Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 16: ------------ „Kai ist schon ein komisches Kind gewesen.“ Dieser Gedanke wiederholte sich mehrmals in Tysons Kopf, als er zusammen mit seinem zum Kind geworden Freund, durch das kalte Weiß des Winterwaldes marschierte. Ein verstohlener Blick wanderte zu Kai, der an seiner Hand durch den kniehohen Schnee watete. Der Junge redete kaum. Nur einmal hatte er von selbst das Wort an ihn gerichtet, um ihn zu fragen, wie er eigentlich hieß. Es befremdete Tyson, sich quasi ein zweites Mal neu vorzustellen, doch in dieser Situation spielte er zwangsweise mit. Kai hatte auf seine Antwort nur genickt und stellte ab da keine weiteren Fragen. Kein Mucks war mehr über seine Lippen gekommen, als wären der Nettigkeiten genug ausgetauscht worden. Es wurmte Tyson das Kai selbst in diesem Alter nur das Nötigste von sich preisgab. Er wollte nur zu seiner begehrten Dame Solowéj - mehr nicht. Tyson hätte es brennend interessiert, mehr aus dem Kind zu entlocken. Diese Situation war eine einmalige Chance mehr über seinen Freund zu erfahren. Vielleicht wären ihm dadurch einpaar seiner seltsamen Verhaltensmuster, die sein erwachsenes Alter Ego besaß, klarer geworden. Niemals hätte er erwartet, dass Kai bereits mit sechs Jahren so verschwiegen war. Mehrmals versuchte er eine kleine Konversation ins Laufen zu bringen, um ihn einwenig aus der Reserve zu locken. Doch anstatt das sein Freund den Köder fraß, antwortete er immer nur knapp und verstummte anschließend. Außer einem „Ja“ und „Nein“ war ihm nichts abzugewinnen. Irgendwann beschloss Tyson das er einfach aggressiver vorgehen sollte. „Warum redest du nie?“, fragte er geradeheraus. Überrumpelt hielt das Kind inne und starrte ihn an, blinzelte ihn nur verwundert entgegen. „Worüber soll ich denn reden?“ „Keine Ahnung. Erzähl etwas von dir.“ Wieder wurde er fragend gemustert, dann meinte Kai: „Kinder soll man nicht hören. Nur sehen.“ „Wer erzählt dir denn so einen Quatsch?“ „Mein…“, Kai schien die Antwort auf der Zunge zu liegen, doch urplötzlich stoppte er, als hätte er sie vergessen. Für Tyson klang diese Wortwahl allerdings schwer nach Voltaire, womöglich sogar Boris, deshalb ging er nicht weiter darauf ein. War ja klar dass „Statler und Waldorf“ dahinter steckten. „Also los, erzähl etwas über dich Kai!“, ermunterte er den Jungen schließlich. „Erzählen?“, druckste das Kind herum. „Ja. Über deine Familie, deine Freunde…“ „Hab ich nicht.“ „Was ist mit deinem Großvater?“ „Welcher Großvater?“ Das verwunderte Tyson. Warum kannte Kai seinen Großvater nicht mehr? Der alte Miesepeter hatte ihn schließlich von klein auf groß gezogen. Kai erinnerte sich doch sogar noch an seine Regeln, wenn auch nur unterbewusst. Selbst wenn Kai ihn und die anderen aus seinem Team vergessen hatte, hätte er Voltaire noch kennen müssen, er war schließlich ein fester Bestandteil seiner frühen Kindheit. „Du kennst deinen Opa nicht mehr?“ „Was ist das?“ Tyson klappte der Mund auf. „Ein Opa… Ähm… oh man. Wie erkläre ich dir das?“ Er dachte kurz nach und überlegte, wie er einem Fremden, seinen eigenen Großvater erklären würde. „Also… das ist ein alter Mann. Manchmal hat er einen Gehstock, den benutzt er um dir eine über den Schädel zu hauen, wenn du etwas angestellt hast.“ Kai starrte ihn geschockt an. Sein Gesicht verzog sich und mit kindlicher Furcht flüsterte er: „So was will ich nicht.“ Tyson lachte schallend auf und tat eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Oh nein, ganz so schlimm ist das nicht! Das macht nur mein Opa. Der ist auch einwenig weich in der Birne. Ansonsten ist er aber echt klasse. Weißt du das er vier Mal regionaler Meister im Kendo war?“ „Ist das gut?“ „Ziemlich gut.“ „Und was macht man mit einem Opa?“ „Er gehört einfach zur Familie. Ich profitiere immer von seinen Weisheiten. Obwohl… Er hat mal versucht meinen Hamster in der Mikrowelle zu trocknen…“ Für einen kurzen Moment schweiften Tysons Gedanken zu jenem Tag zurück. „Little Samurai“, sein Hamster, war damals irgendwie aus seinem Käfig ausgebüchst und Mr. Kinomiya beim Staub saugen in die Quere gekommen. Der alte Mann hatte daraufhin panisch den Staubsaugerbeutel aufgeschnitten, den Hamster gerettet und dem verstaubten Tierchen, eine Dusche in der Spüle verpasst. So weit, so gut... Wäre Hitoshi aber nicht zehn Minuten später von der Schule gekommen und hätte Mr. Kinomiya dabei ertappt, wie er das zitternde Kerlchen in Handtüchern bepackt, in die Mikrowelle zum Trocknen legte. Tyson wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er neben sich ein Kichern hörte. Kai hielt sich die Hand vor den Mund und gluckste leise: „Wirklich? In die Mikrowelle?“ „Na sieh mal einer an…“, grinste Tyson in sich hinein und meinte: „Weißt du was Großväter noch für verrückte Sachen machen?“ Kai schüttelte verneinend den Kopf. Doch seine Augen verrieten Tyson, dass er es kaum erwarten konnte, mehr zu hören. „Wenn ein LKW mit Tiefkühl Chicken Wings, vor deiner Haustür verunglückt, packt er sich eine Schubkarre und schaufelt das Zeug zu Dutzenden in die Karre. Mein Opa hat fünf Ladungen nachhause gebracht. Wir haben vier Monate nur Chicken Wings gegessen.“ Wieder lachte Kai leise. „Und wenn unser Nachbar seinen Hund, auf unserem Teil des Gehwegs, seine Haufen legen lässt, packt mein Opa die Haufen mit einer Schaufel in eine Tüte, um in der gleichen Nacht über den Zaun unseres Nachbarn zu klettern und sich auf dessen Grundstück, vor dem Badezimmerfenster, auf die Lauer zu legen. Wenn unser Nachbar dann ein warmes Bad genommen hat, wartet mein Opa ab, bis er das Fenster zum Lüften aufreißt und donnert ihm die Tüte ins Gesicht!“ „Iiihh!“, so kindlich wie es eben nur Kinder konnten, kam dieser Laut von Kai, gefolgt von einem erneuten Lachen, dass er allerdings hinter seinen Händen versteckte, als wolle er nicht, dass man ihn so ausgelassen sah. Darüber konnte Tyson nur schmunzeln und er beugte sich zu dem Jungen hinab. „So viele Dummheiten mein Großvater auch macht, in einem Punkt hat er Recht - Er sagt immer: Lachen ist Treibstoff für die Seele.“ Damit nahm er Kai langsam, aber bestimmt, die Hände vom Gesicht und fügte hinzu: „Und deshalb solltest du ein Lachen auch nicht verstecken. Das ist als ob du die Vorhänge zu ziehst, obwohl draußen das schönste Wetter ist.“ Kai legte den Kopf leicht zur Seite und fragte: „Ist das auch eine Weisheit von deinem Opa?“ „Nein. Das stammt zu hundert Prozent von mir, Krümel.“ „Ach so.“, der Junge dachte über die Worte nach. Tyson hoffte damit einen Stein ins Rollen gebracht zu haben. Es hätte ihn gefreut, wenn Kai diesen Rat auch als Erwachsener beherzigen würde, immerhin hieß es doch, dass man Menschen in ihrer Kindheit am meisten beeinflusste. „Wir sollten weiter.“, meinte er schließlich und erhob sich. „Du?“ „Hm?