Fall Colours von Rainblue (Verfärbende Dunkelheit) ================================================================================ Kapitel 1: Befreit aus der Stille --------------------------------- Xemnas „Und eh man sich’s versieht werden aus acht zehn…“, summte Xigbar vor sich hin und warf Xemnas einen kaum merklichen Blick zu, in dem seine Züge eine Frage durchscheinen ließen. Keiner der Anwesenden nahm diesen kurzen Austausch wahr. Und selbst wenn, hätte er mehr als genug Worte gefunden, um jegliche Zweifel an Irgendwas auszuräumen. Er versuchte, sich zu entspannen, aber der Ausdruck des Scharfschützen hatte ihn in Alarmbereitschaft versetzt. In welche Angelegenheit, die ihn nichts anging, hatte er seine Nase jetzt wieder gesteckt? „Zehn sind immer noch zu wenig“, merkte Vexen nüchtern an, die Augen auf einen Bericht geheftet, den er mit Sicherheit nicht einmal richtig ansah. Aber der Mut war ihm anzurechnen, sonst kam der Wissenschaftler nicht mal auf den Gedanken zu sprechen, ehe Xemnas seine Meinung zum Stand der Dinge bekannt gegeben hatte. In dieser Hinsicht war er das genaue Gegenteil von Xigbar, welcher ihm prompt ein höhnisches Grinsen schenkte. „Das ist richtig“, erwiderte Xemnas ruhig. Seine Augen trafen für eine Sekunde die des Schützen. Daran, dass er wie aus Streitlust das Kinn etwas hob, konnte erkannt werden, dass er den stummen Befehl verstanden hatte. „Ihr dürft gehen.“ Vexen klaubte hastig die Berichte auf dem Tisch zusammen; anscheinend hatte er die Beendigung der Versammlung von allen am meisten herbeigesehnt. Zexion sagte wie üblich kein Wort. Er schlug sein Buch auf und durchmaß mit schlafwandlerischer Prägnanz den Raum und nachfolgenden Korridor. Xaldin und Lexaeus neigten jeweils einmal respektvoll das Haupt und folgten den beiden anderen. Xigbar ließ sich ungeniert in einen der Sessel fallen und nahm die Augenklappe ab, als wäre er allein hier. Reine Provokation. Ständig probierte dieser Kerl seine Grenzen aus. Suchte den Punkt, an dem er zu weit ging. Warum er das tat? Wahrscheinlich wusste er das selbst nicht. Die Antwort hatte sein alter Ego mitgenommen, als die Dunkelheit sein Herz verschlungen hatte. „Raus mit der Sprache“, sagte Xemnas in die andauernde Stille hinein. Es hatte keinen Sinn, darauf zu warten, dass der Schütze von sich aus sprach. Vorher würde es Schlüsselschwerter regnen. „Meiner Meinung nach, hast du mit diesem Demyx einen Fehlschuss abgegeben“, erwiderte er sinnierend und strich betont langsam über die grobe Narbe, die sein Auge zuzog. Xemnas warf ihm von unten her einen Blick entgegen, den er mit einem herausfordernden Schmunzeln quittierte. „Du weißt, was ich meinte.“ „Nein“, höhnte er und erhob sich mit einer einzigen fließenden Bewegung. „Vielleicht kannst du es mir buchstabieren, Lord Xemnas.“ Und schon hatte er die letzte Barriere gefunden. Hätte er nur den Titel verspottet, hätte Xemnas es womöglich durchgehen lassen, aber dadurch, dass er auch den Namen unterstrich… Der Superior war mit zwei Schritten bei ihm, packte den Saum seines Mantels und stieß ihn rückwärts gegen die Glasfront. Er kam näher, bis er direkt in die eine schmutzig gelbe Iris des Schützen blickte, in der längst nichts mehr von der Feigheit seines früheren Ichs verborgen lag. „Wo auch immer du wieder herumgeschnüffelt hast, nimm deine dreckigen Hände daraus und vergiss es. Haben wir uns da verstanden?“ Das vernarbte Auge zuckte. Auf den Lippen der Nummer II erschien das altbekannte sarkastische Lächeln. „Wenn du so aus der Fassung gerätst, erinnerst du mich glatt an jemanden…“ Sätze wie präzise Schüsse. Er war nicht umsonst ein Scharfschütze. Xemnas löste den Griff um seinen Mantel, trat einen Schritt zurück, holte aus und schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass er ein paar Schritte zur Seite taumelte. „Deine Missionen beschränken sich weiterhin ausschließlich auf das Suchen neuer Mitglieder. Morgen früh wirst du allein aufbrechen und erst wiederkommen, wenn du jemanden gefunden hast.