Nie erzählt von Flordelis ================================================================================ Von einer Jungfrau in Nöten --------------------------- Es behagte Maryl offensichtlich gar nicht, sich in einer derart vollen Taverne niedergelassen zu haben. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, schlang ganz unprinzessinnenhaft ihr Essen hinunter und wartete mit unverhohlener Ungeduld, dass auch Russel endlich fertig wurde. Er störte sich allerdings nicht im Mindesten an dem Lärm der anderen Gäste und den Ellenbogenhieben, die er hin und wieder im Gedränge abbekam. In aller Seelenruhe aß er weiter, so langsam und von der Außenwelt unbekümmert als würde er nicht einmal etwas davon bemerken. Seine Ruhe fachte Maryls Ungeduld noch weiter an, so dass sie ihn anzischte, er möge sich endlich beeilen – aber das ging im allgemeinen Lärm unter, was ein Grund für Russel war, so lange wie möglich zu verweilen. Immerhin hörte er sie hier nicht und musste nicht ihre schlechte Laune ertragen, abgesehen von ihrem Gesichtsausdruck, aber dem entging er äußerst gut, indem er sich einfach auf sein Essen konzentrierte, das er genüsslich verspeiste. Es war lediglich ein einfacher Eintopf, aber selbst dieser erschien ihm nach all den Rationen getrockneten Fleischs und dünner Suppe, die sie unterwegs irgendwie hinbekommen hatten, wie ein Essen im Paradies – wenngleich dort nicht gegessen wurde, wie er wusste. Aber es gab noch einen wichtigen Grund, wegen dem er unbedingt bleiben wollte, zumindest noch für eine Weile. In einer Ecke der Taverne hatte er bereits beim Hereinkommen einen alten Mann ausgemacht, der dort bedächtig seine Pfeife rauchte, wenn er nicht gerade wieder einen Schluck aus dem Krug neben sich nahm. Er kannte diesen Mann und der hatte ihn auch erkannt, wie ihm an dem Blick des Alten aufgefallen war. Seit ihrer letzten Begegnung war zwar viel Zeit vergangen, aber es schien als wäre diese für keine der beiden Männer von Bedeutung, sahen sie doch noch genauso aus wie bei ihrem letzten Treffen. Nein, Russel wollte nicht mit ihm sprechen, er wollte nur hören, welche Geschichte er an diesem Abend in der Taverne erzählen würde, immerhin war dies sozusagen sein Beruf – er war Geschichtenerzähler und das zur Abwechslung sogar nicht von irgendwelchen uralten finsteren Legenden, denen zufälligerweise der Auserwählte zuhörte, ohne zu wissen, dass über ihn gesprochen wurde, sondern von Geschichten, die keine tiefere Bedeutung für die Zukunft besaßen. Hauptsächlich Geschichten über Russel nämlich. Als Hauptfigur aller Erzählungen war er natürlich interessiert, welche Geschichte der Alte an diesem Abend zum Besten bringen würde und wollte sie um nichts in der Welt versäumen, weswegen er auch Maryls Tritte ignorierte, die ihm zusätzlich zu verstehen geben sollte, dass es besser für ihn wäre, sich zu beeilen. Glücklicherweise – sein Teller leerte sich langsam aber sicher – winkte der Alte schließlich alle ein wenig näher zu sich und verkündete mit überraschend fester und lauter Stimme, dass er nun eine weitere Geschichte erzählen würde, was schlagartig alle Anwesenden verstummen ließ. Außer Maryl, die genervt seufzend mit den Augen rollte und dafür einige abfällige Blicke erntete. Der Alte nahm noch einen Schluck aus seinem Krug und räusperte sich, ehe er die Geschichte begann: Es begab sich, vor gar nicht allzulanger Zeit, dass ein Königreich unter einer verheerenden Dürre zu leiden hatte. Kein Tropfen Regen war in diesem Jahr gefallen, der einstmals stolze Fluss war zu einem jämmerlichen Rinnsal geschmolzen, die Ernte drohte auf dem Feld zu verdorren. Um dem drohenden Hungertod zu umgehen, beschloss der König die schönste Jungfrau des Reiches als Opfer für die Götter zu bringen – und die Wahl fiel auf seine einzige Tochter. Mit ihrem langen goldenen Haar, das selbst jeglichen Schmuck verblassen ließ und den tiefblauen Augen, die klarer als der Himmel selbst schienen, sowie ihrer eleganten Figur auf die selbst Porzellanpuppen neidisch waren, wurde sie als das ideale Opfer auserkoren. Trotz der vielen Tränen, die sie und ihr Vater ob dieser Entscheidung weinten, wurde sie am Tag des Rituals zum Opferschrein geführt und dort auf dem Altar festgebunden. Doch – wie das Schicksal so spielte – befand sich zur selben Zeit auch eine Gruppe von Helden in der Nähe. Es waren nicht nur der tapfere Beschwörer Ashton und seine Leibwächter Lionet und Garasu, sondern auch der sagenumwobene Windgott Levante, der vom Himmel herabgestiegen war, um diese Grausamkeit zu unterbinden. Russel konnte sein Grinsen nicht verbergen, als die Sprache auf ihn fiel, nicht einmal, als Maryl ihm einen wütenden Blick zuwarf, der ihm sagte, dass sie nun endlich verstanden hatte. Er würde mit Sicherheit noch einiges an Ärger für seine Verzögerungstaktik bekommen, aber im Moment störte ihn dieser Gedanke nicht. Viel wichtiger war für ihn, wie die Geschichte laut dem Alten weiterging. Mit Sicherheit ganz anders als es in Wirklichkeit geschehen war, deswegen lauschte er weiter aufmerksam. Mit entschlossenen Schritten trat Levante auf den Opferschrein zu, wo er ohne jedes Wort die Fesseln der Prinzessin löste. „Lebe“, sprach er zu ihr und bedeutete ihr, dass sie diesen Ort verlassen sollte. Sie tat, wie er ihr befahl, so dass er und seine Kameraden sich den Priestern zuwenden konnten, die das Ritual hatten durchführen wollen. „Kein Gott wünscht euer Blutopfer. Alles, was wir wollen, ist euer Glaube an uns, denn dieser erhält uns am Leben und nur so sind wir in der Lage, euer Königreich dem verdienten Wohlstand angedeihen zu lassen.“ Kaum sprach er diese Worte, fegte ein Sturm durch das Land. Doch er brachte keine Verwüstung, sondern füllte den Fluss, wässerte die Erde und ließ die auf den Äckern verstreute Saat keimen und im Nu gedeihen. Als die Anwesenden Zeuge dieser göttlichen Gnade wurden, fielen sie allesamt vor Levante in den Staub und schworen, nie wieder an ihren Göttern zu zweifeln und nie wieder Opfer zu bringen. Zufrieden mit diesem Glaubensbekenntnis, verließ Levante mit seinen ihn bewundernden Kameraden den Schauplatz – und traf noch einmal auf die Prinzessin, die fest entschlossen war, ihren Retter zu ehelichen, wie es der königliche Brauch vorsah. Doch er erwiderte: „Ich bin ein Gott, mich gelüstet es nicht nach irdischen Sünden, geschweigedenn Frauen. Lebe dein Leben, mit meinem Segen, aber ohne mich.“ So ließ er die enttäuschte Prinzessin zurück und- Mehr bekam Russel von der Geschichte nicht mit. Maryl zerrte ihn bereits mit aller Macht nach draußen und ließ ihn erst wieder los, als sie einige Schritte von der Taverne entfernt waren. Er richtete seine Kleidung und blickte Maryl an, als sie leise zu knurren begann. „Ist diese Geschichte etwa wahr?“ „Nicht ganz“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Er hat maßlos bei dem Aussehen der Prinzessin übertrieben, so wie bei meiner Retterrolle – immerhin stand ich eigentlich nur daneben und hab Garasu alles machen lassen – und er hat die Frau in der Gruppe vergessen. Wahrscheinlich, weil er sie schon damals nicht gemocht hat.“ Mit einem Schmunzeln erinnerte er sich daran, dass Miku dem Alten nur zu gern ihren Stab über den Kopf gezogen hatte, wann immer er auch nur den Mund aufmachte, um sie wieder einmal zu kritisieren. Die Unsympathie war eindeutig gegenseitig gewesen, aber in seiner Erinnerung fehlte das Stück, wieso eigentlich, da er bei der ersten Begegnung der beiden nicht anwesend gewesen war. Ungeachtet einer möglichen Faltenbildung, vor der sie sich früher stets gesorgt hatte, runzelte Maryl die Stirn. „Wie hat sie denn wirklich ausgesehen?