Do swidanja von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Er fühlte sich heute schon den ganzen Tag seltsam unruhig. --------------------------------------------------------------------- "Also, wir können Pizza kaufen, Pommes Frites, Fischstäbchen, tiefgefrorenes Sushi ... Nein, lieber doch nicht, ich hasse Fisch..." Takao zählte frischfröhlich alle möglichen Tiefkühllebensmittel auf, die er ungefragt in den Einkaufswagen warf, während Kai wenig motiviert mit Tunnelblick hinter ihm her schlurfte. Takao machte sich nicht viel draus, immerhin war er froh, dass er es überhaupt geschafft hatte, Kai zu überreden, aus der Wohnung zu gehen, der Russe hatte sich ja vorerst vehement geweigert. Und wenn Kai Hiwatari erst mal auf stur schaltete, dann konnte man eigentlich die Zelte abbauen. Wie gut, dass Takao nicht "man" war und so hatte er sage und schreibe drei Stunden damit verbracht, an Kai herumzuquengeln, bis dieser klein beigegeben hatte. Immerhin war der Supermarkt direkt um die Ecke, sie wären also sicher nicht lange weg. Was ihm gerade mehr Kopfzerbrechen bereitete, war Kai irgendwie zu animieren, sich für etwas Essbares zu begeistern. Er konnte das gar nicht nachvollziehen, wenn er einen Supermarkt betrat, bekam er auf fast alles Lust, was er sah, und das zwar sofort. Aber egal, was er ihm anbot, Kai zuckte nur mit den Schultern oder brummte wahlweise, aber wirklich Freude schien bei ihm nicht aufzukommen. Takao seufzte in sich hinein. Wenn er wenigstens wüsste, was Kais Lieblingsessen war, vielleicht kam dadurch die Lust am essen, aber er hatte mal wieder keine Ahnung. Er würde wohl einfach rumprobieren müssen. Heute Abend wollte er sich mit Rei, Mao, Hiromi und Daichi treffen - er hatte erst gezögert, zuzusagen, aber für zwei Stunden würde er Kai sicher alleine lassen können, dieser beschwerte sich ja jetzt schon, dass Takao ihm zu sehr auf der Pelle hockte. "Jetzt sag doch mal, was sollen wir heute Abend essen?", probierte er es nochmal. Kai zuckte nur mit den Schultern. "Ist mir egal." "Ok, ich frag mal den Verkäufer da vorne, ob die das da haben und wo das steht!" Kai blickte ihn entgeistert an, Takao rollte mit den Augen. "Keine Sorge, das mach ich nicht wirklich." "Wäre ja nicht das erste Mal, dass du mich oder einen der anderen blamiert hättest." "Glaub mir, wenn du mir nicht sofort sagst, was du gerne isst, werde ich noch einen Weg finden, dich zu blamieren, das schwör ich dir!" Takao sah so entschlossen aus, dass eine von Kais Augenbrauen in die Höhe wanderte. "Du meinst es tatsächlich ernst." "Da kannst du deinen Arsch drauf verwetten, Hiwatari." Kai stöhnte und ließ resignierend die Schultern hängen. "Alles, außer Erbsen", brummte er dann. "Na, das ist immerhin schon mal ein Anfang. Und warum magst du keine Erbsen?" "Aus dem selben Grund, aus dem du keinen Milchreis magst. Es sei denn, du willst, dass ich beim Essen auf den Teller kotze." Das schien für Takao einleuchtend zu sein und er meinte: "Na schön, ich werd mir was einfallen lassen, ohne Erbsen, so schwer kann das ja nicht sein." "Ähm, Kai, ich geh mich heute Abend mit den anderen auf ein Bierchen treffen, das ist doch ok für dich, oder?", meinte Takao beiläufig, während er die Einkäufe in der Küche abstellte. "Wieso sollte mich das stören?", fragte der Russe desinteressiert. Takao zuckte mit den Schultern. "Hätte ja sein können. Ich versuch auch, nicht zu lange wegzubleiben." "Ich brauche keinen Babysitter." "Natürlich nicht." "Wirklich nicht. Amüsier dich ruhig. Das wird die reinste Erholung für mich sein." Hatte Takao sich verhört oder hatte sich da eine unangenehme, eisige Note hineingeschlichen? Aber, wenn ja, was ...? Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er angenommen, dass Kai an der Situation irgendetwas nicht passte, aber er schwieg, immerhin wollte er sich nicht jetzt schon auf so dünnes Eis begeben. Takao hatte bereits den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, allerdings schloss er ihn dann wieder und fuhr fort mit seiner Tätigkeit. Er hatte schlichtweg keine Lust, sich zu streiten, so wie sie es früher immer getan hatten. Die Zeiten änderten sich nun mal. Aus seiner Sicht zumindest. "Kinomiya ..." "Ja?" "Wissen sie es?" "Was meinst- oh." Takao ließ die Tüte Milch sinken, die er eben in die Hand genommen hatte. "Also, Rei habe ich es gesagt, ich musste an diesem einen Tag mit irgendjemandem reden ... du hast ja keine Vorstellung ..." Das letzte war nur gemurmelt über seine Lippen gekommen und doch zwickte Kai für einen kurzen Moment sein Gewissen. "Max weiß nichts, ich konnte ihn nicht erreichen, naja, kein Wunder, er ist ja mit seiner Freundin immer noch mit dieser Gruppe im Himalaya campen ..." "Rocky Mountains." "Oder so ... Naja, sonst weiß es eigentlich keiner, Daichi hab ich auch nichts gesagt, ich glaube nicht, dass ihr euch gut genug kennt, dass es ihn was angehen würde ..." "Da hast du verdammt recht." Takao grinste. "Siehste, ich kann doch auch mal was richtig machen, oder?" "Hmhm. Sorg dafür, dass es auch sonst niemand erfährt, der es nicht schon weiß." "Aber ..." "Nichts aber. Mir reicht EINE Person, die mich bemuttert, ich kann es echt nicht brauchen, dass mir noch mehr Leute auf die Nerven gehen." Takao runzelte die Stirn. "Ich geh dir also auf die Nerven, ja?" "Das sag ich doch die ganze Zeit. Hallelujah, er hat es begriffen!" Takao presste die Lippen zusammen und motzte dann: "Ein Glück, es geht dir wieder besser, du hast deine sarkastische Art wieder!" "Wie schön für mich, nicht wahr?", schnappte Kai und machte auf dem Absatz kehrt. Takao stand in der Küche wie bestellt und nicht abgeholt. "Nein, Takao, nicht aufregen, ganz ruhig, da hat er ja nur, was er will." Schon seit einer geraumen Weile starrte Takao die Wand an. Er hatte heute versucht, verschiedene Dinge zu tun. Er hatte versucht zu lernen für sein Studium, er hatte versucht, als er gemerkt hatte, er konnte sich darauf nicht konzentrieren, ein wenig mit seinem Blade zu trainieren, einfach aus Spaß an der Freude, und schließlich hatte er sogar versucht, ein Buch zu lesen, aber nur mit mäßigem Erfolg. Er fühlte sich heute schon den ganzen Tag seltsam unruhig. Immer wieder musste er an Kai denken. Er hatte schon sehr lange nichts mehr von ihm gehört, bestimmt zwei Monate nicht mehr. Sollte er ihm vielleicht einfach mal einen Besuch abstatten? Aber er wollte ihn doch sicher nicht sehen, oder? Sonst hätte er sich ja von sich aus ... Takao schnaubte und murmelte: "Ja, nee, is klar. Hiwatari meldet sich von sich aus." Dass Kai das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, schon nicht gut ausgesehen hatte, war ihm immer in Gedanken gegenwärtig. Sollte er? Sollte er nicht? Kai fühlte sich dadurch sicherlich gestört und würde ihn mal wieder zur Sau machen und ... Trotzig verzog er die Augenbrauen. Was sollte es eigentlich? Kai pisste ohnehin immer rum, wenn man ihm etwas Gutes wollte, da spielte das nun auch keine Rolle mehr. "Ach, zum Teufel", murrte Takao und schnappte sich seine Roller-Schlüssel (Autofahren durfte er ja erst nächstes Jahr). Was hatte er zu verlieren? Heute war schönes Spätsommerwetter, es ging gerade so langsam in den Herbst über. Der Japaner liebte es, bei diesem Wetter Unternehmungen zu machen und selbst, wenn Kai gar nicht da sein oder ihn abweisen sollte, dann konnte er die Gelegenheit immer noch nutzen und sich entweder mit einem seiner anderen Freunde treffen, oder einfach so ein bisschen in der Gegend herumzufahren, an einen See oder so. Seltsamerweise, je näher er Kais Wohnung kam, desto nervöser wurde er. Eine Nervosität, die er sich nicht erklären konnte, immerhin hatte er sich nie so gefühlt, wenn sie sich gesehen hatten. Zumindest war es nicht DIESE Art von Nervosität gewesen. Das hier war ... Ja, wirklich ekelhaft. Beinahe hätte er einen Unfall gebaut, da er bei Rot über eine Kreuzung gefahren war. 