“ „Ich bin einwenig müde…“ Tyson seufzte. Das hatte er bereits vermutet. So sehr der Wunsch, seine Dame Solowéj zu finden, ihn auch antrieb, die letzte Viertelstunde war Kai immer langsamer geworden. Unglaublich wenn man bedachte, wie lange er zuvor doch in Tiefschlaf gelegen war, womit Tyson sich aber bestätigt fühlte, dass Kai wohl tatsächlich unter einem Bann gestanden hatte. Für ihn musste es wohl noch schwieriger sein, durch den Schnee zu laufen, der ihm bis zu den Knien reichte – ganz zu schweigen von der Kälte, die selbst Tyson zu schaffen machte. „Sorry Kleiner, aber hier können wir nicht bleiben.“ „Oh. Na gut.“ Tyson beobachte wie Kai sich die Augen rieb. Wie er versuchte standhaft durchzuhalten, tat der Junge ihm Leid. Ein anderes Kind hätte jetzt gejammert wie am Spieß. „Komm, ich trage dich.“ „Ist okay. Ich kann noch...“ „Zier dich nicht so. Komm jetzt, du Oompa Loompa Verschnitt!“ Er kniete sich hin und wies Kai an, auf seinen Rücken zu steigen. Nach anfänglichem Zögern, gab der Junge nach und schlang seine Arme um Tysons Hals. Und als er die ersten Schritte hinter sich legte, fragte das Kind: „Was ist ein Oompa Loompa?“ „Also echt, das ist Allgemeinwissen. Hat man dir in der Abtei nichts Anständiges beigebracht?!“ Es hörte nicht auf zu schneien, die Flocken fielen ununterbrochen vom Himmel und Tyson fror. Kai ging es scheinbar nicht besser, denn die Hände, mit denen er Tysons Schultern umklammerte, machten einen unterkühlten Eindruck. Zu allem Übel änderte sich das Bild der Landschaft nicht. Es gab nur verschneite Bäume, verschneites Gestrüpp, und - wie könnte es anders sein - verschneite Wiesen. Sie mussten dringend einen Unterschlupf zum Aufwärmen finden, andernfalls würde ihnen die Kälte den Garaus machen, zumal sie nicht mit der passenden Kleidung ausgestattet waren. Sie irrten eine ganze Weile durch den Wald, als Tyson bemerkte, dass sich Kai nicht mehr rührte. Er spähte über seine Schulter und erschrak. „Nicht schlafen! Wach auf!“ Das Kind riss abrupt die Lider hoch und blinzelte ihn verstört an. „Warum?“ „Bei so einer Kälte darf man nicht schlafen!“ „Okay“, murmelte Kai und legte seinen Kopf wieder auf Tysons Schultern. Der sah bereits, dass der wache Zustand nur von kurzer Dauer sein würde. Der Kleine war wieder dabei einzunicken und seine blau gefrorenen Lippen gefielen ihm überhaupt nicht. „Weißt du wie sich mein Großvater anhört, wenn er schläft?“, fragte er im verzweifelten Versuch, den Jungen von der Müdigkeit abzulenken. Dann folgte seine Imitation, die sich wie ein sterbender Esel auf der Weide anhörte. Über Kais Mundwinkel huschte ein schwaches Lächeln und er flüsterte: „Das klingt komisch…“ Dann schlossen sich seine Lider bereits wieder. Jetzt hatte Tyson leider keine andere Wahl… Notgedrungen warf er Kai vom Rücken. Der Junge landete mit einem erschrocken Ausruf im Schnee und war wieder hellwach. „Sorry, aber das musste sein. Alles klar, Kleiner?“ Von Kai kam keine Antwort. Er setzte sich nur schweigend auf und sah Tyson an, als wäre er der Bösewicht aus einem Film. Seiner Meinung nach war wohl gar nichts in Ordnung. „Hey, sieh mich nicht so an! Das war zu deinem Besten… W-weinst du?“ Das Kind schüttelte verneinend den Kopf, doch seine wässrigen Augen, die in den aufkommenden Tränen schwammen, straften seine Worte lügen. Er sah nur gekränkt zur Seite und Tyson ahnte jetzt, dass der Spruch „Es tut mir mehr weh als dir“, nicht nur eine leere Floskel von Eltern war. Wie er Kai so sah, kam er sich schrecklich vor. Warum mussten Kinder auch so… so… verdammt niedlich sein?! Diese blöden Zwerge, mit ihren blöden Kulleraugen und diesen blöden Backen, in die man blöderweise die ganze Zeit kneifen wollte… Kais Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund, wie Tyson es nicht für möglich gehalten hätte und der Junge kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen, bis die Erste sich ihren Weg an seiner Wange hinabbahnte. „Nein, aus!“, er sprach als hätte er einen Hund vor sich. Es half nichts… „Ich kann Heulsusen nicht ab. Aufhören!“, die großen Kinderaugen sahen ihn vorwurfsvoll an. Die Tränen wurden weggewischt, doch neue quollen aus den Augenwinkeln hervor. „Hör auf du blödes Gör! Ich entschuldige mich bestimmt nicht!“ Da folgte ein unterdrücktes Schluchzen und ihm schnürte sich der Magen zu. „Ach bitte, jetzt wein doch nicht. Es tut mir Leid, Kai.“, rief Tyson panisch aus und fuchtelte wie wild mit den Händen. „Es tut mir wirklich, wirklich Leid! Ähm… guck mal was ich kann!“, er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, doch außer einer weiteren Träne, kam nichts. Eine geschlagene Stunde verbrachte Tyson daraufhin so… Er wiederholte das Schlafverhalten seines Großvaters, bot Kai an ihm einen Schneeball ins Gesicht zu werfen, erzählte haufenweise Anekdoten aus seiner Familie, versuchte ihn zu einem Schneeengel zu animieren, schlug Purzelbäume, zuletzt wagte er sich sogar als Stand up Comedian. Gerade führte er einen Handstand vor, als er merkte, dass Kai endlich nicht mehr weinte, stattdessen aber die Arme verschränkt hielt und seine Aufführung keines Blickes würdigte. Sein Gesicht war nur beleidigt zur Seite gerichtet und er stellte auf stur. Mitten im Handstand seufzte Tyson und ließ sich auf den Rücken fallen. Wie hatte seine Familie ihn immer besänftigt? „Willst du ein Eis?“ Keine Antwort. „Na ja, dann eben nicht.“ Er setzte sich auf und fügte noch hinzu. „Wüsste sowieso nicht, wo ich eins her bekommen sollte. Die einzige Farbe die ich dir anbieten könnte ist gelb und die Geschmacksrichtung willst du bestimmt nicht probieren.“ Er hatte sich eigentlich damit abgefunden, dass Kai für den Rest ihres Aufenthaltes beleidigt sein würde, da dachte der Junge kurz über seine Worte nach und als er begriff… „Bäh!“ … begann er zu lachen. „Endlich!“, rief Tyson erleichtert aus. Er rollte sich auf den Bauch und beobachtete Kai, genoss das kindliche Lachen, dass durch den Wald schallte. Es war so viel ausgelassener und belebter, als alles was zuvor von ihm gekommen war. Irgendwie erfüllte es ihn mit Stolz, dass dies sein Verdienst war. „Wer… seid… ihr?“ Tyson zuckte zusammen. Er hatte gemeint ein Flüstern zu hören und auch Kai war verstummt. Das Echo seines Lachens hallte noch einpaar Sekunden durch die Umgebung, bis es verebbte. Dann lauschten beide in die Stille des Waldes hinein. Zum ersten Mal legte sich eine Windbrise über das Gebiet. Einpaar zarte Schneeböen tänzelten sanft um sie herum, weiter war aber nichts zu sehen. Alarmiert sprang Tyson auf. Er hatte ein ungutes Gefühl. „Komm weiter Kai.“ „Hast du das auch gehört?“ „Da war nichts. Sicher nur der Wind.