“ Glücklicherweise musste er sich diese Prinzessin nicht erst ins Gedächtnis rufen. Nach ihrer Rettung war sie ein Teil der Gruppe geworden und daher lange genug in seiner Nähe gewesen, so dass er sie schon seit Beginn der Erzählung wieder vor seinem inneren Auge sah. „Gut, ihre Figur war wirklich astrein, da kann man nichts sagen, nur der Spruch mit den eifersüchtigen Porzellanpuppen war doch ein wenig zuviel gewesen.“ Von der Prinzessin war der Alte fasziniert gewesen, das wusste Russel noch ganz genau und zu ihr war er auch wesentlich höflicher als zu Miku gewesen. Der Standesunterschied war aber nicht dafür verantwortlich gewesen, da war sich Russel sicher, so war der Alte einfach nicht. „Ihre Augen waren auch wirklich faszinierend, wenn sie nicht gerade wütend war.“ Dann waren sie nämlich so tiefblau geworden, dass es aussah als würde ein Gewitter darin aufziehen und so manches Mal hätte er schwören können, kleine Blitze in ihrer Iris zu sehen. „Aber ihr Haar war weder goldfarben noch lang. Es war strohblond, reichte ihr bis zu den Schultern und die abstehenden Spitzen waren schwarz.“ Seine Beschreibung sorgte nicht dafür, dass sie glücklicher war, stattdessen schien sich ihr Stirnrunzeln sogar noch einmal zu verstärken. „Ist das so?“ „Ja. Eigentlich war sie 'ne echt gute Partie – sie hatte nur absolut keinen Humor.“ Zumindest hatte sie nie über seine einfallsreichen Ausreden gelacht, wenn sie ihn wieder einmal unweit ihres Bads erwischt hatte. „Und sie war undankbar. Einmal wurde sie vergiftet und ich bin sogar extra in eine andere Welt gereist, um das Gegenmittel zu besorgen und sie war trotzdem noch sauer auf mich. Dabei habe ich sie vorher noch extra vor dem Gift gewarnt und ihr trotzdem geholfen, obwohl sie nicht auf mich hören wollte.“ Er bemerkte gar nicht, dass Maryl immer wütender zu werden schien, je mehr er erzählte und darüber berichtete, dass er einmal sogar beinahe gestorben wäre, um sie vor einem riesigen Tier zu retten. „Im Endeffekt war sie wohl doch mehr an Garasu interessiert als an mir und- Au!“ Er hielt sich den schmerzenden Hinterkopf und sah Maryl wieder an. „Was sollte das denn?!“ Sie dachte allerdings nicht daran, den Blick zu erwidern und wandte eingeschnappt den Kopf ab. „Das hast du davon, wenn du so von anderen Frauen schwärmst!“ „Ich habe nicht geschwärmt“, wehrte er empört ab. „Das würde sich ganz anders anhören.“ Doch gerade als er ausholen wollte, um das zu demonstrieren, bekam er einen erneuten Schlag von ihr gegen den Hinterkopf. „Spar dir das! Es interessiert mich nicht!“ „Warum bist du eigentlich so sauer?“ Er bereute die Frage bereits, kaum dass er sie ausgesprochen hatte und nahm unwillkürlich eine leicht geduckte Haltung ein. Doch statt ihn noch einmal zu schlagen oder ihm überhaupt eine Antwort zu geben, beschleunigten sie ihre Schritte, damit sie nicht mehr neben ihm herlaufen musste, dabei murmelte sie einige Verwünschungen vor sich her, die er nur hören konnte, da der Wind ihre Stimme an sein Ohr trug. Sein genervtes Seufzen allerdings blieb für sie ungehört, was sein Glück war. Ich werde nie wieder mit einer Freundin reisen, von der ich mich getrennt habe. Die Prinzessin mit dem Messer ----------------------------- Die Pferde schnaubten leise, als sie den Gefängniswagen an ihm vorbeizogen. Im Normalfall kümmerte ihn so etwas nicht weiter, auch wenn er wusste, dass es eigentlich seine Pflicht sein müsste, den darin Eingesperrten zu helfen, immerhin wurden darin keine Straftäter transportiert, sondern Entführte. Er sollte also helfen, aber er bevorzugte es, keine wie auch immer geartete Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber bei diesem Wagen war das anders. Noch als er ihm hinterhersah und er sich rasch aus seinem Blickfeld zu entfernen versuchte, spürte er diesen Hauch von göttlicher Energie. Nicht genug, um ihm zu verraten, wer sich im Wagen befand und schon längst nicht genug, um wirklich von einem Gott zu stammen, aber er wusste genau, dass er das nicht einfach ignorieren dürfte. Notgedrungen folgte er dem Wagen also und wie zu erwarten gewesen war, wurden die beiden Begleiter des Gefährts rasch auf ihn aufmerksam. „Verzieh dich!“, schnauzte einer von ihnen den Verfolger an, doch dieser ließ sich nicht beeindrucken. „Was transportiert ihr da?“, wollte er stattdessen wissen. „Geht dich nichts an!“ Die schlechte Laune beider Begleiter war geradezu greifbar, doch er konnte und wollte nicht einfach aufgeben, gerade jetzt nicht. Wenn einem deutlich Interessierten gegenüber so viel Geheimhaltung an den Tag gelegt wurde, musste das bedeuten, dass die gefangene Person nicht für den Sklavenmarkt bestimmt war. Stattdessen roch das eher nach einem Kidnapping. So nah am Wagen spürte er außerdem eine Woge von Emotion von der Person darin und zu seiner Überraschung war es eher Ärger als Angst, was ihn darin bekräftigte, dass man nicht gedachte, den Gefangenen zu verkaufen, sondern eher einzutauschen – und als ihm der Gedanke kam, wer jemanden mit einer solchen Aura tatsächlich haben wollen würde, verflog auch noch der letzte Rest seiner Zurückhaltung. In einer einzigen Bewegung zog er sein Schwert und ließ einen der Begleiter seines mitsamt Hand verlieren. Der andere war offenbar noch so sehr überrascht, dass er nicht mehr reagieren konnte und im nächsten Moment schmerzhaft zu Boden gestoßen wurde. Stöhnend und mit – wie der Retter in spe vermutete – gebrochener Rippe, blieb er neben seinem klagenden Kumpan liegen, der seiner Hand nachtrauerte. Die Pferde, die den Wagen zogen, liefen immer noch unbeeindruckt weiter, so dass er diesen erst einmal wieder einholen musste, um die Tiere dazu zu bewegen, anzuhalten, damit er die gefangene Person freilassen könnte. Mit Sicherheit wäre die Person überglücklich, würde sich in ellenlange Dankesreden verlieren und ihm nie wieder von der Seite weichen, zumindest malte er sich das aus, während er noch mit dem Schloss beschäftigt war, das sich erstaunlich wehrhaft gegen seine Magie zeigte. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, war das, was tatsächlich geschah, als die Tür endlich aufsprang: Er warf gerade einen ersten Blick in die Dunkelheit hinein, als er plötzlich eine Bewegung registrierte und noch ehe er reagieren konnte, nicht nur der gefangenen Person gegenüberstand, sondern auch gleich das kalte Metall einer Waffe an seinem Hals spürte. Die Person vor ihm war eine Frau und er kannte sie eindeutig nicht – aber die göttliche Energie, die sie umgab, war deutlich spürbar, wenngleich er immer noch nicht wusste, woher das rührte. Langsam, um ihr keinen Grund zu geben, das Messer richtig zum Einsatz zu bringen, hob er seine Hände. „He, i-ich tu dir nichts.“ Ihre blauen Augen verfinsterten sich augenblicklich, als sie die Stirn runzelte. „Du gehörst nicht zu denen, oder?“ Mit einer kaum merkbaren Bewegung deutete er zu den klagenden Banditen hinüber. Sie entspannte sich ein wenig, als sie das bemerkte, blickte ihn aber wieder misstrauisch an. „Und woher soll ich wissen, dass du nicht auch nur ein Schurke bist?“ „Ich wäre ein sehr dummer Schurke, dich einfach herauszulassen, statt bis zu meinem Versteck zu warten, meinst du nicht?