'Gott, konzentrier dich, du Trottel', schalt er sich in Gedanken und versuchte, das Herzrasen wieder runterzudrücken. Schon bald kam Kais Wohngegend in Sicht und es dauerte schließlich nicht mehr lange, ehe er den Altbaublock erreichte, in dem der Russe in einer Dreizimmerwohnung lebte. Er stellte seinen Roller im Halteverbot ab und beeilte sich dann, zu dem Wohnblock zu kommen. Seine Miene hellte sich auf, als er sah, dass gerade einer der anderen Mieter die Haustür aufschloss. "Hey, super, ich wollte einen Freund besuchen", sagte er atemlos, woraufhin die alte Frau ihn zwar seltsam ansah, aber keine Anstalten machte, ihn davon abzuhalten. Takao verneigte sich leicht und stürmte mit einem "Danke" dann die Treppen hoch. Kai wohnte im sechsten Stock und Takao verfluchte es einmal mehr, seine Kondition in der letzten Zeit so sträflich vernachlässigt zu haben. Er gönnte sich einen Moment, um zu Atem zu kommen, ehe er auf die Türklingel drückte. Stille. Takao verzog das Gesicht. Das war irgendwie gerade eine unmögliche Vorstellung, Kai könne nicht zuhause sein, also versuchte er es nochmal. Und wieder. Woher kam plötzlich dieses unangenehme, unwohle Gefühl. Takao klingelte noch einmal. Lauschte mit klopfendem Herzen und beinahe fiel ihm ein Stein von ebendiesem, als er dumpfe Schritte hörte. Kurz darauf öffnete sich die Tür und seine Miene hellte sich auf - nur um kurz darauf einen äußerst entsetzten Zug anzunehmen. "Was willst du?" Kais Stimme war nur ein Nuscheln, ähnlich, wie wenn man betrunken war, doch das war nicht das, was ihn erschreckte. Kai war offenbar Blut aus dem Mund gelaufen und das nicht wenig, die Augen wirkten leicht glasig und ... "Verdammt, was hast du angestellt!?", entfuhr es dem Japaner und keinen Augenblick später war er in der Wohnung drin und keine Sekunde zu spät, denn Kai fiel ihm fast entgegen, hätte er ihn nicht gestützt, dann wäre er wohl zu Boden geschlagen. "Fuck!" "Ich ... Ich ..." Das war alles, was über Kais Lippen kam und als Takao diesen wenig später auf die Couch verfrachtet hatte, griff er sofort nach seinem Handy, um einen Krankenwagen zu rufen. "... Was ist passiert?" Takao stockte einen Augenblick. Was sollte er denn sagen? Es sah ganz so aus, als hätte Kai ... "Mein Freund hat Blut gespuckt und ich glaube-" Ein Blick auf den Wohnzimmertisch. "Irgendwelche Tabletten geschluckt!" Klang er hysterisch? Seine Stimme zitterte. Er fuhr sich permanent durchs Haar. Was er für Tabletten geschluckt hatte? Keine Ahnung! Verdammt, er hatte doch keine Ahnung! "Beruhigen Sie sich und behalten einen kühlen Kopf, wir werden sofort jemanden vorbeischicken. Sorgen Sie dafür, dass der junge Mann sich nicht verschluckt, drehen sie ihn auf jeden Fall auf die Seite." Tuten. Takao starrte einen Augenblick das Telefon an. Jemanden schicken. Auf die Seite. Alles klar. Als er zu Kai zurückkam, war dieser auf die Seite gekippt und erbrach sich, Takao war sofort bei ihm und packte ihn mit einem Arm um den Oberkörper, mit der anderen um den Kiefer, um ihn so nach vorne drücken zu können, um sicher zu gehen, dass das, egal, was er da geschluckt hatte, den schnellsten Weg wieder nach draußen fand. Fuck, ging es ihm dabei durch den Kopf, FuckFuckFuckFuck. Takao war niemand, der schnell Panik bekam, aber diese Situation war so beängstigend - verdammt, er hatte noch nie jemanden blutigen, mit Magensäure und weißlichem Schaum vermischten Schleim kotzen sehen und diese Geräusche, diese röchelnden Geräusche, als würde er jeden Moment ersticken und Takao hätte fast angefangen zu heulen, weil das mit dem Blut einfach nicht aufhörte. Irgendwann zuckte Kais Körper nicht mehr und er lag ihm schlaff, wie ein nasser Sack in den Armen. Aber er atmete noch, Gott sei Dank. Wo blieb der Scheiß-Krankenwagen denn nur? Mit zitternden Fingern strich er ihm über die Schläfe, das klebrige Haar leicht aus dem