“ Sein Versuch Kai zu beruhigen scheiterte kläglich. Er sah dem Jungen an, dass er ihm kein Wort glaubte. Trotzdem blieb er ruhig, wofür Tyson ihm mehr als dankbar war. Er nahm Kai bei der Hand und stapfte mit ihm eiligen Schrittes durch den Wald, angestrengt nach einem Unterschlupf suchend. Als sie einpaar Meter zurückgelegt hatten, war Tyson, als ob er hinter sich ein Knirschen vernahm, wie Füße die in den Neuschnee traten. Er wandte sich abrupt um. Nichts… Nur schwarze Baumstämme, die aus dem weißen Erdboden emporragten und dazwischen kleine Böen, die mit dem aufgewirbelten Flocken spielten. Die wenigen Fetzen des trüben Himmels, die zwischen den dicht aneinandergereihten Bäumen hervorlugten, waren kaum vom Schnee zu unterscheiden. Sein Blick suchte den Boden ab und er wurde aschfahl… Zu ihren Abdrücken hatte sich ein Drittes gesellt. Da war doch aber niemand! Er blickte wie erstarrt auf die fremde Fußspur die nur wenige Schritte hinter ihnen lag und keuchte geschockt auf. „Tyson?“, Kai legte auch die andere Hand auf seine. Die kleinen Finger berührten ihn sachte. Seine Nervosität war wohl nicht unbemerkt geblieben. „Was ist los?“ „Alles in Ordnung.“, er verbannte die Angst aus seiner Stimme. „Mach dir keine Sorgen, Kleiner. Alles ist bestens. Ein wundervoller Tag heute, findest du nicht?“ Er fuhr dem Jungen beruhigend durch den satten Haarschopf und rief sich zur Ordnung. Kai war als Kind sowohl physisch auch als seelisch, nicht in der Lage zu helfen. Er wollte ihn, soweit möglich, nicht allzu sehr mit der Situation überfordern. Stattdessen atmete er durch und wies ihn auf weiterzugehen, zwang sich dabei in kein gehetztes Tempo einzufallen. Nur einmal, als er meinte, unbeobachtet zu sein, spähte Tyson über seine Schulter – das dritte Fußpaar war verschwunden. Gespenstisch… Den Rest ihrer Wanderung blieben beide Jungen stumm. Tysons Nerven waren gespannt. Er hielt nach der kleinsten Regung Ausschau und Kai schien zu ahnen, dass es besser war still zu bleiben. Er hatte wohl einen sechsten Sinn für so etwas. Zudem nagte wieder die Müdigkeit an dem kleinen Kind, doch selbst das ließ er sich nicht mehr anmerken. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichten sie einen Weg. „Wurde auch Zeit, “ murrte Tyson erleichtert. Ein Weg führte zu Häusern. Und wo Häuser waren, konnten sie sich wärmen. Tyson malte sich schon sehnlichst aus, wie sie vor einer Heizung oder einem Kamin ihre durchgefrorenen Körper wärmten, während sie genüsslich eine Nudelsuppe aßen. Er konnte es kaum erwarten, einpaar hohle Phantome für ihr leibliches Wohl herum zu scheuchen. Kai würde endlich etwas Schlaf finden und er sich überlegen, wie es jetzt weitergehen sollte. Irgendwie mussten sie wieder zu Ray und Max gelangen… Gerade dachte Tyson voller Sorge an seine Freunde, als er abrupt aus seinen Gedanken gerissen wurde. Schlagartig hielt er inne und dirigierte Kai vorsichtig hinter seinen Rücken. Seine Brauen zogen sich argwöhnisch zusammen. Dort, am Wegrand, kauerte eine Gestalt… Bei näherer Betrachtung konnte es sich dabei nur um eine Frau handeln, was Tyson rein von der zierlichen Statur vermutete. Ihnen den Rücken zugewandt und in kniender Pose, reichte ihr glattes, bleiches Haar bis an den Boden, mit einem hellblauen Schimmer darin. Neben ihr lag ein Weidenkörbchen abgestellt, in denen zu Bündeln gerollte Blumen lagen. In ihrer Linken hantierten ihre schneeweißen Finger mit einem Messer. Eine Kräutersammlerin… Mitten in einer Winterlandschaft? Tyson sah noch einmal genauer hin und erkannte, dass sie im Schnee grub. Alle Pflanzen im Korb waren gefroren. Etwas ließ seine Alarmglocken läuten. Er bedeutete Kai still zu sein und wollte sich mit ihm unbemerkt davonschleichen. Obwohl er keine Ahnung hatte, ob die Richtung stimmte, schlug er den Weg nach Links ein. Da sprach sie die Frau an, ohne sich zu ihnen zu drehen. „Kein Wort zum Gruße, junge Wanderer?“ Tyson schwante Böses. Es konnte sich bei dieser Frau um ein Phantom handeln, schlimmstenfalls aber um ein Bit Beast in Menschengestalt. Vielleicht hatte dieses Bit Beast einem Menschen das Gesicht geklaut, wie Draciel bei Judy. Vielleicht war das sogar Draciel?! Argwöhnisch trat er zurück und meinte: „Verzeihung. Sie sehen so beschäftigt aus. Wir wollten sie nicht stören bei… was immer sie da tun.“ „Ich sammle.“ „Kräuter?“ „Seltenheiten.“ „Seltene Kräuter?“ „Nein. Seltenheiten.“ Ihre Stimme war ein leiser Hauch und jagte einem eine Gänsehaut über den Rücken. Tyson spürte wie Kai sich einwenig von ihm entfernte. Er tat einen Schritt auf die Frau zu und musterte voller Neugierde den Korb. Erst beim zweiten Mal erblickte Tyson die eiförmigen Eisklumpen darin - in deren Inneren blaue Schmetterlinge lagen. Zierlich und fein, erkannte man jede Kontur darin. Die satten Farben der Flügel schimmerten förmlich zusammen mit der kalten Oberfläche des Eis um die Wette. Es war ein wirklich schöner Anblick, aber im Zusammenhang mit ihren Worten, bereitete es Tyson Unbehangen. „Gefallen sie dir, mein Junge?“ Die Frau nahm einen der Klumpen aus dem Korb und hielt sie mit der Linken empor. Endlich wandte sie sich zu ihnen und Tyson musste schlucken – sie war bildschön. Jung und zierlich, aber auch blass. Ihre von dichten Wimpern umrahmten Lider waren geschlossen. Mit einem Kimono, genauso weiß wie ihre Haut, erinnerte sie ihn vage an die Gestalt der Yuki Onna. Ein Europäer konnte diese Form der Yokai fälschlicherweise mit der Schneekönigin verwechseln. Tyson meinte aber die Gestalt von irgendwo anders zu kennen… „Komm doch näher, mein Junge. Sieh es dir an.“, lockte sie Kai inzwischen. Als Erwachsener hätte er wohl missbilligend die Nase gerümpft, nun trat er aber schneller an sie heran, als Tyson überrascht blinzeln konnte. Er wollte Kai bereits zurückrufen, als er sah, wie die junge Frau hilflos mit der Rechten nach dessen Hand in der Luft tastete. „Sei so gut, und hilf mir. Ich sehe dich nicht mein Kind.“ Kai griff langsam nach ihrer Hand und sie bettete den Eisklumpen vorsichtig in seine. Sobald strich der Junge, mit einem neugierigen Ausdruck, über die Oberfläche und begutachtete das schöne Stück von allen Seiten. „Schau mal Tyson. Das ist ja toll…“, meinte das Kind erstaunt, drehte den Klumpen voller Neugier vor seinem Gesicht, bis er davon abließ und Tyson näher heran winkte. Nur widerwillig kam er der Aufforderung nach. Anstatt das er die Gelegenheit nutzte, um den Eisklumpen zu bestaunen, fragte Tyson geradeheraus: „Wie können sie Sammlerin sein, wenn sie blind sind?“ „Wie taktlos mich so darauf hinzuweisen…“ „Mein Mitleid hält sich momentan in Grenzen. Vor allem, wenn ich glaube, an der Nase herumgeführt zu werden. Woher wussten sie überhaupt das Kai ein Kind ist wenn sie doch angeblich nichts sehen können?“ Zu seiner Verwunderung lächelte die Frau. „Ach Takao. Du bist seit fast zwei Tagen hier und ahnst immer noch nicht, dass diese Welt in anderen Bahnen verläuft als eure.