Die Geister die wir riefen... von Eris_the-discord ================================================================================ Kapitel 18: ------------ Tyson freute sich schon tierisch darauf seinen Freunden Wolborg vorzustellen. Er war sogar sicher, dass die kühle Schönheit direkt Maxs Geschmack entsprach. Natürlich war das nebensächlich, immerhin hatte Wolborg nicht immer diese zierliche Gestalt. Aber er konnte sich die verblüfften Gesichter vorstellen, wenn er ihnen berichtete, dass sie auf ihrem Webstuhl Frost herstellte. Da waren die Frauen, die er ihnen in der Vergangenheit präsentiert hatte, doch nur untalentierte Hühner. In einem irrwitzigen Moment, stellte sich Tyson vor, wie sich Wolborg mit einer seiner Verflossenen einen Wettstreit bot. „Guck mal, du blinde Schnepfe, ich bin so gelenkig, ich kann meinen eigenen Hintern küssen!“ „Magst du Eis?“ „Ja, wieso?“ Und WUSCH… Hätte Wolborg ihre Kontrahentin in einen Eiszapfen verwandelt. „Tyson, wieso grinst du so komisch?“ „Ach, nichts Kai. Kaum der Rede wert.“ Er hatte gar nicht gemerkt dass der Gedanke seine Ex Freundin als gefrorenen Eisklumpen zu sehen, ihm solch sichtliches Vergnügen bereitete. „Du grinst immer noch…“ „Hör auf mich zu beobachten, dann siehst du mich auch nicht grinsen! Da, hier!“ Er hielt dem Kind seine Hand vor die Augen. „So macht man das! Alles Schwarz bei dir, zufrieden?“ „Es ist schön wie du dem Jungen eine dunkle Welt näher bringst…“ Tyson zog die Hand so schnell weg, als habe er sich verbrannt. Ihm war aufgefallen, wie geschmacklos dieser Witz, in der Gegenwart einer Frau klang, die ihr Dasein blind fristete. „Tut mir Leid. Ich habe nicht nachgedacht.“ „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen…“, sie verlangsamte ihre Schritte und blieb schließlich stehen. Der Schnee fiel wieder herab. Die Flocken tänzelten vom Himmel und begruben die Umgebung unter einer weiteren weißen Schicht. Wolborg schien gefallen daran zu finden, denn sie tat einen tiefen Atemzug und erzählte: „Es ist gut wenn du den Jungen auf eine blinde Welt vorbereitest.“ „Warum?“ „Weil es schneller um dich herum finster werden kann als du glauben magst.“ Tyson musste über diese Bemerkung stutzen. „Heißt das du warst nicht immer blind?“ „Das heißt es…“ Ein mitleidiger Blick traf Wolborg. Jemand der nicht blind war, konnte das wohl schlecht beurteilen, doch Tyson war sich immer unschlüssig gewesen, ob es schlimmer war blind geboren zu werden oder sein Augenlicht nach und nach zu verlieren. Wenn ihm eine der beiden Möglichkeiten zur Wahl stünde, wäre er lieber blind zur Welt gekommen. Was man nicht kannte, konnte man nicht vermissen. So hieß es zumindest… „Wie ist das passiert?“ Als er keine Antwort erhielt und Wolborg stattdessen ihr Gesicht langsam zu ihm wandte, warf Tyson hastig ein: „Eigentlich geht es mich nichts an…“ „Dragoon.“ „Was ist mit ihm?“ „Er war daran schuld.“ Die Neugierde hatte ihn gepackt. „Wie?“ Wieder ließ sie mit der Antwort warten, dann begann sie zu erklären: „Jedes Bit Beast hat seinen Bereich… und leider kreuzen sich dabei manchmal unsere Wege.“ „Ist das schlecht?“ „Wenn beide Bit Beast auf ihr Recht bestehen ist es das gewiss.“ Tyson konnte nicht ganz folgen. Bei was waren sich Wolborg und Dragoon in die Quere gekommen? Wolborg spürte wohl seine Verwirrtheit, denn sie sprach: „Außer dem weben von Frost liegen meine Aufgaben noch in anderen Bereichen.“ „Zum Beispiel?“ „Schnee, Eis, Kälte… Alles was die Menschen im Winter frieren lässt.“ „Dizzy hat mal erzählt, dass alles von den vier Elementen abhängt. Dein Bereich scheint mir aber auch ziemlich umfassend.“ „Nun, ich bin von der Macht des Wassers abhängig, falls es das ist was du meinst. Demnach bin ich auf Draciels Kraft angewiesen, doch eine zeitlang war mein Einfluss in der Menschenwelt gewaltig…“ „Wann war das?“ „Während der Eiszeit.“ Tyson wusste nicht warum, doch dieser Gedanke ließ ihn Kais Hand fester umschließen. „Eiszeit. Hmm… Ziemlich kalt.“ „Und eine wundervolle, stumme Menschenwelt.“, Wolborg hielt ihre geschlossenen Augenlieder in die Höhe. Es schien, als würde sie in Erinnerungen schwelgen. „Damals war ich bereits erblindet, doch ich hörte die Natur über die Pracht der weißen Berge tuscheln. Ich wünschte ich könnte euch meine verschneiten Gletschergipfel präsentieren. Ihre scharfen Kanten und Spitzen, sollen im Sonnenlicht gefunkelt haben. Ich habe die Berge aussehen lassen, als würden sie Kronen aus schillerndem Eis tragen.“ „Es hat bestimmt etwas Schönes an sich gehabt“, pflichtete Tyson vorsichtig bei. „Aber für Menschen war diese Zeit wohl eher… feindselig.“ „Das war sie. Unerfahrene Wanderer und Kinder, die zu weit von ihren Siedlungen fortliefen, stürzten in Eisspalten oder erfroren jämmerlich in meiner weißen Wüste. Doch der Mensch war damals auch mehr Tier als Mensch. Ihr ward dumm und an euren Anfängen.“ Die Art wie sie es sagte, passte Tyson nicht. Es kam geradezu unbekümmert über ihre Lippen. Inzwischen reckte Wolborg erneut den Kopf in die Höhe und atmete tief ein. „Dort lang…“, sprach sie schließlich und führte die Gruppe weiter durch den verschneiten Wald. Tyson wusste nicht woran sie sich orientierte. Für ihn sah jede Stelle gleich aus. Doch da Wolborg hier heimisch war, vertraute er ihr und folgte, mit Kai an der Hand, der Richtung die sie vorgab. Eigentlich wollte Tyson mehr von dem Kampf zwischen ihr und Dragoon erfahren, doch jedes Mal wenn er ansetzte, sah ihr Gesicht hochkonzentriert aus. Kurz darauf gab sie wieder die Richtung vor. So marschierten sie fast eine halbe Stunde hinter ihr her, überquerten verschneite Wiesen und totes Gebüsch. Sie hielten erst, als sie einen zugefrorenen Weiher erreichten. Auf der anderen Uferseite, bäumte sich eine große Gebirgskette auf, an deren felsigen Ausläufern sich ein riesiger Spalt auf tat. Tyson ahnte bereits, dass sie dort durch mussten und sein Verdacht sollte sich bestätigen. „Dort drüben, auf der anderen Seite des Ufers, müssen wir durch den Felsspalt. Eure Freunde sind dann nicht mehr weit.“ „Dann holen wir sie und machen uns schnell auf den Weg…“ Kais Blick schnellte misstrauisch zu ihm hoch und Tyson bekam gerade noch die Kurve. „… zur Dame Solowéj! Es ist doch nicht mehr weit, oder?“ Er hoffte inständig das Wolborg verstand was er meinte. Aufgrund ihrer Blindheit konnte er ihr nicht einmal verschwörerisch zuzwinkern. Seine Lüge nahm dafür immer größere Ausmaße an und Kai wurde zusehends misstrauischer. „Takao“, sprach Wolborg und riss ihn aus seinen Gedanken. „Möchtest du immer noch dass ich euch hinausführe?“ „Hinaus?“ „Aus der Irrlichterwelt.“, sie wandte ihr Gesicht in seine Richtung. Ihre Augenlider waren wie immer geschlossen, doch Tyson beschlich das Gefühl, als ob sie genau wusste, wo er war. „Du weißt noch dass du ein Bit Beast dafür benötigst, oder?“ „Ja. Warum fragst du mich das?“ „Weil ich dann meinen Lohn einfordern muss. Sonst kann ich euch nicht durch den Felsspalt folgen. Das Klima dahinter ist anders... wärmer.“ Innerlich sprach Tysons ein Dankgebet Richtung Himmel. Endlich hinaus aus der Kälte! Wenn er sich genau konzentrierte, meinte er sogar einen lauen Windhauch aus dem Felsspalt zu spüren. Inzwischen trat Wolborg langsam auf ihn zu und sprach, „Ich habe einen Teil unserer Abmachung erfüllt. Deine Freunde sind hinter dem Felsspalt.“ „Wenn du nicht hindurch kannst, woher willst du wissen, dass Max und Ray dort sind?“ „Ich weiß es einfach…,“ wich Wolborg der Frage aus und sprach: „Wenn wir eure Freunde gefunden haben und der Spur des Wurzelwerks folgen, gelangen wir in eure Welt. Dafür braucht ihr mich aber.“ „Ja, ich weiß. Aber ich habe dir doch gesagt, dass alles was wir besitzen in der Menschenwelt ist.“ „Und ich sagte dir, dass wir eine Lösung finden.“ „Was denn für eine Lösung? Wolborg, sieh uns an! Außer unserer Kleidung am Leib haben wir nichts…“ Doch davon schien das Bit Beast nichts wissen zu wollen. Stattdessen wich sie aus und sagte: „Möchtest du wissen weshalb Dragoon mir mein Augenlicht genommen hat?“ Eigentlich hatten sie keine Zeit, doch seine Neugierde war geweckt. Er sah zu Kai, der ungeduldig dreinblickte und entschied, dass sie einpaar Minuten noch entbehren könnten. „Warum?“ „Er hat es wegen Dranzer getan.“ „Dranzer? Was hat das Miststück mit dir zu tun?“ „Das Miststück ist meine Schwester.“, kam die Antwort wie ein Zischen. Tyson hielt den Atem an. Dranzer und Wolborg waren Schwestern? In der Geschichte der Menschheit gab es dutzende Beispiele, für gegensätzliche Geschwister, aber ein solch krasser Kontrast war ihm noch nie vorgekommen. „Wie könnt ihr beiden Schwestern sein? Dranzer ist ein Phönix und du…“ „Die Gestalt eines Bit Beast sagt nichts über seinen Stammbaum aus. Lediglich die niederen Klassen verweilen ihr Dasein auf diese Weise. Die höheren Klassen haben die Begabung als jene Gestalt geboren zu werden, die sie sich herbeisehnen. Demnach kann ein Katzen Bit Beast in der Irrlichterwelt auch mit einem Bären verwand sein. Was zählt ist, welchem Element es zugeordnet ist.