Gesicht. Die Tablettenschachteln. Das waren verdammt viele. Und da war auch eine Flasche mit ... Wodka? Er konnte es nicht genau erkennen, sie war umgekippt und der klare Inhalt hatte sich über Tisch und Laminatboden verteilt. Es roch nach Alkohol. Es klingelte und Takao ließ Kai auf das Sofa sinken, um zur Tür zu stürmen, die Sanitäter einzulassen. Dann ging alles unglaublich schnell. Drei Sanitäter eilten in die Wohnung und Takao schilderte im Schnelldurchlauf noch einmal, was passiert war, während zwei von ihnen bei Kai bereits Pulskontrolle und Irischeck durchführten, immerzu sprach einer von ihnen dabei auf den halbbewusstlosen Russen ein. Schließlich legten sie ihm einen Zugang und Takao musste kurz wegschauen, weil er keine Nadeln sehen konnte. "Fahren Sie mit?" Takao nickte abwesend, fuhr sich abermals durch die Haare. "Ja ... Ja, natürlich..." Im Hinausgehen fiel sein Blick auf ein gelbes Post-it, welches am Wohnzimmertisch klebte. Komisch, dass es ihm jetzt erst auffiel. Abwesend nahm er es, steckte es in die Tasche, ohne es zu lesen und folgte dann den Sanitätern nach unten. Wenig später saß er mit einem Becher Automatenkaffee auf einer der Plastikbänke und versuchte noch immer zu realisieren, was da gerade geschehen war. Irgendwie wollte es nicht in seinen Kopf hinein, dass es wirklich das war, nach was es ausgesehen hatte. Nachdenklich fuhr er mit der Hand in seine Tasche, während er an seinem Kaffee nippte, nur um etwas zu tun zu haben. Da fiel ihm der Zettel ein - hatte er ihn verloren? Nein, da war er ja ... Er holte ihn hervor und sah, was Kai da drauf geschrieben hatte. 'Do swidanja' Mehr stand da nicht. War das nicht Russisch für "Leb wohl"? Takao wurde plötzlich schlecht und beinahe hätte er seinen Kaffee wieder ausgespuckt, er würgte kurz und kriegte sich dann wieder ein. Verdammt, Kai hatte sich tatsächlich umbringen wollen? Warum? Warum??? Takao blickte starr in sein Glas Jackie-Cola, das Gespräch seiner Freunde bekam er schon seit bestimmt einer halben Stunde nicht mehr mit. Die Bilder von dieser Sache waren wieder hochgekommen. Schrecklich. Er hasste diesen Gedanken daran, aber wenn ihn das erst mal gefangennahm, konnte er sich auf nichts mehr konzentrieren. "Wie gehts ihm eigentlich?" Takao sah auf und blickte Rei, der ihn eben angesprochen hatte, verwirrt an. "Ich mein Kai, du bist doch in Gedanken wieder bei ihm - das beweist schon allein die Tatsache, dass du bisher über keinen von Daichis "Deine Mudda"-Witzen gelacht hast", fügte er dann raunend hinzu und nickte mit dem Kopf in Richtung Daichi, der sich gerade vergnügt mit Hiromi unterhielt. Der kleine Daichi hatte sich innerhalb der letzten Jahre ganz schön gemausert. Zwar hatte er immer noch ein loses Mundwerk, aber er hatte einen ziemlichen Wachstumsschub gehabt und aus irgendeinem unerfindlichen Grund schienen die Mädchen auf seine Art zu stehen. Wer hätte das jemals gedacht? Takao musste ein wenig schmunzeln, wurde aber dann wieder ernst. "Schuldig im Sinne der Anklage", murmelte und nahm zwei Schlucke von seinem Getränk, schüttelte sich kurz, als er den herben Whisky extrem stark herausschmeckte. "Naja, wie solls ihm schon gehen?", meinte er dann schulterzuckend. "Er ist irgendwie wie immer, nur noch verbitterter und ..." Takao stöhnte überfordert auf und lehnte sich zurück, wobei er die Augen schloss. "Ich weiß nicht ... Was mich halt so erschreckt, ist diese absolute ... Lebenspassivität. Ich mein, er war ja früher schon recht in sich gekehrt, aber das ist einfach anders. Rei, das macht mir irgendwie Angst." Der Chinese verzog nachdenklich das Gesicht und nahm einen Schluck von seinem Bier. "Ja, Kai war schon immer schwierig ... Will er eigentlich noch immer keinen von uns anderen sehen? Ich mach mir ziemliche Sorgen, wenn ich ehrlich sein soll, ich würd ihn gerne mal besuchen ..." "Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist - naja, aus