max jedenfalls. Der musste es ja wissen, immerhin hatte er mal einpaar nette Schäferstündchen mit ihr… „Verdammt Tyson, konzentrier dich!“, schalte er sich selbst. „Okay. Mal nachdenken… Die Trefferquote liegt bei eins zu vier. Eins zu vier! Was mache ich denn jetzt?!“ Er bemerkte bereits wie Kai misstrauisch die Brauen verzog. Wahrscheinlich suchte sich der Dreikäsehoch schon eine Stelle aus, in die er ihm treten konnte, um dann schnell das Weite zu suchen. „Dame Solowéj, warum nennt er sie überhaupt so?“, es war merkwürdig, aber dieser eine Gedanke verursachte eine plötzliche Kettenreaktion in Tysons Gehirn. Es war wie der berühmte Dominoeffekt. Seit er Kai kannte, hatte Tyson eine Beobachtung an ihm gemacht… Der Junge konnte seine Mitmenschen anfauchen, angiften, ignorieren und ihnen die kälteste Schulter auf Erden zeigen – doch die große Ausnahme dabei waren ältere Menschen. Und damit meinte Tyson richtig alte Menschen! Seinen Großvater hatte Kai geradezu vorbildlich höflich angesprochen – bis die Sache mit der Abtei aufflog. Genauso aber Tysons Großvater und Mr. Dickensen. Wenn er also so übertrieben formell von der Dame Solowéj sprach, konnte es sich vielleicht um eine ältere Frau handeln? Und wenn Tyson von seinem eigenen Großvater ausging, der stolz seine weiße Mähne in der Öffentlichkeit präsentierte, könnte es doch sein… „W- Weiß?“ Tyson wollte sich bereits korrigieren, weil man in solchen Fällen doch eigentlich von Grau sprach, da hellte sich Kais Gesicht plötzlich auf und er strahlte bis über beide Ohren. So glücklich hatte er ihn selten erlebt. „Das stimmt! Du kennst sie wirklich“, rief der Junge freudig aus. Er griff nach Tysons Hand und sagte: „Tut mir Leid. Ich musste sicher gehen, dass du nicht einer von denen bist.“ „Von denen?“ „Die bösen Menschen! Die Menschen welche die Dame Solowéj vor mir aussperren will.“ „Was sind das denn für böse Menschen?“ „Alle Menschen. Jeder ist böse.“ Diese Antwort klang so überzeugt, dass es Tyson die Sprache verschlug. Er stand kurz davor Widerworte zu geben, doch überlegte es sich dann anders. Er konnte nicht riskieren, sein kürzlich erworbenes Vertrauen wieder zu verlieren. „Ähm, ja. Menschen sind schon eklig.“ „Genau“, stimmte Kai ein. Nun zerrte er fordernd an Tysons Arm. „Bringst du mich nachhause? Kennst du den Weg?“ „Natürlich“, log Tyson ohne rot zu werden. Hilary hätte ihn jetzt wieder als „Lügenbaron“ beschimpft, doch im Moment tat er diesen Gedanken mit einem Schulter zucken ab. „Dann komm schon, wir müssen uns beeilen! Sie macht sich bestimmt schon Sorgen. Ich darf das Haus nicht verlassen und wenn ich nicht da bin, wer soll ihr dann aus ihrem Lieblingsbuch vorlesen?“ „Ist ja gut. Meine Fresse, du bist ja richtig abgerichtet auf die Alte.“ „Nenn sie nicht so! Sie ist weise und gütig und wunderschön…“ „Wow! Da wurde einem Armors Liebespfeil aber mit Karacho in den Hintern gepfeffert.“, kam die sarkastische Antwort. Insgeheim musste Tyson eingestehen, dass er einwenig neidisch wurde. Während seiner Beybladezeit hatte er so manche unglaublichen Dinge vollbracht, für die ihn die ganze Welt bestaunt hatte, aber niemals hatte Kai ihn so angehimmelt. Nur weil Kais mysteriöse Dame aber scheinbar ein heißer Feger war, vergötterte er sie regelrecht. Für so oberflächlich hätte er ihn nicht gehalten. Er stutzte kurz darauf über seine eigenen Gedankengänge und schluckte seinen Ärger runter. Schlagartig kam ihm nämlich der Vorfall im Krankenhaus in den Sinn, als Dranzer noch in Kais Körper steckte und ihn gebeten hatte zum Friedhof zu fahren. Diese Berührung als Kai Tysons Kopf sanft in seine Hände nahm und erst der flehende Blick aus diesen traurigen Augen, hatte ihn so… verwirrt. Zum ersten Mal, seid sie in der Irrlichterwelt waren, fand er die Zeit sich zu fragen, warum er so heftig auf ihn reagiert hatte, weshalb er regelrecht euphorisch zum Friedhof aufgebrochen war um seinem Freund zu helfen. Lag es wirklich nur an Dranzers Zauber – an ihrer Verführungskunst? Und damals, als Dranzer gemeinsam mit Driger die Hyänen ausgelöscht hatte… Warum hatte sie wieder Tyson bezirzt? Warum nicht einen von den anderen? „Du hast dich immer sehr um meinen kleinen Kai gesorgt. Warum?