“ „Aber da hängt die Logik doch bereits! Dranzer ist die Herrin des Feuers. Wie können Feuer und Eis miteinander verwandt sein?“ „Mein Aufgabengebiet war nicht immer das Eis. Vor vielen Jahren, habe ich zusammen mit meiner Schwester über die Flammen regiert. Dranzer spendete den Menschenkörpern ihre Wärme und Empfindungen und ich schenkte ihnen die Strahlen der Sonne.“ „Dann gab es also zwei Feuer Bit Beast?“ Wolborg nickte und ihre Miene verriet eine gewisse Melancholie. Sie fuhr sich mit den Fingern über ihre rechte Hand, bis ihre zierlichen Fingerkuppen an ihrem Puls verweilten. „Mein Körper war nicht immer kalt. Vor vielen Jahren floss Leben in mir. Es pulsierte in meinem Leib wie eine unerschöpfliche Quelle. Doch Dragoon fand dass es nur ein Feuer Bit Beast geben sollte. Meiner Schwester sollten meine Aufgaben übertragen werden. Wir weigerten uns. Sie wollte sich nicht von mir trennen und ich mich nicht von ihr. Ich weiß noch wie sie sich als junges Kücken an mich klammerte und ihn anflehte mich nicht gehen zu lassen. Sie bat ihn mich ihr nicht fortzunehmen... Ihre große Schwester dürfe sie niemals verlassen.“ Für kurze Zeit trat ein wehmütiges Lächeln auf ihr Gesicht. „Sie war nun mal ein Kücken. Mein kleines Kücken. Zu naiv für diese Welt und voller Liebe für ihre ältere Schwester. Das machte Dragoon aber wütend. Seiner Meinung nach benötigte die Irrlichterwelt, statt einem zweiten Feuer Bit Beast, ein Wesen, das für unliebsame Maßnahmen da war. So nannte er es jedenfalls…“ „Ich glaube diese Geschichte kenne ich“, ganz plötzlich hatte sich Kai zu Wort gemeldet. Tyson sah ihn verblüfft an und fragte: „Woher?“ „Als ich bei der Dame Solowéj war ist ein seltsamer Mann aufgetaucht. Er hat mir eine Geschichte erzählt, die so ähnlich klang, aber der Mann meinte, dass es mit einem Wettkampf zwischen den Bit Beast begann und Anastasia ist daraufhin furchtbar wütend geworden. Sie wollte nicht dass ich das höre. Der Mann nannte die Geschichte: Die Sage um Luft und Feuer.“ „Eine Geschichte die nur unter uns Bit Beast erzählt wird.“, fügte Wolborg hinzu, dann aber etwas verbitterter. „Allerdings ist man hier gespaltener Meinung was den Wettkampf anging. Der größte Teil der Bit Beasts glaubt der geläufigsten Version, dass meine Schwester einen Groll gegen Dragoon hegt, weil er sie damals im Kampf geschlagen und den Thron aller Bit Beast bestiegen hat. Die Wahrheit ist aber… Er hatte den Thron bereits gewonnen! Ihr Hass ihm gegenüber kam erst als er uns voneinander trennte.“ Wolborg sah traurig zu Boden. „Wir wollten Dragoon wirklich als unseren Gebieter anerkennen, aber… er hat es nicht verstanden. Er hat nicht begriffen dass wir zusammen gehörten. Ich bin mir sicher, er hätte jedes andere Bit Beast die Eiswelt kontrollieren lassen können, doch seine Wahl fiel absichtlich auf mich. Er wollte uns auf Gedeih und Verderb trennen. Bis heute verstehe ich nicht, was ihn so sehr an unserer Zweisamkeit störte.“ Plötzlich durchfuhr es Tyson wie ein Blitz. Wenn Kai diese Geschichte kannte und sie nur in der Irrlichterwelt bekannt war, konnte es sich bei seiner Dame Solowéj nur um ein Bit Beast handeln. Sein Blick wanderte zu Wolborg, zu ihrer zierlichen Gestalt, dem wunderhübschen Gesicht - einem menschlichen Gesicht! Warum war ihm zuvor nie in den Sinn gekommen, dass Dranzer Kais Dame Solowéj sein könnte? So wie Draciel Max, in der Gestalt seiner Mutter, an der Nase herumgeführt hatte, war Dranzer womöglich in menschlicher Gestalt vor Kai erschienen, um ihn zu manipulieren! Er war lange genug in ihrer Gewalt gewesen und es würde auch erklären, warum er mehr vergessen hatte als alle anderen. Wer konnte schon sagen zu welchen Flüchen dieser hinterhältige Spatz noch in der Lage war? Allein wie sie Tyson dazu verführt hatte das Notizbuch mit den Erinnerungen in den Kanda zu werfen, zeigte wie gerissen Dranzer war. „Was meinst du eigentlich mit unliebsamen Maßnahmen?“, fragte Tyson, dem diese Bezeichnung nun seltsam vorkam. „Wenn sich in der Menschenwelt eine Spezies zu rasch verbreitet, sorge ich dafür, dass ihr Einhalt geboten wird.“ „Wie?“ „Durch die Eiszeit… Es ist wie mit den Käfern. Im Sommer vermehren sie sich, durch den winterlichen Schnee verrotten sie.“ Tyson hielt geschockt inne. Wolborg begann ihm unheimlich zu werden. Außerdem dachte er daran, wie viele Menschen es bereits auf der Erde gab. Wenn sich die menschliche Spezies weiter ausbreitete, würde Wolborg dann, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Eiszeit über die Erde verhängen? Trotz der Freundlichkeit die er von diesem Wesen empfangen hatte fühlte er sich nun bedroht. „Ich mache dir Angst. Nicht wahr, Takao?“ Er antwortete nicht. Stattdessen schob er Kai vorsichtig hinter seinen Rücken. Es war mehr ein tieferer Instinkt, der ihn das Kind verstecken ließ. „Du brauchst keine Furcht zu haben. Ich möchte auch keine weiteren Eiszeiten über eure Welt bringen. Ich finde Gefallen am Eis, doch schau, wo es mich hingeführt hat. Abgestoßen von den anderen Bit Beast, muss ich hier alleine leben. Es ist als wolle Dragoon den Rest der Welt glauben machen, dass ich nie existiert habe. Dabei möchte ich so gerne zu meiner Schwester zurück. Er hat uns getrennt, obwohl er genau wusste, wie sehr wir einander lieben. Ihm bereitet es immer eine wohlige Genugtuung meine Schwester zu quälen, deshalb hat er mir das angetan. Er erstickte jegliche Wärme in meinem Körper und nun bin ich eine kalte Hülle. Mein Körper schmilzt, sobald ich auch nur in die Nähe der wärmeren Regionen komme… und in die Nähe von Dranzer. Als Feuer Bit Beast kann sie mich nicht berühren, ohne mich zu zerstören. Meine kleine Schwester muss von mir fortbleiben damit ich lebe. Weißt du was das heißt? Kannst du verstehen wie es sich anfühlt, wenn das einzige Wesen das du liebst dich meiden muss? Ich habe sie seit meiner Wandlung zum Eis Bit Beast nicht mehr gesehen. Das ist schon so viele Jahrtausende her. Ich habe schon aufgehört die Jahre zu zählen… “ „Du warst doch aber bereits in der Menschenwelt. Wenn du nicht einmal durch diesen Felsspalt kommst, wie bist du dann jedes Mal zu Tala gekommen?“ „Sagen wir, ich besaß eine Sondererlaubnis dafür. Draciel gab mir ihr Einverständnis um an den Beybladekämpfen teilzunehmen. Sie gab mir mehr von ihrer Kraft, um das schwankende Klima zu überleben und als ich in der Menschenwelt ankam, brauchte ich nur noch ein Menschenkind, von dessen Energie ich mich ernähren konnte. Tala hatte wirklich reichlich davon. Seine Kraft war so enorm das ich mit seiner Energie sogar den Uralten in der Bey Arena die Stirn bieten konnte. Er war mir eine große Hilfe…“ Tyson schluckte und war froh, dass Wolborg scheinbar nichts über das vorzeitige Ableben ihrer Schwester wusste und der Probleme die sie mit Dranzer kürzlich hatten. Er ahnte dass ein falsches Wort ihre Aussicht auf den Ausgang vernichten würde. So sehr ihn Wolborgs Schicksal auch berührte, er musste Dranzers Tod für sich behalten. „Aber… wie können wir dir helfen?“ „Indem ihr mich wieder zu einem Feuer Bit Beast macht.“ Tyson konnte nicht folgen. Er wusste beim besten Willen nicht, wie sie das anstellen sollten. „Du weißt schon, dass wir nicht zaubern können, oder?“ „Ja, trotzdem könnt ihr mir helfen. Ich brauche zwei Dinge die meinen Körper wieder erwärmen: Ein starkes Herz, voller Energie und Leidenschaft, und dazu noch ein Paar warmer Augen. Das sind die Dinge, die Dragoon mir damals genommen hat.“ Tyson seufzte und schüttelte den Kopf. Klar… Ein Herz und ein Paar Augen. Wolborg betete ihre Forderung herunter wie eine Einkaufsliste. „Wo sollen wir so etwas herbekommen? Dein gewünschtes Augenpaar steht bestimmt nicht im Kaufhausregal neben eingemachter Marmelade…“ Sie ließ mit ihrer Antwort auf sich warten. Tyson dachte schon sie gekränkt zu haben, da erhob sich langsam ihre Hand und sie deutete auf Kai. „Dort steht mein Augenlicht…“ Ihr Finger wanderte weiter und blieb auf Tyson ruhen. „Und hier mein neues Herz.“ Es wurde totenstill. Die letzten Worte schallten zu den Jungen, wie ein endloses Echo. Tyson schluckte und spürte wie seine Kehle trocken wurde. Um seine Anspannung zu lockern gab er ein nervöses Lachen von sich und fragte: „Das war ein Scherz, oder?“ „Nein.“ „Das kannst du nicht ernst meinen! Wie soll das funktionieren?“ „Es ist einfacher als du denkst…“ Ein Bild entstand wie von selbst in seinem Kopf. Er sah Wolborg auf sie zu stürmen und ihnen Herz und Augen mit bloßen Klauen rausreißen. Ihre blassen Finger wären von Blut durchtränkt und voller Ungeduld würde sie ihre neugewonnen Organe einpflanzen. Tyson schüttelte den Kopf um den Gedanken zu verscheuchen und antwortete: „Das kannst du vergessen! Ich will nicht sterben!