seiner Sicht zumindest. Er will ja so schon kaum jemanden sehen-" "Ja, ein Wunder, dass er dann ausgerechnet dich in seiner Nähe duldet." "Hey", motzte Takao und boxte Rei gegen die Schulter, "er hat mich auch gefälligst zu dulden, immerhin war ich derjenige, der ..." "Schon gut, war nur ein Scherz", lenkte der Chinese ein. "Halt mich bitte auf dem Laufenden, es ist mir ein Unwohles, nicht nach ihm sehen zu können, aber das muss ich wohl akzeptieren." Takao nickte. Es hatte eine Heidenarbeit gekostet, den Arzt davon zu überzeugen, ihn als Nichtangehörigen zu Kai zu lassen. Aber dass seine russische Verwandtschaft, oder das, was davon noch übrig war, etwas kompliziert war, hatte diesem dann auch eingeleuchtet. Zumal Kai und Takao auch nicht gerade unbekannte Gesichter waren in der Öffentlichkeit. Er blieb die ganze Nacht bei ihm sitzen. Und dann den nächsten Tag, bis es wieder dunkel wurde. Und endlich schlug Kai die Augen auf. Takaos Herz klopfte schneller. "Hey", sagte er vorsichtig, "wie fühlst du dich?" Erst erhielt er eine Weile keine Antwort, dann ganz leise: "Ich ... lebe ..." "Sag das bitte nicht, als sei das was Schlechtes - ich hatte eine Scheißangst. Verdammt, was hast du dir dabei gedacht?" Er ballte die Hände zu Fäusten, versuchte allerdings ruhig zu bleiben. Stress konnte Kai jetzt sicher nicht gebrauchen. Das war eine ganz schöne Herausforderung für den sonst so aufbrausenden Takao. Wieder keine Antwort. "Die sagen, du hast eine Rasierklinge runtergeschluckt", sagte er behutsam. "War dir wohl wirklich ernst, was? Gut, dass ich dich ausgerechnet gestern besuchen wollte, wer weiß, was sonst passiert wäre." Er wollte es sich gar nicht ausmalen. "Also, ich habe gerade beschlossen, dass ich eine Weile zu dir ziehen werde." Kai sah ihn entgeistert an. "Da hab ich ja wohl noch ein Wörtchen mitzureden!" "Wenn du lieber in so eine Klinik willst, bitte, das wäre vielleicht sogar besser für dich, aber das musst du selbst wissen." Kais Miene wirkte verbissen. "Weißt du eigentlich, dass ich dich dafür hasse?" Takao zog die Augenbrauen hoch und erwiderte ungerührt: "Ja, aber es interessiert mich nicht, Hiwatari. Das, was ich sehe, sind die Fakten und die besagen ja wohl ganz offensichtlich, dass du gerade so absolut nicht fähig bist, mit deinem Leben klarzukommen. Also entweder Klinik oder du akzeptierst es, dass ich für eine Weile bei dir einziehe. Oder du kommst zu mir, das ist mir eigentlich egal." Kai hatte fast den ganzen Abend damit verbracht, die Wand anzustarren. Nicht metaphorisch gesehen, nein, er hatte wirklich nichts getan außer die Wand anzustarren. Irgendwie wusste er gerade mit seiner Existenz so absolut nichts anzufangen. Es gab noch nicht mal irgendwelche Dinge, über die es sich in seinen Augen lohnen würde, nachzudenken, da war einfach so ... gar nichts, das ihm wichtig genug erschien. Eine absolute Taubheit und Leere und er fühlte sich nicht fähig, sich zu bewegen. Plötzlich fühlte er sich sehr einsam, das musste er sich nun eingestehen, und vielleicht wäre es doch nicht so übel gewesen, Takao jetzt in seiner Nähe zu haben. Oder mit ihm wegzugehen. Nein, auf keinen Fall. Er konnte unmöglich nach draußen gehen. Er konnte unmöglich die anderen sehen, die würden ihn sicher mustern und ihm Fragen stellen und er wollte das nicht. Er wollte nicht, dass man ihn als das sah, was er gerade war: Schwach, verletzlich, mutlos. Er wollte ihnen ihr Vergnügen nicht nehmen und ohne Zweifel würden sie sich befangen fühlen in seiner Gegenwart. Er war ... Er gehörte einfach nicht zu ihnen. Er war kein Teil ihrer Welt. Nur in seiner Wohnung, hier in seinen vier Wänden, fühlte er sich sicher. Hier konnte man ihm auch nichts anhaben und er musste sich auch nicht diesen musternden Blicken, den Fragen aussetzen, aber ... trotzdem. Irgendwie war ihm die Stille gerade extrem unangenehm. Und die Einsamkeit war drückend. Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Er verzog die Augen, nein, er wollte nicht weinen, nicht jetzt. Sein Blick wanderte zu seinem Klavier: Er hatte schon lange nicht mehr gespielt, früher hatte er es gerne getan und viel hatte er sich auch selbst beigebracht, aber so ganz wagte er es nicht. Die Selbstzweifel keimten ja schon wieder auf, wenn er nur daran dachte, sich an das Klavier zu setzen. Was, wenn er keinen Ton mehr herausbekam? Was, wenn er einfach nicht gut war? Eigentlich waren diese Gedanken schwachsinnig. Hier war ja nicht mal jemand, der ihm gerade zuhörte. Aber er hasste es, wenn er etwas, das er im Grunde gerne tat, nicht meisterte. Das war damals beim Bladen so gewesen. Depressionen hatten ihn zwar schon lange unterschwellig geplagt, aber so richtig ausgebrochen waren sie damals bei seiner ersten großen Niederlage gegen Takao. Und ab da war es stetig bergab gegangen, denn alles, was er bisher in seinem Leben durchgemacht, aber verdrängt hatte, damit es ihn nicht zerstörte, kam plötzlich an die Oberfläche und Kai hatte sich seit jeher gefühlt, als versänke er von Tag zu Tag immer mehr in diesem unendlich tiefen, kalten See und das Sonnenlicht, das durch die Oberfläche brach, wurde immer trüber, so trüb, und irgendwann war es dann ganz verschwunden. Nun setzte er sich doch ans Klavier. Und spielte. Irgendetwas war heute anders. Er kam nicht sofort darauf, was es war. Er fühlte sich einfach nicht gut. Schon als er heute aufgewacht war, hatte er diesen Kloß bemerkt, diese eiserne, kalte Faust, die sich um sein Herz gekrallt hatte, um seinen Brustkorb, und es ihm unmöglich machte, frei zu atmen. Er sah aus dem Fenster. Das Sonnenlicht blendete ihn, es war ihm plötzlich unerträglich. Er zog die Vorhänge zu. Wie um das Leben auszusperren, denn Sonne bedeutete Leben. Aber auch Zerstörung. Kai versuchte, tief durchzuatmen, aber der Kloß wollte nicht weichen. Und da fasste er den Entschluss, dass es heute so weit sein sollte. Heute würde er es endlich tun. Denn heute war er Punkt erreicht, an dem die Unerträglichkeit dieser Krankheit eine neue Dimension erreicht hatte. Es war zu groß geworden. Er konnte nicht mehr, er wollte das nicht mehr mit sich herumschleppen. Er wollte dieses Leben einfach hinter sich lassen und sie konnten ihn alle mal am Arsch lecken. Er nahm ein gelbes Post-it und schrieb in seiner Erwachsenenschrift "Do swidanja" darauf, und er sagte ihnen damit soviel mehr als bloß Leb wohl. Er sagte ihnen damit, dass sie ihn nun nicht weiter quälen konnten, dass er ihnen entfloh. Den Menschen und den Depressionen. Kai war ruhig, als er ins Badezimmer ging und die Rasierklinge holte und die Medikamente, damit es nicht ganz so sehr schmerzte. Noch wusste er nicht genau, wie er es tun wollte, doch der Beschluss, dass es jetzt geschehen sollte, stand fest. Er ließ sich auf der Couch nieder. Vor sich auf dem Couchtisch fein säuberlich ausgebreitet, die Rasierklinge, alle Tablettenschachteln, die er hatte finden können - Kortison, Paracetamol, Penicillin, Aspirin, Mirthazapin, Citra Linh, Baldrian Extra stark, hochdosierte Schlaftabletten, Hustensaft - eine Flasche Wodka. Er mochte ihn, trank ab und an abends ein Gläschen. Dann faltete er die Hände und sah sich die Sachen an. Worauf wartete er? Auf den richtigen Zeitpunkt? Der war nun gekommen. Langsam griff er nach den Tablettenschachteln und befreite jede einzelne aus ihrem Kunststoffgefängnis. Das tat er so lang, bis er einen kleinen Haufen an Pillen vor sich auf dem Tisch angesammelt hatte. Das war wirklich eine beträchtliche Menge. Er starrte den Haufen noch eine Weile an, dann begann er, sich die Tabletten in die hohle Hand zu schaufeln und mit drei Schlucken hatte er insgesamt die ganze Menge weg. Natürlich geschah erst mal nichts. Er griff zum Alkohol und nahm ein paar Schlucke, der ekelhafte, bittere Nachgeschmack der Tabletten hatte sich wie ein Pelz auf seine Zunge gelegt. Dann wartete