“ Das war Dranzers Frage gewesen und er erinnerte sich daran, wie sein Blick erschrocken zu seinen Freunden gehuscht war. Für eine Schrecksekunde wusste er nicht, was sie von dieser Frage halten würden, dabei war sie doch so harmlos. Was ihn wohl am meisten irritiert hatte war, dass Dranzer ihn wieder mit Kai geködert hatte. „Warum immer Kai…“, flüsterte er leise vor sich her. „Was meinst du?“ Tyson blinzelte verwirrt den Jungen vor ihm an, der ihn aus großen Augen anschaute, dann lachte er ertappt und tat eine wegwerfende Bewegung. „Ach nichts! Machen wir uns auf den Weg nachhause, zu deiner heißgeliebten Dame Solowéj,“ er setzte mit rollenden Augen den Namen in Anführungszeichen, wissend das Kai mit dieser Geste nichts anzufangen wusste. „Komm mit Krümel. Das Brot bringt dich nachhause.“ Er nahm das Kind bei der Hand und gemeinsam stapften sie durch den hohen Schnee, auf der Suche nach einem Weg hinaus aus der Eislandschaft. Kai zog eine empörte Schnute und entrüstete sich: „Ich will aber gar kein Krümel sein.“ Doch Tyson grinste nur triumphierend und entgegnete: „Gewöhn dich dran.“ * An anderen Ort, war Max erst erwacht, als er spürte, wie seine Decke immer schwerer wurde. Schlaftrunken wie er immer war, dachte er zunächst, dass Tyson sich in wilden Träumereien auf ihn gerollt hatte, bis ihm bewusst wurde, dass der doch eigentlich Wache halten musste. Als seine Finger dann tastend über die Decke fuhren, merkte er zum ersten Mal, wie vollgesogen sie war. Sie fühlte sich an wie ein getränkter Schwamm. Max schlug die Augen langsam auf und murmelte: „Was zum…“ Da hörte er neben sich Ray panisch aufspringen. „Max!“ „Was…“ „Das Auto!“ „Was ist damit…“ „Es ist überschwemmt!“ „Ach so…“ Beruhigt schloss Max wieder die Augen und drehte sich zur Seite, wurde aber schlagartig wach, als sein Kopf dabei unter Wasser landete. Hustend fuhr er auf, fuchtelte mit den Armen und rief: „Ray!“ „Was?“ „Das Auto!“ „Ja?“ „Es ist überschwemmt!“ „Das hab ich dir doch gerade gesagt!“ Ray versuchte die Hintertür des Vans aufzubekommen, doch als er sie einen Spaltweit aufbekam, drang ein weiterer Schwall der braunen Brühe in den Wagen. Eilig schloss er die Tür wieder und watete nach vorne in den Fahrerraum. Er blickte durch die Windschutzscheibe und stellte überrascht fest, dass die gesamte Straße vor ihnen, kniehoch unter Wasser lag. Von Tyson, der doch eigentlich Wache hätte halten sollen, fehlte jede Spur. Innerlich begann sich Ray über dessen Unzuverlässigkeit zu ärgern. „Wo ist Tyson?“ Max war an seine Seite geeilt und blickte ihn verstört an. „Ich habe keine Ahnung. Kai ist auch weg. Und Allegro…“ „Hilfe!“ Verdutzt blickten die beiden hinaus. In einer alten Konservenbüchse trieb Allegro an ihrem Wagen vorbei. Die kleine Springmaus hielt ein weißes Taschentusch in die Höhe, mit der er wie wild umher wedelte, um auf sich aufmerksam zu machen. Ohne lange zu zögern, rissen sie die Tür auf, sprangen hinaus und bewegten sich durch die Wassermassen zu dem kleinen, in Seenot geratenen, Schiffsbrüchigen. Ray erreichte die Konserve zuerst. Er fischte sie aus dem Wasser und hielt sie in die Höhe. „Alles klar bei dir?