“ „Du wirst nicht sterben, ich lebe doch auch…“ „Du bist ein Bit Beast!“ „Was spielt das für eine Rolle?“ Die Leichtfertigkeit mit der sie ihre Frage stellte, erschreckte Tyson. „Na… weil wir Menschen unsere Organe brauchen! Wie soll ich ohne Herz leben? Ich würde sterben! Und Kai… er wäre sein Leben lang blind!“ Reflexartig stellte er sich vor das Kind. „Ein Leben lang?“, ein seltsames Lächeln huschte über Wolborgs Gesicht. „Was ist schon ein Menschenleben im Gegensatz zu meiner Ewigkeit? Kai wird eines Tages durch den Tod von seiner Blindheit erlöst, und du stirbst früher oder später auch. Ob heute oder in fünfzig Jahren, wen kümmert das? Aber ich… Ich müsste weiterhin hier verweilen. Warum so etwas Kostbares wie Augenlicht und Herz an einpaar Eintagsfliegen verschwenden, wo es mir doch viel Nützlicher sein könnte?“ „Wir sind keine Eintagsfliegen!“, herrschte Tyson sie an. „Wie kommst du dazu, dich über uns zu stellen! Denkst du wir sind weniger wert, nur weil wir nicht so lange leben wie du?“ „Gewiss. Ihr seid nur Menschen.“ Sie tat einen Schritt auf die Jungen zu und Tyson zischte: „Bleib weg! Vergiss unsere Abmachung! Wir kommen ohne dich auch zurecht!“ „Es war keine Abmachung. Es war ein Versprechen.“ „Mir doch egal!“ „Du stellst dir die Angelegenheit wieder zu einfach vor… Ein Versprechen wiegt viel in dieser Welt und ist unwiderrufbar. Du hast dich in dem Moment zu einer Gegenleistung verpflichtet, in dem du mir die Hand auf dein Wort gabst. Du schuldest mir etwas.“ „Ich schulde dir gar nichts!“ Zum ersten Mal verfinsterte sich Wolborgs Miene. Über ihr Gesicht huschte ein Schatten und kleine Schneeböen wehten um ihre Fußknöchel, lüpften den feinen Saum ihres weißen Kimonos ein kleinwenig in die Höhe. „Ich versuche es im Guten, Takao. Doch meine Geduld neigt sich dem Ende! Wenn du nicht bereit bist, deinen Teil der Abmachung einzuhalten, ist es vorbei mit meiner Sanftheit. Leiste deine Schuld ab und ich helfe dir! Wenn nicht wirst du am eigenen Leib erfahren, was mit denen passiert, die ein Versprechen brechen – und das Kind auch!“ So sehr es ihm missfiel, er glaubte ihr. Es bedurfte keinem Genie um zu erkennen, dass Wolborg im klaren Vorteil war. Die Eislandschaft war ihr Territorium, das Wetter hier gehorchte allein ihrem Willen. Vorsichtig schielte Tyson auf die andere Seite des Sees zum Felsspalt. Wenn er richtig verstanden hatte, besaß sie dahinter keine Macht mehr. Laut ihren eigenen Worten bekam ihr das Klima auf der anderen Seite überhaupt nicht gut… Aber wie dort hin gelangen? Der Weiher war zu groß um ihn in einem schnellen Spurt zu umrunden und über das Eis zu rennen getraute sich Tyson nicht… Jedenfalls nicht mit Kai im Schlepptau. Summierte man ihr Gewicht, wären sie sicherlich zu schwer und würden durch das Eis brechen. Der Junge schien sich der Bedrohung außerdem zunehmend bewusster zu werden, denn er zupfte an Tysons Fellumhang. Als er vorsichtig zu Kai hinab spähte, sah das Kind ihn aus furchtsamen Augen an und flüsterte: „Ich will weg von ihr.“ „Ihr geht nirgendwo hin.“, riss Wolborgs Stimme ihn aus den Gedanken. „Nicht bevor ihr euren Zoll gezahlt habt!“ „Okay…“, Tyson hob beschwichtigend die Hände und seufzte resignierend. „Hör mal, ich will keinen Ärger. Wie wäre es also, wenn ich dir einen anderen Vorschlag mache. Wenn du möchtest gebe ich dir mein Herz - und mein Augenlicht!“ Kais Blick schnellte zu ihm und der Junge wurde blass. „Tyson…“ „Sei still!“ „Ich will das aber nicht!“ „Du bist zu klein, Kai. Es geht nicht anders!“ „Ich will nicht deine Augen. Sondern seine.“, unterbrach Wolborg die Auseinandersetzung. „Ach komm schon! Was soll die Scheiße?!“, brauste Tyson auf. „Spielt es eine so große Rolle, welche Augen du bekommst? Warum sollen zwei Menschen leiden, wenn es auch nur einer sein kann?“ „Weil ich solche Augen will wie er! Ich will diese flammenden Rubine besitzen, von denen du mir erzählt hast.“ Tyson biss sich auf die Unterlippe und verfluchte sich selbst für seine schnelle Zunge. Warum hatte er Wolborg nur von diesem Zwischenfall mit dem Brief erzählt? Er senkte den Kopf und musste sich eingestehen, dass er keinen Ausweg fand. Die einzige Lösung die ihm auf die Schnelle kam, beinhaltete eine Option, die ziemlich riskant war und ihm selbst Angst bereitete. „Na schön. Du bekommst was du willst. Allerdings unter einer Bedingung! Ich will nicht, dass Kai mitbekommt, wie du mein Herz nimmst. Er wartet am Felsspalt, bis du zurückkommst…“ Es war ein letzter Versuch den Jungen zu schützen. Er hoffte inständig dass Kai die Gelegenheit nutzen und flüchten würde. Bei dem Gedanken, dass er selbst vielleicht nicht nachkommen könnte, schnürte sich seine Kehle zu und ein weiteres Mal sah er sich dem Tod gegenüber. Als winziges Trostpflaster nickte Wolborg. „Todgeweihten schlägt man keine Wünsche aus. Du darfst wählen wo dein Grab sein soll.“, sprach sie schließlich. Tyson wandte sich um und blickte zur verschneiten Waldlandschaft, aus der sie gekommen waren. Wenn sie weit genug hinein liefen, würden sie vielleicht von Kais Blick verborgen bleiben. „Da hinten, irgendwo…“ „Gut.“, Wolborg wandte sich an Kai und sprach. „Du wartest am Felsspalt, bis ich wieder komme. Hast du das verstanden Junge?“ „Ich will dass aber nicht!“ „Er wird nicht leiden.“ „Ich hasse dich!“, schrie Kai unvermittelt. Er tat einen Schritt auf sie zu und ein anklagender Blick zierte sein Gesicht. „Du bist eine falsche Schl-...“ Wolborgs Hand schnellte nach vorne und verpasste Kai eine Ohrfeige, dass er zur Seite flog. Der Junge landete mit dem Kopf voraus im Schnee, wo er etwas verstört liegen blieb. Als er sich wieder aufraffte, brannte ein roter Handabdruck auf seiner Wange und Tyson wurde wütend. „Lass ihn in Ruhe!“ „Wie du willst… Seinen Wegzoll muss auch er bald zahlen.“ Sie richtete ihre Hand auf Kai. Als sie ihre Finger ausstreckte, tat sich eine Schneeböe auf, die so gewaltig war, dass der Junge nicht mehr von der Stelle weichen konnte. Zunächst hielt sich Kai schützend die Hand vor das Gesicht, dann riss ihn der Sturm von den Füßen. Mit dem Rücken voraus, landete er auf den vereisten Weiher. Tyson musste entsetzt beobachten, wie der Junge über das Eis Richtung Felsspalt glitt. Dabei betete er dass die Eisschicht nicht unter seinem Gewicht nachgab. „Hör auf!“ Wolborg ignorierte ihn. Tyson sah, wie Kais Finger verzweifelt Halt an der gefrorenen Oberfläche suchten, bis sie durch die Schicht brachen. Seine Hände klammerten sich an dem entstandenen Loch fest, doch gegen die nächste Schneeböe hatte er keine Chance, stattdessen schnitt er sich die Handflächen an den Rändern auf. „Du sollst aufhören!“ Blutige Linien zogen sich über das Eis, als das Kind weiter rutschte, doch Kai versuchte weiterhin seine Finger darin zu graben. „Stures Balg“, flüsterte Wolborg nur. Eine weitere Windböe, stärker als alles zuvor, blies den Jungen auf die andere Seite des Ufers. Erst als Kai dort zum Liegen kam, ließ Wolborg von ihm ab. „Lass uns gehen…“ Das war alles was sie sagte. Dann wandte sie sich um und schritt ihm voraus in den Wald. Tyson warf noch einmal einen sorgenvollen Blick zu Kai. Das Kind raffte sich zitternd auf und schüttelte sich den Schnee von den Schultern. Er schaute zunächst auf seine zerschundenen Hände, dann zu Tyson. Da er befürchtete, Wolborg könne ihn hören, deutete Tyson energisch auf den Felsspalt, um den Jungen zu verdeutlichen, ohne ihn zu verschwinden. Doch Kai schüttelte den Kopf. Er wollte nicht gehen. „Sei nicht dumm!“, wäre Tyson beinahe heraus gerutscht, als ihn Wolborgs drängender Ruf ereilte. Mit geschlossenen Lidern, stand die kalte Schönheit am Waldrand und wartete – das Gesicht ihm zugewandt. Sie wusste wieder genau wo er war, trotz ihrer Blindheit. Mit einem letzten Seufzen folgte Tyson ihr schließlich. Innerlich betete er, dass Kai zur Vernunft kommen würde. Er musste doch einsehen, dass es besser war zu verschwinden… Während Tyson diesen Gedanken nachhing, dachte er fieberhaft darüber nach, wie er auch für sich selbst einen Ausweg aus dieser Situation finden könnte. Er würde Wolborg natürlich nicht sein Herz geben! So heldenhaft war er nun wirklich nicht. Seine Absicht war es lediglich Kai einen Vorsprung zu verschaffen und dann später selbst zu flüchten. Langsam stapfte er Wolborg hinterher und wann immer sich die Gelegenheit ergab, trödelte er. Das machte das Bit Beast zwar zusehends ärgerlicher, doch er ließ sich nichts anmerken. Jeder Platz schien ihm nicht angemessen genug für sein Ableben und als ihr Gesicht sich immer weiter verfinsterte, meinte er nur frech: „Bin ich es der sterben muss, oder du?“ Mittlerweile hatten sich die beiden so weit von dem Weiher entfernt, dass sie sich fast schon auf dem Rückweg zu Wolborgs Winterdorf befanden, doch Tyson blieb einfach der rettende Geistesblitz aus. Um das Bit Beast abzulenken, griff er auf eine Frage zurück, die ihm seit einpaar Minuten durch den Kopf spukte. „Du hast vorhin gesagt, dass wir dem Wurzelwerk folgen müssen, um aus der Irrlichterwelt zu gelangen. Was meinst du damit?