“ Diese Offenheit mit der sie sprach ließ ihn stocken. Was immer diese Frau war, sie hatte kein Interesse daran ihnen vorzugaukeln, dass diese Welt real war. Um nicht ganz aus dem Konzept zu kommen, leitete Tyson eine Frage ein, die ihm geradezu auf der Zunge brannte: „Was sind sie?“ „Du kränkst mich. Erkennst du mich nicht?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher…“ „Wir hatten bereits das Vergnügen. Mehrere Male… bei den Weltmeisterschaften.“ „Also doch!“, rief eine Stimme in seinem Kopf. Dann fragte er: „Bist du Wolborg?“ „Ach ja. Dieser Name… So nannte mich mein Kind.“, ihr Gesicht wanderte verträumt gegen den Himmel, als wäre sie im Gedanken weit weg und ein Name huschte über ihre Lippen: „Tala.“ „Du bist doch hoffentlich nicht auch auf so einem Rachefeldzug wie unsere Bit Beasts?“, fragte Tyson vorsichtig. Tala und ihn hatte nie etwas wie Freundschaft verbunden, trotzdem wollte er nicht, dass es dem kühlen Russen genauso erging wie ihnen und zu seiner Erleichterung antwortete Wolborg: „So etwas liegt mir fern. Ich brauche meine Ruhe. Menschen in unsere Welt zu locken, würde meine Stille nur trüben.“ „Oh“, Tyson kratzte sich unangenehm berührt am Nacken. Wollte sie etwa allein sein? „Dann sollten wir wohl besser gehen.“ „Das war keine Anspielung.“, erkannte sie seine Gedanken. „Gegen einwenig Abwechslung habe ich nichts einzuwenden.“, sie richtete sich auf und Tyson schmollte innerlich bei dem Gedanken, dass sie ein Bit Beast war. Diese kühle Schönheit war einfach atemberaubend. In den Kämpfen gegen Tala war ihm immer wieder aufgefallen, dass dessen Bit Beast vor einem gewaltigen Angriff, ein Licht ausstrahlte, welches die Gestalt eines Menschen zu haben schien, nur um kurz darauf als Wolf daraus hervorzupreschen. Er hatte das stets als Illusion abgetan, nun staunte er darüber, dass es dieses Bit Beast tatsächlich auch in Menschengestalt gab – und dass sie so bildschön war. „Ich spüre dass die Kälte an euch nagt. Kommt und wärmt euch in meinem Dorf. Ihr seid meine Gäste.“ „Nichts für ungut, aber seid wir hier sind, bin ich etwas misstrauischer gegenüber Bit Beasts geworden.“, lehnte Tyson entschieden ab. „Eine weise Entscheidung“, pflichtete sie bei und strich langsam den Schnee von ihrem Kimono. „Doch wenn ihr mir nicht folgt, wohin wollt ihr dann?“ „In ein… anderes Dorf.“ Eigentlich hatte Tyson keine Ahnung wohin. „Das existiert hier nicht.“ „Und wohin führt dieser Weg?“ „Der existiert eigentlich auch nicht. Ich habe ihn nur erschaffen, um euch auf den richtigen Pfad zu führen.“ „Was denn für ein richtiger Pfad?“ „Den Pfad zu mir.“ Sofort klappte Tysons Kinnlade runter. Sie waren ihr also blindlings in die Falle getappt und hatten es noch nicht einmal bemerkt! Am liebsten hätte er sich für seine Blödheit geohrfeigt. „Mach dir keine Vorwürfe, Takao. Es ist gut dass ihr hier seid.“ Ein geheimnisvolles Lächeln stahl sich auf ihren Mund. „Du musst wissen, dass hier ist mein Gebiet. Ohne meine Hilfe kommt ihr nicht mehr so schnell hinaus. Ihr könnt euch also glücklich schätzen, dass ich mich eurer erbarmt habe.“ Sie wandte sich an Kai der der Unterhaltung schweigend gelauscht hatte. Was sie untereinander besprachen, musste für ihn wie Kauderwelsch klingen. „Was denkst du, mein Küken? Würde ein Milchreis deinem ausgehungerten Magen gut tun?“ Kais Augen wurden groß aufgrund des Kosenamens. Er klammerte sich mit geröteten Wangen schüchtern an Tysons Hosenbein, wandte den Kopf ab und bejahte leise. Es sah aus als wolle er am liebsten unsichtbar sein. Tyson blinzelte nur verdattert über diese Reaktion und hatte Mühe sich ein Lachen zu verkneifen. „Dann scheint es beschlossen. Gib mir deine Hand. Ich spüre die Richtung in die wir müssen, dafür musst du mir deine Augen leihen. Du wirst doch die Bitte einer Blinden nicht abschlagen, nicht wahr?“ Natürlich konnte Kai das nicht. Er gehorchte, reichte seine Hand und die beiden begannen, den Weg nach Rechts einzuschlagen – genau die Richtung, die Tyson zuvor nicht gehen wollte! Dieser seufzte geschlagen und musste sich eingestehen, dass sie sich ohne Wolborg hoffnungslos verlaufen hätten. In der anderen Richtung hätte sie wohl der sichere Tod erwartet. Diese Erkenntnis löste aber auch eine Frage in seinem Kopf aus… Er stolperte den andern beiden hinterher, um sie nicht zu verlieren. Als er aufgeholt hatte, fragte Tyson: „Du hast gesagt du erbarmst dich unserer. Was passiert mit denen, die nicht so ein irres Glück haben?“ „Schau nach Rechts.“ Tyson tat wie ihm geheißen. Zunächst konnte er nichts Auffälliges erkennen… Bis er geschockt die Luft anhielt, und auf der Stelle verharrte. Außerhalb des Weges lag, unter einer feinen Schneeschicht bedeckt, eine Gestalt, die er nur allzu gut kannte. Die Hyänenmutter… Sie musste nach ihrem Badeausflug im Kanda Fluss, auch hier gelandet sein. Abgemagert, zerzaust und schwarz gefroren vor Kälte, ruhte der Leichnam des Bit Beasts im Schnee. Die Schnauze, die in seiner Erinnerung stinkenden Speichel abgesondert hatte, war weit aufgerissen, als hätte das Bit Beast bis zuletzt um Hilfe gebrüllt. Tyson hatte das hässliche Monstrum gefürchtet, immerhin hatte sie versucht die Gruppe ihren Kindern als Zwischengang zu servieren, trotzdem empfand er Mitleid für das tote Geschöpf. Mit einem anklagendem Ton fragte er: „Warum hast du ihr nicht geholfen? Sie ist ein Bit Beast. Genau wie du!“ „Sie war nichts Besonderes.“, antwortete Wolborg nur leise. * Zornige Schritte hallten auf dem Wurzelpfad des Weltenbaumes. Die katzengleichen Augen des Urhebers stachen durch die Finsternis. Drigers Atem ging schwer und glich mehr einem Fauchen. Als er endlich das Ende des Pfades erreichte und die heimgekehrte Gestalt von Dragoon erblickte, fletschte er die Zähne. Angeschlagen breitete sich der Drache - wieder in seinem Menschenkörper - auf einem Wurzelgeflecht aus, das an einen Thron erinnerte. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und hielt die Augen geschlossen. Es wirkte als ob er schlafe. Driger war sich dennoch sicher, dass er seine Ankunft erwartete und kurz bevor er vor ihm hielt, begrüßte ihn der Drache spöttisch: „Du wirkst Wut geladen. Du solltest Sport treiben. Jedenfalls halten die Menschen das für ein Allheilmittel.“ „Wo ist sie?!“ „Wer?“ „Du weißt genau wer!“ „Dranzer? Ach die…“ Der Drache hob seinen Kopf und grinste süffisant, klopfte sich dabei auf den Bauch. „In Verwahrung.“ „Du hast sie verschlungen?!“ „Ich fand sie schon immer zum Anbeißen.“ „Spuck sie aus!“ „Aber, aber…“, Drigers Verhalten begann ihn zu ärgern. Eigentlich schätze Dragoon ihn, aber die Art und Weise wie er mit ihm sprach missfiel ihm. Natürlich hing es nur damit zusammen, dass er sich wie eine Glucke um sein Kücken sorgte. Als die Welt noch jung war und Dranzer gerade erst geboren, war es Driger, der die junge Uralte nach den Regeln der Geister aufzog. Aus seinen Lehren war der heutige Phönix entstanden – stark, gnadenlos und gefürchtet. Sie war sein ganzer Stolz und diese Affenliebe mit der er sie überschüttete, reizte Dragoon bis aufs tote Blut, da sie dadurch immer hochnäsiger geworden war. Driger hätte sie zurückhaltender erziehen müssen und vor allem Dingen demütig. Stolz tat ihr nicht gut… „Du wirst dich gedulden müssen. Ich werde sie später ausspucken.