“ „Vielleicht besitzt du ja keines“, erwiderte sie darauf. Eine Strähne ihres blonden Haares fiel in ihre Stirn und durch das Zucken ihrer linken Hand, war er sich sicher, dass sie diese am Liebsten weggewischt hätte, sich aber vor ihm keine derartige Blöße geben wollte. „Ein Schurke, der kein Versteck besitzt, ist kein richtiger Schurke“, konterte er. Nach diesen Worten schien sie verunsichert, wenngleich das Stirnrunzeln nicht schwand, aber immerhin ließ sie endlich das Messer sinken und verließ den Wagen. Sie versuchte sich umzusehen, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen, was ihr wohl nicht sonderlich gut gelang, denn sie fuhr immer wieder ruckartig zu ihm herum, wenn ihr bewusst wurde, dass sie sich zu lange abgewendet hatte. „Haben die Kerle dich entführt?“, fragte er und fuhr direkt fort, als sie wortlos nickte: „Dann bist du wohl eine Berühmtheit, was?“ Sie warf ihm einen hochmütigen Blick zu. „Wenn du mich nicht erkennst, werde ich wohl kaum sonderlich berühmt sein. Aber andererseits kann ja nicht jeder Streuner die Prinzessin von Drakani kennen.“ Sie legte den Kopf ein wenig in den Nacken, um sich überheblich erscheinen zu lassen, aber er hatte eher das Gefühl, dass sie damit zu verschleiern versuchte, dass sie eine bestimmte Reaktion von ihm erwartete. „Drakani, hm? Du bist ziemlich weit weg von daheim in diesem Fall.“ Sie verzog ihr Gesicht für einen Moment. „Das habe ich befürchtet.“ „Ich kann dich hinbringen, wenn du willst.“ Tatsächlich ließ sein großzügiges Angebot sie stutzen und ihn verwirrt mustern. „Und was willst du dafür?“ „Nichts.“ Es gab ohnehin nichts, was sie ihm anbieten könnte. Geld benötigte er keines, von Prinzessinnen, die Messer mit sich herumschleppten, ließ er besser die Finger und auch sonst fiel ihm absolut nichts ein, was er haben können wollte. Aber er konnte sie nicht einfach allein heimreisen lassen – und außerdem erhoffte er sich immer noch, herauszufinden, warum sie mit dieser Energie umgeben war. Auf den ersten Blick würde er sagen, dass sie keinerlei Reinkarnation war. Zwar wusste er, dass der jetzige Kaiser tatsächlich eine Wiedergeburt eines verstorbenen Gottes war und Familienmitgliedern oftmals ebenfalls ein Teil deren machtvoller Aura anhaftete, aber ihre Energie ließ sich damit nicht erklären, dafür waren sie beide zu verschieden. Die Aura des Kaisers war edel und elektrisierend, entsprechend seines Elements, aber ihre war ungestüm, kalt und... eifersüchtig. Möglicherweise war es gar nicht ihre eigene Energie, von der sie da umgeben war, aber das würde er nur herausfinden, wenn er weiter Zeit ihr verbringen würde. Seine Antwort allerdings, sorgte nicht dafür, dass sie in Begeisterungsstürme ausbrach. Stattdessen verzog sie ihr Gesicht. „Klar. Als ob jemand nichts dafür verlangen würde, eine Prinzessin wieder nach Hause zu bringen.“ Er breitete die Arme aus und zuckte dabei mit den Schultern. „Du hast mein Angebot. Nimm es oder lass es. Kennst du dich denn in der Gegend aus, dass du allein nach Hause findest?“ Er konnte es sich leisten, zu bluffen, denn er wusste genau, dass sie nicht einmal einen blassen Schimmer davon hatte, wo sie sich im Moment überhaupt befand. Nach einem weiteren verunsicherten Blick umher, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn und schnaubte wütend. „Fein, du darfst mich begleiten. Aber ich warne dich, eine falsche Bewegung und du kannst was erleben.“ Sie hob drohend ihr Messer, worauf er wieder einen Schritt zurücktrat. „Nur keine Sorge, Prinzessin. Man sagt mir vieles nach, aber ich bin nicht lebensmüde.“ Nach einem weiteren skeptischen Mustern gab sie sich damit zufrieden und steckte die Waffe wieder weg. Dabei wandte sie allerdings nicht den Blick von ihm ab als fürchtete sie, er würde gleich im nächsten Moment über sie herfallen. „Langsam wäre eine Vorstellung angebracht. Ich bin Russel.“ Er hielt ihr die Hand entgegen, während sie abwehrend die Arme vor der Brust verschränkte. „Ich kann dich auch die ganze Reise – die im Übrigen sehr lang ist – über einfach mit He du ansprechen, wenn dir das gefällt.“ Offenbar tat es das nicht, denn sie seufzte leise. „Seline.“ „Freut mich.“ Nur widerwillig ergriff sie die Hand, die er ihr immer noch entgegenstreckte und sie zuckte auch sofort zurück, als ihre Aura auf seine traf. „Noch ein Gott, was habe ich doch für ein Glück.“ Missmutig wartete sie auf seine Erwiderung, möglicherweise eine Frage danach, weswegen sie so dachte, aber er spürte an ihrer angespannten Haltung, dass sie ohnehin nicht antworten würde, also beließ er es bei dieser Andeutung. „Dann kommt, wir müssen hier lang.“ Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, als er in eine andere Richtung zu laufen begann. Sie schien noch einmal zu zögern, da er ihre Schritte hinter sich nicht hören konnte, doch dann schloss sie hastig zu ihm auf. Wieder blickte sie ihn skeptisch, wenngleich diesmal von der Seite her an. „Du kannst mich doch beschützen, wenn etwas passiert, oder?“ „Aber mit Sicherheit“, antwortete er selbstbewusst. „Vor allem, was auch nur daran denkt, Euch zu schaden, Prinzessin.“ Warum, wusste er nicht, aber diese Worte schienen eine Wandlung in ihrem Inneren anzustoßen, denn im nächsten Moment wurden ihre Gesichtszüge bereits ein wenig weicher. „Ich kann mich darauf verlassen, ja?“ Aufgrund ihres Nachhakens wurde für ihn ersichtlich, dass sie schlimmere Probleme als nur solche Banditen hatte. Der Gedanke, dass diese Aura um sie herum auch eine Feindschaft mit einem Gott oder einer Reinkarnation eines solchen bedeuten könnte, erschien ihm plötzlich gar nicht abwegig. Das änderte allerdings nichts an seiner Motivation, ihr helfen zu wollen, immerhin würde auch so etwas ihn näher an diesen Gott bringen. „Aber natürlich.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu und stellte erfreut fest, dass sie es erwiderte. So sah sie sogar richtig hübsch aus. Vielleicht sollte er sich seinen Vorsatz, sich Prinzessinnen mit Waffen nicht zu nähern, noch einmal überdenken. Vorerst aber würde er versuchen, mehr über sie und diese seltsame Aura herauszufinden, es war immerhin besser, auf Nummer sicher zu gehen. Aber zumindest an diesem Tag wollte er damit noch nicht anfangen, stattdessen begann er, Experte wie er darin ist, mit einem Smalltalk, der sie weiter entspannen sollte. Wie er ihr gesagt hatte, die Reise würde lang werden, da konnte er sich Zeit lassen – und in diesem Moment wusste er noch nicht, wie lang sie wirklich werden würde. Adam und Eve ------------ Rufus wusste nicht, wie sie das schaffte, aber Sophia gelang es immer wieder, ihn zu überraschen, selbst mit den einfachsten Gesten. An diesem Tag beobachtete er sie dabei, wie sie mit einem gekonnt bemessenen Hüftschwung die Autotür perfekt zufallen ließ. Die Tür fiel sanft ins Schloss, ohne dabei ein viel zu lautes Geräusch zu verursachen. Als sie seinen Blick bemerkte, fuhr sie sich schmunzelnd durch das dunkelbraune gelockte Haar. „Gut, oder? Ich weiß doch, dass du dir bei Mietwagen immer Sorgen darum machst, dass jemand den Lack zerkratzt.“ „Das basiert auf Erfahrungswerten“, brummte er ein wenig verlegen und wandte den Blick wieder ab. „Ich verdiene bei Weitem nicht genug Geld, um dauernd Schäden an Mietwägen zu bezahlen.“ Lachend legte sie die Fingerspitzen aneinander. „Das kommt davon, weil du deine Schützlinge immer persönlich abholen willst. Du solltest sie dir wirklich bringen lassen.