“ „Das Wurzelwerk von Yggdrassil. Dem großen Weltenbaumzwilling.“ „Kannst du dich nicht deutlich ausdrücken?“ „Wenn ihr Menschen ohne Herz wirklich nicht leben könnt, sollte dich das nicht mehr interessieren. Du wirst niemals auf dem Wurzelpfad laufen können. Jedenfalls nicht lebendig.“ „Was hat das schon wieder zu bedeuten?“ „Takao, deine Unwissenheit ist fast schon bemitleidenswert. Die Weltenbaumzwillinge verbinden euer Diesseits mit dem Jenseits. Die beiden Bäume sprießen aus derselben Wurzel. Ein Stamm wächst in die Irrlichterwelt, während sein Bruder in die Menschenwelt wächst. Am Kern der Wurzel befindet sich die Barriere und das Tor zu beiden Welten. Willst du also zurück in die Menschenwelt, musst du einem der Wurzeln folgen…“ „Und das hast du uns nicht vorher gesagt, weil…“ „Weil ich eine Gegenleistung für meine Dienste wollte.“ So war das also. Wolborg war von Anfang an auf sein Herz ausgewesen und als sie erfuhr, dass Kai noch die Augen besaß, die sie so dringend brauchte, musste das für sie wie ein Sechser im Lotto gewesen sein. Gleichzeitig kam Tyson aber eine Idee. „Hör mal, wir können das Ganze auch anders lösen. Ich bin zwar nicht begeistert von dieser Option, aber was hältst du davon, wenn wir dir unsere Organe erst nach unserem Tod geben? Wenn wir unser Leben gelebt haben und alt sind brauchen wir sie ja nicht mehr. Das ist so wie bei einer Organtransplantation. Da wartet man auch bis ein geeigneter Spender auftaucht, du dagegen hast deine Organe bereits unter Dach und Fach. So haben beide Seiten etwas.“ „Nein.“ „Warum?“ „Denkst du ich habe diese Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen? Ich würde nicht nach euren Organen verlangen, wenn es funktioniert hätte. Ein totes Herz ist kalt und leblose Augen trübe und matt.“, mehr zu sich selbst gewandt flüsterte sie. „Der Tod war noch nie warm…“ „Du weißt wie Falsch das ist was du tust, oder?“ „Richtig und Falsch gibt es in dieser Welt nicht. Sonst wäre mir schon längst Gerechtigkeit widerfahren. Stattdessen spielt Dragoon sich auf wie ein Gott, während ich hier ein Dasein in Abgeschiedenheit friste. Ich bin genauso eine Uralte wie die anderen, aber behandelt werde ich wie eine Abtrünnige. Dabei habe ich mir nie etwas zu Schulden kommen lassen.“ „Du bist selbst Schuld an deiner Einsamkeit! Wenn du nicht so fixiert auf Dranzer wärst und jedes Bit Beast zu einem Eisklumpen gefrieren würdest…“ „Sei still! Was hätte ich schon von dieser verlausten Hyänenmutter gehabt? Dieses stinkende Geschöpf ist kein Ersatz für meinen Verlust – keines dieser Bit Beast das sich jemals hier her verirrt hat war das! Das sind nicht meine Schwestern!“ „Du steckst voller Widersprüche! Auf der einen Seite behauptest du, dass du die Einsamkeit vorziehst, im nächsten Moment heulst du deiner heißgeliebten Schwester hinterher. Du hältst Menschen für Eintagsfliegen, warst aber das Bit Beast eines Menschen!“ „Tala war nur Mittel zum Zweck. Hätte ich ihn nicht gehabt, wäre ich nie in Kais Nähe gekommen… und somit nicht zu Dranzer.“ Tyson fauchte genervt auf. Dranzer, Dranzer. Immer wieder Dranzer! Dieses verdammte Bit Beast sorgte nur für Ärger, selbst nach ihrem Tod! Ihr Name tauchte immer auf, wie ein Korken den man verzweifelt im Klo runterspülen wollte. Mittlerweile begann er eine gewaltige Antipathie gegen sie zu entwickeln. Ebenfalls war sich Tyson sicher, dass Wolborg sie schon längst in mundgerechte Scheiben geschnitten hätte, wenn sie erfahren würde, was aus ihrer Schwester geworden war – zumal Dragoon daran wieder die Hauptschuld trug. „Bringen wir endlich zu Ende weswegen wir gekommen sind…“, entschied Wolborg. Sie hatten eine winzige Lichtung erreicht, die teilsweise von totem Gestrüpp umgeben war. „Ich bin deine Spielchen leid, Takao. Glaubst du ich wüsste nicht, dass du mich hinhältst?“ Er biss sich auf die Unterlippe. Doch sie wandte sich ihm zu und ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Alle deine Pläne scheitern. Und deine größte Hoffnung muss ich ebenfalls zerschlagen. Kai ist nicht durch den Spalt gegangen.“ „Was?“ Schlagartig zog Tyson die Luft ein. War Kai ihnen gefolgt? Er wandte sich ruckartig um, sein Blick durchkämmte die umliegende Landschaft – und tatsächlich! Ein ganzes Stück hinter ihnen, meinte er eine kleine Gestalt in einem langen braunen Fellumhang flink hinter einem Baum verschwinden zu sehen. „Entzückend, nicht wahr? Er läuft dir nach wie ein treuer Streuner.“ Tyson schnürte es die Kehle zu. „Ich dachte mir bereits dass er dich nicht verlässt. Oder hast du tatsächlich geglaubt, ich würde ihn einfach durch den Felsspalt entwischen lassen. Eher hätte ich ihn als gefrorenen Eisblock zurückgelassen, als das zu riskieren.“ Ein wütendes Knurren entrang sich Tyson und er taxierte Wolborg mit unverhohlener Wut. Dieses wissende Lächeln mit dem sie ihn bedachte war schlimmer als alles andere. „Ich war einmal ein Feuer Bit Beast. Ich weiß was die Menschen bewegt. Und solche Wesen wie ihn kenne ich zu genüge. Es dauert lange sich ihr Vertrauen zu verdienen, doch hast du es erst einmal voll und ganz erworben, bleiben sie loyal.“ In einer anderen Situation hätte sich Tyson gefreut. Jetzt hätte er am liebsten geheult. Anstatt das Kai die Gelegenheit genutzt hatte, rannte er in den sicheren Tod! So tief wie sie bereits im Wald waren, würden die beiden Jungen es niemals schnell genug zum Felsspalt schaffen. Tyson allein hätte es vielleicht geschafft, aber mit einem kleinen Kind im Schlepptau? Unmöglich! Wie zur Hölle hatte Wolborg das Kind ausmachen können, während Tyson selbst erst jetzt Kais Anwesenheit bemerkte? „Du kannst sehen! Du verdammte Lügnerin kannst sehen!“, schrie er auf. „Nein kann ich nicht.“ „Wie sonst hättest du Kai erkennen können?!“ Sie lächelte eiskalt. „Das ist ein Geheimnis.“ „Na wenn das so ist, schmink dir seine Augen ab! Du bekommst sie nicht!“ Das war ein Fehler… Wolborgs Gesicht verfinsterte sich und ihre Finger begannen sich zu verkrampfen. Ein seltsames Knacken kam von ihnen und Tyson meinte ein Knurren aus ihre Kehle entweichen zu hören. Dann, zum ersten Mal, öffnete sie ihre Augen. Leere Höhlen blickten Tyson entgegen, durch die man in das Innere ihres Schädels sehen konnte. „So einfach kommt ihr nicht mehr aus der Sache raus!“, spie das Bit Beast hervor. Ihre sanfte Stimme war einem monströsen Knurren gewichen. „Aber wenn du dich so um den Jungen sorgst, werde ich zuerst ihn zerfleischen! Dann muss er deinen Tod nicht miterleben!“ Tyson schrie erschrocken auf als Wolborgs Körper urplötzlich aufplatzte. Ihre menschliche Hülle flog in Form von tausend schillernden Eissplittern durch die Gegend. Schützend hob er die Arme vor sein Gesicht, nur um Sekunden später zu spüren, wie sich die Splitter in seine Unterarme fraßen. Es fühlte sich an, als wäre er von tausend kleinen Nadeln getroffen worden. Dann ertönte ein lautes Jaulen. Aus der zierlichen Eisfrau war das blutgierige Wolfs Bit Beast geworden, dass sie eigentlich war. Die bleiche Haut wich einem schneeweißes Fell, aus ihrer Schnauze prangten seitlich lange Schneidezähne hervor und auf dem Rücken besaß das Bit Beast eine Ansammlung von spitzen Eiskristallen, die messerscharf nach oben ragten. Noch ehe sich Tyson es versah, bäumte sich Wolborg zu ganzer Größe auf und ließ noch einmal ihr ohrenbetäubendes Heulen verlauten. Dann machte das Bit Beast einen Satz über ihn hinweg, sprintete Richtung Kai. „KAI! HAU AB!“, schrie Tyson. Er war sich sicher dass der Junge ihn gehört hatte, doch das Kind kam nicht hinter dem Baum hervor. Tyson stolperte dem Bit Beast hinter her, schrie ihm üble Verwünschungen zu. Doch zwecklos! Sie näherte sich zunehmend Kais Versteck. Wolborg hastete ungehindert durch die Schneemassen. Ihre riesigen Pfoten hinterließen große Abdrücke, an denen man die langen Klauen des Bit Beasts erkennen konnte. Sie war viel flinker als er, viel schneller und auch nicht vor Kälte durchgefroren. Tyson konnte nicht Schritt halten. Der Schnee ließ ihn nur schwermütig vorankommen und er drohte mehrmals auszurutschen. Gerade als Wolborg den Baum erreicht hatte, flog er hin. Auf dem Boden liegend rief er: „KAI! LAUF!“ Wieder rührte sich nichts. „DU SOLLST LAUFEN VERDAMMT!“ Wolborg hatte den dicken Stamm erreicht. Sie sprang um die Ecke, dann… ZACK … schnellte ein Ast, wie ein Peitschenhieb, in ihr Gesicht, dass das Bit Beast vor Schmerz aufheulte! Kurz darauf kam Kai, von der anderen Seite des Stammes hervor, während das Bit Beast noch jaulte. Es schüttelte den Kopf und stieß mehrmals gegen die umliegenden Bäume, knurrte und schrie in einer Tour. Tyson richtete sich auf und lief Kai entgegen. Als sie sich erreichten, verfrachtete er ohne lange Umschweife das Kind auf seine Arme und rannte. Rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Vorbei an dem vor Schmerz tobendem Bit Beast. Zurück zum großen Weiher. Er sprang über Büsche hinweg, schlitterte kleine Schneehänge hinab und überquerte im Eiltempo kleine Lichtungen. Zu seinem Glück konnte er den Fußspuren folgen, die sie zuvor hinterlassen hatten. Es war seine ganz persönliche Brotkrümelspur aus „Hänsel und Grethel“. Als er sich schon wunderte, weshalb Wolborg ihnen nicht folgte, hörte er das Heulen der Wölfin. „Das schaffen wir nicht!