“ „Die Erde braucht Feuer! Hast du eine Ahnung was du mit deiner Aktion gerade in der Menschenwelt für ein Chaos anstellst? Dort muss die Temperatur bereits anfangen zu sinken! Willst du einen vorzeitigen Winter heraufbeschwören? Wer soll Dranzers Platz einnehmen?“ Dragoon streckte die Arme aus und lächelte. „Du?!“, polterte Driger ungläubig und stampfte erbost mit dem Fuß auf, dass der gesamte Pfad nur so bebte. „Niemals! Was weißt du schon über Feuer?! Du kannst doch einen Funken nicht von einer Stichflamme unterscheiden! Gib sie auf der Stelle frei!“ „Sie ist schon tot.“ „Dann spuck ihr Ei aus! Du weißt doch wie es läuft, aus der Asche ihres Körpers entsteht der neue Phönix.“ „Den du dann genau so missraten erziehst wie den Letzten!“, konterte Dragoon wütend. Ein lautes Knurren seitens Driger erfüllte die Umgebung, denn mit dieser Unterstellung hatte der Drache ihn zutiefst gekränkt. Seiner Meinung nach war Dranzer etwas aufbrausend, doch ein Meisterstück einer Uralten. Gnadenlos, Gebieterisch und Stolz… So wie es sein sollte. „Sie war so wie sie ist perfekt! Eine Uralte wie sie im Buche steht!“ „Ich kann sie nicht freilassen.“, überging Dragoon diese Aussage. „Deine personifizierte Perfektion ist verrückt geworden.“ „Das glaube ich nicht. Ich habe ihr einen kühlen und berechnenden Verstand beigebracht.“ „Sie ist ein Phönix! Temperament liegt ihr im Blut. Alles andere wäre nicht normal.“ „Dranzer wusste sich stets zu zügeln. Sie war immer eine gute Schülerin.“ „Ihre letzten Taten sprechen nicht für sie…“ Driger fauchte. Er schritt auf und ab, als habe er Mühe an sich zu halten. Seine Fäuste geballt, verrieten seine knackenden Finger, dass er den Wunsch verspürte etwas zu zertrümmern. Dann hielt er inne und als er sich in einer schnellen Bewegung zu ihm umwandte, lag sein anklagender Satz unvermittelt in der Luft. „Du hast sie nie gemocht...“ „Das stimmt nicht.“ „Sie war dir immer ein Dorn im Auge!“ „Das ist eine Lüge…“, wiederholte Dragoon gereizt. „Warum dann das alles?“, Drigers Augen fixierten ihn. Mit jeder Silbe wurde er lauter. „So viele Male habt ihr gegeneinander gekämpft. Seit Jahrhunderten zieht sich eure Fehde zurück, aber nie hast du es gewagt sie zu verschlingen, wenn sie besiegt vor dir lag! Was war dieses Mal anders?“ Und als keine Antwort kam. „WAS?!“ „Weil das Miststück ein verdammtes Tabu gebrochen hat!“ Dragoons Stimme donnerte laut durch die Dunkelheit, als er mit der Faust auf seinen Thron haute und die Wucht darin, ließ die glühenden Wurzeln erbeben. Von hoch oben fiel Erde in feinen Rinnsalen herab. Zusammen mit seinen Widerworten, verstummte auch Drigers Wut. Erst nach einer langen Pause, setzte er zu einer Frage an. „Welches Tabu?“ „Das Schlimmste… Für diesen Jungen! Sie hat angefangen den Bengel zu Umsorgen wie ein Heiligtum! Wenn du sie gesehen hättest... Schütteln wollte ich sie, bis ihr diese Flausen aus dem törichten Kopf fielen!“, Dragoons Gesicht verfinsterte sich bei diesem Gedanken, denn es war immer noch ein Mensch den Dranzer da wie eine Kostbarkeit behandelt hatte. Ein Mensch – schwach, sterblich und in seiner Unwissenheit nicht zu übertreffen! Dragoons Macht, die ganze Landstriche in Schutt und Asche legen konnte, hatte sie stets mit einem Schulterzucken abgetan, doch so ein kleines sterbliches Kind, dass ihr aus einem Buch vorlas, bemutterte sie wie eine Henne. „Was?“, verdutzt wich Driger zurück. „Unmöglich… Das ist eine Lüge!“ Er schien tatsächlich um Fassung zu ringen. In einem anderen Moment, hätte Dragoon dieser Anblick belustigt. Ein erschütterter Uralter war ein seltener Anblick. Er sah bereits wie es im Kopf des Tigers arbeitete, wie er jede seiner Erziehungsmethoden und Lektionen der Vergangenheit im Geiste durch ging. Sicherlich fragte er sich was er bei Dranzer falsch gemacht hatte. Leider ließen Drigers nächste Worte ihn seinen Spott vergessen. „Wie konnte das passieren? Wir beide hatten doch geplant, dass sie nach ihrer Ausbildung, dir zugespro-…“ „Erinnere mich nicht daran.“, fuhr Dragoon dazwischen. „Es ist schon so Kränkung genug. Du musst nicht noch Öl in die offene Wunde gießen, indem du mir diese Tatsache nochmals vor Augen hältst!“ „Vielleicht sollten wir ihren Jungen nicht hier behalten.“, sprach Driger nun nachdenklich und legte die Stirn in Falten. Was er gehört hatte, passte ihm genauso wenig wie Dragoon. Als Dranzers Vaterfigur wollte er natürlich nur das Beste für sie, deshalb musste sie wieder zu klarem Verstand kommen. „Wenn du möchtest töte ich ihren Jungen. Dann kann er Dranzer nicht mehr den Kopf verdrehen und du hättest deine Rache. Wir könnten sie dann auch wieder herauslassen.“ „Ein verlockender Gedanke. Aber wie ich dir bereits sagte, die Gruppe muss zusammen bleiben. Egal wer es ist, sei es er oder einer der anderen, wir werden die Jungen niemals ruhigstellen können, wenn einer von ihnen fehlt.“ Zudem hätte er sich dadurch nicht besser gefühlt. Die Schmach war da, mit oder ohne Rache. Das Einzige welches ihm Freude an der ganzen Angelegenheit bereitete, war die Tatsache, dass Dranzer mit ihren Gefühlen nicht auf Gegenseitigkeit stieß. Der Junge war ihr nur verfallen, weil er von ihr komplett verdreht wurde, andernfalls hätte er sich niemals auf sie eingelassen. Er war sich gewiss, dass Dranzer sich darüber eigentlich im Klaren war. „Aber Dranzer ist die Einzige die ihre Erinnerungen löschen kann. Jetzt wo sie fort ist, ist ihr Bann gebrochen. Wie willst du die Jungen noch freiwillig hier behalten?“ „Ich gebe zu ihr Ausbruch hat einiges durcheinander gebracht. Wir werden noch einige Verbesserungen an unserer Scheinwelt vornehmen müssen, bevor sie wirklich real wirkt.“ Ein leichtes Lächeln stahl sich um Dragoons Mundwinkel. „Darum kümmert sich Draciel aber bereits. Übrigens, wenn du möchtest, kannst du nun auch zur Tat schreiten. Ich denke du hast lange genug auf deinen Einsatz gewartet…“ „Herrlich“, Driger war wieder bester Laune. „Du stimmst meiner Entscheidung also zu?“ „Es spricht nichts dagegen. Wie du deinen Menschen hier behältst ist allein dir überlassen. So lange die anderen Drei nichts davon merken, ist es mir gleich. Ich lasse dir freie Hand.“ „Gut. Dann mache ich mich sobald auf den Weg, “ er wandte sich um, hielt aber noch einen Moment inne. „Versprich mir aber, dich um Dranzer zu kümmern. Du kannst ihre Wiedergeburt nicht ewig hinauszögern…“ „Hmm.“ „Versprich es!