“ Er antwortete darauf nicht, aber ihr Gesicht verfinsterte sich bereits, als sie den Blick schweifen ließ. Er wusste, weswegen sie die Stirn runzelte und was sie sagen wollte. Diese Steppe, in der sich nur die spärlichste Vegetation durchzusetzen schaffte und in der weit und breit kein anderes Gebäude als dieses bedrohliche Haus direkt vor ihnen zu sehen war, bildete mit Sicherheit nicht die ideale Grundlage für eine interessante oder schöne Kindheit. „Wollen wir nicht alle Kinder mitnehmen, Rufus? Ich glaube, es würde mir Leid tun, sie hier zurückzulassen.“ „Ich befürchte, wir besitzen nicht die erforderlichen Kapazitäten“, erwiderte er. „Und du kannst außerdem nicht leugnen, dass viele Rekruten des Peligro Waisenhauses außergewöhnliche Kämpfer geworden sind.“ Ihre grauen Augen durchbohrten ihn geradezu, nachdem er das gesagt hatte, aber es folgten keine Widerworte, immerhin wusste sie um den Wahrheitsgehalt dieser Aussage, auch wenn es ihr nicht im Mindesten gefiel. „Gehen wir rein und bringen es hinter uns.“ Rufus nickte zustimmend und ging gemeinsam mit ihr auf das hölzerne Portal zu, das alles andere als einladend wirkte. Ehe er klopfte, strich er sich noch einmal durch das rote Haar, um sicherzugehen, dass es auch so saß wie es sollte. Er war noch nicht sehr lange Direktor an der Lanchest Akademie und manchmal erwischte er sich selbst bei dem Gedanken, dass er nicht im Mindesten wie ein solcher wirkte und deswegen nicht ernstgenommen werden konnte. Wann immer er diesen Gedanken aber mit Sophia teilte – sie war schon seit Jahren Erzieherin an der Akademie und da sie älter war als er, agierte sie selbst für ihn manchmal noch als Mutterfigur – lachte sie nur und erwiderte, dass er auf seine Art genau richtig war. Anfangs hatte ihn das beruhigt, aber inzwischen war er sich nicht mehr so sicher, ob er das wirklich positiv aufnehmen sollte. Wenn er diese Bedenken dann mit seiner Frau teilte, tätschelte diese nur seinen Kopf und kümmerte sich um andere Dinge. Selbst als verheirateter Mann waren Frauen ihm einfach ein Rätsel. Auf sein Klopfen, das er während seines Nachgrübelns inzwischen durchgeführt hatte, folgte lange Zeit nur Stille. Er wollte gerade noch einmal klopfen, als die Tür hastig aufgerissen wurde. Verdutzt und mit noch immer erhobener Hand, blickte er die junge Frau an, die schwer atmend im Türrahmen lehnte. Offenbar hatte sie sich so sehr beeilt, dass selbst einige Strähnen ihres hochgesteckten rosa Haars sich aus der Frisur gelöst hatten. Sie entschuldigte sich schwer atmend für die Verspätung. „Ich war... in einem anderen... Stockwerk...“ „Uhm, schon gut“, erwiderte Rufus darauf. „Ich wollte nichts deswegen sagen.“ Hastig stellte sie sich aufrecht hin und begegnete beiden Besuchern mit einem begrüßenden Lächeln. „Willkommen im Peligro Waisenhaus! Mein Name ist Eve, ich bin... so eine Art Assistentin und Sekretärin hier. Wie kann ich helfen?“ Für Rufus wirkte sie viel zu jung, um als Assistentin zu arbeiten, sie war höchstens 16 oder 17, kam es ihm vor, möglicherweise sogar ein wenig jünger. Vielleicht war dies Teil eines speziellen Programms, das den Kindern beibringen sollte, Verantwortung zu übernehmen, fuhr es ihm dann durch den Kopf, weswegen er nicht weiter nachhakte. „Mein Name ist Rufus Chandler, das hier ist Sophia Chase. Wir kommen von der Lanchest Akademie und sind hier, um-“ Sie ließ ihn den Satz nicht beenden, sondern strahlte regelrecht. „Ah, ihr kommt, um den kleinen Ray abzuholen.“ Rufus nickte zustimmend. „Ja, genau.“ Er erinnerte sich noch, als er die Akte dieses kleinen Ray das erste Mal in die Hand bekommen hatte. Er war nur einen Monat jünger als sein eigener Sohn Joel, weswegen er sich dem Jungen sofort verbunden gefühlt hatte, allerdings war er doch sehr verwundert gewesen, dass ein Heim einen Rekruten mit derart viel Potential loswerden wollte, besonders in dem noch einflussbereiten Alter von neun Jahren. Zumindest war es ihm so vorgekommen, als er die Offerte bekommen hatte, ihn als Schüler zu übernehmen. Allerdings hatte er nicht weiter gezögert, auch wenn er das wohl hätte tun müssen, wenn man schon ein solch perfektes Angebot bekam. Aber ausnahmsweise war er entschlossen gewesen, seinem Bauchgefühl zu vertrauen. „Ich bringe euch zu ihm. Folgen Sie mir bitte.“ Sie fuhr herum und ging eilig los. Die beiden folgten ihr sofort. Durch die fehlenden Fenster im Erdgeschoss herrschte Finsternis im Korridor, aber die Türen waren dennoch gut zu erkennen. Aufgrund des dunklen Holzes wirkten sie in dem ansonsten hell tapezierten Flur wie schwarze Löcher, in denen sich Schatten verborgen hielten, die nur darauf warteten, sich jemanden zu greifen, der dumm genug war, sich ihnen zu nähern. Rufus schauderte unwillkürlich, als er an den letzten Horrorfilm zurückdachte, den er sich gemeinsam mit seiner Frau angesehen hatte. Sie war nicht sonderlich zimperlich, was das anging und interessierte sich für alle möglichen Filme dieses Genres, was er nie verstanden hatte. Aber oft tat er ihr dennoch den Gefallen, sich so etwas mit ihr anzusehen, nur um dann eine ganze Nacht nicht schlafen zu können. Lächerlich. Ich war selbst einmal Söldner, ich sollte mich vor so etwas nicht fürchten. Aber es war eben doch ein Unterschied, ob man sich selbst in einer unheimlichen Situation befand, in der man agieren konnte oder ob man tatenlos zusehen musste, wie einige Darsteller in ihr sicheres Verderben rannten. Eine hölzerne Treppe am Ende des Ganges führte nach oben, doch das durch die oberen Fenster einfallende Licht, schaffte es nicht, das Erdgeschoss ausreichend zu erhellen. Immerhin genügte es aber, dass er auf einer der beiden Türen gegenüber der Treppe ein Schild erkennen konnte, das verriet, dass es sich hierbei um das Büro des Direktors handelte. Doch Eve steuerte nicht darauf zu, sondern führte sie die Treppe hinauf in den ersten Stock. Das ganze Haus war von Stille durchzogen, was Rufus ein wenig ungewöhnlich vorkam. „Uhm, Miss Eve?“, begann er und wartete darauf, dass sie sich ihm zuwandte. „Wie kommt es, dass es so ruhig ist?“ In den Quartieren der Lanchest Akademie, in denen die jüngsten Rekruten untergebracht waren, herrschte immer Radau, selbst nachts, wenn eigentlich alle schlafen sollten; irgendeine Schlafsaalgruppe war immer wach und sorgte dafür, dass man nicht vergaß, dass sie da waren. „Unsere Schüler sind sehr diszipliniert und im Moment ist Unterricht“, antwortete sie, wirkte dabei aber zum ersten Mal während des Gesprächs nicht sonderlich... glücklich. Für den Bruchteil einer Sekunde war sogar ihr Lächeln verschwunden, doch es kehrte sofort zurück, als sie auf eine Tür zutrat und diese nach einem kurzen Klopfen öffnete. Nein, es kehrte nicht nur zurück, es wurde sogar ein ganzes Stück herzlicher. Der Raum in den sie traten, war eindeutig ein Klassenzimmer, so viel konnte Rufus auf den ersten Blick sagen, aber es wirkte traurig. Lediglich einer der hölzernen und altertümlichen Tische war besetzt und zwar von einem Jungen mit rotem Haar, dessen Färbung eindeutig an Rost denken ließ. Es war der Junge von dem Bild, das der Akte beigelegt worden war, es war Raymond. Allerdings war er so sehr in die vor ihm liegende Aufgabe vertieft, dass er nicht einmal den Blick hob, als Eve ihn grüßte. Im Gegensatz zu dem Mann, der neben dem Tisch kniete. Er stand sogar auf, als die junge Frau ihn ansprach. „He, Adam, seid ihr fertig?“ Der Mann lächelte müde. „Hast du etwa gezweifelt?“ Eve deutete auf die beiden Besucher. „Mr. Chandler und Ms. Chase sind gekommen, um den kleinen Ray abzuholen.