“, sagte Kai. Tyson hatte keine Zeit sich selbst ein Bild von ihrer Situation zu machen. Das Kind aber konnte auf seinen Armen direkt hinter ihn blicken. „Sie kommt!“ Er würde nicht an Kais Aussage zweifeln. Kurzerhand tat Tyson das Einzige, was ihm in der jetzigen Situation Zeit verschaffte. Als sie an einem dickstämmigen Baum hielten, hob er Kai in die Höhe und wies ihn an, soweit an den Ästen hinauf zu klettern wie möglich. Dann zog er sich selbst hoch und folgte dem Kind. Rasch machte er sich an den Aufstieg, ignorierte dabei das Stechen in seinen frierenden Fingerkuppen. Er behielt ganz besonders Kai über sich im Auge, schob ihn hoch wenn er Schwierigkeiten hatte einen Ast zu ergreifen und trieb ihn immer weiter an. Plötzlich erzitterte das gesamte Geäst und das Kind rutschte mit einem erschrockenen Ausruf aus. Tyson bekam ihn gerade noch am Handgelenk zu fassen und zog den Jungen an sich, hielt sich selbst an einem Ast über ihm fest, da erschütterte sie bereits das nächste Beben. Ein Blick hinab erklärte schließlich die Ursache. Wolborg warf sich mehrmals gegen den Stamm um sie zum Sturz zu bewegen, bis sie merkte dass ihr Vorhaben nicht auf fruchtbaren Boden stieß. Enttäuscht wetzte sie ihre Krallen an der Rinde des Baumes ab. Zwar war sie nicht an ihre Beute gekommen, doch eines hatte Wolborg geschafft: Aus Angst sie könnten bei der kleinsten Bewegung ausrutschen, getraute Tyson sich nicht mehr weiterzuklettern. Er drängte sich und Kai näher an den Stamm, hielt den Jungen eisern fest und verharrte so. Es änderte aber nichts daran, dass sie nun festsaßen. Das blieb auch dem Bit Beast nicht verborgen. „Du bist da oben, nicht wahr Takao?“ Sie hob ihr Gesicht zu ihnen hinauf. Eine lange Wunde zeichnete sich quer darüber hinweg ab. Ein Überbleibsel des Astes den Kai ihr auf die Schnauze geschlagen hatte. „Ihr seid beide da oben, habe ich nicht Recht?“ Tyson biss sich auf die Unterlippe und für einen Moment meinte er, dass Bit Beast zufrieden Lächeln zu sehen. „Und wie soll es jetzt weitergehen? Wollt ihr für immer dort oben bleiben?“ Zum ersten Mal hörte er Wolborg laut lachen. Es klang kalt und grausam. „Ich bin unsterblich in meiner Eiswelt, meine Geduld ist endlos. Ob ich noch einpaar Stunden mehr auf meine Organe warte ist vollkommen gleich. Ihr werdet nämlich bald vor Hunger und Kälte von eurem Ast fallen und dann bin ich zur Stelle.“ „Mach doch was du willst, Miststück!“, fauchte Tyson wütend. „Man muss hartnäckig bleiben, wenn man seine Forderungen eintreibt…“ Mit diesen Worten ließ sie vom Baum ab. Das Bit Beast kehrte ihnen den Rücken zu und suchte sich, einpaar Meter von ihnen entfernt, eine große Tanne, unter deren Geäst sie sich zur Ruhe legte. Tyson beobachtete sie dabei. Besonders fiel ihm auf, wie die spitzen Ohren, bei jeder noch so kleinen Bewegung zuckten. Es hätte ihn schwer gewundert, wenn sie nicht in der Lage wäre, ihre unruhigen Atemzüge, die vorsichtigen Bewegungen und das Knacken der unter ihrem Gewicht ätzenden Äste zu hören. Seufzend lehnte Tyson den Kopf gegen den Stamm. Natürlich hatte Wolborg Recht. Sie konnten nicht ewig hier oben bleiben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihren Willen bekommen würde. „Kai, warum bist du nicht durch den Spalt gegangen?“ Das Kind blieb stumm, sah mit ernsten Augen zu ihm auf. „Du bist ein riesiger Idiot! Früher war dir alles und jeder egal und ausgerechnet im falschen Augenblick zeigst du Loyalität!“ „Früher?“, das Kind in seinen Armen blinzelte irritiert. Natürlich verstand er kein Wort. „Ach, vergiss es einfach.“ „Du bist böse auf mich, oder?“ „Nein“, seufzte Tyson und bereute bereits seine Worte. „Ich bin… einfach nur traurig. Ich wollte nicht dass sie dich auch bekommt. Du bist doch nur ein kleines Kind.“ „Was hat das damit zu tun?“ „Erwachsene müssen auf Kinder aufpassen.“ „Du bist aber nicht Erwachsen. Also warum kümmert dich ein fremdes Kind?“ „Weißt du Kai, ich sehe vielleicht aus wie dreizehn, innerlich fühle ich mich aber wie Zwanzig.“ Das war natürlich nur die halbe Wahrheit, aber alles andere hätte lächerlich geklungen. „Deshalb muss ich auf dich aufpassen. Du bist auch innerlich ein Kind. Ich kann dich doch nicht einfach so in dein Unglück rennen lassen…“ Er fuhr dem Kind spielerisch durch das Haar, nur um Kai zu necken, doch dann fiel Tyson auf, wie lange der Junge ihn bereits ansah. Seine Worte schienen ihn zum nachdenken zu bewegen. Irgendetwas ging in seinem Inneren vor, denn er senkte die Lider und sprach schließlich: „Ich glaube, dass hat noch nie jemand zu mir gesagt.“ Tyson blinzelte verdutzt, doch es fiel ihm nicht schwer, seinen Worten Glauben zu schenken. Kai war schon mit jungen Jahren darauf erzogen worden, selbstständig und ohne Hilfe zu handeln. So gesehen war das nicht schlecht, wenn man es im richtigen Alter tat. Mit sechs Jahren schien diese Erziehung, seiner Meinung nach, eher fragwürdig. Als er merkte, dass der Junge bereits wieder leicht bläuliche Lippen hatte, zog er ihn fest an sich und hüllte sie beide in seinen Fellmantel ein. Körperwärme war tatsächlich ein Wundermittel gegen Kälte, denn augenblicklich fror Tyson nicht mehr so sehr. Er rieb Kai über den Rücken, um auch aus ihm die Kälte zu treiben und meinte: „Tut mir Leid das ich dich angefahren habe.“ „Ist schon gut.“ Kai sagte dass mit einer Unbekümmertheit wie nur ein Kind sie besitzen konnte. Er nahm es ihm tatsächlich nicht übel. Wahrscheinlich war alles bereits vergessen. „Was machen wir jetzt?“ „Ich weiß es nicht. Vielleicht warten bis sie einschläft?“ „Was ist diese Frau überhaupt?“ „Das weißt du nicht?“ Ein verneinendes Kopfschütteln war die Antwort. „Sie ist ein Bit Beast. Hat dir das deine Dame Solowéj nicht erklärt?“ „Nein.“ „Aber sie ist doch auch ein Bit Beast!“ „Sie ist ein Mensch. Sie ist kein Monster, wie dieses Ding da drüben!“ Tyson hatte wohl einen empfindlichen Nerv getroffen, denn Kai stemmte sich sofort von ihm Weg und zog ein wütendes Gesicht. „Schon gut, komm wieder her! Mir wird kalt.“ Er zog den Jungen brüsk zurück. Das Thema würde er wohl zukünftig meiden müssen. „Wo bist du dieser Frau überhaupt begegnet?“ „Sie wohnt in meinem Haus. Das habe ich dir doch bereits gesagt.“ „Und dieser seltsame Mann, der dir von der Sage erzählt hat?“ „Der war auch dort. Aber ich mag ihn nicht. Er hat Anastasia geärgert… Sie war furchtbar wütend als er in meinem Zimmer aufgetaucht ist.“ Tyson dachte nach. Wenn die Dame Solowéj tatsächlich Dranzer war, konnte Kai nur von der Zeit sprechen, als er in der Illusion seines eigenen Hauses gefangen war. Aber wer war dieser Mann? Fieberhaft versuchte er darüber nachzudenken, ob ihm jemand weiteres im Hiwatari Anwesen aufgefallen war. Doch außer den Phantomen hatte sich dort nichts gerührt. Nichts gerührt… Nichts gerührt? Aber leblos unter einer Staubschicht gelegen! Das Bild des toten Leichnams kam ihm in den Sinn, als er auf der Suche nach Kai durch das in den Lavafluten versinkende Hiwatari Anwesen gestolpert war. War das dieser Mann gewesen? Was Tyson damals vor sich gefunden hatte, erinnerte ihn mehr an eine ausgehöhlte Hülle. Ein Gefäß… Wie sie Dizzy zu ihren Lebzeiten erwähnt hatte. Eine ihrer Theorien war gewesen, dass sich die Uralten in eine bewegliche Hülle begeben hatten, die ohne fremde Hilfe zu steuern war. Vielleicht kam dafür der Körper eines Toten in Frage? Schließlich wurde Tyson auch klar, welches Bit Beast sich in dieser Leiche befunden hatte. Da Dranzer laut Kai eine Frau war, blieb die tote Männerhülle nur für das einzige noch dort anwesende Bit Beast übrig – Dragoon. Eine Gänsehaut schlich sich über seinen Körper. Sein Bit Beast konnte tatsächlich in Leichen schlüpfen. Das war unheimlich… Er dachte an den Frauenkörper von Wolborg, der vor kurzem in tausend Eissplitter zerbrochen war. Hatte diese Frau einmal wirklich gelebt? In der Menschenwelt? So wie er? Womöglich sogar in dem Dorf das Dragoon ihr geschenkt hatte. Tysons Bein begann einzuschlafen und er schob Kai in eine bequemere Position, um es zu entlasten, da richtete sich das Kind auf und sagte: „Da piekst was!“ „Hä? Wo denn?“ „Na da!“ Kai deutete auf Tysons Hosentasche. „Da ist was!“ „Ach so. Du meinst dein Feuerzeug?“ „Mein Feuerzeug?“ „Ich meinte… mein Feuerzeug!“ Er zog das besagte Stück aus seiner Hosentasche. Das hatte er ja komplett vergessen. Seit er es Kai im Krankenhaus geklaut hatte, war es nun in seiner Verwahrung. „Wofür brauchst du das denn?