“ Er hatte ihm den Rücken zugedreht, um die aufkommende Wut unter Kontrolle zu bringen. Xigbars raues Lachen hallte von den Wänden wider und kurz darauf trat er um seinen Vorgesetzten herum. „Damit ich nicht weiter herumschnüffeln kann, was?“ Demonstrativ zog der die Augenklappe über und rückte sie an die richtige Stelle zurrecht. „Du wärst überrascht, wie ähnlich wir uns eigentlich sind.“ „Geh mir aus den Augen.“ Für die Worte, die jedes andere Mitglied sofort die Beine in die Hand hätten nehmen lassen, hatte er nur ein weiteres Lachen übrig. „Von wegen“, knurrte er und spuckte ihm vor die Füße. Es war Blut zu erkennen. Damit wandte er sich ab und verließ in aller Ruhe den Raum. Xemnas sah angewidert vom Boden auf, löste die geballten Fäuste und trat hinüber in einen anderen Gang, als den, den Xigbar genommen hatte. Ob er seine Drohung ernst nehmen würde? Unwahrscheinlich. Die Nummer II hatte nichts zu verlieren. Vermutlich würde er nicht eher locker lassen, bis er auch noch das kleinste Detail in Erfahrung gebracht hatte. Er konnte sich nur darauf verlassen, dass er, wie üblich, alles Herausgefundene für sich behielt. Es wurde dennoch höchste Zeit, sich nach einem neuen Vertrauten umzusehen. Wie aufs Stichwort erklang von weiter unten, in der Halle der leeren Melodien, Gelächter. Lautlos trat der Superior aus dem Schatten auf das Geländer und vollkommen unbemerkt beobachtete er die zwei noch relativ neuen Mitglieder seiner Organisation. Lea, der nun Axel hieß, und Isa, der nun Saix hieß… „Was ist das nur für ein verflucht großes Schloss?“, rief Axel und sah atemlos zur Erhöhung hinauf. Xemnas wich wieder in den Schatten zurück, unsichtbar für die Augen der beiden. „Du willst nicht andeuten, dass du dich schon wieder verlaufen hast?“, erwiderte Saix mit einem halben Lächeln. Der Rotschopf schnaubte. „Unsinn! Ich weiß genau, wo wir sind!“ „Ach ja? Und wie kommen wir zurück zum Gemeinschaftsraum?“ Axel öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Stattdessen kratzte er sich ratlos am Hinterkopf. „Die Treppe hoch, dem Pfad folgen, geradeaus weiter bis zu den Treppen, dann links, zweimal rechts, im Schlaftrakt noch mal links und dann, nicht zu verfehlen, wieder geradeaus. Kannst du dir das merken?“ „Das ist mein Text!“, fauchte er und gab seinem Freund einen Stoß gegen die Schulter. „Du bist ja nur neidisch, weil mir dieser Mantel besser steht als dir!“ „Dann hast du ein schlechtes Einschätzungsvermögen“, erwiderte Saix mit schräg gelegtem Kopf und beide brachen erneut in dieses merkwürdige Lachen aus. Es klang, als hätten sie Herzen. Xemnas konnte das nicht nachvollziehen. Es lag womöglich daran, dass die zwei noch nicht allzu lange als Niemande herumliefen. Ihre Erinnerungen an Gefühle waren noch sehr frisch. „Was meinst du, ob wir auch so verschrobene Freaks werden, wenn wir nicht aufpassen?“, fragte Axel plötzlich. „Den ganzen Tag im Keller hocken und zum Wohle der Forschung irgendwelche armen Schweine sezieren? Oder nur noch Bücher mit Titeln wie ‚Zehn Dinge, die es beim Erschaffen von Illusionen zu beachten gibt’ wälzen?“ „Du und Bücher?“, antwortete Saix mit verkniffenem Grinsen. „Wenn ich mich recht erinnere, warst du auch nicht gerade Klassenbester!“ „Zwei Worte, Lea: schlechter Einfluss. Kannst du dir das merken?“ „Sag das noch einmal…!