“ Adams wässrige blaue Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Das war heute? Ich dachte, sie würden erst morgen kommen.“ „Oh je, du und deine Unfähigkeit, dir Daten zu merken.“ Eve seufzte theatralisch. „Was denkst du, warum Ray und ich gestern schon gepackt haben?“ Raymond hob nun tatsächlich ebenfalls den Kopf. „Er dachte, du würdest nur auf übertriebene Art und Weise sichergehen wollen. Denn Vorsicht ist ja die Mutter der Nachsicht.“ Er sagte diesen Satz mit derart viel Überzeugung in der Stimme, dass Rufus und Sophia ihn nur verdutzt ansehen konnten, während Eve und Adam bereits lachten. Der Junge allerdings blickte immer noch vollkommen ernst und überzeugt von sich. „So sagt man das doch, oder?“ „Mhm, fast“, erwiderte Eve, machte sich aber auch nicht die Mühe, ihn zu korrigieren. „Jedenfalls solltest du mich aber inzwischen besser kennen, Adam. So übervorsichtig bin ich nicht.“ Ihm lag ganz offensichtlich etwas auf der Zunge, aber nach einem kurzen Blick zu den Besuchern hinüber, schluckte er die Worte hinunter. Stattdessen strich er sich eine schwarze Strähne aus der Stirn und wandte sichtlich unbehaglich das Gesicht ab. Rufus beschloss, diese unangenehme Pause zu ignorieren und kniete sich nun selbst neben Raymonds Tisch, um dem Jungen die Hand zu reichen. „Hallo, Raymond, schön dich zu sehen. Ich bin Rufus Chandler, Direktor der Lanchest Akademie.“ „Und ich bin Sophia“, schloss diese sich an. Als Erzieherin, so sagte sie immer, war es unnötig, dass die Kinder ihren Nachnamen kannten, sie wollte von Kindern ohnehin lieber mit Vornamen angesprochen werden, da sie sich ansonsten fürchterlich alt fühlte. Der Junge musterte sie beide deutlich skeptisch mit seinen blauen Augen. Aber da war noch etwas in diesem Blick, das Rufus so noch nie bei einem Kind gesehen hatte: Ermüdung. Nicht jene, die man nach einem langen Arbeitstag erreichte, sondern eine solche, die einen höchstens dann überkam, wenn man in seinem Leben viel zu viel gesehen hatte. Er erinnerte sich, einmal einem Medium begegnet zu sein, dessen Blick exakt genauso gewesen war. Raymond musste mehr sehen können als andere Menschen – ob das der Grund war, warum man ihn hier loswerden wollte? „Hm“, machte Raymond nur und warf einen Blick zu Adam. Dieser nickte kaum merklich. „Es ist schon okay. Du kannst ihnen die Hand geben.“ Erst auf diese Aufforderung hin, schüttelte Raymond den beiden Besuchern die Hand. Offenbar war dieser Adam eine äußerst wichtige Bezugs- und Kommandoperson für ihn. Rufus bereute fast schon, die beiden auseinanderreißen zu müssen. Eve beugte sich ebenfalls zu dem Jungen hinunter. „Dann lass uns mal deine Tasche holen, ja?“ Er nickte, stand auf und verließ gemeinsam mit ihr das Zimmer. Sophia folgte den beiden nach einem kurzen Blicktausch mit Rufus. Dieser blieb allerdings stehen. Er war empfindsam genug, um die Anspannung in Adam zu bemerken, die ihm sagte, dass der Mann noch etwas von ihm wollte. Da er allerdings den Mund geschlossen hielt, beschloss Rufus dem selbst nachzuhelfen: „Warum wird Raymond eigentlich zu uns geschickt?“ Adam wirkte deutlich erleichtert, dass Rufus den ersten Schritt tat. „Der Junge ist begabt und verfügt über viel Potential – aber eher im Wissensbereich. Wir können ihm hier daher nicht die erforderliche Unterstützung bieten, die er benötigt, um sein Potential auszuschöpfen.“ Die Erklärung klang plausibel, aber für einen kurzen Augenblick glaubte Rufus, dass da noch mehr dahintersteckte, dass Adam eigentlich noch etwas sagen wollte und es nur erneut hinunterschluckte. „Das ist alles?“ Der Mann nickte ein wenig zu bestimmt. „Das ist alles.“ Da war noch mehr, Rufus wusste es genau, alles in seinem Inneren schrie es ihm zu, aber er beschloss, es zu ignorieren, damit er bald wieder aus diesem Haus herauskam. Wenn Raymond erst einmal in Lanchest war, würde er schon herausfinden, was dieses mehr war, das hier vor ihm verborgen gehalten wurde. Nicht lange danach standen sie zu fünft vor dem Haus. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, sie würden mit dem Nachtzug zurück nach Lanchest fahren können, was Rufus, der gerne damit fuhr, da er in Zügen am besten schlafen konnte, besonders freute. Zwar war es nicht möglich gewesen mit dem verreisten Leiter dieses Heimes zu sprechen - auch wenn Rufus das gern getan hätte - aber Adam diente offenbar als Stellvertreter und besaß daher die Autorität, die Übergabe des Jungen allein zu regeln. Sonst hätte alles ein wenig länger gedauert und sie wären tatsächlich erst am nächsten Tag mit ihm abgereist. Adam und Eve knieten beide vor Raymond, der sie mit undefiniertem Blick ansah. Es sah nicht so aus als würde er sie vermissen, aber der Eindruck konnte auch täuschen. „Und denk daran, immer auf das zu hören, was dir deine Lehrer sagen“, gab Eve ihm noch mit. „Hm“, machte Raymond bestätigend. „Und nutz die Gelegenheit, um zu lernen“, schloss Adam sich den Ratschlägen an. „Hm.“ Nach einer kurzen, gefühllosen Verabschiedung, setzte er sich in das Auto. Im Anschluss reichte Sophia noch einmal beiden die Hand und setzte sich auf den Beifahrersitz. Bei Rufus dagegen ging die Verabschiedung nicht so schnell vonstatten, da Adam die Hand des Direktors nicht mehr losließ und ihm irritierend direkt in die Augen sah. Wieder einmal fuhr ein Schauer über seinen Rücken. „Gibt es noch etwas?“ Er wollte sich seine Furcht nicht anmerken lassen, vielleicht war es hier wie bei Tieren und man wurde zerfetzt, sobald Angst spürbar wurde. „Seid bitte vorsichtig“, sagte Adam ohne jegliche Emotion in der Stimme. Rufus schloss automatisch, dass er sich Sorgen um Raymond machte und sie vorsichtig fahren sollte, deswegen nickte er sofort, ohne es weiter zu hinterfragen. „Aber natürlich.“ Nachdem er das gesagt hatte, ließ Adam seine Hand endlich wieder los. Eve verabschiedete sich im Vergleich dazu nur knapp und nur wenig später konnte Rufus den Wagen endlich starten und sich von diesem Ort entfernen, der ihm immer mehr Furcht einflößte. Ein Blick in den Rückspiegel verriet ihm, dass die beiden immer noch dastanden und ihnen hinterhersahen. Eve schmiegte sich dafür an Adam, der einen Arm um sie gelegt hatte. Es wirkte zwar tröstend, aber gleichzeitig glaubte Rufus, das sich dahinter noch etwas anderes verbarg, etwas, was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einschätzen konnte. Er wusste in diesem Moment nur, dass die Entscheidung, den Jungen in seine Schule zu nehmen, möglicherweise ein Fehler gewesen war – und ihm blieb nur zu hoffen, dass dieses Gefühl sich als falsch herausstellen würde. Der Beginn einer Freundschaft ----------------------------- Lanchest war schön – fand Raymond zumindest. In seinem kurzen Leben waren ihm noch nicht viele schöne Dinge untergekommen. Seine Eltern waren gestorben, als er noch nicht einmal vier Jahre alt gewesen war, direkt im Anschluss war er in das Peligro Waisenhaus gekommen. Ein düsteres Gebäude mitten in einer wüstenähnlichen Steppe, weit abseits von allen Städten, Wäldern, Blumenwiesen, Seen oder sonstigen Dingen, die Menschen als schön einstuften. Nun, im Alter von neun Jahren, sah er das erste Mal einen riesigen See auf dem das Sonnenlicht reflektiert wurde und den er im ersten Moment aufgrund seiner Größe für das Meer hielt. Sophia hatte gelacht, als er sie im Zug danach gefragt hatte und ihm bereitwillig erklärt, dass es nur ein See war, er aber gemeinsam mit der Akademie sicherlich einmal ans