“ Dragoon seufzte. Er hatte gehofft, dieses lästige Thema erst einmal auf sich beruhen lassen zu können. Ihm wäre es lieber Dranzer in guter Verwahrung zu wissen und sei es in seinem eigenen Magen. Gezwungenermaßen entgegnete er: „Schon gut, ich werde sie gleich ausspucken. Du wirst mir aber zustimmen müssen, dass es ratsam ist ihr einen Fluch aufzuerlegen. Etwas das ihren Willen erstickt… Außerdem will ich nicht dass sie sich wieder an die Oberfläche begibt. Sie steht ab jetzt unter Hausarrest.“ Er dachte kurz nach und fügte dann hinzu. „Am besten sie bleibt ganz nah bei mir. Ich muss sie im Auge behalten. Wenn ich nicht kann, wirst du das übernehmen, ansonsten hat sie mir nicht mehr von der Seite zu weichen.“ „Das wird ihr nicht gefallen…“ „Soll ich das Luder laufen lassen wie sie will?! Sie wird mir wieder stiften gehen… Nein! Dieses Mal nicht. Dieses Mal muss sie sich verdient um ihre Freiheit machen. Wenn sie die nächsten Jahrhunderte artig ist und mir gefällt, lasse ich ihr mehr Freiraum.“ „Tu alles um sie zur Vernunft zu bringen… Solange es nicht bedeutet sie wieder zu töten.“ „Als ob wir beide nicht wüssten, dass das bei einem Phönix nie vollkommen passiert.“, sprach Dragoon gelangweilt. Schließlich nickte Driger leicht, wandte sich zum Gehen und man hörte ihn murmeln: „Ausgerechnet ein Mensch. Welcher Wahnsinn hat sie getrieben?“ Damit verschwand seine Silhouette in der Dunkelheit – ließ Dragoon mit seinen eigenen Gedanken zurück. Ja, was hatte sie dazu getrieben? Diese Frage ließ auch ihn nicht los. Er selbst handelte aus reinem Vergnügen… und auch gekränkter Eitelkeit. Takao hatte von ihm so viel erhalten und zum Dank wurde er in einer staubigen Schachtel verstaut. Nach allem was sie miteinander durchgestanden hatten, war er enttäuscht von dem Jungen. Er ließ sich nicht wie ein altmodisches Spielzeug wegsperren. Ausgerechnet er? Was war Dragoon - ein billiges Souvenir der Vergangenheit? Wenn Takao ihn dafür hielt, dann war die Zeit gekommen, den Spieß umzudrehen. Hier, in der Irrlichterwelt, waren sie seiner Gnade, seinen Launen und seiner Willkür ausgesetzt. Er würde mit der Gruppe spielen. Dragoon konnte ihnen den Himmel auf Erden schenken oder sie in Angst und Schrecken versetzten, je nachdem, wie kooperativ sie sich zeigten – er war ein Junge, der mit einem Stock in einem Ameisenhaufen stocherte. Zuckerbrot und Peitsche, so nannten es die Menschen. Irgendwann würden sie merken, dass es ihnen besser erging, wenn sie sich seinem Willen beugten. Dann würde er ihnen einen Vorzug nach dem anderen gönnen. In kleinen Happen, bis sie sich kein schöneres Leben mehr vorstellen könnten. Das würde hundert, vielleicht auch zweihundert Jahre so laufen. Und dann würde er plötzlich zuschlagen… So unerwartet wie Takao ihm den Rücken zugewendet hatte, würde Dragoon sie zurück stoßen, in eine Welt, in der alle die sie kannten tot und ihre Namen längst vergessen waren, einer Erde die vielleicht sogar durch die menschliche Dummheit zu einem vermoderten Loch verkommen war. Ohne Heim und Familie würde Takao regelrecht darum flehen wieder zurück zu dürfen. Doch dann würde Dragoon ihm seine eigenen Medizin zu schlucken geben. Er würde ihm die Tür vor der Nase zuschließen, wie Takao es einst mit ihm getan hatte. Genugtuung blitzte in Dragoons Augen auf. Er erhob sich langsam, tat einpaar Schritte vom Wurzelwerk fort und machte sich bereit Dranzer auszuspucken. Es war nicht sein Wunsch einen Streit mit Driger vom Zaun zu brechen, der einer seiner engsten und treuesten Verbündeten war. Mit geschlossen Augen konzentrierte Dragoon sich auf Dranzers winziges Feuer, dass in ihm versiegelt lag. Sie musste mittlerweile schon ein Ei geworden sein. Doch etwas war seltsam. Er konnte nichts mehr von ihr spüren. Dragoons Braue zuckte leicht und er räusperte sich. Selbstverständlich konnte es sich dabei nur um einen Fehler handeln. Er konzentrierte sich erneut. Doch das Ergebnis blieb dasselbe. Er suchte jeden Winkel seines Körpers ab, doch der Phönix war nicht mehr da, bis auf… „Unmöglich!“ Mit einem wütenden Brüllen spie Dragoon das Einzige aus, was er noch von Dranzer vorfand. Die Überbleibsel lagen staubig in der Handfläche und fielen zwischen seinen blassen Fingern hinab. Phönixasche. Seine Braunen zogen sich tief ins Gesicht und seine Wut entlud sich in einem lauten Schrei: „DU DRECKSTÜCK! DENK NICHT DU KANNST MIR SO ENTKOMMEN!“ * „Was ist wenn sie gar nicht von der Welle erfasst wurden?“ „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.“ „Warum finden wir sie dann nicht?“ Allegro ließ die kleinen Schultern unwissend zucken und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie die Welle in eine andere Gegend verschleppt.“ „Auch das noch…“ Max ließ sich seufzend auf einem umgestürzten Baum nieder. Nachdem sie in die Fluten gesprungen waren, um ihren Freunden zu folgen, fanden sie sich kurz darauf in einem dichten Wald wieder. Es war das mit Abstand verrückteste was sie je erlebt hatten. Die Welt hatte sich gedreht und keine Sekunde später, hielt sie inne und das Szenario verwandelte sich einfach so in eine subtropische Landschaft. Fort waren die Gesichtslosen, die Hochhäuser und alles was an eine Stadt erinnerte. Nun ragten überall riesige Bäume, dichtes Farngestrüpp und von Moos überwachsenes Gestein aus dem Erdboden. Das Vorwärtskommen wurde durch haufenweise Hindernisse erschwert und war ermüdend. „Wir haben nicht einmal was zum Essen mitgenommen“, fiel Ray auf. Ihr gesamter Proviant lag irgendwo im anderen Teil der Irrlichterwelt herum, gut verstaut aber unerreichbar, im kleinen Minivan. „Na ja, es hilft alles nichts. Lass uns weitersuchen.“ „Lass mir doch noch zwei Minuten. Wir suchen seit heute Morgen. Ich kann nicht mehr.“ Zu allem übel schmerzte wieder die Wunde, die Max noch vom Vorfall im Hiwatari Anwesen besaß. Bei ihrem Ritt in den Fluten, war sie erneut aufgeplatzt und blutete wie die Hölle. Ray hatte sie provisorisch mit etwas Stoff verbunden, behielt aber für sich, dass sie eine ungesunde Färbung aufwies. Er wollte Max nicht beunruhigen. Sie hatten so viele Sorgen und er verstand beim besten Willen nicht, was Tyson mit Kai am Flussufer gewollt hatte. Jetzt saßen sie hier fest, in einer Gegend die geradezu menschenfeindlich war. Max stöhnte leise und Ray erkannte einen leichten Schweißfilm auf seiner Stirn. Es ließ sich nicht mehr abstreiten, die Wunde hatte sich eindeutig entzündet. Sie war angeschwollen und ließ sich nicht einmal mehr vom Verband verdecken. „Wartet hier.“, wies er Allegro und Max an. „Warum?“, kam die Frage prompt von Letzterem. „Ich will nur kurz etwas suchen.“ „Alleine?“ „Ja alleine.“ Max holte zu Widerworten aus, wurde aber von Ray unterbrochen. „Bleib einfach wo du bist. Dieser Wald kommt den in meinem Heimatdorf recht nahe. Ich will nur nach einer ganz bestimmten Pflanze Ausschau halten.“ „Wozu? Ich will nicht das du alleine herumrennst!