“ Xemnas trat wieder ein paar Schritte näher, fixierte den Rotschopf mit den Augen, bis er jedes Detail, angefangen bei der Haltung, über die Züge und hin zur Art und Weise der Bewegung, genauestens erfasst hatte. Nein, die Nummer VIII kam nicht in Frage. Und doch konnte er sich mit blinder Sicherheit noch als äußerst nützlich erweisen, aber nur wenn… Sein kalter Adlerblick traf auf den anderen, die Nummer VII, und nur Sekunden später zog Zufriedenheit seine Mundwinkel nach oben. Terra Aqua… Ven… Eines Tages bringe ich alles in Ordnung. Es war lange Zeit still geblieben. Und schwarz. Gefühllos. Stumm. Aber lebendig. Terra lebte. Und das war das vielleicht Wichtigste. Denn als die Finsternis ihn umfangen hatte, war er der festen Überzeugung gewesen, sie würde ihn auslöschen. Die Schatten hatten ihn berührt, hatten ihn verfärbt, aber nicht mitgenommen. Das konnte ein anderes „Bewusstsein“ nicht von sich behaupten. Er war allein. Seit dem Tag, an dem alles in der Dunkelheit verschwommen war, hörte er die Stimme des alten Mannes nicht mehr, sah nicht länger seine glühenden, abscheulichen Augen oder spürte die widerliche Finsternis, die von ihm ausging. Die Schatten hatten nach nur einem von ihnen verlangt. Und damit war Xehanort seine hoch angepriesene Dunkelheit zum Verhängnis geworden. Denn die Schatten hatten sich für sein Herz entschieden… Aber was war danach geschehen? Die lange Zeit der Stille, gegen die er angekämpft hatte und nun…? Er fühlte noch immer nichts. Sah nur Schwärze um sich herum, vernahm keinen Laut. Und doch war es anders. Etwas hatte sich verändert. Stück für Stück, zäh, begann es sich in ihm zu regen. Es wurde klarer und Terra musste sich zusammenreißen, um nicht die Geduld zu verlieren und dieses schmale Seil entgleiten zu lassen. Da! Da war ein Gefühl. Schwach nur, aber er konnte sich nicht irren. Etwas Hartes, Kaltes, unter den Fingerspitzen. Er musste alle Konzentration aufbringen, um seine Hand dazu zu bewegen, noch einen Moment daran zu verweilen, ehe sie sich löste. Ein Geräusch erklang. Ein Zischen, allerdings undefinierbarer Natur. Und dann, noch bevor er die Stimme vernahm, schlug er die Augen auf. Die Helligkeit des weißen Raumes blendete ihn, aber umso mehr fiel sein Blick auf das dunkle Metall, das einige Meter vor ihm auf dem Boden lag. Er erkannte es sofort, ohne den leisesten Zweifel. Der silbrigblaue, glänzende Körperpanzer und daneben das Schlüsselschwert. „Es ist lange her… mein Freund.“ Es gab genau zwei Möglichkeiten: Sehen oder wegsehen. Xehanort war verschwunden und war doch immer noch da. Und das, was von Terras Herz übrig geblieben war, war hier eingeschlossen. Wie ein Fremdkörper. Nicht als Herz des Mannes, durch dessen Augen er sah, dessen Handlungen er mitverfolgte, dessen Gedanken er aber nicht lesen konnte. Er war ein ungebetener Gast in dieser leeren Hülle, die nur vom fadenscheinigen Widerhall einstiger Ambitionen aufrecht gehalten wurde. Ambitionen, die er vielleicht nicht einmal richtig verstand; aber ihm war nichts anderes geblieben. In einer anderen Situation hätte Terra womöglich sogar Mitleid mit diesem hohlen Gefäß von einem Mann gehabt. In dieser Situation konnte er nicht anders, als ihn zu hassen. Zumal der Hass seine Gedanken bewahrte. Als er die Gegebenheiten zusammengesetzt und halbwegs verstanden hatte, was vor sich ging und was geschehen war, hatte er mit Schrecken feststellen müssen, dass er angefangen hatte, zu vergessen. Die Finsternis hatte ihn nicht nur gestreift, er war darin versunken und nur um Haaresbreite wieder hinausgekommen. So etwas hinterließ Spuren. Aber apropos Erinnerungen. Der Mann, der Xemnas hieß, erinnerte sich nach wie vor nicht an all jenes, was vor der Übernahme von Terras Körper geschehen war. Diesbezüglich hatte sich nichts verändert. Xehanorts Seele hauchte ihm Leben ein; klare Bilder an die Ereignisse in Radiant Garden, aber alle Ahnungen auf das vorherige zog er aus den Fetzen von Terras Gedanken, die von Zeit zu Zeit zu ihm durchdrangen. Ob es ihm jemals gelingen würde