richtige Meer fahren würde. Der Bahnhof war voller Leben gewesen, so dass Raymond sich nur mit großen Augen umsehen konnte. Nicht nur die vielen Menschen überforderten ihn, sondern auch die Auren von denen sie umgeben waren; manche farbenprächtig schillernd mit so lebhaft leuchtenden Farben, dass sein Blick ihnen so lange folgte, bis er sie aus den Augen verlor; andere waren dumpf und gräulich, verbunden mit einer tiefgreifenden Traurigkeit, die Raymond in seinem Alter noch nicht erfassen konnte. Im Waisenhaus waren alle Auren gleich gewesen, abgesehen von Adams und Eves. Raymond erinnerte sich gern daran zurück, obwohl er noch nicht lange fort war von ihnen. Die Aura von Eve war so lebhaft wie sie gewesen, ein helles, fröhliches Gelb, das selbst ihn immer in gute Laune versetzt hatte, mit einem kleinen schwarzen Fleck in der Mitte, der aber kaum zu bemerken gewesen war; Adams Aura dagegen war blau gewesen, mit Kanten, die sich wellenartig bewegten, so dass es stets ausgesehen hatte als würde er sich stetig in Wasser befinden, es war ein beruhigender Anblick gewesen, genau wie das Verhalten des Mannes an sich, weswegen Raymond seine Anwesenheit stets genossen hatte. Er hoffte, er würde so jemanden in dieser Stadt wiederfinden. Die Aura von Rufus war der schon sehr ähnlich, aber sie war wesentlich unruhiger und ein wenig dunkler, die Farben bewegten sich ruckartig, was auf Impulsivität hindeutete; Sophia wiederum hatte die verschiedensten roten Farbtöne, die zumindest im Moment beruhigend waren, aber auch darauf hindeuteten, dass sie sehr leidenschaftlich sein konnte. Raymond mochte die beiden, das konnte er nicht leugnen, deswegen freute er sich auch, als er mitbekam, dass Rufus wollte, dass er die erste Nacht in der neuen Stadt in seinem Haus verbrachte. Auf dem Herweg hatte der Direktor ihm bereits von seiner Frau und seinem Sohn erzählt und Raymond war ein wenig gespannt darauf, letzteren kennenzulernen, immerhin waren sie beide angeblich im selben Alter und wenn Rufus' Aura schon nett war, traf dies möglicherweise auch auf die seines Sohnes zu. Sophia verabschiedete sich am Ausgang des Bahnhofs von ihnen, tätschelte noch einmal Raymonds Kopf und ging dann in Richtung Parkplatz davon. Rufus dagegen führte den Jungen die Straße entlang. Schweigend trug er die Tasche des Jüngeren, während er die Stirn runzelte und dabei offenbar zu überlegen versuchte, worüber er noch sprechen könnte. Doch trotz dieser krampfhaften Überlegungen endete es damit, dass sie das Haus erreichten, ohne noch etwas zu sagen. Es war ein kleines Gebäude, das sich kaum von den anderen auf der Straße unterschied, ein gepflegter Rasen befand sich im Vorgarten, unzählige weiße Kieselsteine führten zur Haustür, die von Rufus aufgeschlossen wurde. Ein appetitanregender Geruch schlug Raymond entgegen, als die Tür geöffnet wurde. Das Essen im Heim war nicht darauf angelegt gewesen, dass es gut schmeckte, sondern dass man es im Magen behielt, dementsprechend war Raymond schon allein von diesem Duft begeistert und fast schon wieder überwältigt und es dauerte, bis er es schaffte, das Haus zu betreten. Es kam ihm fast schon so vor als dürfte er gar nicht hineingehen, als würde er sofort wieder hinausgeworfen werden, wenn er auch nur einen Fuß über die Schwelle setzte. Aber Rufus schob ihn sanft hinein und schloss dann die Tür hinter sich. Raymond ließ sich weiterschieben, bis er in der Küche stand, wo der Geruch am Stärksten und fast schon unwiderstehlich war. Er war zu klein, um einen Blick in den Topf zu werfen dem dieser Duft entströmte, aber er hörte, wie die Flüssigkeit daran leicht köchelte. Er war so sehr in die Betrachtung des Herdes und der darauf stehenden Töpfe konzentriert, dass er die Frau daneben erst bemerkte und beachtete, als ihre Aura in sein Blickfeld kam. Das tiefdunkle Blau, das sie umgab, harmonierte perfekt mit ihrem schwarzen Haar, fast sogar schien es ihm als würde die Farbe direkt aus ihren Haarspitzen fließen und dann zu den Rändern des vollkommenen Kreises hin immer heller werden. Ihre aquamarinfarbenen Augen passten exzellent in ihr schmales, spitz zulaufendes Gesicht, das sanft zu glühen schien. Es war absolut eindeutig, dass sie eine nette Person war, die sich über den Segen einiger sehr gesunder Nerven freuen konnte. Sie lächelte, wischte sich an einer weißen Schürze, die sie um die Hüfte trug, die Hände ab und reichte Raymond dann zur Begrüßung eine davon. „Hallo. Du musst Raymond sein, stimmt's?“ Er betrachtete sie mit großen Augen, nicht weil er zu schüchtern war, um ihren Gruß zu erwidern, sondern weil er so sehr von ihrer Aura fasziniert war, die ihm ein heimatliches Gefühl vermittelte. Glücklicherweise nahm sie ihm dieses Verhalten nicht übel. „Mein Name ist Theia Chandler, ich bin die Frau von Rufus – was er dir aber wahrscheinlich schon erzählt hat, wie ich ihn kenne.“ Raymond nickte ein wenig. Der Direktor hatte den Namen seiner Frau und den seines Sohnes – Joel – tatsächlich mindestens einmal während der Fahrt erwähnt, um die Geschichten über diese nicht zu verwirrend werden zu lassen. Behalten hatte Raymond vor allem, dass Theia eine wunderbare Köchin war, während Joel Probleme damit hatte, Freunde zu finden und deswegen meist allein war. „Es freut mich sehr.“ Mit diesen höflichen Worten, die ihm von Adam eingetrichtert worden waren, schüttelte er nun die ihm noch immer dargebotene Hand Theias. „Oh, du bist ein höflicher kleiner Junge, das ist schön. Das Essen ist leider noch nicht fertig, am besten bringt Rufus dich zu Joel, damit du ihn vorher kennenlernst.“ „Hm.“ Das war auch in Raymonds Interesse, weswegen er zustimmend nickte. Gemeinsam mit dem Direktor ging er die Stufen hinauf und wartete einen Moment im Flur, während Rufus die schwere Tasche in einem recht leeren Raum abstellte, der offenbar als Gästezimmer gedacht war und für die Dauer seines Aufenthalts im Haus ihm gehören sollte. Raymond hatte noch nie ein eigenes Zimmer besessen, das war eine neue Erfahrung für ihn, an die er sich aber nicht gewöhnen sollte. Im Zug war ihm erklärt worden, dass er gemeinsam mit den anderen Unterstuflern in einem Schlafsaal in der Akademie schlafen würde, lediglich die erste Nacht würde er in diesem Haus verbringen. Zwar verstand er den Sinn dahinter nicht, aber es kümmerte ihn auch nicht weiter, er hinterfragte nicht. Als nächstes führte Rufus ihn eine Tür weiter, wo er zuerst anklopfte, ehe er diese öffnete. Den Türknauf immer noch in der Hand, lehnte er sich ins Zimmer hinein. „Joel, ich bin wieder da.“ Raymond konnte von seiner Position aus nicht hineinsehen, aber er er hörte, wie jemand aufstand und auf die Tür zugelaufen kam. „Endlich, Dad! Das hat ja ewig gedauert!“ „Das Waisenhaus ist ziemlich weit weg.“ Rufus klang entschuldigend und sogar ein wenig reuevoll, es war deutlich, dass er nicht mit Absicht so lange hatte fernbleiben wollen. „Aber jetzt bin ich wieder da. Und ich habe jemanden mitgebracht.