“ „Frag doch nicht so viel. Lass mich einfach. Ich bin bald zurück.“ Er winkte mit einem zuversichtlichen Lächeln ab und verschwand in den umliegenden Büschen, ließ Max und Allegro hinter sich zurück. Der Wald war an vereinzelten Stellen lehmig, manchmal unpassierbar, doch Ray wusste sich stets zu helfen. Er war mit den White Tigers früher ruhelos durch die Wälder gezogen. Daher auch sein Wissen über Flora und Fauna. Dort wo er herkam gehörte dies zur Allgemeinbildung. Wo andere an Bächen standen und sich nicht die Kleidung nass machen wollten, sprang Ray mit Freuden hinein, an Stämmen kletterte er flink hinauf und an Ästen hangelte er sich geübt auf die andere Seite eines Flusses. Als er so im Wald seinen Instinkten folgte, fühlte er sich an seine frühe Kindheit erinnert – vor den Bladebreakers. Damals, als er noch beim Dorfältesten wohnte. Rays Eltern waren früh verstorben. Sie waren vor vielen Jahren bei einem Erdrutsch ums Leben gekommen, bei dem ihr Haus unter den Massen begraben wurde. Er verdankte es einer glücklichen - wenn auch traurigen Fügung - dass er ihr Schicksal nicht teilen musste, denn er hatte zuvor ein Fieber bekommen, das von der Dorfältesten behandelt werden musste. Seine Mutter war damals, auch durch dieselbe Krankheit, ans Bett gefesselt, deshalb hatte Rays Vater seinen Bruder gebeten, trotz des starken Regens, mit dem Säugling zur Heilerin zu gehen, damit er selbst bei seiner Frau bleiben konnte. Ray musste die Nacht über bei der Dorfältesten bleiben, würde laut ihrer Meinung aber mit den richtigen Mitteln bald wieder gesund werden. Als Rays Onkel den Weg nachhause antrat und seinem Bruder die erleichternde Botschaft übermitteln wollte, stand er aber wie vom Donner gerührt vor den Schlammmassen die die Hütte von Rays Eltern unter sich begraben hatte… Es war ein furchtbar trauriges Ereignis in dem Dorf, denn Rays Eltern waren sehr beliebt gewesen. Ray selbst war damals kein Jahr alt, konnte sich also nicht einmal an ihre Stimmen erinnern. Doch nach der Trauerzeremonie, musste man sehen, wo das Kind unterkommen konnte. Rays Onkel hätte den Jungen nur zu gerne aufgenommen, doch er konnte mit seinem kümmerlichen Gehalt als Bauer kaum seine eigene Frau und Tochter ernähren. Schließlich einigte man sich darauf, dass Ray bei den Dorfältesten bleiben sollte, die auch Lees und Maos Großeltern waren. Nach einigen ertragsarmen Jahren, entschied sich Rays Onkel schließlich, mit seiner Familie sein Glück im Ausland zu versuchen. Er reiste nach Japan wo er ein kleines chinesisches Restaurant eröffnete. Jeden Yen den er entbehren konnte, schickte er seinem Neffen, um ihn auch zu unterstützen. Somit war Ray aus finanzieller Sicht gestützt, denn mit dem Geld kam man in den Bergen ganz gut um die Runden. Für die gute Erziehung sorgten Maos Großeltern. Sie waren sehr liebevoll gewesen, hatten ihn nie belogen was seine Herkunft anging und ihm immer nahegelegt, die Seelen seiner verstorbenen Ahnen zu ehren. Am Todestag seiner Eltern begleiteten sie ihn zu den Trümmern des Hauses, beteten mit ihm an der Grabstätte und erzählten ihm Geschichten von ihnen. Zu seinem neunten Geburtstag hatten sie es sogar vollbracht, ein altes Hochzeitsfoto seiner Eltern aufzutreiben. „Du darfst niemals diese beide Menschen vergessen.“, hatte der Dorfälteste damals gesagt. Er tippte mit seinen alten, dennoch starken, schwieligen Händen auf das eingerahmte Foto. „Ihre gütigen Gesichter ähneln deinem. Ihre sanftmütigen Augen sind deine Augen. Sie mögen Tod sein, aber durch dich sterben sie nie. Und wenn du nicht mehr bist, wirst du durch dein Kind unsterblich bleiben. Bereite ihnen niemals Schande, Ray. Das haben sie nicht verdient, denn deine Eltern waren gute Menschen.“ Ray hatte seine Eltern nie vergessen – mehr noch. Durch die Geschichten seiner Verwandten und Zieheltern, schienen sie jeden Tag präsent. Er hatte seine Eltern auf eine andere Art kennengelernt und wusste trotzdem, was für Menschen sie gewesen waren. Demnach konnte er sich nicht beschweren. Trotz der traurigen Anfänge hatte er eine schöne Kindheit gehabt, denn obwohl die Menschen im Dorf nicht viel hatten, wurde er gut umsorgt. Besonders gefiel ihm, wie die Dorfälteste ihn jeden Nachmittag, mit auf ihr kleines Feld hinterm Haus nahm und ihm alles erklärte was sie wusste. „Siehst du das hier? Wenn du die Blätter dieser Pflanze zerstampfst und anschließend mit heißem Wasser aufbrühst, gibt das den besten Tee der Welt. Etwas Besseres wird dein Gaumen nie kriegen. Außerdem helfen die Kräuter sehr gut bei Halsschmerzen und Heiserkeit.“ Sie war eine Kräuterkundlerin und sehr weise. Allerdings auch etwas durchgeknallt… „Und wasch dir morgens nicht mit Wasser das Gesicht. Spuck auf deine Fingerspitzen und fahr dir damit über die Augenränder. Das hält dich sauber.“ Nun gut, man musste nicht jeden Ratschlag befolgen. Das hatte Ray schon früh bemerkt… Immerhin wusste er dank Mariahs Großmutter aber, nach was er suchte und wo er es finden konnte. Er lauschte kurz in die Geräusche des Waldes, da hörte er endlich wonach er Ausschau hielt. Das Plätschern eines Wasserfalls. Er kletterte über einen verwitterten Pfad und grinste, als er endlich auf die Pflanzen stieß, die er so dringend benötigte – Frauenmantel. Eine weit verbreitete Heilpflanze, die bereits seit Jahrhunderten gegen Entzündungen half wie sie Max hatte. Sie wuchs vorzugsweise an feuchten Orten, suchte sich aber gerne auch Felsspalten aus. Zielstrebig trat Ray zum kleinen Wasserfall, an dessen steinigen Seiten sich ein ganzer Strauch der halbrosettenförmigen Blätter sammelte. Anschließend kniete er sich hin und begann, wofür er gekommen war. Gute zehn Minuten war er damit beschäftigt auszusortieren, was er brauchte und was nicht. Als er mit seiner Arbeit fertig war, stand er auf und wollte sich zum Gehen wenden, da fiel sein Blick auf eine Pflanze, die geradezu befremdlich wirkte. Sie wuchs oberhalb des Wasserfalls, hing mit ihren roten Wurzeln über dem Felsvorsprung und unterhalb ihrer Blätter wuchsen transparente Früchte, die bernsteinfarben in der Sonne glänzten. In China hatte er dieses Kraut noch nie gesehen. Die Neugierde packte ihn. Er kletterte den Vorsprung hinauf und begutachtete die Pflanze von allen Seiten. In den kugelförmigen Früchten schwamm ein kleiner schwarzer Punkt, der sich rührte, wie ein Wurm. Die Pflanze zuckte und in ihren durchsichtigen Stängeln, schossen in unregelmäßigen Intervallen, kleine Lichtpunkte aus den Wurzeln hinauf zu den Früchten. Spaßeshalber nahm Ray eine der Kugeln in die Hand und wollte testen, wie viel Druck sie aushielt, da zuckte er mit einem Aufschrei zurück. Er blickte auf seine Fingerspitzen und aus kleinen Stichwunden an Zeigefinger und Daumen sickerte Blut. Die Pflanze hatte ihn tatsächlich gebissen! „Total krank.