diese Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenzufügen? Vermutlich wollte er das gar nicht… Ihm genügten die Echos, die in seinem unbeschriebenen Inneren trieben. Kingdom Hearts… Immer wieder dieses Wort. Und alles, was es mit sich zog. Und daneben Terra. Ein kleiner rebellischer Funke, der genau einen Vorteil hatte: das hier war trotz aller Widrigkeiten immer noch sein Körper. Selbst der Schlaf, in den er nach dem Auftauchen der Finsternis gefallen war, hatte nichts an seinem Einfluss ändern können. Auch wenn Xemnas deutlich mehr Macht hatte als das angeschlagene Herz des Schlüsselschwertträgers – der wahre Fremdkörper hier war Xehanorts Seele. „Ich darf nicht vergessen…“, flüsterte er, damit Xemnas nicht auf ihn aufmerksam wurde. Seine Gedanken konnte er eigentlich nicht lesen, aber seine Stimme hörte er – Terra konnte nicht sagen, warum er da so sicher war. Und es war wahrscheinlich besser, wenn er vorerst nichts davon erfuhr, dass das schwach leuchtende Herz in seinem Körper aus der Stille erwacht war. Aber wie war das überhaupt passiert? Warum war er genau jetzt aufgetaucht? Eine… Stimme…? Hatte da nicht jemand zu ihm gesprochen? „Erinnere dich.“ Erinnern. Das war das Wichtigste. Wenn er vergaß, hatte er keine Chance mehr, von hier zu entkommen. Dann würde er verblassen. Sich selbst verlieren. Allmählich absterben. Erinnern… Kingdom Hearts… „Erinnere dich…“ Xemnas Manchmal fragte er sich, ob alles was er tat, nur im Traum geschah. Ob er nur ein Schlafwandler zwischen den vielen Welten war, die Augen weit aufgerissen und doch blind… Diesen Gedanken hatte er erneut, als sein Blick über die scheinbar kreuz und quer aneinander gebauten Teile des Schlosses fuhr, über die sich scharf zuspitzenden Zinnen, den dunklen rostbraunen Stein oder das kleine Fenster in einem der Türme. Ein Buntglasfenster, wie ein Mosaik, durch das die Lichtstrahlen fielen, in aberhunderte Splitter zerbrochen. Und dann ein Gesicht…? Das genau davor stand und ihn ansah… Ihn? Oder jemand anderen? Er stützte sich mit einem Arm an der Außenwand ab. Wie gut, dass kein anderes Mitglied hier war. Nun, mitten in der Nacht war das auch eher unwahrscheinlich. Zumal Xemnas sich selbst das Verbot auferlegt hatte, diesen Ort jemals in Begleitung zu betreten. Für einen Moment schloss er die Augen, ließ die Hand in seine Manteltasche gleiten und zog jenen verwünschenswerten Trost heraus, den er nicht benennen konnte. Einen Glücksbringer aus orangefarbenem Glas. Ohne Bedeutung und trotzdem trug er ihn stets bei sich. Vor allem damit kein anderer – zum Beispiel ein viel zu forscher Schütze – darauf stieß. Er hätte ihn auch vernichten können. Aber… Wie von selbst schlossen sich seine Finger zur Faust, sodass das Leder der Handschuhe unschön zu quietschen begann und schlugen einmal gegen das robuste Gemäuer. Genau das war hier doch die große Frage. Warum eigentlich „aber“…? Das dürfte es nicht geben. Das war paradox. Langsam richtete er sich wieder auf und sah über die Schulter auf den gewundenen Pfad, der sich in der Ferne verlor. Irgendwas an dem Bild kam ihm verkehrt vor, genauso wie an dem des Schlosses. Diese Widersprüchlichkeiten erinnerten ihn an die Träume, gegen die er sich nicht wehren konnte. Weshalb er auch gerade nur so viel schlief, wie nötig und sich oftmals des Nachts nicht in seinen Räumlichkeiten aufhielt, so wie die anderen Mitglieder es glaubten. Er suchte alle möglichen Orte auf, ohne Ziel, aber mit der unbestimmten Gewissheit von Sinn. Vielleicht sogar um nicht an die Gefangenschaft der Träume zu denken, die ihn früher oder später einholen würde. Aber es war nicht das gleiche. Er war kein Gefangener, das hier kein Käfig. Es war vertrautes Land, das er als Fremder betrat. Zumindest das musste er sich eingestehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)