“ Der kleine Mäuserich nickte eifrig. „Dich schickt der Himmel, mein Junge. Ich dachte schon, ich müsste wie mein Vetter Pete elendig ersaufen! Oh Draciel, dieses grausame Bestie! Was hat sie jetzt schon wieder ausgeheckt?“ „Das war Draciel?“, fragte Max schnaufend, den es eine immense Kraft gekostet hatte, mit Rays Tempo Schritt zu halten. Der Chinese war schon immer durchtrainierter gewesen und Max vollgesogenen Hosenbeine, fühlten sich bleiern schwer an. „Natürlich! Wer denn sonst?“, brauste Allegro auf. „Dieses furchtbare Monster! So überflutet sie schon seit Jahrzehnten unsere Bauten!“ „Wo sind Tyson und Kai?“, fuhr Ray dazwischen. „Fort! Die Welle hat sie erfasst! Draciel hat sie mitgenommen!“ „Du meinst sie sind ertrunken?!“ „Nein! Sie sind in der anderen Welt.“ Allegro beugte sich über den Rand der Konservendose und deutete mit seinen kleinen Pfoten, wie wild auf das Wasser. „Da unten! Unter der Wasseroberfläche. Ihr wisst schon, die andere Welt dort unten?“ „Die Unterwelt gehört auch den Toten!“, heulte Max auf, den Allegros Beschreibung an das Reich des griechischen Gottes Hades erinnerte. „So ein Quatsch! Dort unten geht es weiter, aber Draciel bestimmt, wen sie rein lässt, wohin die Wellen einen tragen und wen sie in den Fluten ertrinken lässt.“ Kurz entschlossen ging Max auf die Knie und drückte seinen Kopf unter Wasser. Um seine Ohren rauschte es, doch als er durch das trübe Nass spähte, sah er weit und breit nichts von einer anderen Welt. Er tauchte wieder auf und sagte: „Das ist echt nicht komisch!“ „So wird das auch nichts, ihr müsst euch schon fortspülen lassen. Dort hinten im Fluss.“ Zunächst fuhren die Blicke der beiden, zu dem Fleck auf den Allegro wies. Die Strömung war dort viel schneller, die Wellen peitschten um die Wette und schwemmten alles in ihrem Weg davon. Eine kleine Parkbank trieb in den Wogen dahin, gefolgt von einpaar Autos, Fahrrädern, Mülleimern und diversen Holzbrettern, die ursprünglich wohl einem anderen Zweck gedient hatten, statt als Treibgut zu enden. Ray und Max starrten sich aschfahl an. Dann kam ein lautes: „WAS?!“ Und im Anschluss darauf folgten Kommentare wie: „Bin ich lebensmüde?“ „Du spinnst doch!“ „Seh ich aus wie Chuck Norris?“ Die schwarze Springmaus schnalzte in ihrer kleinen Büchse mit der Zunge und schüttelte den Kopf. Schließlich meinte Allegro nur: „Wollt ihr eure Freunde etwa im Stich lassen?“ Stille. Dann… „Na toll! Jetzt müssen wir auch noch schwimmen.“ „Das werden die beiden mir büßen!“ „Immer nur Ärger mit denen!“ „Daran ist bestimmt Tyson Schuld, so ein blödes Arsch!“ Mit diesen Worten wateten die beiden Jungen schimpfend an den Fluss. Allegro sprang aus seiner Konserve, tippelte an Rays Arm entlang in seinen Kragen und krallte sich in seinem Hemd fest. Kurzerhand warf Ray die Dose über seine Schulter hinweg fort. Desto näher sie der Strömung kamen, desto mulmiger wurde ihnen zu Mute. Als sie an die Stelle kamen, an der früher der Hang gewesen war, hielten die beiden Freunde inne. „Passt auf das ihr euch nicht verliert. Haltet euch gut aneinander fest.“, mahnte Allegro noch. Die beiden Jungs nickten. Ray streckte seine Hand nach Max aus und fragte: „Bereit?“ „Muss ja wohl...“ Mit diesen Worten packte er nach Rays Hand. Die beiden Freunde sahen sich noch einmal mit einem unguten Gefühl an. Jeder von ihnen hätte auf diese Kamikaze Aktion verzichten können. „Dann hoffe ich doch mal, dass Draciel uns in ihre Welt einlässt.“, meinte Ray noch. So holten die beiden tief Luft und mit einem hohen Satz, ließen sie sich in die reisenden Fluten fallen. * Naja... Ganz zufrieden bin ich damit nicht, aber es gab schon schlimmeres von mir. Danke für die vielen Kommentare letztes Mal. Habe mich wirklich sehr gefreut. LG Eris d^^b Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)