“ „Ähm… Ich rauche.“ „Wirklich? Das ist doch furchtbar ungesund.“ „Nein echt? Dann sollte ich damit aufhören. Merk dir deine Worte aber für die Zukunft!“ Falls Kai das nicht tat, würde Tyson ihm seine jetzige Predigt ohnehin unter die Nase reiben – wobei er es auch tun würde, wenn Kai das Rauchen aufgeben würde. Er ließ das Feuerzeug einmal aufflackern. Es funktionierte noch, trotz des Badeausfluges im Fluss. Das Geräusch lenkte Wolborgs Aufmerksamkeit sofort auf sie beide. Tyson konnte noch immer die blutige Narbe erkennen, die Kai ihr zugefügt hatte. Es bereitete ihm irgendwie ein ungeheures Vergnügen sie so zu sehen, deshalb sagte er: „Alle Achtung, du hast ihr vorhin aber einen richtig schönen Schlag verpasst. Wie hast du nur die ganze Kraft aufgebracht?“ „Ich habe das so gemacht...“ Kai demonstrierte an einem kleinen Zweig über ihnen, wie er den Ast nach hinten gespannt und ihn im richtigen Augenblick losgelassen hatte. So konnte er trotz seiner kleinen Statur eine schmerzhafte Verletzung verursachen. Es war alles eine Frage des Timings gewesen. Trotzdem schien Kai mit seiner Leistung nicht zufrieden, denn er meinte: „Ich habe es aber nicht richtig gemacht. Ich wollte ihre Nase treffen…“ „Sie scheint auch so genug Schmerzen zu haben. Gram dich nicht.“ „Aber dann könnte sie uns nicht mehr riechen und wir säßen hier nicht fest.“ Tyson blinzelte seinen Gegenüber überrascht an. „Sie riecht uns. Ist dir das etwa nicht aufgefallen?“ „N-Nein. Wie kommst du darauf?“ „Vorhin als sie uns zum Weiher geführt hat, da hat sie immer so gemacht…“ Kai hielt seine Nase in die Höhe und bei Tyson fiel augenblicklich der Groschen. Wolborg hatte nicht die Umgebung genossen, sondern in der Luft nach dem Felsspalt gewittert. Warme Luft entwich bekanntlich nach oben und ihm war bereits vor dem Weiher aufgefallen, dass die Kälte dort nachließ. Wenn Wolborg tatsächlich so eine feine Nase besaß, musste sie sogar die Pflanzen auf der anderen Seite riechen. Vielleicht sogar die Witterung von Menschen die sich dort aufhielten. Deshalb war sie sich so sicher gewesen, dass Ray und Max dort sein mussten, obwohl sie keinen Fuß auf die andere Seite der Höhle hatte setzten können. Ein Kichern schallte zu ihnen. Die Wölfin lachte leise vor sich hin und meinte schließlich, mit ihrer ruhigen Stimme: „Wie du siehst habe ich dich nicht belogen, Takao. Dein kleiner Freund scheint nur aufmerksamer auf seine Umgebung zu achten als du.“ Sie hatte jedes ihrer Worte belauscht. Natürlich… Sie war eine Wölfin und die hatten von Natur aus ein ausgezeichnetes Gehör. Trotzdem ärgerte sich Tyson nicht, denn in seinem Kopf hatte sich endlich ein Plan entwickelt. Wenn sie es zum Felsspalt schafften, würde er Kai von oben bis unten drücken, bis das Kind nach Luft japste. „Mag sein aber letztendlich wird dir das dein Genick brechen. Ich kenne jetzt deinen Schwachpunkt.“ „Du meinst meinen Vorteil.“ „Wenn dein ausgeprägter Geruchssinn ein Vorteil wäre, würdest du wohl kaum Kais Augen brauchen.“ Das Bit Beast knurrte und hob den Kopf. „Es reicht um euch zu fassen.“ „Na wenn du meinst. Ich sehe mich schon gemächlich durch den Felsspalt spazieren – quicklebendig, mit Kai zu meiner Rechten.“ „Du stellst dir die Dinge schon wieder zu einfach vor.“ Wolborg hob ihre massige Gestalt aus dem Schnee hoch. Mit langsamen Schritten kam sie auf den Baum zu. Tyson zog mittlerweile seinen Fellmantel aus und als Kai ihm einen fragenden Blick zuwarf, bedeutete er dem Jungen still zu sein. Für Erklärungen war später auch noch Zeit. „Durch meinen Geruchssinn, seit ihr schon tot, bevor eure Füße den Schnee berühren.“ Das Bit Beast begann den Baum zu umrunden. „Ihr Menschen habt eine furchtbar geringe Wahrnehmung. Eure Sinne sind kümmerlich und äußert schlecht ausgebildet. Außerdem überreizt ihr sie, mit eurem Lärm, euren Farben und euren künstlichen Düften.“ Tyson ließ das Feuerzeug klicken und führte es an seinen Fellmantel. Sofort zuckten Wolborgs Ohren und die Wölfin fragte: „Was hast du da?“ „Ein Spielzeug…“ „Wie typisch für euch Menschen.“, konzentriert blieb das Bit Beast stehen und horchte nach dem vermeintlichen Spielzeug. „Das ist eine weitere eurer Unannehmlichkeiten. Ihr könnt euch nur an Dingen erfreuen die Geräusche machen.“ „Tyson…“, schnell hielt er Kai den Mund zu. Ja. Er war dabei seinen Fellmantel anzuzünden! Doch das war etwas dass Wolborg nur im letzten Moment erfahren durfte. Durch den Schnee war sein Mantel an vereinzelten Stellen feucht, deshalb brauchte es seine Zeit, bis er einpaar trockene Fellhaare gefunden hatte. Schließlich kam er zur Erkenntnis, dass sich der Stoff am besten von Innen anzünden ließ. Tyson hatte gerade erfolgreich ein herrlich kokelndes Brandloch verursacht, da bahnte sich bereits die erste feine Rauchsäule Richtung Horizont. Sie zog sich in die Höhe wie ein feiner Faden. Sofort blähten sich Wolborgs Nüstern und das Bit Beast rief: „Ist das Rauch?“ „Vielleicht.“ „Woher kommt der?“ Tyson pustete fest gegen die Glut, da entstand die erste Flamme auf dem Mantel. „Ich hab dich angelogen, Wolborg. Ich kann dich zu einem Feuer Bit Beast machen. Auch ohne Augen und Herz.“ „Du? Mach dich nicht lächerlich.“ Nun wurde aus der Flamme auf dem Mantel ein richtiges Feuer. Kai wich von Tyson zurück, schob sich immer weiter vom Stamm weg, zum Ende des Astes. „Was machst du da?“, zischte das Kind verständnislos. Doch Tyson antwortete nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Flamme immer weiter auszuweiten. Dann bedeutete er Kai seinen eigenen Mantel auszuziehen. Zuerst irritiert, zog das Kind das Fell von den Schultern und überreichte es ihm. „Wenn du mir nicht glaubst, vielleicht überzeugt dich das hier?“ Er warf seinen eigenen Mantel direkt vor Wolborgs Füße, von dem sich nun eine stattliche Flamme erhob. Das Bit Beast wich zurück, denn es kam, wie Tyson vermutet hatte. Der scharfe Qualm behinderte den Geruchssinn der Wölfin und somit ihre einzige Möglichkeit sie auszumachen. Ihre persönliche Duftnote ging darin unter. Trotzdem schien Wolborg fasziniert von dem Feuer, dem Element das sie früher nur zu gut kannte, aber seit Jahrhunderten nicht mehr in ihrer Eiswelt erlebt hatte. Ein melancholischer Gesichtsausdruck lag auf ihrem Gesicht und da machte Tyson noch eine Entdeckung… Die Eisspitzen die aus ihrem Rückrat ragten, begannen zu tropfen. Das Bit Beast reagierte äußerst empfindlich auf die Wärmequelle. Trotzdem tat sie einen Schritt auf das brennende Material zu. Ein Fehler… Der zweite Mantel fiel, mittlerweile auch lichterloh brennend, vom Baum – direkt auf ihren Kopf. Es vergingen einige Sekunden, in denen das Bit Beast irritiert den Schädel von einer, auf die andere Seite warf. Ihre Ohren waren verdeckt, ihr Geruchssinn vom Qualm behindert. Tyson nutzte die Chance und sprang vom Baum. Dann hob er die Hände um Kai aufzufangen. Ohne lange zu zögern, hopste das Kind in seine Arme und als sie im Eiltempo davonrannten, hörten sie das erste Heulen des Bit Beast. „Was liegt da auf mir? Es ist zu heiß!“, hörten sie Wolborg jaulen. Tyson wagte einen kurzen Blick zurück und sah, dass der Brand auf dem Mantel, auf Wolborgs sattes, weißes Eisfell übergegriffen hatte. Ihr gefrorener Körper begann zu dampfen. Das Bit Beast schwang den Kopf wie wild hin und her, doch zu ihrem Unglück, hatte sich ein Ende des Mantels in den Eisspitzen auf ihrem Rücken verfangen und war nicht mehr so leicht abzubekommen. Tyson wandte sich von dem Anblick ab und suchte den verschneiten Boden nach ihren Fußspuren ab. Dann folgte er der Fährte zurück zum Weiher. Im Hintergrund hörte er das Schreien des Bit Beasts. Mittlerweile musste ihr gesamtes Fell brennen, doch Tyson machte sich keine Illusionen. Es gab genug Möglichkeiten für Wolborg um den Brand zu löschen. Wenn sie sich einmal ordentlich im Schnee wälzte, wäre das Feuer dahin. Es galt also schneller zu sein! Endlich… Nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichte er den Waldrand und noch einpaar weitere Schritte mehr, da hielt er keuchend neben dem Weiher. „Du bist müde Tyson. Lass mich runter.“ Er schüttelte verneinend den Kopf. Das kam nicht in Frage. Tyson behielt es für sich, doch er befürchtete, dass Kai nur langsam vorankommen würde. Das Kind ging in den tiefen Schneemassen geradezu unter. Es war sowieso nicht mehr weit, aber weil er so ausgelaugt war, kam ihm der Weiher größer vor als noch zuvor. Doch ein Gefühl der Sicherheit breitete sich in ihm aus. Von Wolborg fehlte noch jegliche Spur. Um nicht noch mehr Zeit zu vertrödeln, ignorierte er das heftige Seitenstechen und begann ein letztes Mal zu rennen. Als Ansporn stellte er sich einfach vor, auf eine imaginäre Ziellinie zu zulaufen. Es war wie ein Marathon. Der Schnellste würde gewinnen. Während dem Spurt verfrachtete er Kai vorsichtig auf seinen Rücken, um besser Rennen zu können. „Nicht nachlassen! Lauf weiter.