er. Nichts geschah. Moment. Sollte es nicht wenigstens ein bisschen wehtun? Wenn er ohnehin schon starb, dann wenigstens möglichst schmerzhaft. Man sollte ihm immerhin nicht nachsagen, er wäre feige abgetreten. Kai lachte plötzlich und es war ein schauriges Lachen, das gespenstisch in der stillen Wohnung widerhallte. "Scheiße, Mann", sagte er vor sich hin und griff zu der Rasierklinge. Naja, wer wusste es, vielleicht wurde er ja so den pelzigen Geschmack auf seiner Zunge los. Er öffnete den Mund und legte sich das Rasierblatt auf die Zunge, er spürte schon, wie es leicht einschnitt, das Blut schmeckte herrlich metallisch, dann griff er abermals nach der Flasche mit Alkohol. Immerhin musste er das Ding irgendwie hinunterwürgen. Er nahm ein paar tiefe Schlucke und spürte kaum, wie die Rasierklinge seine Kehle hinunter glitt. Nur einmal spürte er, dass sie wohl irgendwo festhängen musste, also trank er noch mehr, soviel, bis er etwa ein Viertel der Flasche geleert hatte, dann stellte er sie mit so einem heftigen Ruck ab, dass es klirrte, die Flasche schwankte und fiel schließlich um. Mit glasigem Blick und einem elendigen üblen Gefühl im Magen, nein, im ganzen Körper, beobachtete er, wie die klare Flüssigkeit sich langsam auf dem Tisch ausbreitete und auch auf den Boden floss. Er musste lächeln. Sie glitzerte. Das war irgendwie lustig. Plötzlich krampfte sich sein Magen so schmerzhaft zusammen, dass er leise aufschrie und er erbrach sich ein-, zweimal und es war nicht nur Magensäure, die er erbrach, er schmeckte Blut in seinem Mund und seine Speiseröhre brannte wie Feuer, es waren Schmerzen, wie er sie noch nie empfunden hatte. Es drehte sich schon alles, als er schließlich das Geräusch der Türklingel hörte, die sich in seinen Geist schlich. Irgendwie befremdlich. Das gehörte doch nicht hierher. Kai erhob sich, schwankend, stieß dabei noch irgendetwas von der Kommode im Flur, als er dagegen rempelte, dann sackte er kurz zu Boden und wäre einen Augenblick fast liegen geblieben, doch das Klingeln wollte einfach nicht aufhören. Wie er plötzlich zur Tür gekommen war, wusste er nicht, aber er wusste, dass er sie öffnen sollte, wenn auch nur, damit man ihn später fand. Was für ein unglaublich surrealer Gedanke. Und dann waren da plötzlich nur noch Schmerzen, Farben und unheimlich lautes Geschrei, das er nicht verstehen konnte, weil sich alles wie verzerrtes Dinosauriergebrüll anhörte ... Takao kam leicht angetrunken wieder nachhause. Schon bevor er die Wohnung betrat, hörte er die dumpfen Klänge eines Klaviers. Er bemühte sich, die Tür leise zu öffnen und ebenso leise wieder hinter sich zu schließen. Das klang nämlich unglaublich schön und er wollte Kai nicht unterbrechen. Auf leisen Sohlen schlich er sich durch den Flur zum Wohnzimmer. Das Klavier stand auf der linken Seite neben dem mittigen Fenster, auf das man blickte, wenn man in den Raum hinein kam und so bemerkte Kai ihn schlichtweg nicht, da er mit dem Rücken zu ihm saß. Wo er eine Zeit lauschte, erkannte er das Stück auch wieder. Es war die Mondscheinsonate - wer sie komponiert hatte, wusste er zwar nicht, aber er mochte sie recht gern, auch wenn er sonst nicht so der Mensch war, der sich für Klassik begeisterte. Dass Kai Klavier spielte, hatte er vollkommen vergessen. In der WG damals hatte er sich keines hineinstellen können, allein vom Platz her, aber Rei hatte mal gemeint, Kai ginge in ein Konservatorium, um regelmäßig üben zu können. Spielen hören hatte er ihn bisher also selten. Takao lehnte sich im Türrahmen an, der Boden knarzte manchmal so verräterisch, wenn man darüber lief. Dieses Stück war so unglaublich melancholisch und es unterstrich auf eine schmerzhafte Art und Weise Kais momentanen Zustand. Seine Verletzlichkeit. Dinge, die er ihm niemals unter die Nase reiben durfte, aber verdammt - war der Russe schon immer so schmal gewesen? Wenn er ihn sich so von hinten betrachtete, wirkte