“ Er trat einige Schritte zurück, damit entweder Joel herauskommen oder Raymond hineingehen könnte, doch Letzterer zögerte ein wenig. Wie schon zuvor glaubte er plötzlich, er würde im nächsten Moment einfach hinausgeworfen werden, wenn er einen falschen Schritt tat. Doch Joel nahm ihm das nach kurzem Zaudern bereits ab und streckte nun selbst den Kopf aus der Tür. Seine Haarfarbe erfüllte Raymond sofort mit Erstaunen. Sie war nicht rostrot so wie seine eigene und auch nicht so braunrot wie die von Rufus, sondern weinrot, eine Nuance, die er bislang nur von Vorhängen kannte. Die braunen Augen, die er von seinem Vater geerbt haben musste, wirkten da fast schon wieder zu normal. Seine Aura dagegen war... farblos. So etwas war ihm bislang noch nie untergekommen. Der ihn umgebende Lichtkreis war unförmig, änderte seine Form nach Belieben und verfügte über keinerlei Schattierung. Raymond, so jung er auch war, wusste instinktiv, was das bedeutete. Eine farblose Aura war wie die Zahl Null, auf den ersten Blick zwar leer und bedeutunglos, doch gleichzeitig voller Möglichkeiten. Das stellte ihn vor ein bislang unbekanntes Problem: Er konnte nicht sagen, ob Joel gut oder böse war, möglicherweise war er beides oder noch gar nichts davon, deswegen konnte Raymond ihn nur wortlos ansehen. Dies war wohl auch der Grund, weswegen es ihm so schwerfiel, Freunde zu finden. Auch wenn andere nicht in der Lage waren, Auren zu sehen, so konnte man sie doch bis zu einem gewissen Grad spüren und diese Leere stieß wohl viele ab. Doch als sein Gegenüber ihn anlächelte, veränderte sich die Aura. Sie formte einen Kreis der Harmonie und färbte sich zu einem hellen Blau, ähnlich der Augenfarbe Adams. Zumindest in diesem Moment war er also gut und Raymond konnte ohne Bedenken zurücklächeln. „Joel, das ist Raymond, der Junge, den ich abgeholt habe.“ Rufus verzichtete darauf, die Vorstellung wie sonst üblich auch umzukehren, immerhin hatte er Raymond bereits im Zug alles Wissenswerte über seine Familie erzählt. „Das Essen ist gleich fertig, kannst du dich solange um ihn kümmern, bitte?“ „Klar.“ Rufus nickte dankbar und ging wieder davon, während Raymond auf Joels Bitte diesem in sein Zimmer folgte. Die Aura des Jungen änderte sich erneut, als sie allein waren, verlor allerdings nicht wieder ihre Farbe, sondern nahm ein sanftes Gelb an, das bedeutete, dass er im Moment recht gut gelaunt, fast schon fröhlich, war. „Mein Vater zieht oft los, um Kinder einzusammeln, weißt du? Es ist das erste Mal, dass er jemanden mitbringt, der in meinem Alter ist.“ „Hm. Er ist Schuldirektor.“ Raymond machte diese knappe Feststellung als ob Joel das nicht bereits selbst wüsste, dementsprechend amüsiert sah dieser ihn danach auch an. „Das weiß ich doch.“ „Hm.“ Joel lachte. „Du bist schon seltsam, Ray.“ Raymond neigte den Kopf ein wenig und wartete darauf, dass der Rest seines Namens noch folgte, aber es geschah nicht. Stattdessen runzelte sein Gegenüber die Stirn, die Aura färbte sich in ein verunsichertes Grün „Stört es dich, wenn ich dich so nenne?“ „Nein. Es ist nur ungewohnt, dass jemand anderes als Eve oder Adam mich so nennt.“ Das Grün floss direkt wieder in Gelb über. „Oh, du musst mir unbedingt mehr von dem Waisenhaus erzählen. Alle reden immer darüber, aber keiner sagt mir etwas Genaues darüber, total frustrierend.“ Trotz seines Seufzend änderte sich seine Aura nicht, das geschah erst, als Theias Stimme von unten erklang, die beide zum Essen rief. „Wir müssen nach dem Essen weiterreden“, meinte Joel. „Oh und ich muss dir ganz viele Sachen zeigen, die du bestimmt gar nicht kennst und am besten schläfst du in meinem Zimmer und-“ Er redete aufgeregt weiter, selbst als sie das Zimmer verließen und die Treppe hinuntergingen. Raymond blickte ihn dabei nur schweigend an, aber das schien Joel nicht zu stören. Offensichtlich war der Junge fest entschlossen, hier eine ernsthafte Freundschaft anzugehen und da Raymond keinerlei Einwände dagegen fand, hatte er auch nichts dagegen. Vielleicht war es auch gar nicht so schlecht, wenn er endlich einen Freund haben würde. Einen Versuch war es immerhin wert und wenn Joel genau denselben Gedanken hegte, war es doch perfekt, auch wenn er sich nicht sicher war, ob es wirklich so leicht war, Freundschaften zu schließen. Später, viel viel später, sollte er lernen, dass es tatsächlich so einfach war – und dass der Moment, in dem das Leben dieses Freundes am sprichwörtlichen seidenen Faden hing, erschreckend schmerzhaft sein konnte. Trauer, Wut und Zorn -------------------- Man sah der Prinzessin die Ungeduld deutlich an, sie versuchte aber auch nicht im Mindesten, sie zu verbergen. Wozu auch? Jeder im Palast wusste, dass sie die Rückkehr ihrer Eltern herbeisehnte, die zu einem diplomatischen Treffen mit anderen Herrschern aufgebrochen waren. Seit der Abreise der beiden saß sie nun am Fenster ihres Zimmers, das auf die Hauptstraße der Stadt führte, blickte hinaus und wartete. Nicht einmal zu den Mahlzeiten verließ sie ihren Beobachtungsort, sie nahm ihr Essen auf einem kleinen Tisch, den ihr die Zofen gemeinsam mit dem Mahl brachten und danach wieder abholten, ein. Nachts schlief sie am Fenster sogar ein und wurde dann mit Hilfe des Leibwächters ihres Bruders ins Bett gebracht. Sobald sie erwachte, huschte sie, nach einem kurzen Besuch im Bad, sofort wieder ans Fenster zurück. Dabei sprach sie die ganze Zeit über kein Wort. Sie redete weder mit ihren Zofen, noch mit dem Leibwächter ihres Bruders oder gar ihren Geschwistern. Es war als habe das kaiserliche Paar die Seele ihrer Tochter mit sich genommen und lediglich ihren Körper zu Hause vergessen. Doch kaum eine Reise währt ewig und so kam es, dass die kaiserliche Kutsche fast zwei Monate nach der Abfahrt wieder ihren Weg in den Palast fand. Das Gefährt sah arg mitgenommen aus, eine Tür fehlte und der weinrote Lack war an so manchen Stellen abgeblättert, eine der Laternen am Kopfstück war abgerissen. Aber die Prinzessin kümmerte sich nicht weiter um diese negativen Vorzeichen. Sie sprang begeistert von ihrem Stuhl auf und lief an ihren fragend dreinblickenden Zofen vorbei, ohne diesen Beachtung zu schenken. Ihre Füße trugen sie eilig in den Innenhof hinab, wo sie neben der Kutsche auch jede Menge Soldaten vorfand – und den Kutscher, der sich gerade in einer Unterhaltung mit dem ernst aussehenden Lionheart, dem Leibwächter ihres Bruders, befand. Allerdings beachtete die Prinzessin keine dieser Personen, stattdessen suchte sie nach dem Kaiserpaar, um ihrem Vater in die Arme fallen zu können, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn vermisst hatte und dass sie das nächste Mal lieber mitfahren möchte, anstatt zu Hause auf ihn zu warten, egal wie ungemütlich die Reise werden würde. Doch sie entdeckte weder die hochgewachsene Gestalt ihres Vaters, dessen silber-blondes Haar stets zu leuchten schien, wenn er in der Sonne stand, noch die zierliche Figur ihrer Mutter, deren blondes Haar wie gesponnenes Gold wirkte und das Seline so gern bürstete, wenn sie die Gelegenheit fand. Überall sah sie nur die unbekannten Gesichter der Soldaten, die betroffen dreinblickten und sich flüsternd unterhielten und als sie irgendwann herumfuhr, blickte sie direkt auf Lionheart. Erst an seinem schwarzen Haar, das vollkommen durchnässt war und den Tropfen, die über sein Gesicht liefen, erkannte sie, dass es zu regnen begonnen hatte, dass sie selbst bereits völlig durchnässt war, ignorierte sie. Der Blick, mit der er den ihren erwiderte, wollte ihr allerdings nicht gefallen. Sie kannte ihn als leicht unterkühlte, immer ein wenig abweisende Person, die sich – wie seine Arbeit es verlangte – hauptsächlich mit Ryu beschäftigte, aber an diesem Tag verriet sein Blick Mitleid und Trauer und sprach ohne Worte von einer schrecklichen Nachricht. Ein schrecklich schmerzhafter Druck baute sich in der Brust der Prinzessin auf und bildete einen Kloß in ihrem Hals, ihr Blick verschwamm wegen der aufsteigenden Tränen. „Eure Hoheit...