“, flüsterte der Junge ihm zu. Das war wie ihr Training früher. Da hatte Kai das auch immer gesagt. Allerdings sehr viel strenger. Tyson hatte ihn dafür gehasst, weil stets diese kalte Unternote in seiner Stimme mitschwang. Doch wenn er jetzt darüber nachdachte, klang es gar nicht mehr so gehässig, sondern einfach nur professionell. „Du hast es gleich geschafft!“ Die Ziellinie kam näher. Er überlegte, ob er die Strecke auch ohne das Training von Kai geschafft hätte. Zwar war Tyson mit dreiundzwanzig etwas aus der Übung geraten, doch in seinem jetzigen jungendlichen Körper, besaß er wieder die Ausdauer von damals. Und endlich… Eine riesige Last fiel Tyson von den Schultern, als er endlich den Höhleneingang betrat. Ihm war, als wäre er ein Schiffsbrüchiger, der nach Kilometern endlich eine rettende Insel erreichte. Der warme Luftzug der durch die Höhle jagte, war geradezu verlockend. Nach einigen Schritten hinein, hörte der Schnee auch schon auf und Tyson ließ Kai endlich von seinem Rücken gleiten. Kaum zu glauben, wie schwer so ein kleiner Junge werden konnte, wenn man ihn lange genug trug. Da Tysons Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte, nahm er endlich eine kleine Auszeit, stützte sich an der Höhlenwand ab und atmete keuchend aus. Sie waren sicher. Er konnte gar nicht glauben, dass sie Wolborg entkommen waren, zumal Dizzy sie als den Uralten als ebenbürtig beschrieben hatte. „Ich glaube du warst gar nicht mal so schlecht.“, kommentierte Kai das Ganze nüchtern. Tyson musste grinsen. Das waren genau die Worte, die er von seinem Teamleader immer bekommen hatte, wenn der mit seiner Leistung zufrieden war. Tyson hatte das furchtbar aufgeregt, weil er doch eigentlich ein „Wunderbar!“ oder „Unglaublich!“ hören wollte. Einfach etwas mehr Begeisterung, wie von dem Rest seiner Freunde. Doch Kai in regelrechtes Staunen zu versetzen, war eine Herausforderung, die er bis heute nicht gemeistert hatte. „Du warst als Rucksack auch nicht schlecht.“, gab er deshalb neckisch bei. Kai zog ein grimmiges Gesicht und sah gekränkt zur Seite, die kleinen Kinderlippen verzogen sich zu einem Schmollmund. Es passte ihm nicht als Ballast bezeichnet zu werden, dafür war er wieder zu stolz. „Wenn ich dir so eine Last bin, warum hast du mich nicht einfach selbst rennen lassen?“ „Weil ich dich gerne in meiner Nähe habe. Da weiß ich das es dir gut geht.“ Er kniff dem Kind einmal herzhaft in die Backe. Die gelungene Flucht ließ ihn übermütig, nein, geradezu euphorisch werden! Erst dann packte er Kais Hand und sie trotten weiter durch die Höhle. Wären sie nicht bereits tief in die Dunkelheit eingedrungen, hätte Tyson die leichte Röte auf Kais Wangen bemerkt. Dafür spürte er kurz darauf, wie die kleinen Kinderfinger fester seine Hand drückten, was ihm ein überraschtes aber schließlich doch frohes Lächeln entlockte. Er musste zugeben, dieses Vertrauen das ihm Kai entgegenbrachte gefiel ihm immer mehr. So tasteten sich die beiden Jungen vorsichtig weiter. Der Eingang zum Felsspalt und zu Wolborgs Welt war nur noch ein Stecknadel großer Punkt hinter ihnen. Tyson roch bereits den Klimawandel, der sie erwarten würde, denn es lag der Duft von süßlichen tropischen Pflanzen, Bäumen und trockener Erde in der Luft. Und Wärme. Ja… Er spürte eine angenehme Wärme auf seinen Körper wirken. Wie eine Motte die vom Licht angezogen wurde, drängten ihn seine Beine weiter zur Wärmequelle. Es konnte nicht mehr weit sein und endlich konnte er die ersten Strahlen der Sonne auf der anderen Seite ausmachen… Bis ein kalter Windzug durch die Höhle wehte und einpaar einzelne Schneeflocken ihren Weg zu ihnen fanden. „Tyson! Da hinten!“ Überrascht von Kais Ausruf drehte er sich zum Eingang und konnte die weiße Wölfin ausmachen, die in einem schnellen Spurt zu ihnen hastete. Sie hatte bald die Höhle erreicht. Für einen kurzen Moment erstarrte Tyson. Nicht so kurz vor dem Ziel! Wolborgs Heulen schallte zu ihnen und augenblicklich schoss wieder das Adrenalin durch ihre Körper. „Lauf!“, wies Tyson Kai an und die beiden Jungen fanden sich erneut in der Rolle der Gejagten. Inzwischen hatte Wolborg die ersten Schritte in die Höhle getan. Desto tiefer das Bit Beast vordrang, desto mehr erfror ihre Umgebung. Die Wände der Höhle wurden von einer gläsernen Eisschicht überzogen. Tyson konnte nicht glauben, dass er so töricht gewesen war, zu denken, Wolborg abgehängt zu haben. Gleichzeitig fragte er sich, weshalb das Bit Beast noch nicht auf den Klimawandel reagierte, immerhin war sie zuvor bereits bei den brennenden Mänteln in Bedrängnis geraten. Sie erreichten den Ausgang und stürmten hinaus. Blendende Sonnenstrahlen raubten ihnen die Sicht und Tyson machte den Fehler nur eine Sekunde zu zögern. Die plötzliche Helligkeit ließ ihn einen Moment innehalten. Da packten ihn auch schon scharfe Reißzähne am Arm. Sie gruben sich tief in sein Fleisch und er schrie vor Schmerz auf. Er blickte an seinem rechten Arm hinab, der von Wolborgs riesiger Schnauze umschlossen wurde. Sein eigenes Blut quoll zwischen den Zähnen des Bit Beasts hervor. Dann wurde er ruckartig zur Seite geschleudert, dass er mit voller Wucht gegen die Felsen der Gebirgskette knallte. Vor Schmerz stöhnend hielt sich Tyson den blutigen Arm. Unter seinem Ärmel konnte er zum Teil seine eigenen Hautfetzen an klaffenden Bisswunden erkennen… Er konnte den Arm nicht mehr bewegen. Das Bit Beast hatte ihn mit einem einzigen Biss gebrochen. Er versuchte aufzustehen, musste aber feststellen, dass sich das nun furchtbar schwierig gestaltete. Nichtsdestotrotz schaffte es Tyson, sich mit der Linken an einem Felsen hochzuziehen und wieder auf die Beine zu kommen. Er suchte nach Kai – und wurde aschfahl. Das Bit Beast hatte das Kind zwischen dem erdigen Boden und seiner riesigen Tatze eingeklemmt. Kai versuchte freizukommen, schrie aber auf, als die Krallen der Wölfin sich in seinen Rücken gruben. Unter der riesigen Pfote sah der Sechsjährige geradezu winzig aus. Doch das Bit Beast ächzte einwenig. Tyson bemerkte zum ersten Mal das die Gletscher auf ihrem Rücken in feinen Rinnsalen über ihr Fell liefen und es durchnässten. Sie wurden kleiner und Wolborg schwankte. Er musste sie hinhalten! So lange, bis sie in dem tropischen Klima einging! „Körper!“, schrie Wolborg plötzlich. Wie auf ihr Kommando, erschallte ein Klirren in der Höhle. Dann schossen Tausende von kleinen Splittern durch die Öffnung auf das Bit Beast zu. Sie flogen durch die Luft, bedeckten ihren Körper und fügten sich zu einem Gebilde zusammen. Nach und nach zwängte sich die Wölfin wieder in ihre menschliche Gestalt. Tyson ahnte warum sie das getan hatte. Die Splitter der gefrorenen Leiche würden dem Bit Beast kurze Zeit als Schutzhülle vor der Hitze dienen können. Als Wolborg ihre Metamorphose beendet hatte, stand sie angeschlagen und schwer atmend über Kai. Nur die weißen Haare waren von pechschwarzen Brandflecken geschändet. An vereinzelten Stellen ihres Kopfes, fehlten ganze Büschel und man konnte verbranntes Fleisch darunter erkennen. „Wolborg, hör auf!“, versuchte Tyson sie zu beruhigen. „Überleg doch mal wie grausam das ist!“ „In meiner Vergangenheit habe ich viele Kinder getötet. Eins mehr oder weniger spielt keine Rolle.“ „T-Tala und er sind gute Freunde. Er würde dir das niemals vergeben!“ Ob das stimmte wusste Tyson selbst nicht. Ihm war einfach nichts Besseres eingefallen, als das seltsame Interesse des Russen an Kai zu erwähnen. „Wenn Tala sich um mich scheren würde, würde ich dann dort hausen!“, schrie Wolborg ihm entgegen und deutete auf die Höhle. „Er hat mich vergessen. Jetzt will ich zu dem einzigen Wesen an dessen Seite ich gehöre!“ „Zu Dranzer?! Dieses fiese Miststück!“ „Wage es nicht den Namen meiner kleinen Schwester zu beschmutzen!“, drohte Wolborg. Ihre Fingerkuppen brachen auf und die Krallen ihre Pfoten kamen zum Vorschein. Sie wuchsen in die Länge und Tyson ahnte, das sie Kai bei lebendigem Leib die Augen rausreißen wollte. Das Kind schien dasselbe zu denken. Zum ersten Mal konnte Tyson etwas wie Angst bei seinem Freund erkennen. Der Junge kniff die Lider fest zusammen und harrte so aus. In seiner Panik entfuhren Tyson genau die Worte, die er eigentlich vermeiden wollte: „Es hat keinen Sinn Dranzer noch zu suchen, sie ist tot!“ Es wurde still… Und Wolborg rührte sich nicht mehr. Die Faust des Bit Beast schwebte unheilvoll über Kai, wie das berüchtigte Damoklesschwert. Tysons Worte hallten lange über den Platz, bis Wolborgs Stimme das unbehagliche Schweigen durchbrach. „Du lügst.“ „Nein. Es ist die Wahrheit. Dragoon hat sie getötet, als sie mich angegriffen hat. Ich habe mit eigenen Augen gesehen wie er sie gefressen hat.