“, murmelte er, tauchte die Hand kurz in den Bach, um die Blutung zu stillen und wandte sich danach ab. So eine widerliche Pflanze konnte es nur in der Irrlichterwelt geben. Ray sprang vom Vorsprung und machte sich, zusammen mit seiner Beute, auf den Rückweg. Wäre er eine Sekunde länger geblieben, hätte er bemerkt, dass die Frucht, die ihn gebissen hatte, sich mit seinem eigenen Blut vollsog. Die Zeit in der Irrlichterwelt mochte zwar anders vergehen, als in der Menschenwelt, trotzdem war Ray sich sicher, dass er nicht länger, als eine Stunde weg gewesen war. Umso überraschter war er, als er die Lichtung, an der er Max und Allegro zurückgelassen hatte, verlassen vorfand. Zunächst dachte er, die Stelle zu verwechseln, immerhin sah jeder Baum wie der andere aus, doch schnell entdeckte er ihre Fußspuren, womit seine Vermutung widerlegt wurde. Was hatte das zu bedeuten? Hatten sich die beiden auf die Suche nach ihm gemacht? Er hatte doch ausdrücklich gesagt, dass sie hier auf ihn warten sollten. Innerlich ärgerte sich Ray über Max. Konnte er sich nicht denken, wie schwierig es nun für Ray war, ihn zu finden? Sein Freund konnte sonst wo sein! Max war kein Naturmensch, besaß den Orientierungssinn einer Fliege, nicht wie jemand, der in einem kleinen chinesischen Bergdorf aufgewachsen war. Sicherlich hatten er und Allegro sich hoffnungslos verlaufen. „Oh Mann, Max du Hohlbirne!“, fluchte Ray genervt vor sich her und trat frustriert gegen einen Stein. Er flog durch die Luft und direkt in ein Gebüsch – und ein Kreischen kam daraus. Erschrocken fuhr Ray zusammen. „Was zum…?“ Kurz darauf raschelte es im Busch und ein weißes Äffchen sprang hervor. Es klatschte sich mit den Händen hysterisch auf den Schädel, genau auf jene Stelle, an der Rays Stein ihn getroffen hatte. Dabei kreischte es wie wild, dass sein Kiefer geradezu sperrangelweit offen stand. „Oh! Entschuldigung Klein-…“ „Penner!“ „Was?!“, Ray blieb die Spucke weg. Das kniehohe Bit Beast schlug sich wie wild mit den Fäusten auf die Brust und brüllte: „Trottel! Idiot! Vollpfosten!“ „Jetzt mach mal halblang.“ „Dir sollte man den Schädel spalten!“ „Ist ja gut! Es war keine Ab-…“ „Arschloch!“ Jetzt wurde Ray doch wütend. Dieser kleine Dreikäsehoch kam gar nicht mehr aus seinen Beschimpfungen heraus, dabei hatte er sich doch bereits entschuldigt. Drohend hob er den Finger und sagte: „Jetzt hör mir mal einen Moment zu! Es tut mir Leid, mehr kann ich dazu nicht sagen! Also wenn es dir nicht passt, mach dich vom Acker bevor ich…“ „Arschfurz!“ „HÖR AUF DAMIT!“ „Drecksack! Sitzpisser! Scheißhaufen!“ „Weißt du was? Leck mich! Ich nehme meine Entschuldigung zurück.“, genervt machte Ray auf dem Absatz kehrt und verschwand in den umliegenden Büschen. Er hatte andere Sorgen als das melodramatische Theater eines Affen. Max und Allegro waren irgendwie abhanden gekommen, irrten ziellos durch den Wald und er gab etwas auf das Geschwätz dieser Witzfigur. Nach einigen Minuten, in denen er durch die unwirtliche Landschaft wanderte, war der Affe auch fast vergessen - bis er zu einem kleinen Erdspalt kam. Der Spalt war nicht tief und auch nicht besonders weit, deshalb wollte Ray über ihn hinweg springen. Doch in dem Moment, in dem er Mitten im Anlauf war… KLATSCH …knallte etwas mit Karacho gegen seinen Kopf. Ray kam ins Straucheln, stolperte, landete aber noch auf der anderen Seite – mit dem Gesicht voraus im Matsch. Prustend sprang er auf und spuckte den Dreck aus, den er bei seiner Aktion verschluckt hatte. Er war gerade dabei sein Gesicht von der Schlammkruste zu befreien, als er ein nur zu bekanntes Schnattern vernahm. „Bergente! Fischkopf! Saukerl!“ Mit gefletschten Zähnen fuhr Ray herum und machte das Äffchen oberhalb eines niedrigen Baumes aus. Es gackerte fröhlich vor sich her und präsentierte ihm stolz sein Hinterteil, dass er in einem albernen Tanz hin und her schwenkte. „Was hast du da nach mir geworfen?“, fragte Ray verstört. „Das wüsstest du gerne, nicht wahr?“ „Ach! Ich habe keine Zeit für solche Spielchen. Wir sind jetzt Quitt! Hau ab!“ Ray wollte sich schon wieder abwenden, da rief das Bit Beast: „Ich gebe dir einen Tipp. Es ist braun, matschig, aber wenn es trocken ist, auch mal steinhart.“ Ein konfuses „Hä?“ kam von Ray. Da machte das Bit Beast eine unmissverständliche Geste. Es zeigte mit der Linken auf sein Hinterteil und mit der Rechten hielt es sich die Nase zu. „Oh mein…“, angeekelt klopfte sich Ray die Überreste des Geschosses aus dem Haar. Begleitet wurde das Ganze vom nervenden Gackern des Bit Beasts – und in diesem Moment sah Ray Rot. Er war kein gewalttätiger Mensch, um genau zu sein war sein Motto: „Leben und leben lassen.“ Doch so wahr er hier stand, dieses Bit Beast würde er umbringen! Schneller als das Äffchen sehen konnte, war Ray aufgesprungen, hatte sich flink am Ast hinaufgezogen und die Beine in einem Überschwung hochgezogen. Das Ergebnis war, das das Kerlchen seine Füße direkt in den Rücken gerammt bekam und vom Baum fiel. Als es im Schlamm landete, ließ sich Ray kopfüber vom Ast hängen und grinste süffisant. Das war doch mal ein schöner Anblick! Wäre Max hier, hätte er das ganze wohl mit „Payback is a bitch“ kommentiert. Da machte das Äffchen etwas Beunruhigendes. Es begann mit den Fäustchen auf den lehmigen Boden zu klatschen und zu toben. Zuerst hatte Ray das ganze voller Genugtuung beobachtet, bis das Bit Beast immer hysterischer wurde und wie wild umher sprang. Dann verdoppelte es sich. Einfach so… Es hüpfte zur Seite und ein weiters Äffchen stand da, genauso aufgebracht wie das Erste. Aus zwei wurden drei. Aus drei wurden vier. Bis fünf cholerische Zwerge umher sprangen. Das wurde Ray dann doch zu heiß. Mit einem Mistvieh kam er locker klar, aber fünf… Plötzlich hatte er eine Eingebung und ihm wurde bewusst, wen er vor sich hatte. Das Bit Beast seines alten Teamkollegen Kevin, als Ray noch für die White Tigers spielte. Der hatte auch einen Move drauf, mit dem es den Anschein hatte, als hätte sich sein Blade vervielfältigt. „Du bist Galman?!“ Doch anstatt einer Antwort, bekam er fünf Mittelfinger entgegengestreckt. Dann sprangen die Affen auf ihn los. * *Hüstel* Bitte fragt nicht ob Frauenmantel wirklich gegen Entzündungen hilft. Meine Oma hat das mal behauptet und es war die einzige Pflanze an deren Aussehen ich mich vage erinnern kann. Laut Googel ist es medizinisch nicht wirklich erwiesen das diese Pflanze überhaupt zu etwas zu gebrauchen ist. Muss wohl ein "Altweibermittel" sein... Wenn ihr also eine Entzündung habt, fragt euren Arzt oder euren Apotheker und macht es nicht wie Ray. ^_~ Und noch ein Dankeschön an die Kommischreiber von letztes Mal. Jedes Kommentar spornt an und nach jedem Kommi den ich lese, freue ich mich so sehr, dass es gleich wieder flüssig läuft. ^_^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)