“ Lionhearts Stimme durchbrach das Summen zu dem die flüsternden Stimmen verschmolzen waren und bohrte sich wie ein Eiszapfen in ihren Kopf. „Es tut mir so Leid.“ Sie wollte lächeln, tief Luft holen und ihm sagen, dass es schon in Ordnung sei, sie werde ein Bad nehmen und dann gemeinsam mit ihren Geschwistern über eine passende Trauerrede sprechen. Sie würde erwachsen sein, genau wie ihre Eltern es gewollt hatten. Doch ihre Lippen weigerten sich standhaft ein Lächeln zu bilden und schufen stattdessen ein furchteinflößendes Grinsen, das ihre Wangen schmerzen ließ. Sie holte tief Luft – und ihr schien, dass im selben Moment sämtliche Schilde abfielen, die ihr Herz vor dieser furchtbaren Wahrheit, die sich ihr hier offenbarte, bewahrt hatten. Der Schrei aus ihrer Kehle war viel lauter als sie es sich hätte erlauben dürfen, sämtliche Anwesende wandten sich sofort ihr zu, aber es kümmerte sie nicht, dass sie einen fürchterlichen Eindruck als Prinzessin machte, wie sie protestierend kreischend mitten im Hof stand, wie ihr die Tränen in Strömen über das Gesicht rannen und sie sich gleichzeitig die Ohren zuhielt, um niemanden das Unausweichliche aussprechen zu hören. „Nein! Nein, nein, nein!“ Immer wieder kreischte sie dieses eine Wort, als wäre es eine Zauberformel, die mit genug Inbrunst des Beschwörers das ungeschehen machen könnte, was dieser nicht wahrhaben wollte. „Neineineineineineinein!“ Sie spürte, wie jemand an ihren Arm griff, aber ohne auf diese Person zu achten, um herauszufinden, wer es war, riss sie sich los und rannte davon. Fort von diesem Hof, von der Wahrheit, von all diesen Menschen mit ihrer aufgesetzten Trauer, die innerlich bereits den neuen Kaiser bejubelten, obwohl der alte noch nicht einmal begraben war. Nein, sie wollte nicht einmal daran denken, dass sie ihn begraben müssten, dass ihm unterwegs etwas Schreckliches zugestoßen war, dass er nie mehr heimkehren würde, dass sie ihn nie mehr umarmen, nie mehr das Haar ihrer Mutter bürsten würde. Diese Gedanken ließen sie stolpern und schmerzhaft im Schlamm landen. Sie wollte sich aufrichten, aber jegliche Kraft war aus ihren Armen gewichen, sie schaffte es nicht, sie zu bewegen und musste so hilflos ertragen, wie ihr Körper von all dem Schluchzen geschüttelt wurde. Neben der unbändigen Trauer, die sie verspürte und sich wie feine Nadelspitzen immer wieder in ihr Herz bohrten als wollten sie es einerseits zerreißen, aber es andererseits auch so lange wie möglich zusammenhalten, um es weiter zu quälen, kam auch Wut in ihr hoch. Sie war wütend auf ihre Eltern, die ohne sie gefahren waren, auf deren Fahrer, der ohne sie zurückkgekommen war und vermutlich nur eine heldenhafte Geschichte über ihre letzten Minuten zu erzählen wusste, sie war wütend auf sich selbst, weil sie sich von alldem derart mitnehmen ließ – aber vor allem fühlte sie unangenehm brennenden Zorn darüber, dass ihre Eltern sie einfach im Stich gelassen hatten und das für immer. Sie waren gegangen, ohne sich zu verabschieden und sie würden niemals, niemals zurückkehren, egal wie sehr sie es sich wünschte. Ihre Wut und ihr Hass wurden derart stark, dass sie ein unangenehmes Kribbeln auf ihrem rechten Oberarm spürte. Etwas schien von dort auszutreten und die Luft um sie herum zu erfüllen. Das Prickeln, das sie erfüllte verriet, dass es ein unfreiwillig gewirkter Zauber war, dessen Auswirkungen sie nicht einschätzen konnte, der sich wie eine kalte Umarmung auf sie legte und ihr die Luft zum Atmen nehmen wollte. In ihrem Kopf konnte sie die mahnende Stimme ihres Vaters hören, der sie daran erinnerte, dass sie niemals Magie wirken sollte, wenn sie wütend oder traurig war, weil es in einem derartigen Zustand fast unmöglich war, die Konsequenzen abzusehen. Mit einem wütenden Heulen trommelte sie ihre letzte Kraft zusammen, um sich aufzurichten. Dabei spürte sie, wie die Eissicht auf ihrem Körper, die sie nicht mehr atmen ließ, abplatzte und in Scherben zu Boden fiel. Kaum stand sie auf den Beinen, schwankte sie aber bereits wieder, weil ihre Kraft sie schlagartig erneut verließ. Doch dieses Mal fiel sie nicht zu Boden, sondern fand sich in den Armen Lionhearts wieder, der ihren Sturz verhindert hatte und nun neben ihr kniete. „Seline, es ist schon gut“, sagte er mit vor Tränen erstickter Stimme und strich ihr dabei beruhigend über den Kopf. „Es ist schon gut...“ Wieder stieg Zorn in ihr auf. Es störte sie nicht, dass er sie so vertraut ansprach, obwohl er nur der Leibwächter ihres Bruders war, nein, es war etwas anderes, das ihre Wut weckte. „Gar nichts ist gut!“, schrie sie und hämmerte mit den Fäusten auf seinen Oberkörper ein. „Sie werden nie wieder... nie wieder...“ Das Schluchzen unterbrach sie in ihren Worten und das sorgte dafür, dass sie im nächsten Moment hemmungslos zu weinen begann. Dabei barg sie ihr Gesicht an seiner Schulter, damit er nicht sehen würde, wie sie weinte. Er sagte nichts mehr, ließ sie aber auch nicht los und versuchte auch nicht, sie hochzuheben, um sie zurückzubringen, alles Dinge, für die sie ihm unendlich dankbar war und die im Nachhinein ihre Meinung über ihn auch verbessern würde. Wie lange sie beide so dasaßen und sie weinte, bis keine Tränen mehr kamen, wusste sie nicht. Irgendwann brachte sie nur noch ein trockenes Schluchzen zustande und das sorgte dafür, dass sie sich langsam beruhigte. Sie war nur noch müde, wäre am Liebsten ins Bett gekrochen und erst in einem Jahr wieder aus diesem herausgekommen. „Weißt du, was das Schlimmste ist?“, brachte sie mit krächzender Stimme hervor. „Was?“ Seine Stimme klang plötzlich so ungemein sanft und tröstend, ohne jeden Vorwurf, ohne jede Erwartung, ohne ein Anzeichen dafür, dass sie sonst nie miteinander sprachen. „Ich habe keinem der beiden je wirklich gesagt, wie sehr ich sie liebe...“ Mehr noch, vor der Abfahrt hatte sie beiden ein Ich hasse euch entgegengeschmettert und sich danach in ihrem Zimmer eingeschlossen, deswegen war es nicht einmal zu einer Verabschiedung von ihnen gekommen. Als sie die Kutsche hatte wegfahren sehen, war es bereits viel zu spät für ihre ehrlich empfundene Reue gewesen. „Sie wussten, dass du sie liebst“, erwiderte er. „Ganz sicher.“ Sie hinterfragte seine Worte nicht, verlangte keinen Beweis von ihr, der ihr sagen sollte, ob es überhaupt möglich war, dass er so etwas wusste. Stattdessen akzeptierte sie seine Worte und deren tröstende Wirkung, die sich wie kühlender Schnee auf ihre Wut und ihre Trauer legte. Sie erlaubte sich noch wenige Sekunden, dann richtete sie sich hastig auf und rieb sich die Augen, ehe sie Lionheart mit einem Lächeln ansah. „Ich bin in Ordnung.“ Er fragte nicht, ob es wirklich so war, wofür sie ihm ebenfalls dankbar war, denn hätte er gefragt, wäre sie sofort wieder in Tränen ausgebrochen. In Wahrheit war sie nicht in Ordnung, aber sie wusste auch, dass es lange dauern würde, bis sie das jemals wieder guten Gewissens sagen könnte. Solange würde sie das tun, was ihre Eltern sich gewünscht hätten und sich um ihre Geschwister kümmern. Und dann, irgendwann, würde die Zeit sie gelehrt haben, mit dieser Wunde zu leben und so fern und unerreichbar dieser Tag in jenem Moment auch schien, so sehr freute sie sich auch bereits darauf. Doch vorerst kehrte sie mit Lionheart zum Palast zurück, um dort bei einer öffentlichen Bekanntmachung den Tod des Kaiserpaares zu verkünden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)