“ Tyson wandte sich Wolborg zu und erkannte, dass nun auch ihre menschliche Hülle Risse bekam. An der Stirn zog sich eine feine Verästelung fort, die leise knackend, immer weiter aufbrach. Ihr Körper begann in der Hitze zu vertrocknen. „Wenn du Dranzer wirklich so liebst wie du behauptest, bin ich die richtige Person um sich zu rächen. Dragoon hat sie getötet um mich zu beschützen. Er hat dir das Liebste genommen was du hattest. Wenn du wirklich Gerechtigkeit willst, solltest du ihm nehmen, was ihm am teuer ist!“ Er vermied absichtlich die Tatsache, dass die ganze Situation damals eskaliert war, weil Dranzer so versessen darauf war, Kai zu bekommen. Wolborg ließ die Faust sinken und nahm ihren Fuß von Kais Rücken, während Tyson angespannt schluckte. Er wollte Wolborg nur hinhalten bis sie schmolz, doch ihm ging der Gesprächsstoff aus. Warum konnte die Sonne nicht noch stärker scheinen? Warum konnte eine höhere Gewalt nicht sämtliche ihrer Strahlen bündeln und auf das Bit Beast richten, damit es zu einer Pfütze zerfloss? „Steh auf.“, wies Wolborg Kai an. Etwas zögerlich kam der Junge der Aufforderung nach. Tyson hoffte das sie ihm befahl zu verschwinden, da ihr Interesse jetzt ihm galt, doch stattdessen sprach sie: „Geh zu ihm.“ „Wolborg!“ „Verschwindet von hier…“ „W-Was?“ „Geht.“ Tyson stockte der Atem. Sollte das ein Spiel werden? Katz und Maus, nur mit dem Unterschied das es eine Wölfin und zwei Kinder gab? Mit einem knackenden Laut brach Wolborgs linke Hand endgültig ab. Ihr Körperteil fiel zu Boden und zerschmolz dort zu einer Wasserlache. Sie begann zu zerbrechen. „Du lässt uns gehen?“ Sie nickte. „Warum? Bist du nicht wütend? Willst du dich nicht an mir rächen?“ Wolborg seufzte. Sie wandte Tyson den Rücken zu. Der Ausgang des Felsspaltes lag direkt in einem tropischen Wald. Die hohen Bäume spendeten an vereinzelten Stellen Schatten, doch Wolborg trat bewusst auf die sonnenbefleckten Punkte zu. „Was machst du da?“ Sie antwortete nicht. Es knackte erneut, dann brach ein Teil ihrer rechten Wade ab. Eigentlich konnte ihm das egal sein. Er sollte nicht so untätig herumstehen, sondern Kai packen und verschwinden, bevor das Bit Beast es sich anders überlegte. „Lauf! Jetzt mach schon!“, schrie sein Verstand. „So eine Gelegenheit bietet sich nicht noch einmal!“ Tyson nahm Kai an die Hand und ja, verdammt. Er wollte gehen! Doch sein Gewissen stellte sich ihm in den Weg. Als hätte seine innere Stimme sämtliche Nerven die von seinem Gehirn zu seinen Beinen führte gekappt, blieb er wie angewurzelt stehen und blickte zu dem Bit Beast, dass einfach nur regungslos in der Sonne stand und scheinbar wartete, bis es starb. Da für ihn gewissermaßen kein Grund mehr bestand, ihr den Tod zu wünschen, sagte Tyson: „Wolborg du schmilzt. Willst du nicht zurück in deine Welt?“ Sie senkte ihr Gesicht und dann tat sie etwas, womit er nicht gerechnet hatte - Sie schluchzte leise. Stumme Tränen bahnten sich den Weg aus ihren geschlossenen Lidern. Sie quollen herab wie schillernde Perlen, tropften zu Boden. Wolborg schüttelte langsam den Kopf. „Warum ich mich nicht rächen will? Weil ich nichts davon hätte“, griff Wolborg seine vorherige Frage plötzlich auf. Sie hob ihre Arme, als würde sie etwas an ihre Brust halten. „Bringt mir das meine Schwester zurück? Meine kleine, geliebte Schwester? Dieses Geschöpf das zu mir gehört hat, wie mein Schatten? Ihr Menschen und eure Rache… Was versprecht ihr euch davon? Wer glaubt das Rache seinem Kummer Linderung verschafft, der hat noch nie wahres Leid erfahren. Der Verlust einer Schwester ist eine Wunde ohne Aussicht auf Heilung. Sie klafft in deiner Seele. Nicht in deinem Körper. Es gibt keine Linderung - bis der Tod dich holt.“ Sie lächelte in seine Richtung. Es war kein fröhliches Lächeln, sondern voller Wehmut. Als hätte Wolborg mit der Welt abgeschlossen. „Vergeltung wird mir keine Erlösung verschaffen. Vergeltung ist einfach nur Vergeltung. Sonst hätte ich danach getrachtet Dragoon zu zerstören. Doch all die Jahrtausende habe ich nur dafür gelebt, Dranzer eines Tages wieder zu sehen. Ihre Stimme zu hören, ihr Lachen. Ich wollte sie so gerne noch einmal berühren und ihre herrliche Singstimme hören… Hören wie sie mich als ihre liebste Schwester rief und sich mir in die Arme wirft. Aber jetzt… Es gibt niemanden hier der noch auf mich wartet.“ Ihr Gesicht brach langsam auf wie eine Schale. Doch Wolborg flüsterte nur: „Ich bin alleine…“ „Tyson, was passiert mit der Dame Wolborg?“, flüsterte Kai und schaute verstört dabei zu, wie das Bit Beast auf die Knie sank. Doch der ging nicht darauf ein, stattdessen rief er: „Sei nicht dumm Wolborg! Geh zurück in deine Welt! Willst du dich umbringen?“ Die Frage war überflüssig, denn Tyson wurde klar, das genau das ihre Absicht war. Das Bit Beast schlang die Arme um ihren Körper und schaukelte sich vor und zurück, dabei summte sie eine traurige Melodie vor sich hin, die Tyson stark an ein Wiegenlied erinnerte, während es die Welt um sich herum verdrängte. Er ließ Kai zurück und trat auf das Bit Beast zu. Es war in seinen Singsang verfallen und schien ihn gar nicht mehr zu registrieren. „Wolborg bitte! Denkst du Dranzer hätte das gewollt? Wenn ihr euch tatsächlich so geliebt habt, würde sie so etwas niemals von dir verlangen! Nicht von ihrer eigenen Schwester.“ Zwecklos. Das Bit Beast hörte nicht. „Selbstmord bringt deine Schwester genauso wenig zurück wie Rache!“ Tyson packte das Bit Beast mit der gesunden Hand an der Schulter, wollte sie zur Vernunft rütteln, da brach der Rest ihres linken Armes komplett unter seinem Griff ab. Erschrocken wich er zurück und starrte auf das, was er angerichtet hatte. Kai kam langsam auf Tyson zu und ergriff seine Hand. Das Kind zerrte an seinem Ärmel und als er hinabblickte, schwammen die Augen des Jungen in Tränen. „Mach sie wieder ganz! Ich weiß sie war böse zu uns, aber du darfst sie trotzdem nicht einfach so sterben lassen. Am Anfang war sie doch auch nett…“ „Das weiß ich doch Kai.“ „Warum stehst du dann hier und unternimmst nichts?“ „Weil ich ihr nicht helfen kann. Das kann sie nur selbst.“, er wandte sich wieder Wolborg zu und flehte. „Steh doch auf! Ich weiß dass ein Verlust schwer ist, das musst du mir glauben. Als ich in Kais Alter war, da habe ich meine eigene Mutter verloren. Trotzdem darfst du dich nicht einfach so aufgeben. Am Anfang ist es schwer, aber irgendwann wirst du wieder nach vorne blicken können. Es muss weitergehen!“ Wolborgs Gesang verstummte und sie hob ihren Kopf. Er hoffte sie umgestimmt zu haben. Das Bit Beast hob ihre Hand und fuhr mit ihren Fingern über Tysons Wangen. Sie hinterließen feuchte Spuren auf seinem Gesicht und schmolzen unter seiner Körperwärme, bis von den Fingerkuppen nichts mehr übrig blieb. Dann lächelte sie ihn an. Es wirkte fast schon glücklich, doch die Tränen die aus ihren geschlossenen Lidern hervortraten, straften ihr Lächeln lügen. „Du bist ein guter Junge. Deshalb hatte Tala wohl immer Respekt vor dir. Verzeih was ich euch antun wollte… Einsamkeit benebelt den Verstand mit den Jahren.“ Ihr Kopf senkte sich und sie flüsterte… „Dranzer, ich komme zu dir.“ Kaum war das letzte Wort über ihre Lippen, zerbrach Wolborgs Kopf entzwei. Tyson hatte erwartet das darunter wieder das Bit Beast in seiner Tiergestalt hervorkommen würde, doch stattdessen schoss ihm nur ein warmer Dampfschwall entgegen. Unter der menschlichen Hülle war Wolborg endgültig verdampft. Ihr ausgehöhlter Körper klappte zur Seite und als er auf dem Boden aufkam, zerbrach er in tausend Stücke. Sie stoben durch die Luft, funkelten in der Sonne und lösten sich unter ihren Strahlen auf. Betroffen beobachteten die beiden Jungen das Schauspiel. Dann brach mit einem lauten Poltern der Durchgang zu Wolborgs Welt zusammen. Die Steine des Gebirges fielen herab und begruben alles, was jemals an das Bit Beast erinnerte. Man konnte sagen was man wollte, doch ausgerechnet das kälteste Bit Beast dieser Welt, wusste was wahre Liebe war. Zeitgleich fragte sich Tyson, ob Dragoon auch nur ansatzweise ahnte, was er den beiden Schwestern angetan hatte… * Tja, das war Wolborgs Auftritt in meiner Geschichte... Kurz und schmerzvoll. Ich wollte eigentlich nicht schon wieder Dranzer ins Spiel bringen, nur ist in dieser Geschichte Dragoon ja ausnahmsweise der "diabolische Tyrann" und ich brauche einpaar Hintergrundgeschichten, die nochmal verdeutlichen, wie eisern und brutal er seine Ziele verfolgt. Es werden auch noch mehr solcher Anspielungen folgen, aus den Blickwinkeln mehrer Personen/Bit Beasts. Eigentlich wollte ich Wolborg nicht sterben lassen, nur habe ich einen Faible für Dramen. Deshalb habe ich ihre Rolle nur darauf reduziert, dass Tyson durch sie erfährt, wie man aus der Irrlichterwelt gelangt und dafür auch noch ein Bit Beast benötigt wird. Auch das es nur ein Tyson/Kai Kapitel wird, war eigentlich nicht geplant. Hoffe es hat euch trotzdem gefallen, trotz Wolborgs lahmen Abgangs. ^_^' LG Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)