er fast schon zierlich. Wobei es knochig vielleicht wohl eher traf, denn abgenommen hatte er, die Schultern hatten zuvor nie so herausgestochen. Takao widerstand dem Impuls, jetzt zu ihm zu gehen und ihm einen Kuss auf die Schläfe zu hauchen, sondern wartete in aller Seelenruhe, bis Kai geendet hatte. Dieser hatte gerade mit dem dritten Satz begonnen, allerdings war da plötzlich ein Misston herauszuhören und mit einem lauten "Scheiße!" ließ Kai die Hände so heftig auf die Tasten krachen, dass selbige einen lauten, unmelodiösen Ton herausbrachten und Takao regelrecht zusammenzuckte, da mit so einem Ausbruch absolut nicht zu rechnen gewesen war. "Das funktioniert so einfach nicht!" Takao räusperte sich und Kai fuhr zusammen, wie von einer Biene gestochen. "Also ich fand es sehr schön, weiß gar nicht, was du hast ..." Wieso wirkte Kai plötzlich so wütend? "Dich hat aber niemand nach deiner Meinung gefragt! Wie lang stehst du da überhaupt schon?", fauchte der Russe ungehalten und knallte den Klavierdeckel sehr unsanft hinunter, nur um kurz darauf aufzuspringen und an Takao vorbei in die Küche zu stapfen. Dieser folgte ihm zuerst mit dem Blick, nur um ihm dann zögerlich hinterherzukommen. "Hey, ich hab dir nur ein Kompliment gemacht", meinte er dann leicht missgestimmt und beobachtete dann, wie Kai in irgendwelchen Schubladen herumwühlte. Seine Augenbrauen zogen sich in die Höhe, als er sah, wie selbiger ein Feuerzeug und ein leicht zerknautschtes Päckchen Gauloises Blondes Red zu Tage förderte, nur um dann das Fenster zu öffnen und sich eine anzustecken. "Du rauchst?" Kai starrte aus dem Fenster. "Problem damit?" Takao sagte nichts, sondern kam langsam zu Kai, um sich ebenfalls gegen das Sims zu lehnen. Eine Weile sagten sie beide nichts, Kais Blick war stur in die Ferne gerichtet. "Krieg ich eine?", meinte Takao dann und schnappte sich frecherweise, ohne eine Antwort abzuwarten, das Päckchen und das Feuerzeug, um sich ebenso eine anzuzünden. "Das ist ungesund", sagte Kai und Takao ließ ein schnaubendes Lachen hören. "Das sagst ausgerechnet du, oder was?" "Mein Körper ist sowieso schon kaputt genug", entgegnete der Russe ungerührt und blies weißen Rauch aus. "Hör auf, dauernd sowas zu sagen, man könnte ja meinen, du machst dich absichtlich kaputt." "Das könnte man vielleicht." Takao seufzte gediegen auf und schob sich sein Käppi tiefer ins Gesicht, wobei er sich an den Fensterrahmen lehnte. "Du könntest es mir aber auch leichter machen und mir sagen, was zum Geier an dem einen verspielten Ton jetzt so schlimm war", brachte er es auf den Punkt, "Hilf mir doch einfach, dich besser zu verstehen." Kai ließ ein abfälliges Geräusch hören. "Du hast ja keine Vorstellung..." "Von was?" "Von gar nichts." "So kommen wir nicht weiter, Mann." "Du bist nicht mein Psychologe." "Nein, ich bin viel schlimmer, ich weiß." Kai schielte zur Seite und sah direkt in Takaos frech grinsendes Gesicht. "Du nervst mich doch jetzt mit Absicht", sagte er und konnte sich ein ganz leises Schmunzeln nicht verkneifen. "Na, freilich, was hast du denn gedacht - AH, ertappt!", sagte er plötzlich und stützte sich mit den Händen auf dem Sims auf, war ihm dabei näher gekommen und nur noch wenig von seinem Gesicht entfernt, wobei er ihn eindringlich musterte. "Ich habs genau gesehen, das war der Ansatz eines Lächelns! Streite es nicht ab, leugnen ist zwecklos!" Kais Mundwinkel zuckten abermals, dann sah er schnell zur Seite, um diesem Drang nicht doch nachzugeben. "Du bist so ein Vollidiot", brummte er nur und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, um Takao den Qualm dann im nächsten Moment mitten ins Gesicht zu pusten. Selbiger blieb völlig ungerührt, er kniff nicht mal die Augen zusammen. Und dann konnte er absolut nicht mehr widerstehen und legte seine Lippen auf Kais und, oh Gott, wie verdammt gut sich das anfühlte ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)